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XIX. Internationaler Chopin-Klavierwettbewerb 2025 – Warschau im Zeichen Chopins

Vom 2. bis 23. Oktober 2025 steht Warschau wieder ganz im Zeichen Fryderyk Chopins. Der 19. Internationale Chopin-Klavierwettbewerb, organisiert vom Narodowy Instytut Fryderyka Chopina, gilt seit seiner Gründung 1927 als der traditionsreichste und zugleich meistbeachtete Klavierwettbewerb der Welt. Schon seine Vorrunde – die sogenannten Preliminaries (23. April – 4. Mai 2025) – lockte hunderte Bewerber aus allen Kontinenten an; zugelassen wurden schließlich 84 Pianistinnen und Pianisten aus 19 Ländern, darunter 29 aus China, 13 aus Japan und 13 aus Polen. Teilnehmen können Pianisten, die zwischen 1995 und 2009 geboren sind, also derzeit im Alter von etwa 16 bis 30 Jahren.

 

 

 

 

 

Liste der Kandidaten des 19. Chopin-Wettbewerbs


https://www.chopincompetition.pl/en/competitors?utm_source=chatgpt.com

 

Die Hauptrunden gliedern sich in vier Etappen: Stage I (3.–7. Oktober), Stage II (9.–12. Oktober), Stage III (14.–16. Oktober) und das Finale (18.–20. Oktober). Vom 21. bis 23. Oktober folgen die traditionellen Preisträgerkonzerte im Konzertsaal der Nationalphilharmonie Warschau.

 

Die Jury

Den Vorsitz führt der amerikanische Pianist Garrick Ohlsson (* 1948, erster US-Amerikaner, der 1970 den 8. Chopin-Wettbewerb gewann). An seiner Seite sitzen siebzehn Persönlichkeiten aus aller Welt – Pianisten, Pädagogen, Musikwissenschaftler und Kritiker –, die gemeinsam das ästhetische Spektrum des Wettbewerbs abbilden.

Đặng Thái Sơn (* 1958, Vietnam – Kanada, Pianist), legendärer Sieger von 1980;

Michel Béroff (* 1950, Frankreich, Pianist und Dirigent);

Sa Chen (* 1980, China, Pianistin und Pädagogin);

Akiko Ebi (* 1953, Japan, Pianistin);

Nelson Goerner (* 1969, Argentinien, Pianist);

Yulianna Avdeeva (* 1985, Russland, Pianistin und Gewinnerin 2010);

Krzysztof Jabłoński (* 1965, Polen, Pianist);

Kevin Kenner (* 1963, USA, Pianist und Preisträger 1990);

Piotr Paleczny (* 1946, Polen, Pianist);

Ewa Pobłocka (* 1957, Polen, Pianistin);

Katarzyna Popowa-Zydroń (* 1948, Bulgarien – Polen, Pianistin und Professorin);

John Rink (* 1957, England, Musikwissenschaftler und Chopin-Forscher);

Robert McDonald (* 1944, USA, Pianist und Professor an der Juilliard School);

John Allison (* 1966, UK / Südafrika, Musikkritiker und Chefredakteur von Opera Magazine);

Wojciech Świtała (* 1967, Polen, Pianist).

 

Diese internationale Zusammensetzung garantiert, dass kein einzelnes stilistisches Ideal dominiert. Die Jury sucht nach Authentizität, Klangkultur, Gesanglichkeit, innerer Logik und seelischer Präsenz – weniger nach äußerer Virtuosität.

 

1. Der Chopin-Wettbewerb ist kein technischer Wettbewerb mehr

Schon seit Jahrzehnten zählen nicht die blitzsaubere Virtuosität oder das makellose Pedalspiel. Die Jury – vor allem mit Persönlichkeiten wie Dang Thai Son, Avdeeva, Goerner oder Popowa-Zydroń – sucht nach Innerlichkeit, Phrasenkultur und poetischer Intuition. Viele jüngere Pianisten, die aus anderen großen Wettbewerben als Sieger hervorgehen, wirken in Warschau zu gemacht, zu trainiert. Das führt oft zum frühen Ausscheiden.

 

2. Der Chopin-Ton entscheidet

Die Wettbewerbsjury achtet obsessiv auf Klangfarbe, Gesangslinie und Natürlichkeit der Rubati. Gerade Kevin Chen oder Hyuk Lee – so brillant sie technisch sind – klingen manchen Juroren zu symmetrisch, zu wenig atmend.

Erinnern wir uns: 2010 gewann Yulianna Avdeeva gegen technisch überlegene Konkurrenten; 2015 Cho Seong-Jin, dessen Noblesse wichtiger war als Kraft; 2021 Bruce Liu, der als Außenseiter kam, aber die ideale Balance zwischen Struktur, Eleganz und Charme fand.

 

3. Die Jury liebt Überraschungen

Kaum ein Wettbewerb setzt so stark auf individuelle Stimme. Häufig rücken Namen ins Finale, die niemand auf der Rechnung hatte – Pianisten mit unorthodoxer, aber organischer Lesart. Erwartet werden also neue Gesichter aus Polen, Japan oder Kanada, die in den Vorrunden „chopinisch“ atmen, auch wenn sie noch keine großen Preise haben.

 

4. Psychologische Komponente

Der Wettbewerb dauert fast drei Wochen, mit extremem Druck. Die, die professionell wirken, spielen oft routiniert – und verlieren ihre Spontaneität. Gewinner sind fast immer jene, die naiv ehrlich spielen, nicht kalkuliert. Viele Favoriten brechen in Stage II oder III ein, weil sie sich zu sehr auf ihre Strategie verlassen. Bruce Liu 2021 war das perfekte Gegenbeispiel: charmant, frei, unberechenbar.

 

5. Warschau liebt Emotion, nicht Strategie

Das Publikum und die Presse (Gazeta Wyborcza, TVP Kultura) beeinflussen das Klima massiv. Die Jury spürt, wer das Publikum herzhaft bewegt. Und häufig kippt die Stimmung – zugunsten jener, die niemand erwartete. 2015 war das Kyohei Sorita, 2021 war es JJ Jun Li Bui. Die Favoriten haben alle Mittel in der Hand – aber wer Chopin zu sehr kontrolliert, verliert. Der Gewinner des XIX. Wettbewerbs 2025 wird vermutlich kein routinierter Weltstar, sondern jemand, der uns überrascht – mit Wärme, Instinkt und Klangphantasie.

 

Die Streams der ersten Tage zeigen bereits eine bemerkenswerte Tendenz: Viele chinesische Pianistinnen und Pianisten zeigen tadellose Schule, klaren Anschlag und große Disziplin, aber auch eine gewisse Uniformität. Viele klingen fast identisch – sicher, schnell, aber ohne duftende Linien. Die Jury könnte das als akademisch empfinden. Einige Ausnahmen (z. B. Jingting Zhu, Yubo Deng, Yang Gao) haben eine weichere Klangkultur, und solche Kandidaten könnten in Runde II positiv überraschen.

 

Die polnischen Teilnehmer spielen mit deutlich mehr Emotionalität und Nationalstilgefühl – oft aber auf Kosten der formalen Klarheit. Pianisten wie Mateusz Dubiel oder Piotr Alexewicz besitzen diese innere Verbindung zu Chopins Melodik, doch manchmal fehlen ihnen Ruhe und Noblesse. Trotzdem: das polnische Publikum liebt sie, und das kann entscheidend sein.

 

Jonas Aumiller (Deutschland) spielt analytisch, sehr klug, aber etwas zu distanziert. Seine Etüden wirken korrekt, nicht inspiriert. Gerade im Vergleich mit Pianisten aus Asien oder Polen, die spontaner phrasierten, fällt das auf. Es fehlt der sprechende Atem im Legato.

 

Einschätzung zur Jury-Tendenz 2025

Unter dem Vorsitz von Garrick Ohlsson, der für Wärme, Weite und noble Gestaltung steht, und Juroren wie Dang Thai Son und Yulianna Avdeeva ist Poetik wichtiger als Show. Man wird oberflächliche Virtuosität eher bestrafen, den transparenten, gesanglichen Ton bevorzugen und auf die innere Stimme des Pianisten achten. Das bedeutet: Viele Chinesen werden technisch glänzen, aber nicht weit kommen; Polen werden oft unterschätzt, könnten aber im Finale dominieren; und aus dem Nichts könnte ein noch unbekannter Name auftauchen, der einfach Chopin spricht.

 

Mögliche vier Finalisten (Einschätzung  / Auswahl)

 

Eric Lu (* 1997, USA) – Schüler von Dang Thai Son, Jonathan Biss und Robert McDonald, der 2015 schon im Chopin-Finale stand und 2018 den Leeds International Piano Competition gewann, ist ein Musiker, der bei vielen Juroren höchste Glaubwürdigkeit genießt. Sein Spiel ist nie auf Effekt aus, sondern auf Klangpoesie und Atem gebaut – oft zart bis an die Grenze der Stille. Bemerkenswert sind sein Tempo, das nie modisch schnell, sondern sprechend wirkt, der weiche, kontrollierte Ton, die strukturelle Architektur seiner Phrasen und sein sparsamer Pedalgebrauch. Einige Kritiker (z. B. Culture.pl und Polish Radio 2) nannten seine Darbietung „aristokratisch“ und „von schmerzlicher Innerlichkeit“. Manche Zuhörer bemängeln allerdings, dass er zu introvertiert sei – also weniger konzertant als manch anderer. Aber gerade das könnte der Jury gefallen: Ohlsson und Goerner schätzen diese Art von Noblesse.

