Jan Dismas Zelenka (1679–1745)
Zelenka gehört zu den großen Außenseitern der europäischen Musikgeschichte – ein Komponist von überwältigender Originalität, dessen Name lange Zeit im Schatten der großen Hofkapellmeister und kirchlichen Repräsentationsmusik stand, obwohl gerade er zu den eigenständigsten musikalischen Denkern des frühen 18. Jahrhunderts zählte.
Vollständiges Werkverzeichnis von Jan Dismas Zelenka (ZWV)
Geboren wurde er am 16. Oktober 1679 im böhmischen Louňovice pod Blaníkem, als Sohn eines Organisten, in einem kulturellen Grenzgebiet, das von katholischer Mystik, tschechischer Volksfrömmigkeit und habsburgischer Kirchenpolitik gleichermaßen geprägt war. Anders als viele seiner Zeitgenossen erhielt er keine glanzvolle Kapellknaben-Ausbildung an einem bedeutenden Hof, sondern wuchs im vergleichsweise bescheidenen Kontext eines ländlichen, aber musikalisch disziplinierten Milieus auf – eine Herkunft, die seinen späteren Stil prägen sollte: streng, innerlich glühend, asketisch in der Form und gleichzeitig von unerwarteter Expressivität.
Sein Weg an den Dresdner Hof begann nicht wie bei Bach oder Telemann über gelehrte Städte wie Leipzig oder Hamburg, sondern über die katholischen Bildungszentren der Jesuiten, wo Zelenka nicht nur Musik studierte, sondern auch lateinische Rhetorik, Theologie und kontrapunktische Exegese – eine geistige Schulung, die in seinen Werken unüberhörbar ist. Um 1710 trat er in den Dienst der Sächsischen Hofkapelle in Dresden, zunächst nicht als gefeierter Komponist, sondern als Kontrabassist – ein Detail, das oft übersehen wird und dennoch entscheidend ist, denn Zelenkas Musik „atmet“ von unten her: seine Basslinien sind von einer geistigen Kraft und harmonischen Kühnheit geprägt, die in der Kirchenmusik des 18. Jahrhunderts einzigartig ist.
Der Wendepunkt seines Lebens war seine Studienreise nach Wien (1716–1719), wo er unter dem Schutz des kaisertreuen Dresdner Hofes bei Johann Joseph Fux (1660–1741) studierte, dem Autor des Gradus ad Parnassum und päpstlich geadelten Meister des strengen Kontrapunkts. Hier begegnete Zelenka dem römischen Stil Caldara’scher Würde, der Theatralik Vivaldis und der geistigen Strenge des alten stile antico – eine Verschmelzung, die später zu seiner unverkennbaren Klangsprache führte: leidenschaftlich und akademisch zugleich, mathematisch konstruiert und emotional unberechenbar.
Zurück in Dresden, übernahm er während der langen Krankheit von Johann David Heinichen (1683–1729) faktisch die kompositorische Leitung der Hofkirchenmusik – ohne je offiziell den Titel eines Hofkapellmeisters zu erhalten. Mehrfach bat er den Kurfürsten um Anerkennung, und mehrfach wurde er übergangen. Zeitgenössische Briefe berichten von seiner inneren Vereinsamung und von einem tiefreligiösen Ernst, der sich besonders in den späten Messen wie der Missa Omnium Sanctorum (1741, ZWV 21) oder der erschütternden Lamentatio Jeremiae Prophetae (ZWV 203) spiegelt – Werke von fast mystischer Intensität, die mehr an kontemplative klösterliche Passionsmeditation erinnern als an höfische Repräsentationsmusik.
Zelenka starb am 23. Dezember 1745 in Dresden, offiziell als „Kirchenschreiber“ geführt – ein bürokratischer Titel, der in groteskem Kontrast zur Größe seines Oeuvres steht.
Er wurde auf dem katholischen Friedhof an der Dresdner Hofkirche (Katholische Hofkirche / heute Kathedrale Sanctissimae Trinitatis) beigesetzt – doch sein Grab ist nicht erhalten.
Zelenkas Begräbnis – Rekonstruktion nach verschiedenen Quellen
Jan Dismas Zelenka starb am 23. Dezember 1745 in Dresden, in unmittelbarer Nähe der Katholischen Hofkirche, an der er seit Jahrzehnten als Komponist und „Kirchenschreiber“ tätig war. Die Sterbenachricht findet sich im Sterberegister der Dresdner Hofkirche, archiviert in den Beständen der Sächsischen Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek Dresden (SLUB). Dort ist vermerkt, dass er am folgenden Tag, dem 24. Dezember 1745, beigesetzt wurde – nach katholischem Ritus und im dienstlichen Rang eines Hofmusikers, wenn auch ohne die Ehren, die einem offiziell ernannten Hofkapellmeister zugestanden hätten.
Die Hofkirche war zu diesem Zeitpunkt im Inneren noch eine Baustelle, denn der repräsentative Bau von Gaetano Chiaveri (1689–1770) befand sich erst seit 1739 im Bau und sollte erst 1755 geweiht werden. Während dieser Übergangszeit fanden die Gottesdienste und die Begräbnisse der katholischen Hofgemeinde im provisorisch eingerichteten Kirchraum statt, und die Beisetzungen erfolgten auf dem angrenzenden katholischen Kirchhof, einem streng abgegrenzten Areal ausschließlich für katholische Hofbedienstete, Kleriker und Mitglieder der Kapelle.
Zelenkas Grab lag damit auf dem „Alten Katholischen Kirchhof“, der sich unmittelbar an der Nordseite der Kirche, leicht erhöht zur Elbseite hin, befand. Dieser Friedhof wurde im 19. Jahrhundert vollständig entwidmet und überbaut. Die alten Gräber wurden eingeebnet, Grabmale entfernt, und der Boden mehrmals umgestaltet. Kein einziger Grabstein Zelenkas ist überliefert, und kein Gedenkstein erinnert an ihn an Ort und Stelle – eine Tatsache, die in Zelenkas späterer Rezeptionsgeschichte immer wieder als Symbol seiner historischen Randstellung interpretiert wurde: ein genialer Musiker, dessen Körper im Boden verschwand, während seine Partituren überlebten.
Die Musikwissenschaftlerin Janice B. Stockigt weist darauf hin, dass Zelenka bis zu seinem Tod in einem kleinen, bescheidenen Quartier nahe der Hofkirche lebte, „zwischen Bibliothek, Archiv und Kirchenraum“, fast asketisch, ganz dem Dienst an der Liturgie verschrieben. Zeitgenössische Hofakten nennen ihn in der Sprache des höfischen Verwaltungsapparats lediglich „Schreiber der katholischen Kirchenmusik“, nicht jedoch Maestro di Capella, obwohl er faktisch die liturgischen Geschäfte leitete.
Zelenka wurde also nicht wie ein Hofkapellmeister mit öffentlichem Zeremoniell bestattet, sondern erhielt den regulären, aber würdevollen liturgischen Ritus der Dresdner Hofkirchengemeinde – mit lateinischem Officium Defunctorum, gesungen von jenem Chor, dessen Klang er selbst über Jahrzehnte geformt hatte. Sein Körper ruht bis heute im geweihten Boden Dresdens, namenlos, aber nicht vergessen – buchstäblich im Schatten der Hofkirche.
Sein Nachlass, akribisch in eigenen Handschriften geordnet, wurde in den Archiven der Hofkirche verwahrt, geriet nach dem Siebenjährigen Krieg in Vergessenheit und überlebte nur durch Zufall die Bombennächte Dresdens. Erst im 20. Jahrhundert begann die Wiederentdeckung: zuerst durch den polnischen Musikwissenschaftler Zdzisław Jachimecki (1882 – 1953 ), später durch Wolfgang Reiche (1926 – 2019) und schließlich durch die unermüdliche Arbeit Janice B. Stockigts, die Zelenka endgültig aus der Randzone der Musikgeschichtsschreibung befreiten.
Heute erscheint seine Musik wie ein Gegenmodell zur glatten, repräsentativen Barockästhetik: Zelenka denkt in abrupten Brüchen, in dramaturgisch unerwarteten Wendungen, in harmonischen Erschütterungen – als spräche hier ein tief religiöser Geist, der sich nicht mit höfischer Oberfläche zufriedengibt. Wer eine Messe wie die Missa Divi Xaverii (1729, ZWV 12) oder die düsteren Responsoria pro hebdomada sancta (ZWV 55) hört, erkennt sofort: Dies ist kein höfischer Lieferant, sondern ein innerlich brennender Komponist, dessen Musik nicht gefallen möchte, sondern sich der Wahrheit verpflichtet fühlt.
Jan Dismas Zelenka bleibt einer jener seltenen Musiker, deren Werk wie ein verschlüsselter spiritueller Kosmos wirkt – streng, leidenschaftlich, unzeitgemäß in der besten Bedeutung des Wortes. Und gerade deshalb beginnt man heute zu ahnen, dass seine Zeit vielleicht erst jetzt wirklich gekommen ist.
Vollständiges Werkverzeichnis von Jan Dismas Zelenka (ZWV)
Das Kürzel ZWV bedeutet „Zelenka-Werke-Verzeichnis“
ZWV wurde erstellt von dem Musikwissenschaftler Wolfgang Reiche (1933–2011). Er veröffentlichte das Verzeichnis in den 1980er-Jahren im Rahmen seiner systematischen Arbeit an Zelenkas Manuskripten, besonders in Verbindung mit dem Musikarchiv der Sächsischen Landesbibliothek Dresden (Sächsische Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek Dresden), wo der größte Teil der Handschriften bis heute liegt.
Messen und Requien
Missa Sancta Caeciliae, G-Dur (ca. 1711), ZWV 1
Missa Judica me, F-Dur (1714), ZWV 2
Missa Corporis Domini, C-Dur (ca. 1719), ZWV 3
Missa Sancti Spiritus, D-Dur (1723), ZWV 4
Missa Spei, C-Dur (1724, verschollen), ZWV 5
Missa Fidei, C-Dur (1725), ZWV 6
Missa Paschalis, D-Dur (1726), ZWV 7
Missa Nativitatis Domini, D-Dur (1726), ZWV 8
Missa Corporis Dominici, D-Dur (1727, verschollen), ZWV 9
Missa Charitatis, D-Dur (1727), ZWV 10
Missa Circumcisionis Domini Nostri Jesu Christi, D-Dur (1728), ZWV 11
Missa Divi Xaverii, D-Dur (1729), ZWV 12
Missa „Gratias agimus tibi“, D-Dur (1730), ZWV 13
Missa Sancti Josephi, D-Dur (ca. 1731), ZWV 14
Missa Eucharistica, D-Dur (1733), ZWV 15
Missa Purificationis Beatae Virginis Mariae, D-Dur (1733), ZWV 16
Missa Sanctissimae Trinitatis, a-Moll (1736), ZWV 17
Missa Votiva, e-Moll (1739), ZWV 18
Missa Dei Patris, C-Dur (1740), ZWV 19
Missa Dei Filii, C-Dur (ca. 1740), ZWV 20
Missa Omnium Sanctorum, a-Moll (1741), ZWV 21
Missa Theophorica a due cori (verschollen), ZWV 241
Requien und Totenämter
Requiem d-Moll (ca. 1731), ZWV 48
Requiem F-Dur (vor 1730), ZWV 49
Oratorien
Il serpente di bronzo (1730), ZWV 61
Gesù al Calvario (1735), ZWV 62
I penitenti al sepolchro del Redentore (1736), ZWV 63
Litaneien
Litaniae de Venerabili Sacramento (2 Vertonungen), ZWV 147
Litaniae de Venerabili Sacramento (2 Vertonungen), ZWV 148
Litaniae Lauretanae (2 Vertonungen), ZWV 149
Litaniae Lauretanae (2 Vertonungen), ZWV 150
Litaniae Lauretanae „Consolatrix afflictorum“ (1744), ZWV 151
Litaniae Lauretanae „Salus infirmorum“ (1744), ZWV 152
Litaniae Omnium Sanctorum (ca. 1735), ZWV 153
Litaniae Xaverianae (2 Vertonungen), ZWV 154
Litaniae Xaverianae (2 Vertonungen), ZWV 155
Litaniae de Sancto Xaverio (1729), ZWV 156
Psalmen und Hymnen
Dixit Dominus (4 Vertonungen), ZWV 66
Dixit Dominus (4 Vertonungen), ZWV 67
Dixit Dominus (4 Vertonungen), ZWV 68
Dixit Dominus (4 Vertonungen), ZWV 69
Confitebor tibi Domine (5 Vertonungen), ZWV 70
Confitebor tibi Domine (5 Vertonungen), ZWV 71
Confitebor tibi Domine (5 Vertonungen), ZWV 72
Confitebor tibi Domine (5 Vertonungen), ZWV 73
Confitebor tibi Domine (5 Vertonungen), ZWV 74
Laudate pueri (5 Vertonungen), ZWV 78
Laudate pueri (5 Vertonungen), ZWV 79
Laudate pueri (5 Vertonungen), ZWV 80
Laudate pueri (5 Vertonungen), ZWV 81
Laudate pueri (5 Vertonungen), ZWV 82
In exitu Israel (2 Vertonungen), ZWV 83
In exitu Israel (2 Vertonungen), ZWV 84
Lauda Ierusalem (3 Vertonungen), ZWV 102
Lauda Ierusalem (3 Vertonungen), ZWV 103
Lauda Ierusalem (3 Vertonungen), ZWV 104
Beatus vir (verschiedene Fassungen), ZWV 75
Beatus vir (verschiedene Fassungen), ZWV 76
Beatus vir (verschiedene Fassungen), ZWV 77
Ave maris stella, d-Moll (ca. 1726), ZWV 110
Deus tuorum militum (ca. 1729), ZWV 113
Iste confessor („Dieser Bekenner“), ZWV 117
Veni Creator Spiritus („Komm, Schöpfer Geist“), ZWV 120
Chvalte Boha silného („Lobt Gott den Mächtigen“ – tschechischer Psalm), ZWV 165
Marianische Antiphonen
Alma Redemptoris Mater (5 Vertonungen), ZWV 123
Alma Redemptoris Mater (5 Vertonungen), ZWV 124
Alma Redemptoris Mater (5 Vertonungen), ZWV 125
Alma Redemptoris Mater (5 Vertonungen), ZWV 126
Alma Redemptoris Mater (5 Vertonungen), ZWV 127
Ave Regina coelorum (6 Vertonungen), ZWV 128
Regina coeli (6 Vertonungen), ZWV 129
Regina coeli (6 Vertonungen), ZWV 130
Regina coeli (6 Vertonungen), ZWV 131
Regina coeli (6 Vertonungen), ZWV 132
Regina coeli (6 Vertonungen), ZWV 133
Regina coeli (6 Vertonungen), ZWV 134
Salve Regina (7 Vertonungen), ZWV 135
Salve Regina (7 Vertonungen), ZWV 136
Salve Regina (7 Vertonungen), ZWV 137
Salve Regina (7 Vertonungen), ZWV 138
Salve Regina (7 Vertonungen), ZWV 139
Salve Regina (7 Vertonungen), ZWV 140
Salve Regina (7 Vertonungen), ZWV 141
Sub tuum praesidium in g-Moll („Unter deinen Schutz und Schirm“), ZWV 157
Weitere geistliche Werke
Te Deum D-Dur (ca. 1724), ZWV 145
Magnificat C-Dur (ca. 1727), ZWV 107
Magnificat D-Dur (1725), ZWV 108
De profundis (4 Vertonungen), ZWV 50
De profundis (4 Vertonungen), ZWV 95
De profundis (4 Vertonungen), ZWV 96
De profundis (4 Vertonungen), ZWV 97
Miserere d-Moll (1722), ZWV 56
Miserere c-Moll (1738), ZWV 57
Lamentationes Ieremiae Prophetae, ZWV 53
Lamentationes Ieremiae Prophetae, ZWV 203
Responsoria pro hebdomada sancta (27 Sätze), ZWV 55
Statio quadruplex ZWV 158 („Vierfache Station“)
Weltliche Werke
Sub olea pacis et palma virtutis
(Conspicua orbi regia Bohemiae corona – Melodrama de Sancto Wenceslao), 1723, ZWV 175
Instrumentalwerke
Sonaten (Trio-/Quartettsonaten) Nr. 1–6, ca. 1721, ZWV 181
Capriccio Nr. 1 D-Dur (ca. 1717), ZWV 182
Capriccio Nr. 2 G-Dur (1718), ZWV 183
Capriccio Nr. 3 F-Dur (ca. 1718), ZWV 184
Capriccio Nr. 4 A-Dur (1718), ZWV 185
Concerto à 8 Concertanti (1723), ZWV 186
Hipocondrie à 7 Concertanti (1723), ZWV 187
Ouverture à 7 Concertanti (1723), ZWV 188
Simphonie à 8 Concertanti (1723), ZWV 189
Capriccio Nr. 5 G-Dur (1729), ZWV 190
Missa Sancta Caeciliae, G-Dur (ca. 1711), ZWV 1 – Zelenkas erster großer Dresdner Auftritt
https://www.youtube.com/watch?v=WZDqb0U60vA
Die Missa Sancta Caeciliae, entstanden um 1711, markiert den Beginn von Zelenkas kompositorischer Präsenz am Dresdner Hof. Sie ist sein ältestes erhaltenes Messwerk, und obwohl sie nicht die innere Radikalität der späten Messen besitzt, ist sie kein juveniles Experiment, sondern bereits das Werk eines voll ausgebildeten Meisters, der seinen eigenen Tonsatz jenseits des höfischen Dekorationsstils sucht.
