Die Anfänge und die Entwicklung der Vokalpolyphonie in Portugal
I. Einleitung: Musik und kulturelle Eigenständigkeit Portugals
Portugal, obwohl geografisch klein und lange im Schatten seines mächtigen Nachbarn Spanien stehend, entwickelte in vielen Bereichen – insbesondere in der Kirchenmusik – eine eigenständige Identität. Diese spiegelt sich eindrucksvoll in der Geschichte der portugiesischen Vokalpolyphonie wider. Trotz der geografischen Nähe zu Spanien und der gemeinsamen Einbindung in die katholische Welt, nahm Portugal in der Musik eine Sonderstellung ein, die sich durch konservative liturgische Ausprägungen, klösterliche Bildungszentren und eine bemerkenswerte Ausstrahlung in seine Kolonien – vor allem Brasilien – kennzeichnet.
II. Mittelalterliche Grundlagen: Klöster, Riten und frühe Mehrstimmigkeit
Die Ursprünge der Vokalpolyphonie in Portugal bleiben bis heute schwer greifbar. Lange Zeit wurde angenommen, dass die Dominanz der Zisterzienser mit ihrer schlichten Liturgie eine frühe polyphone Entwicklung verhindert habe. Diese These ist jedoch nur eingeschränkt haltbar. Denn obwohl die Zisterzienser in Portugal weit verbreitet waren, lässt sich anhand des Codex Las Huelgas, der in einem Zisterzienserinnenkloster in Burgos entstand, belegen, dass Polyphonie durchaus im zisterziensischen Umfeld praktiziert wurde.
Vielmehr waren es auch andere Orden wie die Cluniazenser, die mit ihrer festlich-repräsentativen Liturgie früh Formen der Mehrstimmigkeit einführten. Darüber hinaus führten politische Entwicklungen wie die Reconquista zur Neugründung und Umstrukturierung von Diözesen, in denen Bischöfe aus dem franko-normannischen Raum (etwa Dom Gilberto Hastings [Amtszeit 1147–1166], Bischof von Lissabon) neue liturgische Impulse – insbesondere den Salisbury-Ritus – einführten und Kathedralschulen gründeten.
Der Begriff „Canto d’orgão“ als Synonym für Vokalpolyphonie verweist auf den Einfluss der Orgel in der liturgischen Musikpraxis. Zwar wurde die Orgel als Instrument bereits im 8. Jahrhundert am Hofe der Karolinger eingeführt (überreicht durch den byzantinischen Kaiser Konstantin VI. [Regierungszeit 780–797] an Pippin III. [714–768]), doch in Portugal wird ihr Einfluss auf die Mehrstimmigkeit erst ab dem 12. Jahrhundert greifbar.
In jedem Fall zeigt sich, dass Portugal keineswegs von der allgemeinen Entwicklung polyphoner Musik ausgeschlossen war. Das Fehlen früher Notenquellen ist eher auf Naturkatastrophen (z. B. das Erdbeben von Lissabon 1755) sowie die geringe Überlieferungsdichte aus Klöstern zurückzuführen als auf eine generelle musikalische Rückständigkeit.
III. Erste gesicherte Hinweise auf Mehrstimmigkeit (14.–15. Jahrhundert)
Die ersten dokumentarischen Erwähnungen mehrstimmiger Musik in Portugal stammen aus dem Jahr 1386: Im Augustinerkloster Santa Cruz in Coimbra wurde festgelegt, dass während der Oktav des Fronleichnamsfestes sowohl die Messen als auch die Vespern im „canto d’orgão“ – also in Vokalpolyphonie – gesungen werden müssen. Bereits ein Jahr später (1387) ordnete König João I. (1357–1433) an, dass am Fest des hl. Georg in Lissabon eine Messe im „canto d’orgão“ gefeiert werden solle.
Im Jahr 1415 wurde nach der Einnahme von Ceuta auf portugiesischer Seite ein mehrstimmiges Te Deum gesungen – das erste dokumentierte polyphone Werk portugiesischer Herkunft. Die Musik ist leider nicht erhalten.