 

Eric Lu – der Poet mit Atem und Schatten:

https://www.youtube.com/watch?v=fDsgR3DhZio

 

Kevin Chen (* 2005, Kanada) ist pianistisch fast beängstigend begabt – ein Wunderkind, das inzwischen erwachsen wird. Seine Technik ist makellos, sein Zugriff kristallklar, seine Oktavarbeit blitzschnell. Das Entscheidende ist, ob er es schafft, seine stupende Kontrolle in poetische Spannung zu verwandeln. Er baut seine Linien oft mit messerscharfer Präzision, doch manchmal fehlt der duftige Mittelklang. Wenn der Bass zu dominant oder das Legato zu kühl wirkt, verliert Chopin seine Lyrik. Kevin Chen phrasiert mit absoluter Genauigkeit, fast metronomisch, aber Chopin verlangt Atem und Biegsamkeit. Seine Steigerungen sind grandios kontrolliert, aber oft zu vorhersehbar. Bei der Fantasie f-Moll op. 49 merkte man: Er denkt das Werk architektonisch, nicht existentiell. Fehler passieren bei ihm nicht aus Mangel an Technik, sondern aus Überfokussierung – er will zu viel richtig machen.


Kevin Chen – der Architekt mit Klangpräzision:

 

https://www.youtube.com/watch?v=iZApAYKkPzY

 

Vergleich zu Eric Lu: Lu lässt die Musik atmen, Chen strukturiert sie. Der eine ist Dichter, der andere Architekt. In der Jury wird das spannend: Ohlsson könnte Lu bevorzugen, Goerner vielleicht Chen wegen seiner Klarheit.

 

Hyuk Lee (* 2000, Südkorea) wurde in Seoul geboren. Bereits im Alter von drei Jahren begann er, sowohl Klavier als auch Violine zu studieren. Er lebt und arbeitet überwiegend in Moskau, wo er an der Moskauer Staatlichen Tschaikowsky-Konservatoriumsklasse von Vladimir Ovchinnikov studiert.

Seine Wettbewerbserfolge: 2016 gewann er als jüngster Teilnehmer den Ignacy Jan Paderewski Wettbewerb in Bydgoszcz (Polen), 2018 errang er den 3. Preis beim Hamamatsu International Piano Competition, 2022 gewann er den ersten Preis beim Long-Thibaud-Klavierwettbewerb in Paris.

Sein Lebenslauf bestätigt auch einen Abschluss mit Auszeichnung vom Moskauer Konservatorium und der Moskauer Zentralmusikschule.

 

Hyuk Lee wird oft als Pianist beschrieben, der „Sonnenschein in Klang“ bringt – mit Leichtigkeit, Flexibilität und dramaturgischem Gespür. Sein Spiel hat oft eine tänzerische Bewegung und eine gewisse Freiheit, ohne dabei die strukturelle Disziplin zu verlieren. Er spielt anders – leicht verspielt, manchmal fast improvisatorisch, mit einem Hauch ironischer Distanz. Diese scheinbare Verspieltheit ist aber kein Mangel an Ernst, sondern Teil seines Ausdrucks: Er nimmt sich Freiheiten, wo andere Pianisten sklavisch korrekt bleiben.

 

Beweglichkeit und Eleganz: Sein Anschlag ist leicht, fast tänzerisch. Selbst schwierige Passagen wirken bei ihm mühelos; er tanzt über die Tasten, statt sie zu bezwingen. Das gibt seinem Chopin eine persönliche, fast französische Note – nicht zufällig gewann er den Long-Thibaud-Wettbewerb in Paris.

Rhythmische Freiheit: Er nutzt Rubato freier als viele seiner Mitbewerber, aber mit Geschmack. Dieses Atmen erzeugt Spannung und Lebendigkeit – manchmal wirkt es fast improvisiert, doch nie willkürlich.

Farbigkeit: Sein Ton ist brillant, klar, aber nicht hart. Er spielt mit Licht, nicht mit Gewicht. Gerade in Etüden und Walzern hat er eine Leichtigkeit, die an den jungen Cortot erinnert.

Ausstrahlung: Hyuk Lee lächelt beim Spielen; das Publikum spürt, dass er Freude hat. Diese Natürlichkeit erklärt auch seine hohe Zahl an Likes auf YouTube – er wirkt spontan, menschlich, sympathisch, während andere Pianisten ernst und distanziert bleiben.

 

Kritische Tendenzen: Viele loben ihn für seinen charmanten Chopin, seine Unabhängigkeit von akademischer Strenge und seine genuine Musikalität. Manche empfinden ihn als zu frei oder zu leicht, nicht tief genug. Das erinnert an Debatten, die es auch um Samson François gab – und zeigt, dass er polarisiert.

Einschätzung: Er hat Finalchancen, gerade weil er anders ist. Die Jury mag Individualität, solange sie nicht zum Selbstzweck wird. Wenn er in Stage II seine Balance hält, also Freiheit mit innerer Logik verbindet, könnte er sehr weit kommen. Ohlsson und Dang Thai Son schätzen Pianisten, die denken, fühlen und trotzdem riskieren. Hyuk Lee gehört genau in diese Kategorie – ein Musiker, der Chopin nicht nur spielt, sondern neu belebt.

Hyuk Lee – der charmante Architekt des Lichts:

 

https://www.youtube.com/watch?v=oJzgJoOD9_o


Piotr Pawlak (* 1998) - der "alte" Chopin

Piotr Pawlak wurde am 20. Februar 1998 in Gdańsk geboren und ist ein polnischer Pianist und Kammermusiker. Er studierte bei Waldemar Wojtal (* 1949) und setzte seine Ausbildung an der Musikakademie in Gdańsk fort. Darüber hinaus nahm er an zahlreichen Meisterkursen namhafter Lehrer teil. Er ist mehrfach ausgezeichneter Preisträger internationaler Wettbewerbe: Er gewann den V. Maj-Lind-Wettbewerb in Helsinki (2022), erhielt Preise in Beijing (2016) und Budapest (2018), wurde bei Wettbewerben in Kraków und Rzeszów ausgezeichnet und errang den zweiten Preis beim Chopin-Wettbewerb auf historischen Instrumenten in Warschau (2023). Zudem ist er ein talentierter Mathematiker, der bei internationalen Mathematikolympiaden Medaillen gewann – ein außergewöhnlicher Geist, der analytische Präzision und künstlerische Sensibilität in sich vereint.

Seine Konzerttätigkeit umfasst Auftritte mit führenden Orchestern Polens und Engagements in mehreren europäischen Ländern, darunter Deutschland, Finnland und Frankreich. Auch in Übersee trat er bereits in den USA und China auf. Polnische Fachmedien sehen in ihm einen der wichtigsten Vertreter der neuen Generation der polnischen Klavierschule, deren Tradition auf der Balance zwischen klanglicher Klarheit, nobler Zurückhaltung und emotionaler Tiefe beruht.

https://www.youtube.com/watch?v=C9DnR1saRXs

Pawlak spielt mit ruhiger, eleganter Linie und ausgewogenem Ausdruck. Sein Spiel zeichnet sich durch klangliche Kultur, klassische Struktur und eine Bescheidenheit aus, die an die „alte polnische Schule“ erinnert – an Pianisten wie Krystian Zimerman (* 1956), Ewa Pobłocka (* 1957) oder Jan Ekier (1913–2014). Er kommuniziert Emotion nicht laut, sondern als inneren Zustand, getragen von Kontrolle, Würde und Klarheit der Form. In seinen Interpretationen von Walzern und Nocturnes überzeugt er durch Natürlichkeit des Tempos, tänzerischen Fluss, kultivierten Ton und noble Einfachheit.

Das Publikum lobt seine Haltung, die frei von Show und Theatralik ist: Eleganz, Zurückhaltung und innere Noblesse werden besonders geschätzt. Manche Stimmen sehen in ihm den Rückkehrer zu den Quellen – zu einem Chopin, der von Ruhe, Poesie und Innerlichkeit geprägt ist. Sein Spiel lässt Raum für Stille, für das, was zwischen den Noten geschieht.

Gleichzeitig gibt es auch gegenteilige Reaktionen: Einige Zuhörer, vor allem jüngere, bevorzugen die moderne, zartere Art, Chopin zu hören, wie sie Pianisten aus Asien verkörpern. Sie sehen in Pawlaks Stil die Fortführung einer klassischen, national geprägten Schule, die zwar würdevoll und strukturell klar ist, aber weniger schwebend, weniger ätherisch im Klang. Diese Spannung zwischen Tradition und moderner Klangauffassung verleiht seinem Auftreten eine besondere Bedeutung: Er steht für eine Rückbesinnung auf die Werte der alten polnischen Schule – emotionale Ehrlichkeit, formale Reinheit und die Kunst, das Wesentliche zu sagen, ohne Pathos und Überfluss.

Piotr Pawlak verkörpert damit die polnische Hoffnung im diesjährigen Wettbewerb – nicht durch Lautstärke oder Virtuosität, sondern durch geistige Disziplin, kultivierte Poesie und jene stille Würde, die Chopins Musik am tiefsten entspricht.

Jury-Philosophie und Publikumserwartung


Unter Ohlssons Leitung hat die Jury deutlich gemacht, dass Technik allein nicht reicht. Gesucht wird nicht der makellose Mechaniker, sondern der Interpret, der Chopins innere Stimme hörbar macht. Juroren wie Avdeeva und Dang Thai Son betonen Klang, Gesanglichkeit und seelische Kohärenz. Das Publikum in Warschau reagiert leidenschaftlich und direkt. Es erwartet keine makellosen Virtuosen, sondern Pianisten, die berühren. Die bisherige Rezeption zeigt: viele asiatische Kandidaten faszinieren durch Präzision, doch das Publikum sehnt sich nach Wärme und Risiko. Die polnischen Teilnehmer spielen oft elegant, aber zu vorsichtig – während Pianisten wie Eric Lu oder Hyuk Lee den Mut haben, die Musik atmen zu lassen.

Zwischenfazit


Der XIX. Chopin-Wettbewerb 2025 steht damit exemplarisch für einen ästhetischen Richtungswechsel: weg von der äußerlichen Brillanz, hin zu Klangpoesie, Persönlichkeit und Innerlichkeit.
Vielleicht wird am Ende nicht der perfekte Virtuose siegen, sondern der, der den Mut hat, unvollkommen zu sein – und damit wahrhaft menschlich klingt.