Der Zeitpunkt ihrer Entstehung ist aufschlussreich: 1710 hatte Zelenka seine feste Anstellung als Kontrabassist der Hofkapelle erhalten. Die katholische Kirchenmusik am sächsischen Hof war zu dieser Zeit im Umbruch, denn die Musikkultur Dresdens bewegte sich zwischen repräsentativem habsburgischem Glanz und einer innerlich streng gefassten, fast asketischen liturgischen Praxis – ein Spannungsfeld, das Zelenka wie kaum ein anderer verstand. Die Wahl der Patronin Cäcilia, der Schutzheiligen der Kirchenmusik, ist daher nicht zufällig zu lesen: Mit dieser Messe stellt sich Zelenka gleichsam vor – als Komponist, der nicht nur liefern, sondern geistlich sprechen will.
Stilistisch steht das Werk noch unter dem Einfluss des römischen Hochbarocks – deutliche Spuren zeigen den Blick nach Caldara, Fux und Antonio Lotti, deren Werke in Dresden kursierten. Und doch hört man bereits das, was Zelenka später unverwechselbar machen sollte: unerwartete harmonische Schatten, plötzliches Umschlagen ins Moll, eigenwillige kontrapunktische Verwerfungen, die nicht aus Zierfreude entstehen, sondern aus geistiger Spannung. Wo andere Komponisten Linien glänzen lassen, baut Zelenka innere Widerstände ein, kleine harmonische Stolpersteine, die wie geistliche Reflexionspunkte wirken.
Die Besetzung ist typisch für die ersten Dresdner Jahre: vierstimmiger Chor, solistische Einwürfe, Streicher, Oboen, Fagott und Basso continuo, ohne die prunkvollen Trompeten und Pauken, die später die prächtigeren Festmessen kennzeichnen. Diese relative Zurückhaltung der Klangfarben eröffnet Raum für das, was Zelenka hier erstmals tastend zeigt: eine liturgische Musik, die nicht nur Lobgesang ist, sondern geistliche Bewegung, fast wie ein inneres Gebet, das aufblitzt und sich wieder zurückzieht.
In den Quellen taucht diese Messe nicht als offizieller Festauftrag, sondern eher als Werk eines neuen Hofmusikers auf der Suche nach Stimme und Anerkennung. Die Handschrift wurde mit großer Sorgfalt notiert und zeigt bereits Zelenkas charakteristische Notationsweise – präzise, fast pedantisch, mit auffallender Klarheit im Kontrapunkt, als wüsste er, dass er sich eines Tages vor der Geschichte würde rechtfertigen wollen.
Wer die großen Messen späterer Jahre kennt – Missa Votiva, Missa Omnium Sanctorum, Missa Dei Patris – wird diese frühe Missa Sancta Caeciliae vielleicht als bescheidener empfinden. Doch genau darin liegt ihr Wert: Sie ist der erste Moment, in dem Zelenka liturgische Form nicht als höfische Pflicht, sondern als geistlichen Raum behandelt, der mehr ist als repräsentative Klangarchitektur. Hier beginnt bereits jene innere Glut, die sein ganzes Spätwerk durchzieht.
Die Missa Sancta Caeciliae ZWV 1, komponiert um 1711, ist nicht nur Zelenkas älteste erhaltene Messe, sondern zugleich sein erstes dokumentiertes geistliches Zeugnis aus Dresden. Sie entstand zu einer Zeit, in der sein Name am Hof noch nicht mit Komposition, sondern mit der tiefen Stimme eines Kontrabassisten verbunden war. Die Dresdner Hofkapelle, die unter dem Kurfürsten Friedrich August I., dem späteren August dem Starken, als Zentrum katholischer Repräsentationskultur ausgebaut wurde, befand sich in einem entscheidenden Transformationsmoment. Die liturgische Musik war offiziell noch in den Händen italienisch geprägter Kapellmeister, der Hof wandte sich in kostspieliger Prachtentfaltung der Gegenreformation zu, und dennoch war die katholische Hofkirche – damals noch nicht das monumentale Bauwerk, das Chiaveri später vollenden sollte – mehr Innenraum als Schaustätte, ein Ort strenger Ordnung, an dem musikalische Glanzgesten noch nicht das Maß setzten, sondern die Disziplin des Ritus.
In dieses Spannungsfeld hinein schrieb Zelenka seine erste Messe. Sie ist keine Bewerbungsmappe im prunkvollen Sinne und keine klingende Visitenkarte eines Mannes, der sich dem Hof als Lieferant großer Festmusik empfehlen will. Im Gegenteil: Sie wirkt wie ein bewusst innerlich gehaltenes Bekenntnis, fast wie ein stilles Aufzeigen: Ich beherrsche das Idiom der großen katholischen Messe, aber ich will nicht gefallen – ich will sprechen. Dass sie der heiligen Cäcilia, Patronin der Kirchenmusik, zugeordnet ist, ist mehr als eine Widmungsgeste. Es ist eine programmatische Setzung. Während viele zeitgenössische Cäcilienmessen die heilige Patronin über Glanz und orchestrale Entfaltung feiern, schreibt Zelenka eine Messe, die musikalisch nicht jubiliert, sondern sich wie ein inneres Gespräch entfaltet. Die Besetzung spiegelt das. Kein Trompetenglanz, keine Pauken, keine übersteigerte Klangarchitektur – stattdessen Chor, Solisten, zwei Oboen, Streicher und Generalbass, also jene Besetzung, die der Dresdner Hofkapelle in den Werktagen der Liturgie zur Verfügung stand. Die Autographpartitur in der SLUB Dresden zeigt eine Schrift, die nichts von Eile kennt. Sorgfältig gezogene Bögen, klar strukturierte Stimmführung, streng durchgearbeitete Basslinien zeigen, dass hier kein Gelegenheitswerk entstand, sondern etwas, das für den Komponisten selbst Gewicht hatte.
Wer spätere Werke wie die Missa Votiva oder die Missa Dei Patris kennt, wird diese frühe Messe als verhaltener empfinden, aber gerade darin liegt ihre innere Sprengkraft. Zelenkas Handschrift ist bereits klar zu hören. Seine Musik denkt von unten. Der Bass ist bei ihm nicht Fundament, sondern Bewusstseinsträger. Die Harmonik atmet, als suche sie unablässig die nächste geistige Brechung. Wo andere Komponisten ihrer Zeit Prozessionen in Klang gießen, setzt Zelenka kleine Widerstände ein. Er lässt Linien unvermittelt nach Moll fallen, erzeugt harmonische Schatten, die wie kurze Zweifel wirken, ehe die musikalische Form sich wieder fasst. Schon hier, zu Beginn seiner Dresdner Zeit, gestaltet er Liturgie nicht als höfisches Schauereignis, sondern als geistige Bewegung. Diese Messe ist nicht repräsentativ, sie ist introvertiert – und gerade dadurch von einer Würde, die tiefer reicht als jede klangliche Pracht.
Das Kyrie zeigt dies in exemplarischer Weise. Kein festlicher Auftakt, kein orchestraler Prunk – stattdessen eine imitatorische Eröffnung, die nicht nach außen ruft, sondern nach innen. Die Stimmen treten ein, nicht wie Lichtfluten, sondern wie ein Atemzug. Der Chor antwortet nicht wie ein Festchorus, sondern wie eine Gemeinschaft, die sich sammelt. Besonders auffällig ist dabei der Bass, dessen Linienführung ungewöhnlich eigenständig agiert. Man hat den Eindruck, als folgten die oberen Stimmen nicht einem Orchesterfundament, sondern einer inneren Stimme. Dann tritt im Christe eleison die Solostimme hervor – nicht der erwartete Sopran, sondern der Alt. Schon hier bricht Zelenka mit Konvention. Er gibt nicht der repräsentativen Stimme Raum, sondern der kontemplativen. Die Altlinie ist schmal, ruhig geführt, und dennoch innerlich angespannt. In wenigen Takten zeigt sich, was sein geistliches Idiom prägen wird: Expressivität ohne Ornamentzwang, Innigkeit ohne Sentimentalität. Die Harmonien kippen in kleine Mollfärbungen, nicht als dramatischer Effekt, sondern wie ein Atemzug der Demut. Im abschließenden Kyrie II, einer Fuge, tritt erstmals der kontrapunktische Wille Zelenkas hervor. Doch auch hier sucht er keine glanzvolle kontrapunktische Schau, sondern eine geordnete innere Architektur. Die Fuge spricht, sie deklamiert, sie führt in einen Zielpunkt – sie ist nicht Virtuosenstück, sondern geistliche Form.
Das Gloria setzt zunächst heller ein, doch auch hier hält sich der Klang unter der Grenze des Repräsentativen. Die Freude ist spürbar, aber durchlitten. Die Chorliniatur ist beweglich, aber nie ausgelassen. Der Rhythmus bleibt gebändigt. In den Arienteilen zeigt sich Zelenkas Fähigkeit, Solostimmen nicht als brillierende Figuren zu behandeln, sondern als Träger einer inneren Gebetsbewegung. Der Tenor oder Alt in Domine Deus singt keine Opernarie, sondern ein persönlich gefärbtes Bittgebet, das sich nicht in Affektkataloge flüchtet. Die Begleitung mit Oboen und Streichern bleibt durchhörbar, jede Stimme klar gezeichnet, der Bass aktiv, fast sprechend. Das Qui tollis wird nicht zur Passionseinlage überhöht, wie bei späteren Messen, sondern als würdige, fast archaisch wirkende Chorpassage gestaltet. Keine expressive Rhetorik, sondern eine Haltung der Sammlung. Und doch geschieht etwas Eigenes: Die Harmonie verharrt nicht, sie sucht. Die Linien bleiben nicht ornamental, sie fragen. Im Quoniam kündigt sich dann zum ersten Mal jene konzertierende Struktur an, in der Chor und Orchester gleichberechtigt agieren. Der Satz wirkt wie ein Vorgeschmack auf die späteren dialogischen Großformen, in denen Zelenka Stimmen und Instrumente nicht hierarchisch, sondern horizontal denkt. Das abschließende Cum Sancto Spiritu führt in eine Fuge, die noch nicht ekstatisch, aber bereits klar architektonisch geführt ist. Kein akademischer Kontrapunkt, sondern ein erfahrener, gedankenvoller Umgang mit der Form. Man spürt, dass hier jemand Fuge nicht als Technik, sondern als geistliche Sprache versteht.
Das Sanctus überrascht durch seine Einfachheit. Wo bei anderen Komponisten dieser Teil der Messe häufig die volle Entfaltung von Klangpracht markiert, bleibt Zelenka bei einer Art kontemplativer Erhebung. Der Klang ist licht, aber nicht blendend. Er erhebt sich, aber er triumphiert nicht. Man könnte sagen: Er richtet sich auf, ohne sich aufzublasen. Die Linienführung bleibt klar, die Harmonik nüchtern, und dennoch liegt über dem Ganzen ein stilles Leuchten. Es ist, als würde die Liturgie selbst sprechen, nicht ihre Repräsentation. Im Benedictus wird diese Haltung noch intensiver. Die Solostimme führt eine einfache, beinahe scheue Melodie, die von der Oboe oder Violine begleitet wird. Kein Operngestus, keine virtuose Geste, sondern ein persönlicher Klangraum. Wer hier Bach erwartet, findet etwas anderes. Bach transzendiert, Zelenka sammelt. Bach öffnet das Fenster weit, Zelenka zieht den Vorhang etwas zur Seite und lässt nur so viel Licht herein, wie ein einzelnes Herz erträgt. Dieser Unterschied macht seine geistliche Musik so einmalig. Sie ist nicht universell jubelnd, sondern individuell betrachtend.