Der französische Musiker Jehan Simon de Haspre († um 1428), der um 1380 am Hof von König Fernando I. (1345–1383) weilte, soll laut späteren Quellen erste polyphone Techniken nach Portugal gebracht haben. Unter Duarte I. (1391–1438) und Afonso V. (1432–1481) wurde die Capela Real weiterentwickelt. Der Kapellmeister Álvaro Afonso (fl. 1440–1471) wurde nach England geschickt, um die Statuten der königlichen Kapelle Heinrichs VI. (1421–1471) zu studieren – ein Beleg für das Interesse an ausländischen Vorbildern.
Pedro de Escobar (ca. 1465–1535), lange in Spanien als Hofkapellmeister bei Isabella I. von Kastilien tätig, gilt als erster bedeutender portugiesischer Komponist der Renaissance. Sein Werk wurde sowohl auf der Iberischen Halbinsel als auch in Südamerika verbreitet.
IV. Die Hochrenaissance in Portugal: Klösterliche Zentren und pädagogische Netzwerke
Zu Beginn des 16. Jahrhunderts entwickelten sich Coimbra, Braga und vor allem Évora zu den wichtigsten musikalischen Zentren Portugals. In diesen Städten – häufig verbunden mit Augustinerklöstern oder Kathedralschulen – wurde polyphone Musik gelehrt, gepflegt und weiterentwickelt.
Besondere Bedeutung kommt Manuel Mendes (ca. 1547–1605) zu, der ab 1575 als Lehrer in Évora tätig war. Er bildete die drei Hauptfiguren des Goldenen Zeitalters aus: Manuel Cardoso (1566–1650), Duarte Lobo (ca. 1565–1646) und Filipe de Magalhães (ca. 1571–1652). Sie prägten den portugiesischen Vokalstil über fünf Jahrzehnte hinweg und standen an der Spitze der wichtigsten Kapellen des Landes.
V. Die Blütezeit der portugiesischen Vokalpolyphonie (1580–1650)
Während der spanisch-portugiesischen Personalunion (1580–1640) wurde in Portugal die musikalische Entwicklung bewusst konservativ fortgeführt. Trotz der politischen Abhängigkeit von Spanien schufen Cardoso, Lobo und Magalhães Werke von höchster Qualität und liturgischer Strenge.
Die Kirchenmusik dieser Epoche wurde stark vom Stil der Römischen Schule beeinflusst: klare Textverständlichkeit, modale Stabilität, ausgeglichene Polyphonie, Orientierung am gregorianischen Choral. Palestrina, Victoria und Guerrero dienten als Vorbilder – ihre Werke waren in portugiesischen Klöstern bekannt und wurden rezipiert.
Duarte Lobo hinterließ 21 Messen, 17 Magnificat, 17 Responsorien, 11 Psalmen, 4 Sequenzen, 4 Lektionen, 4 marianische Antiphonen, 6 Motetten, einen Hymnus und zwei vilancicos. Seine Kompositionen verbinden strenge Kontrapunktik mit harmonischer Ausdruckskraft – insbesondere in seinen Spätwerken, in denen bereits Anklänge an den stile moderno sichtbar werden (z. B. freie Septakkorde, ausdrucksstarke Dissonanzen, modulierende Passagen).
Manuel Cardoso, der im Karmeliterkloster von Lissabon wirkte, war ein Meister der Choralverarbeitung. Seine Musik gilt als Musterbeispiel tridentinischer Kirchenmusik: würdevoll, textverständlich und tief religiös. Filipe de Magalhães, zuletzt Leiter der königlichen Kapelle, ergänzte das Triumvirat mit einer klaren, oft kantablen Melodik und einer eher kontemplativen Haltung.
VI. Spätere Entwicklungen und Fortwirken bis ins 18. Jahrhundert
Nach 1650 verloren sich viele Elemente der altklassischen Vokalpolyphonie. Doch Portugal hielt länger als andere Länder an ihr fest. Komponisten wie Manuel Correia (1600–1653), João Lourenço Rebelo (1610–1661) oder Pedro de Cristo (ca. 1545–1618) zeigten, dass auch in der Übergangszeit zur Barockmusik ein starkes polyphones Bewusstsein erhalten blieb.
Im 18. Jahrhundert wirkten Komponisten wie João Rodrigues Esteves (1700–1751), Francisco António de Almeida (vor 1722–ca. 1755) und João de Sousa Carvalho (1745–1798) – sie verbanden polyphone Traditionen mit galantem Stil und italienischer Ausdrucksweise. Der Einfluss der römischen Kirchenmusik blieb über Jahrhunderte spürbar.