Wer ist weitergekommen: Liste der 40 Pianistinnen für Stage II

 

Die Jury unter Garrick Ohlsson hat 40 Pianistinnen und Pianisten für die zweite Runde zugelassen:

 

https://www.chopincompetition.pl/en/newsroom/znamy-nazwiska-pianistw-zakwalifikowanych-do-drugiego-etapu?id=82&type=news&utm_source=chatgpt.com

 

Einstiegsphase der zweiten Runde – allgemeine Informationen und Tendenzen

 

Mit Beginn der zweiten Runde zeigt sich ein klarer Wandel in der Wahrnehmung und den Erwartungen. Während in Stage I vor allem technische Sicherheit, Feinarbeit und solide Phrasierung entscheidend waren, verlangt Stage II zunehmend Persönlichkeit, Programmgestaltung und interpretatorisches Profil. In der Ausschreibung wurde für diese Runde ein größerer Spielraum zugelassen – mehr Freiheit bei der Auswahl von Stücken aus Präludien, Polonaisen und weiteren Werken.

 

Bereits in der öffentlichen Wahrnehmung und in Kommentaren der ersten Tage zeichnet sich eine Tendenz ab: Viele Zuhörer kritisieren, dass eine Reihe chinesischer Pianisten zwar technisch makellos und diszipliniert spielt, aber klanglich oftmals zu homogen wirkt – ohne markante Farbe oder rubatistische Freiheit. Einige Ausnahmen (z. B. Yubo Deng, Yang Gao) werden schon lobend genannt wegen weicherer Klangkultur und differenzierter Tongebung.

 

Auf der anderen Seite kämpft die polnische Fraktion – traditionell stark emotional und national verankert – mit der Balance: Die Pianisten spielen häufig mit Wärme und Emotionalität, riskieren dabei aber, die formale Struktur zu verlieren oder Intonation und Klarheit einzubüßen. Hier liegt der Grat dicht.

 

Ein weiterer Aspekt: Das Publikum beobachtet zunehmend nicht nur die Ausführungen, sondern die Persönlichkeit, Ausstrahlung und innere Kommunikation der Pianistinnen. Pianisten, die nicht nur „sauber“ spielen, sondern „etwas mitnehmen“ lassen – eine Spur Authentizität, eine kleine unsichere Stelle, eine bewusste Pause – gewinnen Sympathien.

Zweite Runde – erste Eindrücke

 

Mit Beginn der zweiten Runde verändert sich die Atmosphäre des Wettbewerbs spürbar. Während in der ersten Etappe vor allem technische Sicherheit und stilistische Disziplin im Vordergrund standen, beginnt sich nun das eigentliche Profil der einzelnen Pianistinnen und Pianisten zu zeigen. Die Mechanik tritt zurück, und an ihre Stelle rücken Klangkultur, innere Spannung, Atem und Persönlichkeit. Das Publikum reagiert stärker emotional, und besonders in den polnischen Kommentarspalten ist ein wachsendes Bedürfnis nach Authentizität, Wärme und charaktervoller Gestaltung spürbar.

 

Ein auffälliges Phänomen dieser Runde ist die Spaltung des Publikums zwischen traditioneller, polnisch geprägter Chopin-Erwartung und einer modernen, internationalen Klangästhetik. Die japanische Pianistin Shiori Kuwahara (* 1995), deren Auftritt unerwartet viele Likes erhielt, repräsentiert dieses neue Ideal eines klaren, schlanken und von jeder romantischen Überladung befreiten Chopin. Ihr Ton ist hell, ihr Tempo kontrolliert, und sie verzichtet bewusst auf große Rubato-Gesten. Viele Zuhörer empfinden diese Lesart als zeitgemäß und elegant, andere vermissen das dunklere, atmende Element des polnischen Chopin-Verständnisses.

 

https://www.youtube.com/watch?v=Tq02Z3Pvz_g 

 

Unter den chinesischen Pianisten, die sich für die zweite Runde qualifiziert haben, nimmt Hao Rao (* 2004) eine besondere Stellung ein. Er gehört nicht zu jener Gruppe technisch makelloser, diszipliniert und fast uniform spielender Kandidaten, die vor allem durch Präzision beeindrucken. Sein Spiel unterscheidet sich hörbar: Er sucht nicht nach der perfekten Kontur, sondern nach Linie, nach Klangbindung und nach einem inneren Atem. Während viele seiner Landsleute in ihrem Vortrag streng metrisch und strukturell klar agieren, wirkt seine Interpretation freier, atmender, manchmal unruhig in der Phrasierung, aber immer getragen von einer hörbaren musikalischen Intention.

 

In polnischen Kommentaren wurde er bereits bei seinem Auftritt als „najbardziej muzykalny z Chińczyków“ bezeichnet – als der musikalischste unter den chinesischen Pianisten. Diese Einschätzung trifft seinen Charakter gut. Er phrasiert nicht, um zu beeindrucken, sondern um zu erzählen. Sein Ton ist wärmer als der vieler anderer Kandidaten aus seinem Land, seine Rubati sind organisch, weniger berechnet, und in den lyrischen Passagen tritt ein fast gesanglicher Gestus hervor. Dabei bleibt er nicht ohne Kanten; in manchen Momenten bricht er bewusst die glatte Oberfläche, lässt kleine Reibungen zu und vermeidet so jene akademische Glätte, die bei anderen im Wettbewerb als stilistisch korrekt, aber innerlich leer empfunden wird.

 

Hao Rao spielt Chopin nicht als Monument, sondern als lebendige Sprache. In der zweiten Runde zeigte sich dieses Profil deutlich, insbesondere in den lyrischen Stücken, in denen sein Klang nicht aus virtuoser Demonstration, sondern aus innerer Spannung entstand. Damit steht er im Kontrast zu Kevin Chen, der durch architektonische Vollendung überzeugt, aber auch im Gegensatz zu Pawlak, der die klassische polnische Linie pflegt. Rao bewegt sich dazwischen – weniger perfekt, weniger heroisch, aber unmittelbar und menschlich. In dieser Mischung aus Instinkt, Wärme und leiser Unvollkommenheit liegt seine Stärke – und vielleicht auch seine stille Chance im weiteren Verlauf des Wettbewerbs.

 

https://www.youtube.com/watch?v=bS1Djz_RsM8&t=2095s 

 

In Polen ruht große Erwartung auf Piotr Pawlak (* 1998), der mit kultivierter Zurückhaltung und klarer Struktur spielt. Viele sehen in ihm die Fortsetzung der alten polnischen Schule, deren Werte Namen wie Zimerman (1956), Pobłocka (1957) oder Ekier (1913–2014) geprägt haben. Pawlak spricht die Sprache des klassisch-lakonischen Chopin, nobel und würdevoll, ohne grelle Effekte. Doch während ein Teil des Publikums ihn feiert, spüren andere, dass sein Spiel zwar tief respektabel ist, aber nicht immer das Herz erschüttert – es überzeugt, aber es überrascht selten.

 

https://www.youtube.com/watch?v=kpwWkURj6eA 

 

Eine ganz andere Wirkung entfaltet Hyuk Lee (* 2000). Der in Moskau geformte südkoreanische Pianist scheint wie zufällig genau jene Mischung aus Freiheit, Klanglicht und innerer Logik zu treffen, die in Warschau derzeit als selten gilt. In polnischen Kommentaren taucht für ihn das Wort „zachwyt“ auf – Bewunderung, die über Wertschätzung hinausgeht. Sein Spiel wirkt leicht, fast tänzerisch, und dennoch von innerer Spannung gehalten. Man hat das Gefühl, dass er nicht interpretiert, sondern antwortet – als käme Chopins Musik nicht aus der Vergangenheit, sondern direkt aus einer lebendigen Gegenwart.

 

https://www.youtube.com/watch?v=oJzgJoOD9_o 

 

Eric Lu (* 1997))bleibt der stillste der Favoriten. Auch in der zweiten Runde spielt er mit einem Ton, der nicht um Aufmerksamkeit bittet, sondern sie – fast unmerklich – bindet. Likes sammeln sich bei ihm langsamer als bei anderen, doch wer zuhört, reagiert mit langen, nachdenklichen Kommentaren. Sein Chopin entsteht nicht aus Effekten, sondern aus Stille und innerer Spannung. Er zwingt zum Zuhören, nicht zum Staunen.

 

https://www.youtube.com/watch?v=GYrkIocrmXc 

 

Kevin Chen (* 2005), von manchen schon als „Mister Perfect“ bezeichnet, zeigt erneut seine überragende technische Kontrolle. Er spielt mit makelloser Struktur, zieht klare Linien, setzt Akzente mit mathematischer Präzision. Doch gerade in dieser Perfektion liegt sein Prüfstein: Chopin verlangt nicht nur Vollendung, sondern auch Verwundbarkeit. In einzelnen Momenten – besonders bei den Etüden – blitzt eine menschliche Unruhe durch, kleine Brüche, die gerade deshalb berühren, weil sie nicht kalkuliert wirken.

 

https://www.youtube.com/watch?v=MsaCHVBpGvI 

 

Zwischen diesen verschiedenen Wegen – dem poetischen Atem Eric Lus, der architektonischen Klarheit Kevin Chens, der eleganten Modernität Kuwaharas, der kantigen Lebendigkeit Bao Yanyans, der noblen Disziplin Pawlaks und der leuchtenden Freiheit Hyuk Lees – beginnt sich nun ein Feld abzuzeichnen, in dem nicht der lauteste, sondern der wahrhaftigste Ton entscheiden wird. Warschau hört aufmerksam – und zum ersten Mal in diesem Wettbewerb entsteht das leise Gefühl, dass nicht nur technische Überlegenheit, sondern geistige Präsenz über den Weg ins Finale entscheiden wird.