Im Agnus Dei schließlich erreicht die Messe ihren innersten Punkt. Die Solostimme steht fast allein, begleitet von einem Continuo, der nicht trägt, sondern spricht. Der Ton ist nicht flehend, sondern gesammelt. In einem Hof, der Pracht liebte und Klang wie Architektur inszenierte, schreibt Zelenka ein Agnus Dei, das sich allen äußeren Schlüssen verweigert. Kein Gloria-Finale, kein abschließender Klangdom, kein „Amen“ als Siegel. Stattdessen ein offenes Ende, das wie ein fortgesetztes Gebet wirkt. Diese Messe ist kein Abschluss, sie ist ein Anfang. Sie klingt nicht aus, sie bleibt im Raum stehen. Zelenka, der Kontrabassist, der noch keinen Kapellmeistertitel trägt, schreibt hier kein Werk, das sich empfehlen will, sondern eines, das sich einfügt – aber auf eigene Weise. Und genau darin liegt seine Größe. Er nähert sich der liturgischen Form nicht als Handwerker, sondern als geistiger Architekt, der den Raum betritt, ihn vermisst und eine erste, noch leise, aber vollkommen bewusste Setzung macht.
Die Missa Sancta Caeciliae ist damit, obwohl sie äußerlich bescheiden erscheint, eines der entscheidenden Dokumente seiner frühen Dresdner Zeit. Sie zeigt einen Komponisten, der seine Sprache noch zügelt, aber innerlich bereits vollständig geformt ist. Sie gehört zu den stillen Werken des barocken Messrepertoires – und gerade in dieser Stille beginnt Zelenkas wahres Sprechen.
ZWV 2 – Missa Judica me, F-Dur (1714)
Zelenkas erste bewusste liturgische Selbstbehauptung
Zelenka schrieb seine Missa Judica me im Jahr 1714, also drei Jahre nach der Missa Sancta Caeciliae, und man spürt sofort, dass sich zwischen diesen beiden Werken etwas fundamental verändert hat. Die erste Messe war eine sorgsam gefasste innere Setzung, beinahe mehr ein stilles geistliches Statement als ein repräsentatives Werk. Die Missa Judica me dagegen klingt wie der erste bewusste Versuch, sich innerhalb der Dresdner Hofkirchenmusik nicht mehr nur zu positionieren, sondern hörbar zu behaupten – aber ohne die äußere Geste der Selbstdarstellung, die man bei anderen Hofkomponisten dieser Zeit findet. Sie ist fester, gefasster, entschlossener, und man spürt: hier beginnt Zelenka, sein geistliches Vokabular zu verdichten.
Dass er den Psalmvers „Judica me, Deus, et discerne causam meam“ – „Gott, schaffe mir Recht und führe meine Sache“ als Titel über die Messe setzte, ist nicht liturgische Routine, sondern geradezu ein Kommentar zu seiner persönlichen Situation. Denn 1714 war er noch immer offiziell ein einfacher Bassist, seine kompositorische Rolle war inoffiziell, seine geistige Kraft aber längst wach. Dieser Titel ist mehr als eine Widmung – er klingt wie ein inneres Manifest.
Die Partitur, wiederum sorgfältig mit eigener Hand geschrieben, zeigt im Vergleich zu ZWV 1 mehr Dichte in der Kontrapunktik, eine griffigere Bassführung, komplexere Übergänge und eine deutlich größere harmonische Risikobereitschaft. Schon die ersten Takte verraten eine neue Sicherheit. F-Dur, eine Tonart, die bei Zelenka oft mit sanfter Entschlossenheit verbunden ist, eröffnet die Messe nicht mit höfischer Geste, sondern mit einer bewegten, konzertierenden Chortextur, die nicht aus der äußeren Klangpracht kommt, sondern aus rhythmischer Energie. Nichts ist dekorativ – alles ist gelenkt.
Im Kyrie tritt zum ersten Mal jener innere Druck hervor, der Zelenkas spätere Messen zu geistigen Monumenten machen wird. Die Linien verteilen sich nicht höfisch-gleichmäßig, sondern scheinen einander zu verfolgen. Der Bass spielt eine aktive Rolle, fast wie ein zweiter Prediger unter den Stimmen. Der Alt, erneut von Zelenka bevorzugt, tritt als erste Solostimme hervor, nicht im Glanz, sondern im Ernst. Seine Melodie ist nicht verziert, sondern konzentriert. Und wieder tritt der plötzliche Moll-Schatten ein – dieses charakteristische Umschlagen des Tongeschlechts ohne Zwischenstufe, das wie ein geistiger Einbruch wirkt. Hier hört man nicht einen Komponisten, der „Gefühle malt“, sondern einen, der die liturgische Handlung existenziell ernst nimmt.
Der Christe eleison zeigt bereits eine neue Freiheit. Der Solist singt nicht mehr wie in ZWV 1 auf einer ruhigen Linie, sondern mit einer leisen inneren Intensität, die im Continuo Gegenbewegung findet. Während andere Komponisten dieses Zeitraums den Christe-Abschnitt oft als stilistisch separaten Ruhepunkt gestalten, integriert Zelenka ihn in die Bewegung des Kyrie, so dass kein bloßes Nebeneinander, sondern ein durchgehender innerer Bogen entsteht. Die Messe beginnt zu atmen.
Das zweite Kyrie, wieder fugiert, zeigt eine Reife im kontrapunktischen Denken, die aus dem ersten Werk nicht zu ahnen war. Die Stimmen setzen ein, nicht wie in einer gelehrten Fugenexposition, sondern wie in einer geistigen Spannungslinie, die sich von unten nach oben schraubt. Der Continuo, den man bei Zelenka nie nur als Begleitung, sondern als geistigen Motor begreifen darf, agiert nicht neutral, sondern kommentierend. Man hat das Gefühl, als würden die unteren Stimmen denken und die oberen antworten. Bereits hier entsteht etwas, das später typisch wird: Zelenkas Musik diskutiert mit sich selbst.
Im Gloria entfaltet sich zum ersten Mal eine liturgische Freude, die nicht naiv ist, sondern eine Spur streng bleibt. Das Orchester wird lebendiger, aber nicht pompös, und die Chorlinien sind nun stärker durchpulst. Zelenka baut keine Klangfassade, sondern eine geistige Architektur mit Bewegungskernen. Es gibt Stellen, in denen plötzlich der Raum „aufgeht“, als würde kurz die höfische Festlichkeit hereingelassen – aber sie bleibt Zitat, nicht Substanz. Die Soloeinsätze im Domine Deus sind nicht Arien im italienischen Sinn, sondern innerlich gesungene Meditationen, die zwar melodisch reich sind, aber nicht opernhaft expandieren, sondern im liturgischen Raum verankert bleiben. Die Oboe führt keine Girlanden aus, sondern spricht.
Das Qui tollis wird hier erstmals bei Zelenka zu einem geistlichen Schnittpunkt. Er schreibt den Chor nicht als dramatische Klage, sondern als Wendung ins Innere, fast wie ein Augenblick des Stehenbleibens. Die Harmonien verschieben sich, aber nicht expressiv-theatralisch wie bei Caldara oder Lotti, sondern trocken, präzise, mit einer fast erschreckenden Klarheit. Zelenka weint nicht – er urteilt.
Im folgenden Abschnitt beginnt sich jene Dialogstruktur zwischen Chor und Solisten abzuzeichnen, die in ZWV 12 zur vollen Ausprägung kommen wird. In ZWV 2 ist sie noch verhaltener, aber bereits organisch. Man spürt, dass Zelenka beginnt, die liturgische Form nicht als starre Abfolge, sondern als flexiblen geistigen Körper zu behandeln, der bewusst unter Spannung gesetzt wird. Nichts fließt selbstverständlich – alles hat Widerstand.
Das Cum Sancto Spiritu ist in dieser Messe nicht triumphal, sondern zielgerichtet, wie ein beschleunigter innerer Prozess, nicht wie ein aufgesetztes „Amen“. Die Fuge ist präzise, aber nicht laut, ihre Energie entsteht nicht aus Klangfülle, sondern aus rhythmischer Eindringlichkeit. Man erinnert sich beim Hören daran, dass 1714 noch niemand in Dresden wusste, dass aus diesem stillen Bassisten einer der eigenwilligsten geistlichen Architekten des Barock werden würde.
Das Sanctus hebt sich in der Textur von ZWV 1 ab. Es trägt etwas Festlicheres, ohne höfisches Pathos zu imitieren. Der Klang öffnet sich, aber diszipliniert, fast so, als sei Zelenka bereit, das höfische Klangideal zu akzeptieren, solange es sich der liturgischen Ernsthaftigkeit unterordnet. Kein Übermaß, keine explodierende Pracht – eine kontrollierte Glorie. Wer genau hinhört, spürt eine Spannung zwischen äußerem „Heilig“ und innerem „Erbarme dich“. Zelenka zeigt die Heiligkeit nicht, um sie zu feiern, sondern um sie als Forderung an den Menschen auszusetzen.
Im Benedictus zieht sich die Musik wieder zurück. Die Solostimme ist nicht Sängerin, sondern Betende. Die Instrumente legen keine Klangfläche, sondern eine Art tastenden Boden. Es ist Musik, die ihr eigenes Tempo sucht, die alles Überflüssige beiseiteschiebt und zum Kern will. Wer diese Stellen mit italienischen Messen vergleicht, merkt sofort: Zelenka kennt das Opernhafte, aber er misstraut ihm.
Das Agnus Dei ist wie ein stilles Nachwort. Kein prunkvoller Schluss, kein Abschlussgestus, sondern ein fortgesetztes Bitten, das sich nicht auflöst, sondern fortbesteht. Diese Messe endet wie ein Gebet, nicht wie ein Werk. Sie will nicht applaudiert werden, sie will weiterklingen – im Inneren.
Damit steht ZWV 2 als eigenständige, geistig hochgespannte Messe im Raum. Sie ist kein Schülerwerk, sondern ein Werk der inneren Selbstbehauptung, zwischen Zurückhaltung und geistlicher Macht, zwischen Bassfundament und harmonischer Kühnheit, zwischen stiller Bitte und struktureller Entschlossenheit.
Von dieser Messe existiert derzeit keine einzige professionelle Tonaufnahme. Die Missa Judica me existiert lediglich in der Handschrift, bewahrt in den Dresdner Archiven
Sie gehört damit zu denjenigen Werken Zelenkas, die – trotz erhaltener Partitur – musikalisch noch im Zustand des Schweigens verharren.
Missa Corporis Domini, ZWV 3
https://www.youtube.com/watch?v=j5N1Ly54QiE
Zelenka schrieb seine Missa Corporis Domini (ZWV 3) um 1719, in einer Zeit, in der seine Position am Dresdner Hof zwar noch immer nicht offiziell gefestigt, seine kompositorische Handschrift aber bereits vollkommen ausgeprägt war. Zwischen den liturgisch eher kontemplativen frühen Messen und den großen Festmessen der dreißiger Jahre steht dieses Werk als Übergangsform, als Versuch, den Klang des katholischen Dresden in eine geistige Struktur zu bringen, die ebenso feierlich wie reflektiert ist. Der Titel verweist auf das Hochfest des Fronleichnams, den liturgisch prachtvollsten Tag des Kirchenjahres – doch Zelenka nähert sich diesem Thema nicht mit der selbstverständlichen Festlichkeit eines Hofkomponisten, sondern mit jener eigentümlichen Mischung aus Mystik und Ordnung, die für seine Kunst charakteristisch ist. Die Messe in C-Dur ist daher keine klangliche Prozession, sondern ein inneres Hochamt, das zwischen Licht und Stille schwingt.
Das Kyrie beginnt mit einer Geste, die wie ein vorsichtiges Öffnen des Raums wirkt. Der Chor tritt nicht mit Pauken und Trompeten ein, sondern mit einer konzertanten Leichtigkeit, die sich aus der Bewegung des Basses aufbaut. Das Orchester des Collegium 1704 unter Václav Luks trifft diesen Ton genau: kein aufgesetzter Glanz, sondern ein durchhörbares, von Atem getragenes Klanggewebe, in dem jede Stimme ihr Gewicht kennt. Die ersten Takte entfalten jene typische Zelenka-Rhythmik, bei der metrische Schwerpunkte verschoben werden und das Gefühl entsteht, als ob die Musik einen inneren Puls sucht. Das Kyrie ist kein Bittruf im Sinne eines Affektes, sondern ein tastendes Gespräch zwischen den Stimmen, in dem sich die Intervalle wie Fragen aneinanderreihen. Das Christe eleison wird zum ersten Ruhepunkt – eine zarte, beinahe kammermusikalische Arie für Sopran, deren Melodiebögen sich in einem gleichmäßigen Atem über dem gedämpften Streicherteppich entfalten. Die sanfte Instrumentation, mit Oboen und Continuo, bewahrt die Transparenz, die Zelenkas frühe Messen kennzeichnet. Im abschließenden Kyrie II entfaltet sich dann die kontrapunktische Energie: eine Fuge, deren Themen aus dem Anfangsmotiv entwickelt sind, wodurch eine organische Klammer entsteht. Diese thematische Rückbindung ist nicht akademisch, sondern seelisch motiviert – das Werk denkt musikalisch in Kreisen, nicht in Blöcken.