VII. Die Ausstrahlung nach Brasilien und in die koloniale Welt
Mit der Entdeckung Brasiliens durch Pedro Álvares Cabral im Jahr 1500 wurde nicht nur politisches, sondern auch kulturelles Neuland betreten. Die erste dokumentierte Messe in Brasilien wurde noch im selben Jahr gefeiert – möglicherweise mit polyphonem Gesang.
Ein zentraler Förderer der Kirchenmusik in Brasilien war Tomé de Sousa (1503–1579), der erste Generalgouverneur. Mit seiner Ankunft 1549 und der Gründung von Salvador da Bahia begann der strukturierte Aufbau kirchlicher und musikalischer Institutionen in der Kolonie. Die Jesuiten unter Manuel da Nóbrega (1517–1570) organisierten Musikschulen, Knabenchöre und Kollegien nach dem Vorbild portugiesischer Kathedralschulen.
Werke von Cardoso, Lobo, Magalhães und anderen wurden nach Brasilien überführt, kopiert und aufgeführt. Die Begeisterung der einheimischen Bevölkerung – besonders unter Indigenen und afrikanischstämmigen Christen – für mehrstimmige Musik war groß. Im 18. Jahrhundert entwickelte Brasilien eine eigene Kirchenmusiktradition, die polyphone Elemente bewahrte und mit lokalen Formen verband.
VIII. Stilistische Analyse: Merkmale der portugiesischen Vokalpolyphonie
Die portugiesische Vokalpolyphonie zeichnet sich durch einige charakteristische Merkmale aus:
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Textverständlichkeit: bewusste Umsetzung der tridentinischen Vorgaben.
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Modale Harmonik: enge Anlehnung an den gregorianischen Choral.
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Klanglich ausgeglichener Satz: Durchimitation und klare Stimmenführung.
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Feierliche Sakralität: kein weltlicher Überhang, selbst in freien Formen.
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Choralalternation: Wechsel von Homophonie und Polyphonie.
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Langsamer Übergang zur Tonalität: besonders in Werken von Lobo sichtbar.
IX. Schlussbetrachtung und Vermächtnis
Die Geschichte der portugiesischen Vokalpolyphonie ist ein Beispiel für musikalische Eigenständigkeit, spirituelle Tiefe und kompositorische Meisterschaft. Portugal gelang es, Einflüsse aus Frankreich, Italien und Spanien aufzunehmen, ohne dabei seine stilistische Integrität zu verlieren.
Insbesondere die Zeit von ca. 1550 bis 1650 darf als Goldene Epoche gelten – ein Zeitraum, in dem die bedeutendsten Komponisten an den herausragenden Kapellen des Landes wirkten und Werke schufen, die international geschätzt wurden.
Die Ausstrahlung nach Brasilien, die konservative Haltung gegenüber modischen Strömungen sowie die durchgehend hohe Qualität der liturgischen Musik machen die portugiesische Vokalpolyphonie zu einem einzigartigen Phänomen europäischer Musikgeschichte. Sie verdient heute, neu entdeckt, studiert und aufgeführt zu werden.
Literatur und Quellen
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Owen Rees: Polyphony in Portugal c. 1530–1620: Sources from the Monastery of Santa Cruz, Coimbra. Garland, New York 1995.
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Robert Stevenson: Renaissance and Baroque Musical Sources in the Americas. University of California Press, 1970.
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Macário Santiago Kastner: História da Música Portuguesa. Lisboa: Fundação Calouste Gulbenkian, 1982.
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António Jorge Marques: Manuel Cardoso e o estilo musical da Contra-Reforma em Portugal. Lisboa 2003.
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Vasco Negreiros: „A Música no Mosteiro de Santa Cruz de Coimbra (sécs. XVI–XVII)“ in: Revista Portuguesa de Musicologia, nova série, 2 (2015).
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Enciclopédia Verbo Luso-Brasileira de Cultura. Lisboa/São Paulo: Verbo, 1998.
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Pedro de Freitas Branco: História da Música Portuguesa. Lisboa: Livros Horizonte, 1983.
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Carine Lermite: Les relations musicales entre le Portugal et l'Espagne à la Renaissance. Thèse, Sorbonne, 2006.
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Artikel über portugiesische Polyphonie in: Grove Music Online. Oxford University Press.