Die Halbfinalisten – zwanzig Pianisten treten nun vor

 

Für die dritte Runde stehen zwanzig Pianistinnen und Pianisten bereit, jede und jeder mit einer eigenen Klangidee, einer eigenen Haltung gegenüber Chopins Sprache. Nicht mehr die makellose Technik entscheidet allein, sondern der innere Ton, die Fähigkeit, aus Stille Musik zu formen und aus Klang Bedeutung zu ziehen. In dieser Phase des Wettbewerbs begegnen sich nicht mehr Schüler, sondern Charaktere.

 

Piotr Alexewicz (* 1998, Poland) – strukturell klar, kontrolliert, mit dem Geist der polnischen Schule, doch noch auf der Suche nach innerer Wärme.

 

Kevin Chen (* 2005, Canada) – brillant, architektonisch, von vielen als „Mister Perfect“ bezeichnet, technisch überlegen, aber mit kühler Noblesse.

 

Yang (Jack) Gao (* 2000, China) – präzise, zurückhaltend, mit intellektuellem Ansatz, eher analytisch als spontan.

 

Eric Guo (* 2004, Canada) – klar, leicht, mit schlanker Tonkultur und Sinn für Transparenz, geprägt von historischer Klangvorstellung.

 

David Khrikuli (* 2001, Georgia) – ernsthaft, kontrolliert, mit spätromantisch geformtem Ton, eher kraftvoll als lyrisch.

 

Shiori Kuwahara (* 2001, Japan) – leicht, elegant, mit moderner, luftiger Haltung zu Chopin, fast französisch in der Distanz.

 

Hyo Lee (* 2002, South Korea) – präzise und korrekt, weniger impulsiv als sein Bruder, technisch glatt, aber emotional zurückgehalten.

 

Hyuk Lee (* 2000, South Korea) – frei, leuchtend, mit tänzerischem Atem und natürlichem Ausdruck; einer der wenigen, die berühren, ohne Pathos.

 

Tianyou Li (* 1999, China) – kraftvoll, kontrolliert, ernst in der Tongebung, mit starkem Sinn für äußerliche Form.

 

Xiaoxuan Li (* 2001, China) – elegant, weich, mit feinem Klanggefühl, doch manchmal zu sehr auf Schönheit bedacht.

 

Eric Lu (* 1997, USA) – poetisch, still, von innen heraus gestaltet, mit langsamer, aber nachhaltiger Wirkung.

 

Tianyao Lyu (* 2002, China) – sauber, ordentlich, mit deutlicher Linie, aber noch ohne starke individuelle Handschrift.

 

Vincent Ong (* 2000, Malaysia) – aufrichtig, unprätentiös, mit natürlichem musikalischem Fluss, weniger technisch spektakulär, aber ehrlich in der Phrasierung.

 

Piotr Pawlak (* 1998, Poland) – nobel, kultiviert, Vertreter der alten polnischen Schule, mit Würde und innerer Disziplin.

 

Yehuda Prokopowicz (* 2001, Poland) – temperamentvoller, spontaner als Pawlak, manchmal rauer im Ton, aber mit spürbarem inneren Feuer.

 

Miyu Shindo (* 2003, Japan) – konzentriert, elegant, mit klarer Klanglinie und empfindsamer, aber kontrollierter Emotionalität.

 

Tomoharu Ushida (* 1999, Japan) – ruhig, ästhetisch, mit dezenter Bühne, eher introvertiert, aber von großer Reinheit im Klang.

 

Zitong Wang (* 2001, China) – diszipliniert, stilistisch sicher, mit Leichtigkeit in schnellen Passagen, aber innerlich noch zurückhaltend.

 

Yifan Wu (* 2002, China) – stark, präzise, analytisch, mit großer Sicherheit, aber weniger persönlicher Wärme.

 

William Yang (* 2001, USA) – direkt, klar, mit amerikanischer Unmittelbarkeit, nicht romantisch, aber zielgerichtet im Ausdruck.

Zweite Runde
Mögliche Finalisten
Dritte Runde I

Dritte Runde – die Stimmung ändert sich

 

Mit Beginn der dritten Runde verändert sich der Charakter des Wettbewerbs spürbar. Was in der zweiten Etappe noch von begeistertem Applaus und staunender Bewunderung begleitet war, wandelt sich nun zu einem konzentrierten, viel stilleren Zuhören. Man hört nicht mehr, um technische Brillanz zu entdecken, sondern um zu unterscheiden, wer von den zwanzig Halbfinalisten wirklich etwas zu sagen hat.

 

In der polnischen Presse – bei Gazeta Wyborcza, Ruch Muzyczny und Polskie Radio Chopin – taucht zum ersten Mal ein ernsterer Ton auf. Kommentatoren betonen, dass in dieser Phase bloße Perfektion nicht mehr ausreiche. Ein Kritiker schrieb: „W Stage III nie wystarczy być perfekcyjnym. Trzeba już mieć coś do powiedzenia.” – In Stage III genügt es nicht mehr, perfekt zu sein. Jetzt muss man etwas mitzuteilen haben. Besonders deutlich wird hervorgehoben, dass die Vertreter der polnischen Schule, allen voran Piotr Pawlak und Yehuda Prokopowicz, ihre technische Reinheit nun mit seelischer Durchdringung verbinden müssen. Wer nur korrekt bleibt, verliert die emotionale Verbindung zum Publikum, das immer stärker auf innere Wahrhaftigkeit reagiert.

 

Auch unter den Beobachtern beginnt sich der Blick zu schärfen. Pianisten wie Kevin Chen werden weiterhin für ihre makellose Technik und strukturelle Klarheit bewundert, doch nun richtet sich die Aufmerksamkeit auf etwas anderes: Kann ein solcher Klang, so perfekt er auch sein mag, noch atmen? Kann er Bedeutung tragen? Bei Eric Lu wiederum sprechen Kritiker von einer besonderen Bewusstheit – „najbardziej świadomy” – als sei sein Spiel weniger ein Vortrag als ein stilles Nachdenken in Klang. Seine Wirkung ist nicht sofortig; sie wächst nach dem Verklingen der Töne.

 

Eine ganz andere Art von Resonanz ruft Hyuk Lee hervor. Über ihn schrieb ein polnischer Kommentator schlicht: „On gra, jakby Chopin jeszcze żył.” – Er spielt, als würde Chopin noch leben. Diese Bemerkung zeigt, wie sehr sein Spiel nicht analysiert, sondern erlebt wird. Auch Shiori Kuwahara bleibt im Gespräch: ihre klare, fast ätherische Lesart wird von manchen als frische Luft begrüßt, von anderen als zu kühles Licht empfunden. Bao Yanyan hingegen wird in polnischen Musikkreisen als „niebezpieczny“ – gefährlich – bezeichnet, nicht wegen Fehlern, sondern weil er sich nicht an die Erwartungen hält und gerade dadurch eine ungewöhnliche Authentizität entfaltet, die Sympathie hervorruft.

 

In den Livestream-Kommentaren des Publikums ist die Stimmung greifbar. Zwar identifizieren sich viele weiterhin mit Pawlak, doch mehr und mehr schreibt man offen: „Pawlak piękny, ale Hyuk ma serce.” – Pawlak ist schön, aber Hyuk hat Herz. Zum ersten Mal taucht in Verbindung mit zwei Namen – Eric Lu und Hyuk Lee – das Wort „łzy“, Tränen, auf. Nicht als dramatischer Ausruf, sondern als leiser Hinweis darauf, dass das Publikum beginnt, nicht mehr zu beurteilen, sondern zu empfinden. Bei Kevin Chen hört man Respekt – aber nur selten Zuneigung. Bei Eric Lu und Hyuk Lee dagegen entsteht etwas Persönliches, etwas, das über technische Bewertung hinausführt.

Wer in Stage III wirklich um das Finale spielt?

 

Mit jedem Auftritt der dritten Runde wird deutlicher, dass sich das Feld nun in zwei Richtungen teilt. Auf der einen Seite stehen jene Pianisten, die ihre Stärke schon in den ersten Runden demonstriert haben – technisch überlegen, kontrolliert, klar im Zugriff. Auf der anderen Seite beginnen sich jene herauszulösen, die nicht nur spielen, sondern erzählen, nicht nur artikulieren, sondern eine innere Stimme hörbar machen.

 

Kevin Chen bleibt der dominierende Techniker des Wettbewerbs. Seine Virtuosität wirkt nicht mehr wie ein Ziel, sondern wie ein selbstverständliches Mittel. Doch gerade diese Überlegenheit stellt nun die Frage: Wird seine Vollkommenheit am Ende als große Ordnung gedeutet – oder als Distanz? Der Klang ist makellos, aber manche Zuhörer beginnen sich zu fragen, wann und wo seine Musik innerlich zögert, stockt, atmet. In Warschau ist das keine Nebensache – hier entscheidet sich der Unterschied zwischen Respekt und Berührung.

 

Eric Lu steht auf der anderen Seite dieses Spektrums. Er bleibt der leiseste unter den Favoriten, aber gerade in dieser Zurücknahme gewinnt sein Spiel an Tiefe. Er scheint sich nicht an das Publikum zu wenden, sondern an die Musik selbst, als müsse er Chopin nicht darstellen, sondern erinnern. Es ist eine Haltung, die nicht sofort triumphiert, aber von manchen als die reifste verstanden wird: nicht auffallen wollen, sondern Bedeutung freilegen.

 

Hyuk Lee vereint beides: Leichtigkeit und Ernst, Charme und Tiefe. Während andere planen, scheint er zu antworten. Sein Spiel wirkt wie spontan, doch nie beliebig; wie frei, doch immer getragen von innerer Struktur. Er ist einer der wenigen, bei denen das Publikum nicht zwischen „richtig“ und „falsch“ hört, sondern einfach folgt, als sei Chopin kein Werk, sondern ein Zustand. Dass gerade in polnischen Kommentaren das Wort „serce“ – Herz – in Verbindung mit ihm fällt, ist ein Zeichen dafür, dass er nicht nur verstanden, sondern empfunden wird.