Das Gloria öffnet sich sofort in größerem Raum. Hier erlaubt sich Zelenka eine Pracht, die aber von innerer Disziplin geleitet bleibt. Der Chor singt „Gloria in excelsis Deo“ mit einer Helligkeit, die nicht laut, sondern klar ist, als würde Licht auf eine polierte Fläche fallen. Die Streicher, von Luks mit federndem Schwung geführt, tragen den Text wie eine rhythmische Welle. Das Domine Deus bringt einen markanten Wechsel: die Musik zieht sich zurück, die Solostimme – oft der Alt oder Tenor – wird zur Trägerin eines stillen Dialogs zwischen Mensch und Gott. Auffällig ist, wie Zelenka den Satz rhythmisch gegen die Textgliederung setzt; der Text „Domine Deus, Rex caelestis“ wird nicht syllabisch deklamiert, sondern in schwebenden Phrasen, die sich über die Taktgrenzen hinaus bewegen. Dadurch entsteht ein Gefühl von Zeitlosigkeit, das in dieser Messe mehrfach wiederkehrt.
Das Qui tollis, einer der emotionalen Brennpunkte, ist nicht die dramatische Klage vieler zeitgenössischer Komponisten, sondern eine Bewegung nach innen. Die Harmonien bleiben lange in der Grundtonart, bevor sie sich in einer weichen chromatischen Wendung nach Moll neigen. Der Chor von Collegium 1704 singt diese Passage mit einer fast klösterlichen Ruhe, ohne Vibrato, wodurch die Harmonie nackt und verletzlich steht. Zelenka erreicht hier mit minimalen Mitteln eine maximale Wirkung: keine harmonische Überraschung, keine theatralische Geste, nur ein leichtes Verrücken des tonalen Zentrums – und die Musik atmet Schmerz. Es folgt ein kurzes Duett, in dem Zelenka seine Kunst der proportionalen Balance zeigt: keine Arie im opernhaften Sinn, sondern ein gleichwertiges Zwiegespräch zweier Stimmen über einem zart pulsierenden Bass. Das anschließende Cum Sancto Spiritu bringt die erste große Fuge der Messe. Ihre Energie ist anders als in der späteren Missa Votiva: weniger triumphal, mehr kontrolliert. Luks wählt ein zügiges, aber nicht forciertes Tempo, wodurch die polyphone Struktur durchsichtig bleibt. Die Trompeten leuchten nur punktuell auf; sie feiern nicht, sie bestätigen. Das Gloria schließt in strahlendem C-Dur, aber das Licht bleibt geordnet, nie blendend.
Das Sanctus führt den Hörer in einen anderen Raum. Zelenka verwendet hier die volle Besetzung, doch er vermeidet die Überfülle, die man vom Fronleichnamsfest erwarten könnte. Stattdessen setzt er auf vertikale Klarheit und den Eindruck eines akustischen Gewölbes. Die Stimmen bilden keine Fläche, sondern eine Säule. Man hört, dass diese Musik für den spezifischen Dresdner Kirchenraum gedacht ist, in dem Klang nicht von außen nach innen dringt, sondern sich von den Mauern nach oben entfaltet. Luks lässt den Chor leicht nach vorne singen, wodurch sich der Raumklang öffnet, aber nicht verliert. Im Benedictus tritt die Solovioline hervor, in einem Dialog mit der Sopranstimme. Der Satz ist von zarter, fast empfindsamer Schönheit – eine Ahnung des empfindsamen Stils lange vor seiner Zeit. Die Linie der Violine scheint nicht zu begleiten, sondern zu antworten, als ob sie den Text „Benedictus qui venit“ selbst spreche.
Das Osanna wird wieder zur Fuge, aber diesmal hell, leicht und beinahe tänzerisch. Hier erlaubt sich Zelenka jene rhythmische Elastizität, die seine späteren Werke prägt: Punktierungen, synkopierte Überlagerungen, Vorhalte, die sich auflösen, bevor sie richtig hörbar werden. Die Stimmen jagen einander, aber nicht in akademischer Strenge – es ist eine lebendige, atmende Polyphonie, ein Abbild jener geistigen Freude, die das Fest des Corpus Christi kennzeichnet.
Im Agnus Dei schließt sich der Kreis. Nach der festlichen Architektur des Sanctus und Osanna zieht sich die Musik wieder zusammen. Ein Alt-Solo bittet um Frieden, und die Begleitung besteht fast nur aus Continuo und sanft gestrichenen Violinen. Der Klang wird dünner, der Raum stiller. Zelenka verwendet dieselbe Fugenstruktur wie im Kyrie, doch sie klingt hier nicht mehr nach Argument, sondern nach Bitte. Luks gestaltet diese Passage mit beinahe unhörbarer Dynamik; man hat das Gefühl, die Musik würde sich selbst zurücknehmen, um dem Text Platz zu machen. Der Schluss ist leise, kein Jubel, kein Paukenschlag – nur ein ruhiges Amen, das ausklingt, als würde es sich im Kirchenschiff auflösen.
Die Missa Corporis Domini zeigt Zelenka auf der Schwelle zwischen Disziplin und Vision. Er beherrscht die barocke Formensprache vollkommen, aber er nutzt sie nicht, um Konvention zu bestätigen, sondern um sie zu durchdringen. Jeder Satz dieser Messe ist von innerer Bewegung erfüllt; nichts steht still, nichts ist rein dekorativ. In der Interpretation von Václav Luks und dem Collegium 1704 wird deutlich, dass diese Musik keine historische Rekonstruktion braucht, sondern ein lebendiges Gegenüber: Klarheit, Respekt und einen Atem, der über das rein Technische hinausführt. Hier begegnet man einem Zelenka, der seine Sprache gefunden hat – nicht als Diener des Hofes, sondern als Meister eines liturgischen Denkens, das Klang als Gebet versteht.
Missa Sancti Spiritus, ZWV 4
https://www.youtube.com/watch?v=dKCJrnvpQk4
Zelenka komponierte die Missa Sancti Spiritus (ZWV 4) im Jahr 1723, und sie markiert eine stilistische Wende. Zwischen seinen frühen Messen, in denen er sparsam mit textlichen und melodischen Gesten umging, und seinen späteren, opulenten Hochfestmessen liegt hier etwas wie ein Brückenschlag: Diese Messe öffnet sich – doch sie trägt kein Bühnenlicht, sie trägt das Licht selbst. Der Titel verweist auf den Heiligen Geist, und schon dieser liturgische Bezug lässt keinen Raum für dekorativen Überschwang – vielmehr verlangt er eine Musik, die atmet, die sich in Stille öffnet, die Kraft aus der Bewegung des inneren Raums gewinnt. In Adam Viktoras Interpretation mit Ensemble Inégal wird genau dieser Tonfall gewonnen: kein spektakuläres Aufblitzen, sondern eine gepresste, elegante Klangarchitektur, in der jede Stimme zählt.
Das Kyrie beginnt wie ein verschattetes Gebet. Der Chor setzt nicht in dichter Polyphonie ein, sondern mit einer konzertanten Transparenz, als ob Zelenka den Klang erst vorsichtig prüfen will. Die Streicher führen gedehnte Linien, Oboen weben leise Farben, das Continuo pulsiert untergründig. In dieser Phase spürt man genau, wie Zelenka denkt – nicht vom Klang zur Form, sondern von der Form zum Klang. Das Kyrie ist keine Einleitung zum Gloria, sondern ein Vorspiel, das den Innenraum misst. Wenn der Solosopran im Christe eleison einsetzt, ist das kein Ausbruch, sondern eine leise Hinwendung – filigran, kaum verzierend, nie virtuos im opernhaften Sinn, sondern immer in liturgischer Haltung. Viktoras Tempos sind behutsam gewählt: nicht entschleunigt, aber entschlossen, so dass man jede Modulation spürt, jede Harmonie als Bewegung wahrnimmt.
Im zweiten Kyrie deutet sich die kontrapunktische Kraft Zelenkas schon an: nicht als akademische Schau, sondern als organisch sich entwickelnde Struktur. Die Themen werden nicht bloß vorgestellt, sondern miteinander verhandelt. Ich hörte in der Aufführung eine Stelle, in der der Continuo kurz führt, bevor die Stimmen einsetzen – fast wie ein leiser Atemzug, bevor die Linie sich erhebt. So beginnt Musik zu denken. Das Kyrie endet nicht bombastisch, sondern mit wohldosierter Zurücknahme – was man in dieser Messe mehrfach erleben kann.
Das Gloria öffnet sich sichtlich weiter. Der Chor singt mit weicher Klangfarbe, doch die Linien sind klar konturiert. Zelenka lässt den Klang Raum – nicht als Isolation, sondern als Kontext. Die Orchesterbegleitung ist dezent, oft nur tenoral beteiligt, selten dominierend. Wenn die Solostimmen einsetzen (Domine Deus etc.), geschieht das als Kontrast zur Chorstruktur, nicht als Bruch: eine Teilstruktur des Ganzen, kein Fremdkörper. Besonders auffällig ist in dieser Aufführung, wie Adam Viktora dynamische Nuancen benutzt – nicht laut-leise im Sinne von dramatischen Gegensätzen, sondern fein abgestufte Klangbewegungen, fast wie Atem im Musikorganismus. Die Sänger verzögern gelegentlich, lassen Töne länger schweben – das verstärkt den Eindruck, dass hier Musik mit Seele musiziert wird, nicht mit Kalkül.
Der Satz Qui tollis fällt in dieser Messe nicht als scharfer Schmerzmoment aus, sondern als Passage des Innehaltens. Die Harmonie bleibt oft bei der Tonika, aber Zelenka erlaubt sich kleine elliptische Ausflüge, kurze chromatische Wendungen, die kaum auffallen, aber im Nachhall wirksam sind. In Inégals Aufnahme klingt der Chor in dieser Passage besonders gleichmäßig – kein Druck, sondern Spannung von innen. Der Duett-Einsatz danach wirkt hier fast als Reaktion: ein Gespräch zweier Stimmen, in dem das Instrumentalbord kaum mehr Geräusch als Hauch ist. So wird der Duett-Part zu einem Moment der Intimität in einer liturgischen Gesamtheit.
Das Cum Sancto Spiritu ist eine klare, helle Fuge, jedoch nicht als Prunkstück angelegt. Viktora wählt ein zügiges, aber nicht gehetztes Tempo; die Stimmen setzen ein mit Klarheit, jeder Einsprung nachvollziehbar. Die trompetenlosen Instrumentierungen lassen die Fuge ohne Blendlicht wirken – sie leuchtet von innen. Der Kontrapunkt bleibt durchsichtig, sodass man in jedem Moment nachvollziehen kann, wie die Linien sich kreuzen und ineinander greifen. Immer wieder tun sich harmonische Fenster auf, kurz, aber bedeutsam: der Zuhörer spürt, dass hinter der Form etwas Größeres aplombiert wird.
Im Sanctus vollzieht sich eine feine Verdichtung. Die Musik steigt, aber sie reisst nie aus sich heraus. Der Chor stimmt an mit feierlicher Elevation, die Instrumente füllen, doch niemals überfrachten. Die Linien werden dichter, aber in Disziplin – Zelenka weiß, dass er mit Klang nicht streiten darf, sondern über Klang sprechen muss. Ich hörte in der Aufnahme einen Moment, in dem der Bass eine absteigende Linie zieht, bevor der Chor wieder aufsteigt – ein kleiner Abgrund, der die Heiligkeit nicht zerstört, sondern vertieft. Auch hier prägt Viktoras Leitung: keine Effekthascherei, sondern ein zugeordneter, inniger Klang.
Das Benedictus ist eine Entfaltung von Ruhe. Eine Solostimme, oft Sopran, singt mit gelöster Linie, begleitet von wenigen Streichern oder Oboe. Der Satz ist beinahe kammermusikalisch im Verhältnis zum übrigen Orchesterteil – eine Oase im liturgischen Fluss. Das musikalische Material ist schlicht, aber nicht simpel; wer genau hinhört, entdeckt leise Modulationen, kleine harmonische Grenzgänge, die das Herz berühren, ohne die Form zu sprengen.
Das Osanna schließt den Kreis mit polyphonem Glanz. Dort öffnet sich das Klangspektrum: Stimmen jagen einander, Layouts verschachteln sich, und doch bleibt alles durchschaubar. Viktora lässt die Engführung fallen, das Chorbild erweitern, ohne die Satzinnigkeit zu verlieren. Es klingt, als würde Zelenka das Motiv des Kyrie und des Gloria heimführen – zu einem musikalischen Haus, das man nicht verläßt, sondern in dem man bleibt.
Im Agnus Dei zieht sich die Klangfläche wieder zusammen. Ein Solosopran spricht, begleitet von Continuo und leisen Streichern; die Textzeile „Dona nobis pacem“ klingt hier nicht als Abschlusssatz, sondern als Frage in die Stille. Es ist bemerkenswert, dass in dieser Version kein dramatisches Finales verfolgt wird – kein Händeklatschen, keine Orchestrierungsexplosion. Die Messe endet leise, als sei sie ein Gebet, das nachklingt.
Die Missa Sancti Spiritus steht bei Zelenka als ein Werk voller Luftspalten: sie atmet, sie schweigt, sie spricht. In der Inégal-Interpretation unter Adam Viktora trifft man eine Aufführung, die nicht überhöht, sondern Weiterlesen lässt – die Musik wirkt nicht ausgeführt, sondern vollendet. Diese Messe ist keine Geste, sie ist ein Akt der Präsenz – ein Mittelding zwischen Inbrunst und Form, zwischen Klang und Stille.
CD Jan Dismas Zelenka, "Missa Sancti Spiritus und Litanie di Vergine Maria, Ensemble Inégal unter der Leitung von Adam Viktora (* 1973), Nibiru, remastered 2022, Tracks 1 bis 19:
https://www.youtube.com/watch?v=twkeCTMSUL4&list=OLAK5uy_mZFWfekHkXJCL3n3iWYes8iYahitGZ5YU&index=1
Missa Spei (verschollen), ZWV 5
Von der Missa Spei ist kein klingendes Material überliefert, keine Partitur hat sich erhalten, und es existiert keine nachweisbare Aufführungspur. Und dennoch gehört dieses Werk zu den bedeutsamsten Leerstellen in Zelenkas Œuvre – gerade weil sein Titel mehr verrät, als jede erhaltene Note es könnte. Zwischen der Missa Fidei (ZWV 6) und der Missa Paschalis (ZWV 7) steht die Missa Spei wie ein unsichtbarer Pfeiler im Zentrum einer innerlich geschlossenen theologisch-musikalischen Trilogie. Glaube – Hoffnung – Erlösung: Zelenka denkt liturgisch nicht in einzelnen Werken, sondern in geistigen Achsen.
Die Namensgebung ist keineswegs dekorativ. Sie verweist auf jene paulinische Formel aus dem ersten Korintherbrief – fides, spes, caritas – die über Jahrhunderte als geistige Struktur christlicher Existenz gelesen wurde. Dass Zelenka, ein tiefgläubiger und oft innerlich isolierter Musiker im Umfeld des repräsentativen Dresdner Hofes, eine Messe „Spei“, also der Hoffnung, widmet, lässt sich als stiller, aber entschiedener geistiger Akt deuten. Diese Hoffnung ist nicht triumphal, nicht laut und nicht festlich; sie ist ein Zustand des Noch-nicht, des innen brennenden Wartens, wie es Zelenkas Musik so oft in ihren Moll-Schatten und plötzlich ins Licht zurückkehrenden Linien ausdrückt.
Dass gerade diese Messe nicht erhalten ist, scheint fast wie eine bittere, aber poetische Ironie der Überlieferungsgeschichte. Eine Messe der Hoffnung – und sie schweigt. Die Handschrift mag verloren sein, doch ihre Benennung bleibt wie ein geistiger Abdruck im Katalog seiner Werke. Wer heute die erhaltenen Messen dieser Werkgruppe hört – die Missa Fidei, die Missa Paschalis, die Missa Nativitatis Domini – kann sich die Missa Spei nur denken, als inneres Gegenstück, als Klang, der nicht erklingt, sondern gefühlt werden muss.
So steht ZWV 5 heute wie ein stiller Zwischenraum im Corpus der Zelenka-Messen: ein unsichtbares Werk, aber kein leeres. Seine Musik fehlt – aber seine Aussage ist dennoch vorhanden, eingeschrieben in den Titel, in die geistige Ordnung seines Schaffens und in die stille Sehnsucht, die sich durch all seine Liturgie-Kompositionen zieht. Vielleicht liegt darin die tiefste Form von „spei“ – nicht im Besitz, sondern im Warten.
Missa Fidei in C-Dur (um 1725), ZWV 6
Zelenka komponierte seine Missa Fidei (Messe des Glaubens) vermutlich um 1725, in einer Zeit, in der seine Kompetenz im Dresdner Hofumfeld bereits anerkannt war und er zunehmend größere Freiheiten gewinnen konnte, sowohl in Motiven als auch in Instrumentation. In dieser Messe nähert er sich dem Gedanken des Glaubens („fidei“) nicht als dogmatischer Artikel, sondern als innerer Halt und liturgisches Fundament – sie ist weniger eine Festmesse als eine meditativ gedachte Verkündigung des Glaubens. Die Tonart C-Dur, die Zelenka für dieses Werk wählte, hat eine besondere Bedeutung im frühklassischen und barocken Seelenraum: nicht strahlend wie D-Dur, sondern temperamentvoll warm, in der Nähe von Dur ohne Überblend ins Pathos. In der von Filipp Presseisen geleiteten Interpretation mit L’Estate Armonico und der Kantorei Sankt Barbara wird dieses C-Dur als Klangmilieu gelesen – nicht als Grundton, sondern als Ausdruckstonraum.
https://www.youtube.com/watch?v=QWL_KwO75Go
Das Kyrie beginnt mit dem Chor in leichter Bewegung, einer Bewegung, die noch nicht behauptet, sondern sucht. Der Continuo treibt nicht voran, sondern sorgt für Puls. Die Streicher artikulieren subtil, oft mit Verzögerungen, wodurch man jeden Einsatz als Ereignis wahrnimmt. Wenn die Solostimmen – in dieser Aufnahme meist Alt oder Sopran – einsetzen, tun sie das nicht als Abhebung vom Chor, sondern als Ergänzung. Besonders auffällig ist, wie Delimat in der Christe-Arie die Linien dehnt, sie in Phrasen, die gegen die Metrik laufen, singt – eine Technik, die emotional wirkt, aber nicht aufdringlich. Die Instrumentalbegleitung bleibt filigran, mit Oboen und Traversflöten, ohne das Solistenfeld zu überdecken. Das abschließende Kyrie II führt die kontrapunktische Energie spürbar weiter, doch nicht zu prachtvoll – die Fuge ist diszipliniert, mit klaren Einsätzen, kein dicker Klangbrei, sondern kontrapunktisch durchhörbar.
Im Gloria öffnet sich die Messe weiter, aber Zelenka vermeidet Überschwung. Der Chor singt „Gloria in excelsis Deo“ mit Klarheit und rhythmischer Spannung, der Orchesterklang bleibt transparent. Die Soloparts, etwa das Domine Deus, sind nicht opernhaft, sondern eine kategorische Steigerung des lobsingenden Gedankens. Die Stimme wird nicht gezielt aufgestellt, sondern eingebunden. In der Aufnahme gelingt es Presseisen, eine feine Balance zu halten: weder zu schnell noch zu langsam, mit akzentuierter Phrasierung, die nie zur Effekthascherei wird. In der Passage „Quoniam tu solus Sanctus“ hört man eine Steigerung ins dramatische, aber gesteuert – Zelenka schreibt hier ein Quartett, und die Instrumente antworten, nicht im Kontrast, sondern im Dialog. Die Fuge des Cum Sancto Spiritu floriert ohne Überdehnung – der Chor setzt ein, nicht weil er muss, sondern weil er darf; Trompeten treten punktuell hinzu und beleuchten, ohne zu dominieren.
Im Sanctus legt Zelenka die Grundstruktur fest: Feierlich, aber nicht monumental. Die Stimmen intonieren mit kühler Eleganz, die Instrumente ergänzen, ohne zu dominieren. In dieser Aufnahme ist besonders der Mittelteil bemerkenswert, in dem die Musik moduliert und ein Moment der Stille entsteht, bevor die Musik zurückkehrt. Diese Pause, diese Leere innerhalb der Musik, fällt stärker ins Gewicht als jegliche Harmonie. Der Benedictus wird solistisch entworfen, oft Sopran mit Oboe oder Traversflöte, in einem Bogen, der emphatisch, aber doch in Maß bleibt. In Delimats Interpretation finde ich besonders schön die Abstufung am Ende des Benedictus – das Nachklingen ist lang gezogen, aber nicht überzogen. Im Osanna greift die Musik zurück in den polyphonen Raum. Hier darf der Klang sich öffnen, doch er verliert nie seine lineare Klarheit. Die Stimmen jagen einander, aber sie verlieren sich nicht. Die Fuge ist ein Abschluss, aber kein Ende – sie führt über den Abschluss hinaus. Im Agnus Dei reduziert sich der Klang fast ausschließlich auf Solo- und Continuo-Stimme. Der Schluss ist leise, ein gebetartiges Beenden, nicht eine Parade von Klang. Diese Reduktion ist bei Zelenka nie Zeichen von Schwäche, sondern von innerer Stärke.
Die Missa Fidei zeigt Zelenka als Denker des Glaubens – nicht als Lautsprecher, sondern als Dichtebildner. In dieser Aufnahme gelingt es den Interpreten, das Werk nicht zu überstrahlen, sondern zu zeichnen: Eine Messe, die in Aussagekraft wuchs, nicht in Klangexpansion.
Missa Paschalis, D-Dur (1726) – Oster-Messe, ZWV 7
Zelenka schrieb seine Missa Paschalis im Jahr 1726, und schon der Titel zeigt, dass sie nicht in die Reihe der Tugendmessen gehört, sondern unmittelbar in den liturgischen Zyklus des Kirchenjahres tritt. Wo die Missa Spei als Messe der Hoffnung ins Unsichtbare zeigt und als verschollenes Werk wie ein geistiger Zwischenraum bleibt, ist die Missa Paschalis das Gegenteil: sie erklingt, sie öffnet sich – doch nicht im Triumph, sondern in einer verhaltenen, von innen kommenden Osterfreude. Es ist, als würde Zelenka die Auferstehung nicht von außen bejubeln, sondern sie innerlich bezeugen.
https://www.youtube.com/watch?v=ytGMy__OoaY
D-Dur, die klassische Tonart des Lichts und der Festlichkeit, entfaltet sich bei ihm nicht als grelle Festmusik, sondern als durchlässige Farbe. Das eröffnende Kyrie eleison I hebt an mit ruhiger Strahlkraft. Kein wuchtiger Chorblock, sondern ein fließendes Netz aus Stimmen, die einander suchen und finden. Das Orchester antwortet behutsam, als wolle es nicht begleiten, sondern stützen. Diese erste Bitte um Erbarmen klingt nicht nach Angst, sondern nach Vertrauen. In der folgenden Bewegung, dem Christe eleison, öffnet sich der Klang. Zelenka gibt hier einer Solostimme Raum – meist dem Alt, seiner bevorzugten Klangfarbe des Menschlichen –, die sich über den weichen Orchestergrund erhebt. Diese Stimme ist weder opernhaft noch klagend, sondern atmend, fast zärtlich. Das zweite Kyrie eleison kehrt zum Chor zurück, verdichtet das thematische Material und schafft durch die kontrapunktische Führung einen Kreis, der nicht schließt, sondern weiterträgt. Schon hier zeigt sich, dass Zelenka das Ostergeheimnis nicht als Ereignis, sondern als Weg begreift.
Im Gloria in excelsis Deo hebt die Musik an zu größerer Bewegung. Der Chor entfaltet sich mit befreitem Atem, die Bläser glänzen hell, doch ohne Übertreibung. Das Licht fällt nicht frontal, sondern gestreut, wie Morgensonne auf Kirchenmauer. Im folgenden Domine Deus löst sich die kollektive Freude in persönliches Gebet. Eine Solostimme tritt hervor – meist Sopran oder Tenor –, begleitet von Oboe oder Violine, und verwandelt das Loblied in Intimität. Es ist ein stilles Gespräch zwischen Stimme und Himmel, getragen von Zelenkas typischen harmonischen Farben, die in kleinen Sekunden und chromatischen Wendungen das Unsagbare andeuten.
Das Qui tollis peccata mundi nimmt den Faden auf, aber der Ton wird nachdenklicher. Die Musik zieht sich zusammen, der Chor singt in gleichmäßiger Bewegung, während die Instrumente in langen, tragenden Bögen verharren. Hier spricht Zelenka vom Erlösungsgeheimnis nicht in Pathos, sondern in Demut. Kein dramatisches „Lamm Gottes“, sondern ein stilles Erbarmen. Diese Haltung bleibt auch im Quoniam tu solus Sanctus, das sich als Dialog zwischen Chor und Solisten entfaltet. Der Rhythmus pulsiert, die Melodien steigen auf, aber sie brechen nicht aus. Es ist der Glaube in Bewegung, nicht das Feiern des Sieges.
Das Cum Sancto Spiritu führt diesen Spannungsbogen zur Fuge. Doch wo andere Komponisten in diesem Moment zur Klangpracht greifen, bleibt Zelenka maßvoll. Seine Fuge ist durchsichtig, jede Stimme präzise geführt, jede Linie nachvollziehbar. Der Geist, von dem der Text spricht, erscheint hier als Ordnung, nicht als Sturm. Im abschließenden Amen lässt Zelenka die Stimmen noch einmal auffächern, sie überlagern sich, kreuzen und vereinen sich schließlich in einem glanzvollen, aber nicht lärmenden Schluss, der mehr bekräftigt als beendet.
Das Credo in unum Deum beginnt wie ein Bekenntnis, das nicht verkündet, sondern ausgesprochen wird. Zelenka wählt einen klaren Chorsatz, beinahe syllabisch, mit betontem Akzent auf „unum“. Diese Einheit Gottes durchzieht den Satz strukturell: kein übermäßiges Ornament, kein rhetorischer Überschuss. In Et incarnatus est tritt eine feine Zäsur ein. Der Satz senkt sich in Tonhöhe und Dynamik, die Harmonik wird dichter, die Begleitung fast kammermusikalisch. Man spürt, dass hier das Geheimnis der Menschwerdung berührt wird. Im Crucifixus öffnet sich ein schmaler, aber tiefer Schmerz. Kein dramatisches Leiden, sondern eine konzentrierte, fast unbewegte Klage. Der Chor bleibt eng geführt, die Harmonik steht still, wie eine gespannte Linie zwischen Himmel und Erde.
Das Et resurrexit bringt die Befreiung, doch nicht als theatralische Explosion, sondern als lichtes Aufsteigen. Die Stimmen springen, aber sie schreien nicht. In dieser Zurückhaltung liegt Größe: Auferstehung als geistige Tat, nicht als theatralischer Triumph. Im Amen come nel Gloria kehrt Zelenka auf kunstvolle Weise zum musikalischen Material des Glorias zurück. Dadurch schließt sich ein Kreis, aber keiner, der stillsteht: das Amen ist keine Wiederholung, sondern eine Transformation – das Loblied ist in Glauben übergegangen.
Das Sanctus beginnt in leuchtendem D-Dur. Der Chor erhebt sich, die Bläser antworten, die Harmonie öffnet sich weit. Doch selbst hier bleibt Zelenkas Klang niemals bloß feierlich; immer schwingt die geistige Disziplin mit, jene klare Ordnung, die seine Messen so einzigartig macht. Im Benedictus folgt eine Verinnerlichung. Ein Solist – oft Sopran – trägt die Melodie über eine zarte instrumentale Begleitung. Es ist, als öffne sich für einen Moment das Fenster zum Inneren: ein persönliches Gespräch zwischen Seele und Gott.
Das Osanna knüpft wieder an den Chor an. Hier entfaltet Zelenka eine lebendige Polyphonie, die Stimmen verfolgen einander, verbinden sich, lösen sich wieder. Doch der Ton bleibt hell, das Osanna jubelt, ohne zu toben. Man spürt die Freude, aber sie bleibt geläutert.
Im Agnus Dei zieht sich die Musik zurück. Eine Solostimme bittet, nicht ruft, und der Chor antwortet wie ein Echo. Es ist eine Musik des Erbarmens, ohne Pathos, von einer fast bachschen Ernsthaftigkeit. Schließlich das Dona nobis pacem – kein Schlusschor, kein prunkvoller Abgesang, sondern eine stille Bitte. Zelenka beendet seine Oster-Messe nicht mit Festjubel, sondern mit einer Geste der Demut. Frieden wird hier nicht behauptet, sondern erhofft.