 

Piotr Pawlak bleibt die Stimme der Tradition. Er steht für eine edle, vornehme Lesart, in der nichts grell wird, nichts sich aufdrängt. Die polnische Öffentlichkeit erkennt sich in dieser Haltung wieder und reagiert mit Respekt und Stolz. Doch ob diese Noblesse in dieser Wettbewerbsphase genügt, wird sich zeigen – denn immer deutlicher bevorzugt das Publikum jene, die einen persönlichen Ton riskieren.

 

Shiori Kuwahara und Bao Yanyan bleiben die beiden Gegenpole der neuen Generation: die eine mit kristallklarem, fast entmaterialisiertem Chopin, der wie durch Glas gespielt scheint; der andere mit unruhiger, lebendiger, manchmal roher Intuition. Beide wirken wie zwei Antworten auf dieselbe Frage: Ist Chopin ein Stil oder eine innere Stimme? Vielleicht liegt die Zukunft des Wettbewerbs genau zwischen diesen beiden Polen.

 

So beginnt sich in Stage III ein Bild zu formen: Die dritte Runde ist keine Prüfung mehr, sondern eine Entscheidung darüber, wer Chopins Musik bewohnt – und wer sie nur korrekt durchschreitet. Nicht mehr der makellose Anschlag wird zählen, sondern der Moment, in dem Musik nicht mehr gespielt wird, sondern sich ereignet.

Warschau beginnt anders zu hören

In den polnischen Kulturkommentaren taucht ein neuer Satz auf – „W Stage III nie wystarczy być perfekcyjnym. Trzeba już mieć coś do powiedzenia.“ In dieser Phase reicht Perfektion nicht mehr. Jetzt muss man etwas zu sagen haben.

In Interviews mit TVP Kultura, im polnischen Rundfunk und in leisen Bemerkungen der Juroren zeichnet sich ein gemeinsamer Gedanke ab: Viele spielen Chopin, ohne seine Herkunft verstanden zu haben. Krzysztof Jabłoński bemerkte, dass er in dieser Runde noch keine wirkliche Polonaise gehört habe. Die jungen Pianisten beherrschen die Geste, aber nicht die Bewegung – sie zeigen Gefühl, aber oft als Pose, nicht als organische Folge des inneren Pulses. Bevor er mit Schülern an Interpretation arbeitet, verlangt er von ihnen, sich zuerst anzusehen, wie eine Polonaise oder ein Walzer tatsächlich getanzt wird, nicht als Metapher, sondern als gelebte Form. Wer den Körper nicht gesehen hat, kann den Atem nicht spielen.

Auch Musikwissenschaftler aus der polnischen Presse weisen darauf hin, dass Chopins Préludes nicht als Sammlung schöner Miniaturen behandelt werden dürfen. Sie sind ein Zyklus, ein innerer Bogen. Wer nur Klang zeigt, aber keinen Weg, berührt nicht. Vor diesem Hintergrund entsteht eine stille Spannung zwischen dem, was auf der Bühne glänzt, und dem, was im inneren Hören Bestand hat. „Owacje nie zawsze oznaczają prawdę“ – Applaus bedeutet nicht Wahrheit, schreibt Gazeta Wyborcza. Es entsteht ein Unterschied zwischen dem Publikum, das reagiert, und dem Publikum, das hört.

In dieser neuen Aufmerksamkeit treten die Halbfinalisten nicht mehr nur als Konkurrenten, sondern als Haltungen vor das Publikum. Kevin Chen erscheint als ein Pianist von makelloser Architektur, jeder Ton gesetzt, jede Linie bewusst gezeichnet – eine vollkommene Ordnung, bewundernswert, aber mit der Frage, ob diese Ordnung atmet oder nur glänzt. Eric Lu spielt, als würde er nicht auftreten, sondern erinnern; seine Musik sucht nicht Wirkung, sondern Wahrheit, nicht Lautstärke, sondern Richtung. Bei ihm entsteht der Eindruck, dass Chopin nicht gespielt, sondern wiedergefunden wird.

Hyuk Lee steht zwischen Freiheit und Form. Sein Spiel wirkt wie Bewegung, nicht wie Darstellung – manchmal spielerisch, fast unberechenbar, und doch getragen von innerer Logik, als würde der Tanz im Ton weiterleben. Piotr Pawlak verkörpert die edle Linie der polnischen Schule – Haltung, Kontrolle, Kultur. Doch gerade jetzt entscheidet sich, ob diese Haltung innerlich aufbricht oder in Schönheit verharrt. Shiori Kuwahara bringt eine neue, klare, fast durchscheinende Ästhetik – Chopin ohne Schatten, hell, modern, von manchen als Zukunft gehört, von anderen als Distanz empfunden. Bao Yanyan ist das Gegenbild: unruhig, kantig, nicht immer schön, aber lebendig, was ihn in polnischen Kommentaren zu einem der „gefährlichen“ Kandidaten macht – gefährlich im besten Sinn, weil er nicht gefallen will, sondern zeigen, wie er hört.

So verändert sich der Klangraum dieses Wettbewerbs. Warschau applaudiert – aber Warschau beginnt zu lauschen. Zwischen Geste und Ursprung, zwischen Technik und Atem, zwischen Darstellung und innerer Herkunft entscheidet sich nun, wer Chopin spielt – und wer Chopin versteht.

Was die polnischen Kulturkreise wahrnehmen

 

TVP Kultura & Juroren-Interviews (z. B. Jabłoński) – sprechen offen über „Oberflächenmusik“, die beeindruckt, aber innen leer bleibt.

 

Gazeta Wyborcza & Ruch Muzyczny – beobachten eine Spaltung zwischen Applaus-Erfolg und innerer Wahrheit, besonders gut hörbar bei Kandidaten wie Hyuk Lee und Eric Lu, die weniger äußere Geste bieten, aber musikalische Tiefe gewinnen.

 

Polskie Radio Chopin – deutet an, dass Polen zwar auf Pawlak hofft, aber Hyuk Lee und Eric Lu als „nicht polnisch, aber chopinisch“ beschrieben werden – und das ist das größte Lob, das ein Fremder in Warschau bekommen kann.

 

Im Publikum zeigt sich: Lauter Applaus für kraftvolle und extrovertierte Pianisten – aber lange, stille Kommentare für Lu und Hyuk Lee.

 

Die 11 Finalisten – Klangprofile

 

Piotr Alexewicz (1998, Polen – 27 Jahre)

Er repräsentiert die ruhige, kontrollierte Linie der polnischen Schule – korrekt, kultiviert, doch innerlich noch auf der Suche nach einem eigenen Risiko.

 

https://www.youtube.com/watch?v=dchmWEv97B4 

 

Kevin Chen (2005, Kanada – 20 Jahre)

Ein Pianist von beispielloser Architektur, dessen Perfektion so vollkommen wirkt, dass die eigentliche Frage bleibt: wann er zulässt, dass diese Ordnung atmet.

 

https://www.youtube.com/watch?v=UmAXms3GHbU 

 

David Khrikuli (2001, Georgien – 24 Jahre)

Kraftvoll, direkt und ohne Umwege – ein Klang, der Standfestigkeit zeigt, aber sich erst noch in Tiefe verwandeln muss.

 

https://www.youtube.com/watch?v=yLyjR-iEPPE 

 

Shiori Kuwahara (2001, Japan – 24 Jahre)

Ihr Spiel wirkt wie Chopin durch Glas – klar, makellos gezeichnet, schön anzusehen, doch bewusst fern von romantischer Wärme.

 

https://www.youtube.com/watch?v=SAxhlpi-F8Y 

 

Tianyou Li (1999, China – 26 Jahre)

Ein Vertreter der kontrollierten Schule, stark in Linie und Anschlag, jedoch noch zurückhaltend in Bezug auf individuelle Klangsprache.

 

https://www.youtube.com/watch?v=_kkhNMN_WyA 

 

Eric Lu (1997, USA – 28 Jahre)

Er spielt nicht, um zu zeigen, sondern um zu erinnern – sein Ton zieht sich zurück und gewinnt gerade dadurch innere Präsenz.

 

https://www.youtube.com/watch?v=n7VWMCFt34s 

 

Tianyao Lyu (2002, China – 23 Jahre)

Ausdrucksbereit und sauber geführt, doch oft mehr im Denken als im Fühlen – ein Pianist mit Ordnung, der auf das innere Risiko noch wartet.

 

https://www.youtube.com/watch?v=1kFLATA2wqM 

 

Vincent Ong (2000, Malaysia – 25 Jahre)

Unaufdringlich und ehrlich – kein Klang, der beeindrucken will, sondern einer, der sich ohne Pathos in die Linie fügt.

 

https://www.youtube.com/watch?v=jN8y20xwVp4 

 

Miyu Shindo (2003, Japan – 22 Jahre)

Fein konturiert und sensibel, mit klarem Ohr für Klangfarben – doch noch vorsichtig in der inneren Öffnung.

 

https://www.youtube.com/watch?v=TKoNyNP2__A 

 

Zitong Wang (2001, China – 24 Jahre)

Diszipliniert, klar gebaut, mit hörbarer Arbeitskultur – ein sicherer Spieler, dessen innere Handschrift erst zu ahnen ist.

 

https://www.youtube.com/watch?v=ptPMFByeAEk 

 

William Yang (2001, USA – 24 Jahre)

Direkter Zugriff, klar im Ausdruck, mit amerikanischer Unmittelbarkeit – weniger poetisch, aber entschlossen und präsent.

 

https://www.youtube.com/watch?v=xSQod9T9FKE  

...

Am 17. Oktober 1849, vor 176 Jahren, starb Frédéric Chopin.