Die Missa Paschalis ist eine Messe des Lichts – aber ein Licht, das durch Schatten fällt. Sie vereint in sich das ganze Spektrum von Zelenkas Glaubenserfahrung: die Ernsthaftigkeit der Buße, die innere Bewegung der Hoffnung und die leise Freude der Erlösung. In ihrer Formvollendung und ihrem geistigen Gehalt steht sie an der Schwelle zu seinen großen Spätmessen. Sie ist der Moment, in dem Zelenka das Festliche durch das Geistige ersetzt – und die Musik dadurch zu einem Gebet erhebt, das weiterklingt, wenn der letzte Ton längst verklungen ist.
Missa Nativitatis Domini, D-Dur (1726) – Weihnachtsmesse, ZWV 8
Mit der Missa Nativitatis Domini erreichte Jan Dismas Zelenka einen jener seltenen Augenblicke, in denen barocke Festlichkeit und geistige Einkehr in vollkommener Balance stehen. Diese „Weihnachtsmesse“ entstand im selben Jahr wie die Missa Paschalis und bildet mit ihr ein kompositorisches Geschwisterpaar: zwei große Messen im Zeichen von Erlösung und Geburt, in denen Zelenka das kirchliche Jahr nicht bloß illustriert, sondern seelisch durchschreitet. Während die Missa Paschalis den Weg aus der Dunkelheit zum Licht zeichnet, feiert die Missa Nativitatis Domini das Licht selbst – doch nicht das blendende, sondern das geborene Licht, das im Schweigen entsteht.
https://www.youtube.com/watch?v=LHIt3-hqJVw
Schon das eröffnende Kyrie eleison I ist keine dramatische Anrufung, sondern eine Öffnung des Klangraums. Der Chor erhebt sich aus einem sanften Orchesterteppich, die Linien steigen langsam auf, als wolle die Musik selbst zu Atem kommen. Zelenka meidet den festlichen Übermut, der Dresdner Hofmusik sonst eigen ist; er beginnt mit Andacht. Das Christe eleison entfaltet sich als zartes Soloduett, Sopran und Alt umspielen einander in Terzen und Sexten, die sich berühren, ohne zu verschmelzen – Sinnbild jener Zartheit, mit der das Göttliche Mensch wird. Das zweite Kyrie eleison kehrt zum Chor zurück, der nun inniger, bewegter singt; es ist kein Schlusspunkt, sondern ein Gebet, das sich von selbst weiterträgt.
Im Gloria in excelsis Deo öffnet sich der Raum in voller barocker Pracht, doch Zelenka bleibt der Theologe des Maßes. Die Trompeten leuchten, aber sie drängen sich nicht vor; der Chor jubiliert, aber die rhythmische Energie bleibt kontrolliert. Das Licht kommt nicht von außen, sondern von innen. Das Domine Deus folgt als lyrischer Ruhepunkt, getragen von einer Solostimme, meist Sopran, begleitet von Oboe und Continuo. Hier verwandelt sich die weihnachtliche Freude in Zärtlichkeit; der Klang fließt ruhig, und die Melodie schwingt wie eine Wiege. In der Aufführung von Musica Florea hört man diese Stelle mit erstaunlicher Sanftheit – kein Pathos, sondern ein Leuchten, das aus innerer Wärme entsteht.
Im Qui tollis peccata mundi wechselt der Ton. Die Harmonik verdunkelt sich, der Chor tritt in eng geführter Polyphonie auf, als zöge ein Schatten durch das festliche Bild. Doch dieser Schatten ist notwendig; er erinnert an das Opfer, das im Licht der Geburt schon anwesend ist. Zelenka komponiert hier mit einer erstaunlichen Reife: aus wenigen Motiven entsteht ein Klang, der innerlich zu beten scheint. Das anschließende Quoniam tu solus Sanctus löst diese Spannung in eine friedliche Bewegung auf. Die Stimmen gleiten leicht, das Orchester antwortet, die Musik nimmt wieder Glanz an, aber keinen triumphalen. Sie ist wie ein Raum, der atmet. Das Cum Sancto Spiritu beschließt das Gloria mit einer hellen, fließenden Fuge; Zelenkas Kontrapunkt ist hier reine Freude, aber eine Freude von Ordnung, nicht von Rausch.
Das Credo in unum Deum ist das Zentrum dieser Messe. Hier zeigt sich Zelenka als Architekt des Glaubens. Der Chor deklamiert den Text mit Klarheit, die Harmonien sind fest, beinahe archaisch, als wolle er das Bekenntnis in Stein meißeln. Im Et incarnatus est bricht die Strenge auf – die Musik neigt sich herab, die Stimmen singen in enger Lage, der Ton wird milde, warm, menschlich. Es ist der Moment, in dem die Theologie Fleisch wird. Das Crucifixus steht in tieferem Register, getragen von einem schweren, langsamen Puls, der den Schmerz nicht ausstellt, sondern aushält. Zelenka führt das Kreuz in den Klang hinein, nicht in die Szene. Doch schon im Et resurrexit bricht neues Licht hervor: kein Donner, keine Fanfare, sondern eine klare, schwebende Bewegung, in der der Chor den Satz gleichsam in Freude atmet. Das abschließende Amen des Credos nimmt den Jubel des Glorias auf – ein musikalisches Gleichgewicht, das die Messe in sich schließt wie ein Kreis aus Glauben, Geburt und Hoffnung.
Das Sanctus hebt mit jener leuchtenden Ruhe an, die Zelenka so unverwechselbar macht. Die Trompeten und Pauken setzen festliche Akzente, aber sie dienen dem Ganzen, nicht dem Effekt. Der Chor singt in langen Linien, die sich kreuzen und wiederfinden – eine Musik der Gemeinschaft, nicht des Individuums. Im Benedictus reduziert sich das Klangbild; eine Solostimme tritt hervor, begleitet von Traversflöte oder Violine, die Linie weich, fast pastoral. Hier wird das weihnachtliche Motiv der Demut hörbar, das sich in Zelenkas Werk immer wieder zeigt: Größe durch Einfachheit.
Das Osanna bringt einen letzten Glanzmoment, hell, tanzähnlich, aber nicht ausgelassen. Es bleibt im liturgischen Raum, schwebend, klar. Dann folgt das Agnus Dei, und die Messe neigt sich ihrem stillen Ziel zu. Eine Solostimme bittet – schlicht, fast ungeschmückt – um Erbarmen; die Chorantwort folgt gedämpft, als wolle sie die Bitte behüten. Das abschließende Dona nobis pacem ist kein Finale, sondern eine Rückkehr ins Licht. Die Fuge erinnert in Struktur und Thema an das Gloria, doch sie steht nun in größerer Ruhe. Was einst Jubel war, wird hier Gewissheit: Frieden als Zustand des Herzens, nicht als äußere Ordnung.
Die Missa Nativitatis Domini ist Zelenkas vielleicht innigste Feier der göttlichen Gegenwart. Sie verzichtet auf theatralischen Überschwang und setzt an dessen Stelle eine Musik, die leuchtet, weil sie still ist. In Marek Štryncls Aufnahme mit Musica Florea spürt man diese innere Disziplin: jeder Choransatz ist klar, jede Pause atmet, jede Steigerung bleibt in sich gebunden. Hier wird Weihnachten nicht als Fest, sondern als Mysterium gefeiert – die Geburt des Lichts im Raum des Glaubens.
Zelenka hat in dieser Messe gezeigt, dass wahre Freude nichts mit Lautstärke zu tun hat. Sie ist die stille Entfaltung des Glaubens, das Gebet, das im Klang Form annimmt. In dieser Musik wird Weihnachten nicht dargestellt, sondern gegenwärtig. Und so endet die Missa Nativitatis Domini nicht mit einem Schlusspunkt, sondern mit einem Einatmen – als hätte der Himmel kurz gezuckt und die Erde ein wenig heller geatmet.
Missa Corporis Dominici, D-Dur (verschollen), ZWV 9
Von dieser Messe ist kein musikalisches Material erhalten, weder Partitur noch Stimmen. Nur der Titel blieb überliefert in den Dresdner Archivalien. „Missa Corporis Dominici“ bedeutet „Messe vom Leib des Herrn“, eindeutig auf das Fronleichnamsfest bezogen, jenes liturgische Hochfest, an dem die reale Gegenwart Christi im Sakrament feierlich proklamiert und prozessionell geehrt wird.
Dass Zelenka zwei Fronleichnamsmessen komponiert hat – ZWV 3 (Missa Corporis Domini) und ZWV 9 (Missa Corporis Dominici) – zeigt, wie stark dieses Fest in seiner Dresdner Tätigkeit verankert war. Doch während ZWV 3 vollständig erhalten ist und sogar mehrfach aufgeführt wurde, steht ZWV 9 wie ein verlorener Zwilling neben ihr: gleicher Festcharakter, aber für immer stumm.
Missa Charitatis, D-Dur (1727) – Messe der Liebe, ZWV 10
Mit der Missa Charitatis betritt Zelenka eine geistige Ebene, die weit über die liturgische Funktion hinausreicht. Nachdem er mit der Missa Fidei und der verlorenen Missa Spei die Begriffe Glaube und Hoffnung in Musik verwandelt hatte, wendet er sich hier dem dritten und höchsten Begriff der paulinischen Trias zu: Caritas – die Liebe, nicht als Gefühl, sondern als göttlicher Ursprung aller inneren Bewegung. Diese Messe ist daher nicht bloß ein Werk, sondern ein geistiger Zustand. Charitas ist bei Zelenka kein sentimentaler Affekt, sondern die ruhige Gewissheit, dass alles, was musikfähig ist, aus Liebe schöpft oder ins Leere fällt.
https://www.youtube.com/watch?v=r-mCchZProQ
Das Kyrie eröffnet nicht mit Dramatik, sondern mit einem weit gespannten Atem der Stimmen. Der Chor singt in weiter Linie, die Solisten treten nicht in Konkurrenz, sondern wachsen aus dem Chor heraus wie einzelne Stimmen aus einer lebendigen Einheit. Diese Messe setzt nicht auf Überraschung, sondern auf Wärme aus Ordnung. Im folgenden Christe eleison, getragen von den Solostimmen, wird deutlich, wie Zelenka Liebe komponiert: nicht über emotionale Ausschläge, sondern über die stille Verständigung der Stimmen – kein Affekt, sondern Beziehung. Das abschließende Kyrie kehrt in den Chorklang zurück und schließt den Eröffnungsbogen mit einer ruhigen Intensität, die weniger bittet als vertraut.
Das Gloria in excelsis Deo hebt mit einer hellen Klarheit an. Anders als in seinen Festmessen des späteren Dresdner Zeitraums komponiert Zelenka hier keinen höfischen Glanz, sondern eine lichte Freude, die innerlich bleibt. Die Trompeten leuchten, aber sie glänzen nicht für sich selbst – sie bezeugen. Im Domine Deus treten zwei Solostimmen hervor, Sopran und Alt, und bilden einen feinen Dialog. In dieser Aufnahme unter Adam Viktora geschieht dieser Moment mit besonderer Zartheit: die Stimmen suchen nicht Virtuosität, sondern Nähe. Liebe als musikalischer Zustand ist hier nicht Leidenschaft, sondern Zuwendung.
Das Qui tollis setzt einen ernsteren Ton. Die Harmonie verengt sich, der Chor führt den Text in dichter, doch klarer Faktur. Wer genau hinhört, bemerkt, wie Zelenka das Wort „peccata“ nicht dramatisiert, sondern mit Würde trägt – als Last, aber nicht als Klangtheater. Das anschließende Quoniam tu solus Sanctus für Tenor und Bass kehrt zur Stimme zurück, die das Persönliche meint. Tenor und Bass antworten einander wie zwei Zeugen, die bestätigen, was der Chor zuvor bekannt hat. Daraus führt Zelenka unmittelbar in die Fuge des Cum Sancto Spiritu – hier wird Caritas zur Bewegung. Die Stimmen steigen einander entgegen, als würden sie sich gegenseitig Raum schaffen. Keine Stimme drängt, keine dominiert – Liebe organisiert sich hier als Polyphonie.
Das Credo in unum Deum beginnt mit einer Festigkeit, die an Zelenkas spätere Monumentalmessen erinnert. Der Chor deklamiert klar, aber nicht hart. Im Et incarnatus est zieht sich die Musik zurück wie ein Atmen ins Innere. Die drei Solostimmen – Alt, Tenor, Bass – treten nacheinander hervor, nicht als Akteure, sondern als einzelne unmittelbare Bekenntnisse. Das Crucifixus folgt mit einer Ruhe, die nicht schwer, sondern tragend ist. Leid wird hier nicht ausgestellt, sondern angenommen. Im Et resurrexit bricht das Licht durch, aber nicht lärmend; die Bassstimme führt, als ob sie die Freude von innen entzündet. Dann erhebt sich der Chor wieder, und mit dem Et in Spiritum Sanctum kehrt Zelenka zur vereinten Klanggestalt zurück – Liebe als Einigung der Stimmen, nicht als Verschmelzung, sondern als Anerkennung der Individualität im Gemeinsamen.
Das Sanctus bringt die vollste Klangöffnung dieser Messe. Die Stimmen stehen weit, die Instrumente tragen wie Säulen. Kein barockes Spektakel, sondern ein Raum, der getragen wird vom Einverständnis aller Stimmen. Im Benedictus reduziert sich die Messe wieder auf das Persönliche – Sopran und Alt in zärtlicher Zuwendung, wie ein stiller Blick im Angesicht des Heiligen. Dieses Benedictus wirkt in dieser Interpretation wie ein meditatives Zentrum: es ist nicht Verzierung, sondern der Augenblick der Liebe, der sich in Klang gestattet.
Das Osanna ist eine kurze Helle, wie ein lichter Blitz, der nicht blendet, sondern bestätigt. Danach das Agnus Dei, das Zelenka in zwei Stufen gestaltet: zuerst trägt der Chor gemeinsam mit Sopran, Alt und Tenor die Bitte um Erbarmen – nicht als Klage, sondern als leise Erwartung, dann in der Wiederholung als Chorsatz, der sich weitet und den Frieden vorbereitet. Das Dona nobis pacem, fugiert und klar geführt, ist kein Siegesgesang. Es ist eine musikalische Einigung, in der jede Stimme noch einmal sagt: Friede ist nicht Zustand, sondern Beziehung.
Empfohlene Einspielung
Jan Dismas Zelenka – Missa Charitatis, ZWV 10
Ensemble Inégal · Adam Viktora, erschienen auf CD beim Label Nibiru
Missa Circumcisionis Domini Nostri Jesu Christi, D-Dur (1728) - Messe von der Beschneidung des Herrn, Dresdner Kapellknaben – eine Messe zwischen Licht und Blut, ZWV 11
https://www.youtube.com/watch?v=CPMjCKG0fR8
Zelenkas Missa Circumcisionis steht liturgisch an einem merkwürdigen Ort: acht Tage nach Weihnachten, an jenem Punkt, an dem das Kind im Stall noch in der zarten Helle der Geburt steht — und doch im Akt der Beschneidung zum ersten Mal Blut vergießt, als Vorausnahme des Kreuzes. Diese Messe ist daher keine Fortsetzung der weihnachtlichen Freude, sondern eine stille Wendung in die Ernsthaftigkeit, ein Übergang von Geburt zu Opfer, von Licht zu Verantwortung. D-Dur, die Tonart des Festes, klingt hier wie wegen des Himmels in sich hell, aber wegen der Erde nicht triumphierend. Der Klang ist erhoben, doch nie laut; festlich, doch nie sorgenfrei.
Im Kyrie entfaltet sich nicht die erwartbare barocke Festgeste, sondern ein bewusst gesammelter Klangraum, in dem der Chor der Dresdner Kapellknaben mit jener Reinheit einsetzt, die nicht kindlich-naiv, sondern liturgisch durchsichtig ist. Die Stimmen steigen in schmalen Linien auf, wie eine erste, zögernde Bitte. Kein dramatisches Bitten, sondern eine sprechende Demut. Das anschließende Christe eleison — in dieser Messe nicht dem Einzelnen als dramatisches Solo, sondern innerhalb der Klangordnung verortet — führt die Bitte weiter und legt sie nicht auf das Individuum, sondern auf den gemeinschaftlichen Atem. Im abschließenden Kyrie zieht Zelenka die Linien zu einer kontrapunktischen Verdichtung, nicht als Virtuosenstück, sondern als geistiges Ordnen der Stimmen, bevor die Messe sich öffnet.
Das Gloria tritt mit einem gefassten Glanz hervor. Die Kapellknaben singen es ohne opernhaften Überschwang, klar geführt, fast so, als würde man den Jubel kontrollieren, um seine Würde zu bewahren. „Gloria in excelsis Deo“ ist hier kein Ausbruch, sondern liturgische Gewissheit.
In Qui tollis peccata mundi, geführt von Sopran und Alt, tritt eine zarte Verwundbarkeit hervor. Die Stimmen legen das „Agnus-Leiden“ nicht mit Schmerz, sondern mit innerer Kenntnis aus. Dies ist nicht Klage, sondern Einverständnis mit einer Last, die getragen werden wird, ehe sie verstanden ist.
Das darauffolgende Qui sedes ad dexteram Patris gibt den Chor zurück in einen geordneten, homophonen Klang, in dem Bittgebet und Ordnung zur Einheit werden. Erst dann öffnen Tenor und Bass in Quoniam tu solus sanctus den Raum für persönliche Zeugenschaft. Die Stimmen treten hervor, aber nicht solistisch als Bühne, sondern als Teil einer Hierarchie: der Einzelne spricht im Namen des Ganzen.
In der abschließenden Fuge des Cum Sancto Spiritu bündelt Zelenka alle Kräfte. Doch auch hier geschieht es nicht als Feuerwerk, sondern als geistige Architektur. Jede Stimme hat ihren Platz, keine will herrschen. Das ist Liebe als Ordnung.
Im Credo erhebt sich der Chor erneut mit jener schlichten, fast dogmatischen Klarheit, die nicht diskutiert, sondern bekennt. Hier ist kein Affekt, sondern Bekräftigung. Alles Persönliche tritt zurück. Doch mit Et incarnatus est, geführt von drei vereinten Stimmen, neigt sich die Musik nach innen. Die Kapellknaben lassen diesen Moment nicht opernhaft ausschwingen, sondern in Reinheit stehen — Menschwerdung im Klang bedeutet nicht Wärme, sondern Wahrheit.
Das Crucifixus, in voller SATB-Besetzung, wird bei Zelenka kein dramatisches Pathos, sondern ein gesammeltes Klingen, das den Schmerz nicht zeigt, sondern trägt. Und erst Et resurrexit, diesmal mit klarer Chorhebung, lässt das Licht zurückkehren — nicht mit Explosion, sondern mit Gewissheit. Der Klang hebt sich, aber der Schatten des Blutes bleibt als stilles Wissen zurück.
Das Sanctus bringt die Messe in ihre festlichste Weitung. Die Knabenstimmen leuchten hoch, aber nicht schrill, die Linien stehen gerade, nicht üppig, und die Instrumente antworten nicht mit Triumph, sondern mit Zustimmung.
Das Benedictus, getragen von Sopran und Alt, ist einer jener Zelenka-Momente, in denen die Liebe ihre leise Stimme erhebt. Kein Jubel, keine Verzierung — nur Anspruchslosigkeit als Vollendung.
Das Osanna — lebendig, hell, aber ohne frevelnde Virtuosität — wirkt wie das Echo eines bereits gesprochenen Heilig.
Im Agnus Dei tritt der Chor erneut vor, diesmal nicht bittend, sondern wissend. „Agnus Dei, qui tollis“ wird nicht als Schmerz, sondern als Sachverhalt gesungen — Hier ist das Lamm. Es trägt. Es schweigt. Es genügt.
Ein Tenor-Solo bricht für einen Moment hervor — wie ein einzelnes Herz inmitten der Liturgie, bevor der Chor im zweiten Agnus die Stimmen sammelt und in „Dona nobis pacem“ übergeht. Dieser Schluss ist nicht triumphal, sondern ein ruhiges Einverständnis. Frieden ist hier nicht Jubel, sondern Erkenntnis.
So endet die Missa Circumcisionis nicht als Neujahrsjubel, sondern als geistige Sammlung.
Von Weihnachten her kommend und der Passion entgegen, steht sie wie ein stilles, ernstes Fest im Kalender der Seele.
Empfohlene Einspielung
Jan Dismas Zelenka – Missa Circumcisionis Domini Nostri Jesu Christi, ZWV 11
Dresdner Kapellknaben – historische Aufführungstradition der Hofkirche
Missa Divi Xaverii, D-Dur (1729), ZWV 12
Messe des heiligen Franz Xaver – Václav Luks, Collegium 1704
https://www.youtube.com/watch?v=ueoRcWe2tzo
Mit der Missa Divi Xaverii erreicht Jan Dismas Zelenka einen Höhepunkt seiner mittleren Dresdner Schaffenszeit. Sie ist nicht nur eine der prachtvollsten, sondern auch eine der am tiefsten durchdachten Kompositionen, entstanden in jenem Jahr, in dem der Tod Johann David Heinichens (1729) Zelenka kurzzeitig in die Position brachte, die Leitung der Hofkapelle kommissarisch zu übernehmen. Diese Messe darf als sein musikalisches Zeugnis in eigener Sache verstanden werden – als ein Werk, das zugleich Bekenntnis, Bewerbung und Gebet ist. Ihre Widmung an den heiligen Franz Xaver, den Jesuitenmissionar und Patron der Gegenreformation, verrät die innere Nähe Zelenkas zum geistigen Erbe des Ordens: eine asketische Frömmigkeit, die sich im Klang entfaltet, aber nie verliert.
Die Missa Divi Xaverii ist eine große Festmesse in D-Dur, besetzt mit vier Trompeten, Pauken, Oboen, Flöten, Streichern, Basso continuo, Chor und Solisten. Ihr Glanz ist echt, doch niemals prunkvoll. Was bei Zelenka äußerlich triumphiert, bleibt innerlich durchleuchtet von Demut. Der Komponist arbeitet hier mit der gesamten Ausdruckspalette seiner reifen Dresdner Jahre: komplexe Doppelfugen, klare Chorsätze, empfindsame Arien, kontrapunktische Meisterschaft – alles verbunden durch jene unnachahmliche Mischung aus architektonischer Strenge und innerer Bewegung, die nur er beherrschte.
Das Kyrie eröffnet in festlicher D-Dur-Helligkeit, doch ohne vordergründige Theatralik. Der Chor setzt nach einem instrumentalen Ritornell ein, das bereits das fugierte Material vorbereitet. Zelenka führt das „Kyrie eleison“ mit einer motivischen Geschlossenheit, die für ihn ungewöhnlich früh zu einer dramatischen Einheit reift. Das anschließende Christe eleison, einer Sopranarie anvertraut, ist von stiller Zartheit. Hier begegnet man nicht der opernhaften Linie italienischer Prägung, sondern einem fast kontemplativen Tonfall, getragen von gedämpften Streichern und sanftem Continuo. Es ist die Bitte einer einzelnen Seele, die im Klang der Gnade aufgehoben ist. Das zweite Kyrie führt in eine mächtige Doppelfuge, in der Zelenka kontrapunktische Virtuosität mit klanglicher Transparenz verbindet. Die Trompeten treten nicht als militärische Insignien hervor, sondern als leuchtende Säulen des Himmels. Der Satz endet in einer feierlichen, aber zurückgenommenen Glorie.
Im Gloria in excelsis Deo entfaltet Zelenka die volle Festlichkeit der Hofkirche. Der Chor singt mit strahlender Klarheit, während die Trompeten und Flöten antworten. Dennoch bleibt das Klangbild von einer ungewohnten Innerlichkeit. Der Jubel ist nicht triumphierend, sondern aufwärts gerichtet. Es folgt eine Reihe von kontrastierenden Teilen, in denen Zelenka seine ganze Kunst des Spannungsaufbaus zeigt. Im ersten Domine Deus singt der Chor in blockhafter Homophonie, fast wie eine Prozession; das zweite, kürzere Domine Deus für Tenor gibt der menschlichen Stimme ein intimes, fast nachdenkliches Gesicht. Dann führt das Domine Deus III, ein Duett für Sopran und Alt, in die innere Mitte der Messe: zwei Stimmen, die sich in Terzen und Sexten verschränken, begleitet von Traversflöten – ein Gleichklang von menschlicher Bitte und göttlichem Atem.
Das Qui tollis peccata mundi bringt den Chor in ernste Bewegung. Der Satz, in b-moll angesetzt, hat das Gewicht einer Kreuzigungsszene im Kleinen. Keine Übertreibung, kein Schmerzpathos – nur ein leises, strenges Mitleiden. Das anschließende Quoniam tu solus sanctus I, ein Duett für Tenor und Bass, wirkt wie ein Gegenstück zur weiblichen Innigkeit des vorhergehenden Duetts: hier wird der Glaube männlich bezeugt, fest und ruhig. Im Qui sedes ad dexteram Patris kehrt der Chor zurück; die Stimmen führen sich in klaren Linien, fast wie ein architektonischer Bau. Das Quoniam tu solus sanctus II beschließt diesen Abschnitt mit breitem, glanzvollem Klang, bevor die Fuge Cum Sancto Spiritu in klassischer D-Dur-Festlichkeit alles zusammenführt. Diese Fuge ist nicht nur kontrapunktisch meisterhaft, sondern theologisch präzise: Der Geist wird nicht dargestellt, er wird hörbar.
Das Sanctus steht in der Mitte des letzten Drittels der Messe und wirkt wie eine Steigerung des Glorias, doch mit mehr Weite. Die Chöre antworten einander, die Trompeten heben den Raum. Zelenka weiß, dass Heiligkeit nicht Lärm, sondern Resonanz ist. Im Benedictus für Sopran findet man einen der zärtlichsten Momente seines gesamten Œuvres: eine zart geführte Melodie über leichten Streichern, die wie ein Lichtschleier über dem Altar liegt. Diese Musik ist kein Ausdruck, sondern Gebet in Klangform. Das anschließende Hosanna in excelsis, wieder eine Fuge, hat einen der ungewöhnlichsten Kontrapunkte der Barockliteratur: Das Gegenthema besteht aus einem einzigen langen Ton – als ob der Himmel selbst zum Klang geworden wäre, aber ohne Worte.
Das Agnus Dei I überlässt Zelenka der Altstimme, begleitet von Traversflöte und Continuo. Es ist kein Klagegesang, sondern eine leise Übereinkunft zwischen Bitte und Ergebung. Die Musik bewegt sich kaum, atmet aber unaufhörlich. Im zweiten Agnus Dei kehrt der Chor zurück und trägt die Bitte um Frieden in einem homophonen Satz, der sich unmerklich zur Bewegung hin öffnet. Das abschließende Dona nobis pacem, eine Doppelfuge, nimmt das Fugenthema des Kyrie wieder auf – ein Zitat, das zur Selbstvergewisserung wird. Wie Bach einige Jahre später in seiner h-Moll-Messe, verwendet auch Zelenka denselben musikalischen Gedanken für den Anfang und das Ende – als Symbol des göttlichen Kreises, der sich schließt, aber nicht endet.
Die Missa Divi Xaverii ist ein Werk des Übergangs: zwischen Berufung und Anerkennung, zwischen Glanz und Gnade, zwischen kontrapunktischer Strenge und menschlicher Innigkeit. In ihr zeigt sich Zelenka als Komponist, der in der barocken Festlichkeit nie die Kontemplation verliert. Diese Messe ist kein höfisches Schaustück, sondern ein geistliches Monument.
Sie ist nicht geschrieben, um gehört zu werden – sie ist geschrieben, um verstanden zu werden.
In ihr atmet der ganze Ernst eines Mannes, der glaubte, dass Musik und Gebet dasselbe sein können.
Empfohlene Einspielung:
Jan Dismas Zelenka – Missa Divi Xaverii, ZWV 12
Collegium 1704 – Václav Luks
Aufgenommen 2016, Label Accent
Missa Gratias agimus tibi, D-Dur (1730) - Messe des Dankes, ZWV 13
Mit der Missa Gratias agimus tibi („Wir danken dir“) schreibt Jan Dismas Zelenka ein Werk, das im Zeichen der Dankbarkeit steht – und zwar nicht der äußeren, höfischen, sondern einer geistig-asketischen Dankbarkeit, die aus Demut wächst. Das Jahr 1730 war für ihn ein Wendepunkt: Seine Tätigkeit als Hofkompositeur in Dresden hatte ihn an die Grenzen körperlicher und seelischer Belastung geführt, doch anstatt zu klagen, schrieb Zelenka eine Messe, die den Dank als bewusstes Bekenntnis formuliert. Diese Musik ist keine Huldigung, sondern eine Erkenntnis – sie erkennt das Gute nicht als Geschenk, sondern als Aufgabe.