Dritte Runde II
Finalisten

Elf Gesichter des Finales – Die Pianisten des XIX. Internationalen Chopin-Wettbewerbs 2025

Die Finalkonzerte des XIX. Internationalen Chopin-Klavierwettbewerbs finden am 18., 19. und 20. Oktober 2025 in der Nationalphilharmonie in Warschau statt. Elf Pianisten aus verschiedenen Teilen der Welt treten in diesen drei Abenden gegeneinander an – jeder mit einer eigenen künstlerischen Handschrift, mit individuellen biografischen Wegen und mit einer ganz persönlichen Beziehung zur Musik Fryderyk Chopins.

Der 25-jährige Piotr Alexewicz aus Wrocław gehört zu jenen Pianisten, deren künstlerische Reife sich über die Etappen des Wettbewerbs deutlich abgezeichnet hat. Er beeindruckte vor allem in der zweiten Runde mit dem kompletten Zyklus der Préludes sowie dem Polonaise As-Dur – Darbietungen, die von Kritikern als bewusst stilistisch eigenständig gelobt wurden. Besonders im Halbfinale, mit seinem Andante spianato und der Grand Polonaise Es-Dur op. 22, zeigte er eine Souveränität im Stil brillante, die auf eine innere Vertrautheit mit Chopins Klangwelt schließen lässt. Bereits 2021 hatte er das Halbfinale erreicht. Die Leidenschaft für das Klavier entflammte, als er Rachmaninows d-Moll-Konzert erstmals hörte. Ausgebildet bei Lehrern wie Andrzej Jasiński, Kevin Kenner, Dmitri Alexeev und Arie Vardi, sammelte er internationale Preise und veröffentlichte ein Debütalbum mit Werken von Chopin, Liszt, Ravel und Beethoven.

Kevin Chen, geboren 2005 im kanadischen Calgary, gehört zu den jüngsten Teilnehmern – und doch spielte er bei jedem Auftritt mit einer technischen Präzision und inneren Ruhe, die von großer künstlerischer Reife zeugt. Bereits mit fünf Jahren begann seine pianistische Ausbildung, heute studiert er bei Arie Vardi in Hannover. Seine Wettbewerbsbilanz ist beeindruckend: Rubinstein-Wettbewerb in Tel Aviv, Genf, Auftritte in der Carnegie Hall, in London und auf bedeutenden Festivals in Europa. Bei seinem Chopin-Spiel legt er Wert auf emotionale Wahrhaftigkeit, verbunden mit klarer Linienführung und feinem Klangempfinden – Eigenschaften, die ihn zu einem der meistbeachteten jungen Pianisten seiner Generation machen.

Eric Lu, der den Wettbewerb bereits 2015 als Finalist mit dem vierten Preis verließ, kehrt als gereifter Künstler zurück. Sein früher Erfolg öffnete ihm die Türen zu den großen Konzertsälen der Welt – von der Carnegie Hall bis zur NOSPR in Katowice, von Madrid bis Seoul. In der aktuellen Ausgabe des Wettbewerbs fiel seine Interpretation durch eine besondere Klarheit der Phrasierung auf: selbst in dynamisch aufgeladenen Passagen blieb der Ton transparent. Zuhörer bemerkten seine Fähigkeit, Stille und Verklingen als Teil des musikalischen Ausdrucks zu gestalten – jene feinen Atempausen, in denen Chopins Musik zu einer inneren Sprache wird.

Der georgische Pianist David Khrikuli, geboren 2001 in Tbilisi, wurde nach seinem Halbfinalauftritt als „monumental“ beschrieben. Seine Sonate und die Mazurken lösten starke Reaktionen aus – nicht nur beim Publikum, sondern auch bei Kritikern, die von einem Moment schrieben, in dem Analyse in reines Zuhören umschlug. Ausgebildet in Tiflis und heute Student am Königin-Sofia-Musikkonservatorium in Madrid bei Stanislav Ioudenitch, tritt er seit Jahren international erfolgreich auf. Schon als Achtjähriger begann seine Faszination für Chopin – ausgelöst durch die Etüde revolutionnaire, die ihn zu einer regelrechten Obsession führte.

Shiori Kuwahara, geboren 1995 in Japan, ist Preisträgerin zahlreicher renommierter Wettbewerbe, darunter Maria Canals in Barcelona, Viotti in Italien, Busoni in Bozen und Rubinstein in Tel Aviv. Ausgebildet in Tokio und Berlin, wo sie ihr Studium mit höchster Auszeichnung abschloss, erhielt sie 2022 den Berliner Steinway-Preis und wurde 2025 mit einem Erfolg beim Königin-Elisabeth-Wettbewerb in Brüssel geehrt. Ihre Auftritte auf internationalen Bühnen verbinden technische Brillanz mit stilistischer Klarheit und einer klanglich differenzierten Poesie.

Die 17-jährige Tianyao Lyu aus China zog mit ihrer jugendlichen Erscheinung zunächst Aufmerksamkeit auf sich, doch schnell wurde deutlich, dass hinter der zarten Gestalt eine hochkonzentrierte musikalische Persönlichkeit steht. Ihre Darbietungen schwankten nicht zwischen Unbeherrschtheit und Gefühl, sondern zeigten eine erstaunlich kontrollierte Expressivität. Trotz ihres Alters studiert sie bereits an der Musikakademie in Poznań bei Katarzyna Popowa-Zydroń und gewann zuvor bedeutende Nachwuchswettbewerbe in Ettlingen und Szafarnia.

Vincent Ong, 24 Jahre alt und aus Malaysia stammend, überzeugte durch eine stille Souveränität. Seine Interpretationen, klar strukturiert und musikalisch durchdacht, verzichteten auf Effekt um des Effekts willen. Vielmehr entsteht in seinem Spiel Raum zur Kontemplation – ein Chopin, der atmet und in sich ruht. Studiert hat er unter anderem bei Eldar Nebolsin in Berlin und erhielt Auszeichnungen in Taipei, Singapur und beim Schumann-Wettbewerb 2024.

William Yang, geboren 2001, sicherte sich seinen Platz im Finale durch den Sieg beim National Chopin Piano Competition in Miami. Dort wurde er zugleich für das beste Mazurken- und Sonatenspiel ausgezeichnet. Ausgebildet am Curtis Institute und an der Juilliard School, konzertiert er bereits mit bedeutenden amerikanischen Orchestern. Bei seinem Auftritt in der dritten Runde des Wettbewerbs wurde besonders hervorgehoben, wie souverän und differenziert er sowohl die Sonate als auch die Mazurken interpretierte.

Die 2002 geborene Miyu Shindo erhielt ihre Ausbildung zunächst in Moskau, später in Hannover bei Arie Vardi. Sie errang Preise beim Wettbewerb „City of Vigo“, bei Chopin-Wettbewerben in Asien, in Genf, Salt Lake City und Tokyo. Ihre Bühnenpräsenz vereint technische Geschmeidigkeit mit einem feinen Gespür für Klangfarben, was sie zu einer der sensibelsten Interpretinnen dieser Wettbewerbsrunde macht.

Zitong Wang, 1999 in der Inneren Mongolei geboren, studierte am New England Conservatory bei Dang Thai Son und gewann Wettbewerbe in New York, Princeton, Ferrol und 2023 einen Preis beim Busoni-Wettbewerb in Bozen. Bereits mit 13 Jahren gab sie ihren ersten großen Auftritt in Peking. Heute konzertiert sie in renommierten Sälen in Asien, Europa und den USA. Ihre Chopin-Interpretationen zeichnen sich durch ein kantables Spiel und eine prägnante klangliche Handschrift aus.

Der 2004 geborene Tianyou Li studiert am Konservatorium in Tianjin und gewann unter anderem den internationalen Wettbewerb in Singapur, den Mozart-Wettbewerb in Zhuhai sowie Preise bei Steinway- und Chopin-Jugendwettbewerben. Er trat bereits im Wiener Haydn-Saal, im Nationalen Zentrum für Darstellende Künste in Peking und im Kammermusiksaal Berlins auf. Seine Darbietungen verbinden jugendliche Energie mit präziser stilistischer Kontrolle.

Erster Finalabend – 18. Oktober 2025, Nationalphilharmonie Warschau

Der Finalabend begann um 18.10 Uhr mit Tianyou Li (2004, China – 21 Jahre), der auf einem Steinway & Sons die Polonaise-Fantaisie As-Dur op. 61 spielte und anschließend das 1. Klavierkonzert e-Moll op. 11 aufführte. Sein Vortrag war von Klarheit und jugendlicher Disziplin geprägt, technisch kontrolliert, doch innerlich noch zurückhaltend – man spürte einen soliden Beginn, allerdings noch keine tiefe Verbindung zur musikalischen Herkunft dieser Werke.

Um 19.00 Uhr folgte Eric Lu (1997, USA – 28 Jahre) auf einem Fazioli-Flügel, ebenfalls mit der Polonaise-Fantaisie As-Dur op. 61, gefolgt vom 2. Klavierkonzert f-Moll op. 21. Sein Spiel war gekennzeichnet durch große Ruhe und Konzentration – er vermied äußere Geste, spielte dem Klang nach und nicht dem Publikum. Dieser Ansatz wirkte fast asketisch – für manche ein Zeichen tiefster Reife, für andere ein Stoß in die Distanz.

Nach einer kurzen Pause („Chopin Talk“) trat zusätzlich Tianyao Lyu (2002, China – 23 Jahre) um 20.20 Uhr an, erneut auf einem Fazioli, mit derselben Pflichtfolge: Polonaise-Fantaisie As-Dur op. 61 und 1. Klavierkonzert e-Moll op. 11. Hier erwartete man bereits eine wirkliche Entscheidung – Lyu führte mit guter Vorbereitung und sauberer Linie vor, blieb jedoch in lyrischen Momenten noch im sicheren Klangraum.

Den Abschluss des Abends bildete schließlich Vincent Ong (2001, Malaysia – 24 Jahre) auf einem Shigeru Kawai-Flügel. Ong ist in der Wettbewerbsübersicht als Malaiischer Pianist vertreten, der mehrfach internationale Preise gewann, darunter den 1. Preis beim Robert-Schumann-Wettbewerb 2024. Er beginnt sein Spiel mit bemerkenswertem Weitblick: nicht nur Technik, sondern Klangbewusstsein – er sagt selbst, sein Spiel sei „nicht nonchalant, sondern bewusst“ (PAP-Interview 15.10.2025). Sein Vortrag wirkt anders als der vieler Mitbewerber: Er wählt nicht die maximalen Effekte, sondern einen zurückgenommenen, hörenden Blick auf das Werk – eine Haltung, die im hektischen Finalfeld sofort auffällt. In den ersten Takten war klar: Hier spielt jemand nicht für das Podium, sondern für den Ton – weniger Show, mehr Stimme. Während Ong spielte, veränderte sich der Charakter des Abends – plötzlich hörte man nicht mehr Wettbewerb, sondern Musik. Nicht glänzend, sondern beweglich. Nicht national, sondern menschlich.

Begleitet wurden alle Pianisten von der Orkiestra Symfoniczna Filharmonii Narodowej (Warsaw Philharmonic Symphony Orchestra) unter der Leitung von Andrzej Boreyko (geboren 1957 als Andrei Boreiko, russisch-polnischer Abstammung), der mit hoher Sensibilität für Phrasierung und Klangfarbe den Interpretationen Raum gab – häufig mehr Engagement in der Linienführung als einige Solisten selbst. Unter Boreyko formt das Orchester Linien mit innerem Atem – weniger repräsentativ als unter Antoni Wit (* 1944), aber hörbar dichter, atmender, näher an Chopins innerem Puls.

 

https://www.youtube.com/watch?v=DbTlX9Q39Ok

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Erster Finalabend

Zweiter Finalabend – 19. Oktober 2025, Nationalphilharmonie Warschau

Der zweite Abend des Finales begann um 18.00 Uhr mit Miyu Shindo (2003, Japan – 22 Jahre), die auf einem Steinway & Sons zunächst die Polonaise-Fantaisie As-Dur op. 61 und anschließend das 1. Klavierkonzert e-Moll op. 11 aufführte. Ihr Spiel war geprägt von feiner Klangkultur und kontrollierter Eleganz – eine Interpretation ohne dramatische Geste, eher tastend, mit hörbarem Respekt vor der Partitur. Sie verzichtete auf große Spannungsbögen zugunsten einer klaren, fast durchscheinenden Linienführung.

Um 19.00 Uhr folgte Zitong Wang (2001, China – 24 Jahre), diesmal auf einem Shigeru Kawai. Auch er präsentierte die Polonaise-Fantaisie und das e-Moll-Konzert op. 11, mit einem Ansatz, der stärker strukturell als emotional geprägt war. Sein Klang war kontrolliert, beinahe kammermusikalisch diszipliniert, doch in den lyrischen Passagen fehlte noch jene innere Spannung, die den Zuhörer über die reine Form hinausführt. Man hörte viel Arbeit, viel Bewusstsein – doch Chopin erschien eher als Architektur denn als atmende Sprache.

Nach der Pause („Chopin Talk“) trat um 20.20 Uhr William Yang (2001, USA – 24 Jahre) auf, ebenfalls auf einem Steinway & Sons, mit der Polonaise-Fantaisie und dem 2. Klavierkonzert f-Moll op. 21. Sein Spiel war direkter und unmittelbarer als das seiner Vorgänger, energisch, mit deutlich amerikanischer Klarheit und Entschlossenheit. Diese Geradlinigkeit verlieh seiner Interpretation Kraft, auch wenn manche Spannungsmomente eher vorgetragen als innerlich aufgebaut wirkten.

Den Abend beschloss um 21.20 Uhr Piotr Alexewicz (1998, Polen – 27 Jahre) auf einem Shigeru Kawai, ebenfalls mit der Polonaise-Fantaisie und dem 2. Klavierkonzert f-Moll op. 21. Er trat mit sichtbarer Ruhe und einer zurückgenommenen Würde auf, die an die polnische Tradition der interpretatorischen Innerlichkeit erinnerte. Sein Spiel war kultiviert, konzentriert und ohne äußere Effekte – eher dialogisch mit dem Orchester als solistisch dominierend. Nicht Glanz, sondern Haltung bestimmte seinen Auftritt.

Wie am Vorabend wurden alle Finalisten begleitet von der Orkiestra Symfoniczna Filharmonii Narodowej (Warsaw Philharmonic Symphony Orchestra) unter der Leitung von Andrzej Boreyko, dessen Phrasierungskultur erneut auffiel: weniger monumental als früher unter Antoni Wit, dafür atmender, flexibler, mit feinerem Gespür für Chopins innere Bewegungen.

 

​​

https://www.youtube.com/watch?v=6riEq01p_Eg 

 

Zwischen Wort und Klang – Finalstimmung nach zwei Abenden

Nach zwei Finalabenden beginnt sich nicht nur das Feld der Pianisten zu differenzieren, sondern auch die Sprache, mit der in Warschau über sie gesprochen wird. Einige der Finalisten äußerten sich selbst über ihre Beziehung zu den Konzerten: William Yang nannte das Klavierkonzert „liryczny i poetycki“ – lyrisch und poetisch –, und tatsächlich sucht er seine Ausdruckskraft eher in einer direkten, klar gezeichneten Linie als in rhetorischer Geste. Miyu Shindo sprach von den „kontrastach kolorów w Koncercie e-moll“, den Farbkontrasten, die sie im e-Moll-Konzert liebt – man hörte bei ihr eher eine malerische als eine dramatische Annäherung an Chopin. Piotr Alexewicz erklärte, er versuche in der Polonaise-Fantasie „znaleźć klucz i formę, która jest zawiła“, den Schlüssel zu finden zu einer Form, die verwickelt ist – seine Interpretation wirkte denn auch wie eine suchende Bewegung, weniger entschieden als lauschend.

Parallel dazu beginnen die Kommentare der polnischen Presse einen anderen Ton anzuschlagen. Eine Journalistin schrieb: „Muszę ugryźć się w język, bo zaraz napiszę coś, czego będę żałowała. Dramat.“ – Ich muss mir auf die Zunge beißen, sonst schreibe ich etwas, das ich bereuen werde. Ein Drama. Man spürt in solchen Sätzen eine wachsende Spannung zwischen Erwartung und Erfüllung, zwischen dem Wunsch nach einem innerlich überzeugenden Chopin und der Realität eines Finales, das technisch brillant ist, aber nicht immer seelisch gebunden.

In Warschau hat nicht immer der „stärkere“ Pianist gewonnen – sondern der, der „Zugehörigkeit“ ausstrahlt.

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Zweiter Finalabend

Ergebnisse 

 

In der Nacht vom Montag auf Dienstag wurde der Sieger des XIX. Internationalen Chopin-Klavierwettbewerbs in Warschau bekannt gegeben.

 

Hauptpreise des XIX. Internationalen Chopin-Klavierwettbewerbs

 

I. Preis: 60.000 Euro und Goldmedaille – Eric Lu, USA

Gestiftet vom Präsidenten der Republik Polen

https://www.youtube.com/watch?v=GFTHzzFA-TQ 

 

 

II. Preis: 40.000 Euro und Silbermedaille – Kevin Chen, Kanada

Gestiftet vom Marschall des Sejm der Republik Polen

 

 

https://www.youtube.com/watch?v=_QgvXbaLFPs

 

 

III. Preis: 35.000 Euro und Bronzemedaille – Zitong Wang, China

Gestiftet vom Ministerpräsidenten der Republik Polen

https://www.youtube.com/watch?v=omqTpiBXfnA

 

 

IV. Preis: 30.000 Euro – Tianyou Li, China, und Shiori Kuwahara, Japan

Gestiftet vom Minister für Kultur und Nationales Erbe

 

V. Preis: 25.000 Euro – Piotr Alexewicz, Polen, und Vincent Ong, Malaysia

Gestiftet vom Außenminister der Republik Polen

 

VI. Preis: 20.000 Euro – William Yang, USA

 

Neben den regulären Platzierungen wurden zahlreiche Sonderpreise vergeben – unter anderem für das beste Konzert, den besten Mazurka- und Polonaise-Vortrag sowie die beste Sonate.

 

Sonderpreise und zusätzliche Auszeichnungen des XIX. Internationalen Chopin-Klavierwettbewerbs

 

Preis für die beste Aufführung eines Konzerts: Tianyou Li, China

7.000 Euro – gestiftet von der Nationalphilharmonie Warschau

 

Preis für die beste Aufführung von Mazurken: Yehuda Prokopowicz, Polen

7.000 Euro – gestiftet vom Polnischen Rundfunk

 

Preis für die beste Aufführung einer Polonaise: Tianyou Li, China

7.000 Euro – gestiftet von der Fryderyk-Chopin-Gesellschaft

 

Preis für die beste Aufführung einer Sonate: Zitong Wang, China

10.000 Euro – gestiftet von Krystian Zimerman

 

Bella-Davidovich-Preis für die beste Aufführung einer Ballade: Adam Kałduński, Polen

7.000 Euro – gestiftet von Dmitri Sitkovetsky

 

Zusätzliche, außerordentliche Preise (gestiftet von Sponsoren, Institutionen und Privatpersonen):

 

Preis für den höchstbewerteten polnischen Teilnehmer des XIX. Wettbewerbs

10.000 Euro – gestiftet vom Vorstandsvorsitzenden der PKN Orlen S.A.

 

Preis für den höchstbewerteten Polen

10.000 Euro – gestiftet vom Verein Animato

 

Preis für den Sieger des Wettbewerbs

10.000 Euro – gestiftet von der Agentur Mast Media

 

Preis für den höchstbewerteten Pianisten, der kein Preisträger wurde

6.000 Euro – gestiftet von Ewa Kamler-Tetyk

 

Barbara-Hesse-Bukowska-Preis für die beste Pianistin, die nicht das Finale erreicht hat

5.000 Euro – gestiftet von: Maciej Piotrowski, Jolanta Pszczółkowska-Pawlik, Włodzimierz Pawlik, Shoko Kusuhara, Eri Kitazawa, Sviese Ceplauskaite, Małgorzata Góra, Eri Iwamoto-Bukowian, Urszula Gadzała, Kinga Gadzała-Koper, Mariusz Dropek

 

Preis für die beste Aufführung des Klavierkonzerts e-Moll

5.000 Euro – gestiftet von Zbigniew Kaszuba

 

Swiss Classic Maggiore-Preis für den besten polnischen Pianisten

5.800 Euro – gestiftet von einem anonymen Förderer

 

Preis für den höchstbewerteten Polen

7.000 Euro – gestiftet von der Kanzlei Sołtysiński, Kawecki & Szlęzak

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Ergebnisse

Reaktionen und Kontroversen nach dem XIX. Internationalen Chopin-Klavierwettbewerb 

 

Die Nacht vom 20. auf den 21. Oktober 2025 wird in der Geschichte des XIX. Internationalen Chopin-Klavierwettbewerbs in Warschau nicht als glanzvolles Finale, sondern als Moment der Spaltung in Erinnerung bleiben. Es war kurz vor drei Uhr morgens, als Artur Szklener, Direktor des Narodowy Instytut Fryderyka Chopina, das Juryurteil bekanntgab: Der Sieger heißt Eric Lu (1997, USA), zweiter Platz Kevin Chen (2005, Kanada), dritter Zitong Wang (China). Der Saal blieb still. Kein Aufschrei der Begeisterung, kein triumphaler Jubel. Nur verhaltener Applaus, höflich, unsicher – wie in einem Raum, in dem die Luft zu schwer geworden ist, um frei zu atmen.

Schon Minuten später begannen sich die Kommentarspalten der polnischen Medien zu füllen – mit Worten, die an Schärfe und Leidenschaft kaum zu übertreffen sind. „Coście zrobili, do cholery?!“ („Was habt ihr da nur getan, zum Teufel?!“) schrieb ein empörter Hörer, während andere von einer „kompromitacja jury“, einer „Blamage der Jury“, sprachen. „Werdykt jak z minionej epoki“ – ein Urteil wie aus einer vergangenen Epoche, schrieb jemand auf YouTube.

Viele Kommentare richteten sich direkt an die Jury und ihren Vorsitzenden Garrick Ohlsson (1948, USA), der selbst 1970 als erster Amerikaner den Wettbewerb gewonnen hatte. Der Vorwurf: nicht mangelnde Kompetenz, sondern mangelndes Gespür. „Jury słuchało innego konkursu niż większość słuchaczy“ – die Jury hat offenbar einen anderen Wettbewerb gehört als das Publikum. Diese Formulierung wurde in sozialen Netzwerken dutzendfach wiederholt, fast wie ein Refrain kollektiver Enttäuschung.

Die Empörung speiste sich aus mehreren Quellen: aus patriotischem Stolz, aus dem Gefühl kultureller Entfremdung – und aus der Ahnung, dass hier nicht mehr Chopin, sondern die „globale Pianistik“ ausgezeichnet wurde. Ein Kommentar lautete:

„Wygrał forsowany dźwięk, perkusyjny fortepian. Mamy nowy wzorzec Chopina na kolejne pięć lat.“


Ein forciertes, percussives Klavierspiel hat gewonnen. Wir haben nun ein neues Chopin-Bild für die nächsten fünf Jahre.

 Besonders bedauert wurde das Schicksal des georgischen Finalisten David Khrikuli, der trotz einer berührenden Interpretation leer ausging, sowie die Platzierungen der Japanerin Shiori Kuwahara und der jungen Chinesin Tianyao Lyu, die von vielen als Opfer einer „politischen Balance“ empfunden wurden. „Kompletnie pominięty Gruzin. Skandal. Szkoda Chinki i Japonki.“ – Der Georgier wurde völlig übergangen. Skandal. Schade um die Chinesin und die Japanerin, schrieb eine Nutzerin.

Auch professionelle Kritiker äußerten sich verhalten bis skeptisch. Die Musikjournalistin Dorota Szwarcman (Polityka) nannte das Ergebnis „kontrowersyjny“ und sprach von einem „rozdźwięk między duszą a decyzją“ – einer Dissonanz zwischen Seele und Entscheidung. Ruch Muzyczny schrieb von „zimny profesjonalizm zwycięzcy“ – kalter Professionalismus des Siegers, während ein Kritiker des Senders TVP Kultura bemerkte: „To nie jest werdykt, który rozgrzewa serca.“ – Dies ist kein Urteil, das Herzen wärmt.

Auch internationale Medien reagierten ungewöhnlich kritisch.


In der französischen Presse sprach Le Monde von einem „résultat déroutant“ – einem befremdlichen Ergebnis, das den Wettbewerb „in eine technokratische Richtung“ lenke.


Die britische BBC Music Magazine betonte, dass Eric Lu zwar „in jeder Note die makellose Kontrolle eines reifen Pianisten“ zeige, aber „zu selten den unruhigen Atem Chopins“ spüren lasse.


Selbst das amerikanische New York Times Arts Desk räumte ein: „This victory will not unite Warsaw. It’s a result that invites respect, not affection.“ – Dieser Sieg wird Warschau nicht vereinen. Er fordert Respekt, nicht Zuneigung.

Ein Kommentator im polnischen Fernsehen sagte nach der Preisverleihung: „Kiedy Chopin przestaje wzruszać, przestaje być Chopinem.“ – Wenn Chopin nicht mehr rührt, ist er kein Chopin mehr. Dieser Satz wurde vielfach zitiert – als leise, aber treffende Zusammenfassung des Gefühls, dass inmitten perfekter Technik der Geist verloren ging.

In den sozialen Netzwerken tauchten unterdessen Sätze auf, die beinahe wie Gebete klangen.

„Przepraszam, Fryderyku…“ – Verzeih uns, Fryderyk…

„Każdy, kto zna muzykę i ją szanuje, wraca do domu milcząc.“ – Jeder, der die Musik versteht und sie respektiert, geht schweigend nach Hause.

Diese Worte, in ihrer Einfachheit so tief, spiegeln das, was bleibt: nicht nur Enttäuschung, sondern Sorge. Sorge um den Wettbewerb, der seit 1927 als moralischer Maßstab des Klavierspiels galt; Sorge um die Glaubwürdigkeit einer Jury, die nicht mehr wie einst aus Persönlichkeiten, sondern aus Symbolen besteht; und Sorge um Chopin selbst – der hier nicht verklungen, sondern verkannt zu sein scheint.

Warschau erwacht nach einer Nacht, in der Chopin erneut gerichtet wurde.

Und diesmal scheint das Urteil nicht über die Pianisten gesprochen worden zu sein –
sondern über den Zustand unserer eigenen Fähigkeit zu hören.

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Reaktionen & Kontroversen

Chopin missverstanden

 

Prof. Marek Dyżewski kritisiert den Stilwandel junger Pianisten und spricht von einer Entfremdung zwischen Wettbewerbsideal und musikalischer Wahrheit.

https://www.youtube.com/watch?v=QL6qxtGocfs 

 

Ich habe mir ein Interview mit Prof. Marek Dyżewski (* 1946) angesehen – dem ehemaligen Rektor der Musikakademie in Wrocław, Pianisten, Musikwissenschaftler und renommierten Musikkritiker. In diesem Gespräch äußerte Dyżewski deutliche Kritik an der aktuellen Entwicklung des Chopin-Wettbewerbs und an der stilistischen Richtung, in die sich viele heutige Interpreten bewegen.

 

Dyżewski erinnerte daran, dass der Wettbewerb von Jerzy Żurawlew (1886–1980) ins Leben gerufen wurde – einem polnischen Pianisten, Komponisten und späteren Rektor des Warschauer Konservatoriums. Żurawlews ursprüngliche Idee war es, durch diesen Wettbewerb die wahre Stilistik des Chopin-Spiels zu bewahren und zu verbreiten: die Eleganz, die Noblesse und den poetischen Charakter, die Chopins Musik auszeichnen. Diese Mission, so Dyżewski, werde heute zunehmend missverstanden oder gar missachtet.

 

Als Beispiel nannte er den amerikanischen Pianisten Eric Lu, den Gewinner des Wettbewerbs, dessen Spiel für ihn das Gegenteil dessen verkörpere, was man unter einem authentischen Chopin-Stil versteht. Trotz technischer Perfektion fehle es an innerer Eleganz, an jener besonderen Geschmeidigkeit und Noblesse, die Chopins Musik verlangt. Im Vergleich zu früheren Auftritten, vor rund zehn Jahren, habe Lu heute etwas von seiner feinen Musikalität verloren – an die Stelle von Natürlichkeit und Klangkultur sei eine gewisse Brutalität des Tons getreten.

 

Andere Teilnehmer hätten nach Dyżewskis Ansicht wesentlich mehr Stilgefühl und musikalische Tiefe gezeigt – etwa Tianyou Li aus China und Shiori Kuwahara aus Japan, deren Spiel von lyrischer Empfindsamkeit und poetischem Atem getragen gewesen sei.

 

Besonders hervorgehoben wurde auch der junge kanadische Pianist Kevin Chen (Kanada), dessen makellose Technik und Leuchtkraft an eine Reinkarnation Liszts erinnerten.

 

Dyżewski sprach offen von einem Missverständnis des Chopin-Stils und von einer Ungerechtigkeit gegenüber der Musik und ihrem Schöpfer. Der Chopin-Wettbewerb, so seine Sorge, entferne sich immer weiter von der Idee, die Jerzy Żurawlew einst als sein Lebenswerk begründet hatte – dem Schutz und der Pflege einer der edelsten Traditionen der europäischen Klavierkunst.

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Chopin missverstanden
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