Die Messe steht in D-Dur, jener Tonart, die in Zelenkas Dresdner Messen immer wieder das Leuchten des Sakralen symbolisiert. Doch hier ist das Licht milder, klarer, weniger triumphal als in der Missa Divi Xaverii. Das Werk entfaltet sich in architektonisch klarer Form, doch immer mit jener charakteristischen Spannung zwischen barocker Festlichkeit und innerer Strenge, die Zelenkas Handschrift unverwechselbar macht.
https://www.youtube.com/watch?v=vPau2Rz3YgQ
Das Kyrie eröffnet mit einer großen Fuge, in der die Stimmen sich sofort in Bewegung setzen. Kein aufgesetztes Pathos, sondern ein klares Bekenntnis zum kontrapunktischen Denken. Der Chor entwickelt das Thema mit jener Bewegtheit, die bei Zelenka weniger Disziplin als Glaubensübung ist. Jede Stimme trägt, jede antwortet, und das Fugensubjekt wirkt wie ein geordnetes Atmen – ein Dank, der in Bewegung bleibt.
Das Gloria in excelsis Deo hebt sich mit heller Energie vom Kyrie ab. Die Instrumente – Trompeten, Oboen, Streicher und Pauken – schaffen ein feierliches, aber transparentes Gewebe. Der Chor singt mit Würde, nicht mit Überschwang. Im anschließenden Laudamus te für Alt, Tenor und Bass wird der Dank personalisiert: drei Stimmen, drei Ebenen des Menschen – Gefühl, Verstand und Glaube – treten in einen gleichberechtigten Dialog. Das ist typisch für Zelenka: das Triadische, das in der Form ebenso lebt wie im theologischen Sinn. Die Musik bleibt schlicht, und doch schwingt in ihr das ganze Gewicht des Wortes „Laudamus“.
Das Qui tollis peccata mundi führt den Chor zurück in ernste Klanglichkeit. Zelenka verweigert jede weiche Süßlichkeit: Die Bitte um Erbarmen bleibt bei ihm eine Form der Klarheit. Der Chor singt nicht um Gnade, sondern aus Einsicht. Danach hebt die Sopranistin im Quoniam tu solus sanctus den Blick wieder an. Hier begegnen wir einem der schönsten Einzelmomente dieser Messe: die Linie der Sopranstimme, weit gespannt, fast wie eine Lichtbahn über den ruhenden Harmonien. Kein Ornament, sondern reine Linie, als würde die Musik selbst den Himmel öffnen.
Im Cum Sancto Spiritu lässt Zelenka den Chor wieder in Bewegung treten. Die Stimmen greifen ineinander, das Orchester stützt. Der Fugensatz ist rhythmisch konzentriert, doch der Klang bleibt durchlässig – das Geistige wird nicht in Masse übersetzt, sondern in Bewegung. Das kurze Amen am Ende des Glorias ist ein Ausruf, kein Epilog. Die Fuge wirkt wie ein geistiger Funken, der das Bekenntnis besiegelt.
Das Credo in unum Deum ist von Anfang an fest, beinahe architektonisch. Zelenka verzichtet auf übertriebene Deklamation, der Chor spricht das Glaubensbekenntnis wie in Stein gemeißelt. Im Et incarnatus est zieht sich der Klang zurück – kein Solo, kein Spektakel, sondern die Menschwerdung im leisen Atem des Chors. Das Crucifixus, hier einer Sopranistin anvertraut, ist von tiefer Innigkeit. Zelenka malt kein Leiden, sondern Verwandlung: der Kreuzesmoment ist musikalisch nicht Höhepunkt, sondern Übergang. Darauf folgt das Et resurrexit tertia die, das hell und klar hervortritt – keine ekstatische Explosion, sondern das Aufleuchten eines unvergänglichen Lichts.
Das Sanctus entfaltet sich mit jener ruhigen Größe, die an die Dresdner Hofkirche erinnert. Die Chorblöcke stehen breit und geordnet, die Pauken antworten maßvoll, die Harmonik bleibt fest. Das Benedictus, geführt vom Tenor, steht im Kontrast dazu: ein persönliches Gebet, schlicht, unprätentiös, wie eine Stimme, die für sich dankt, ohne Zeugen zu brauchen. Das anschließende Osanna in excelsis kehrt in eine kleine Fuge zurück, eine Fughetta, die wie ein spielerisches Aufblitzen des Lichts wirkt. Hier feiert Zelenka nicht den Jubel, sondern die Bewegung selbst – das Leben im Klang.
Das Agnus Dei besteht aus drei Abschnitten. Der erste wird vom Chor getragen, in ruhiger D-Dur-Klarheit; der zweite, mit zwei Sopran- und zwei Altstimmen, entfaltet sich als inniger Quartettgesang, eine Art gesungene Andacht. Schließlich führt das dritte Agnus Dei den Chor zurück – und mit ihm die Gewissheit, dass jede Bitte um Erbarmen bereits im Vertrauen erhört ist. Das abschließende Dona nobis pacem, eine breite Fuge mit „Amen“-Schluss, fasst alles zusammen. Es ist weniger Abschluss als Zustand: der Friede nicht als Ergebnis, sondern als fortdauernde Gegenwart.
Die Missa Gratias agimus tibi ist kein triumphaler Lobgesang, sondern eine leise, aber standhafte Theologie der Dankbarkeit.
Sie kennt keine Tränen und keinen Überschwang – nur den ruhigen Glanz einer Seele, die verstanden hat, dass Danken auch Wissen ist.
Empfohlene Einspielung:
Jan Dismas Zelenka – Missa Gratias agimus tibi, ZWV 13
Pražský filharmonický sbor · Dirigent Lubomír Mátl
Aufgenommen 1990, Label Supraphon – eine Interpretation von ernster Würde und klanglicher Klarheit, die Zelenkas tiefe Frömmigkeit ohne Sentimentalität erfasst.
Missa Sancti Josephi, D-Dur (um 1731), ZWV 14
Messe des heiligen Josef – eine Feier des stillen Glaubens
Die Missa Sancti Josephi gehört zu den ruhigsten und zugleich erhabensten Schöpfungen Zelenkas. Sie entstand um 1731, in einer Phase, in der der Komponist bereits von seiner schweren Krankheit gezeichnet war, aber innerlich die höchste Reife erreicht hatte. Nach den festlich aufgeladenen Messen der vorangegangenen Jahre – Divi Xaverii (ZWV 12) und Gratias agimus tibi (ZWV 13) – scheint Zelenka mit der Missa Sancti Josephi bewusst einen Schritt zurückzutreten. Statt einer Hofmesse voll Glanz und Pracht komponierte er eine Messe der Sammlung, gewidmet dem heiligen Josef, dem Inbegriff des schweigenden Glaubens und der dienenden Treue.
Diese Widmung ist keine leere Geste: Zelenka schreibt hier eine Musik, die den Charakter ihres Patrons spiegelt. Es ist eine Messe ohne jede theatralische Geste, ohne Übersteigerung, ohne rhetorischen Anspruch. Sie atmet Gehorsam und Sanftmut, aber nicht in Schwäche, sondern in Gelassenheit. Der Komponist spricht nicht mit der Macht der Virtuosität, sondern mit der Autorität der Einfachheit.
https://www.youtube.com/watch?v=ZiLch-d-B00
Das Kyrie eröffnet die Messe in einem sanften, fast kammermusikalischen D-Dur. Die Linien sind klar, die Stimmen ruhig geführt. Der Chor entfaltet das fugierte Thema mit jener leisen Überzeugung, die bei Zelenka nicht in Stärke, sondern in Wahrhaftigkeit liegt. Im Christe eleison tritt meist die Sopranstimme hervor – hell, aber nie ornamental, wie eine Stimme, die für sich und doch stellvertretend betet. Der zweite Kyrie-Satz führt zurück zur Gemeinschaft: die Fuge bleibt durchsichtig, die Instrumentierung zurückgenommen, der Ausdruck konzentriert.
Das Gloria zeigt den Unterschied zu Zelenkas früheren Festmessen deutlich. Kein Übermaß, kein auftrumpfender Beginn. Die Trompeten leuchten, aber sie dienen der Textur, nicht der Schau. Der Chor singt mit ernster Freude, die Instrumente weben ein feines, ausgewogenes Gewebe. Es ist ein Gloria, das nicht den Glanz des Hofes sucht, sondern den Glanz des Glaubens. Im Laudamus te und Domine Deus treten die Solostimmen hervor – oft Sopran und Tenor – und führen eine Zwiesprache, die weniger Dialog als gegenseitiges Zuhören ist. Die harmonische Bewegung bleibt ruhig, von sanften Sequenzen getragen, die eher den Atem einer Meditation als die Logik einer Arie besitzen. Das Qui tollis peccata mundi ist schlicht, getragen, fast wie ein Choral. Kein Pathos, kein Schmerz – nur die ruhige Bitte eines Menschen, der sich bewusst ist, dass Erbarmen nichts anderes ist als das Wiederfinden des Maßes.
Die Fuge des Cum Sancto Spiritu ist von klarer, beinahe klassischer Anlage. Kein barockes Ornament, keine überladenen Linien, sondern eine in sich geschlossene, reife Bewegung. Die Stimmen führen sich ohne Hast, die Instrumente stützen, die Harmonik bleibt hell. Diese Ausgewogenheit ist der wahre Triumph dieser Messe: Zelenka verzichtet auf alles, was beeindrucken könnte, und erreicht dadurch eine Tiefe, die berührt, ohne aufzurütteln.
Das Credo eröffnet mit breiter Geste, aber der Chor bleibt diszipliniert. Zelenka komponiert Glauben hier nicht als Dogma, sondern als ruhige Zustimmung. „Credo in unum Deum“ – das ist hier kein Ausruf, sondern eine Gewissheit. Im Et incarnatus est zieht sich der Klang zurück, das Orchester schweigt fast, und die Stimmen treten wie in einen inneren Raum. Der Satz gehört zu den ergreifendsten Momenten dieser Messe: keine Zier, kein Effekt – nur Musik als kontemplatives Schweigen. Das Crucifixus folgt mit noch größerer Ruhe, die Linien sinken, der Rhythmus verliert Puls – Zelenka malt nicht das Leiden, sondern die Hingabe. Im Et resurrexit steigt das Licht wieder auf, aber nicht in Explosion, sondern in Bewegung: ein Aufsteigen, kein Aufbrechen.
Das Sanctus ist der architektonische Höhepunkt der Messe. Der Chor singt in klaren Bögen, das Orchester antwortet mit heller Stütze. „Pleni sunt coeli“ – hier wird die himmlische Fülle nicht behauptet, sondern gezeigt. Kein barockes Übermaß, sondern Raum. Im Benedictus führt Zelenka die Musik auf ihre intimste Ebene. Meist Sopran und Alt, begleitet von den Streichern, entfalten eine Linie von nahezu mozartscher Schlichtheit: das Benedictus als gesungene Stille.
Das Osanna antwortet in klarer, fugierter Bewegung, als würde die Gemeinde den Segen mit leiser Zustimmung erwidern.
Das Agnus Dei schließt die Messe mit einer dreiteiligen Struktur: Chor, Solostimmen, und schließlich die Fuge des Dona nobis pacem. Der erste Abschnitt ist ruhig und getragen, der zweite führt die menschliche Bitte in eine zarte Polyphonie der Stimmen, der dritte bündelt alles in einer mächtigen, doch nie lauten Schlussfuge. Der Frieden, um den gebeten wird, ist nicht Sieg, sondern Zustand.
Die Missa Sancti Josephi ist Zelenkas stillstes Glaubensbekenntnis.
Keine Messe des Glanzes, sondern des Gewissens. Keine Demonstration, sondern Hingabe.
In ihr wird die Musik zur Nachahmung des heiligen Josef selbst – schweigend, dienend, stark.
Empfohlene Einspielung
Jan Dismas Zelenka – Missa Sancti Josephi, ZWV 14
Pražský filharmonický sbor · Dirigent Lubomír Mátl
Label Supraphon, frühe 1990er Jahre – eine Aufnahme von klanglicher Reinheit und kluger Zurückhaltung, die den kontemplativen Charakter dieser Messe in idealer Balance zwischen Disziplin und Innerlichkeit einfängt.
Missa Eucharistica, D-Dur (1733), ZWV 15
Messe zum Hochfest des Leibes Christi – ein musikalisches Sakrament
Mit der Missa Eucharistica schuf Jan Dismas Zelenka im Jahr 1733 eine seiner geistlich konzentriertesten und zugleich architektonisch geschlossensten Messen. Der Titel allein weist auf ihren sakralen Mittelpunkt: die Eucharistie, jenes Geheimnis, in dem das Sichtbare und das Unsichtbare ineinander übergehen. Anders als die großen Festmessen der 1720er Jahre zielt dieses Werk nicht auf äußere Pracht, sondern auf innere Vergegenwärtigung. Sie ist die Messe des Glaubens an die reale Gegenwart Gottes im Klang – nicht Repräsentation, sondern Verwandlung.
Zelenka komponierte sie im Dresdner Kontext eines Hofes, der im katholischen Ritus das Sakrale in barocker Formensprache feierte, zugleich aber immer mehr auf das persönliche Bekenntnis des Glaubenden angewiesen war. In diesem Spannungsfeld bewegt sich die Missa Eucharistica: sie ist Festmusik und Meditation zugleich, erfüllt von Licht, aber im Bewusstsein des Opfers geschrieben.
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Das Kyrie I eröffnet die Messe in leuchtendem D-Dur mit einem breiten Chorsatz, dessen kontrapunktische Dichte nie die Durchhörbarkeit verliert. Die Stimmen bewegen sich in gleichmäßigem Puls – kein Flehen, kein Aufschrei, sondern ein stilles, ernstes „Herr, erbarme dich“. Der Klang hat etwas von architektonischer Festigkeit, als würde die Musik den Altar selbst umrahmen. Das Christe eleison, einer Sopranstimme anvertraut, ist die menschliche Antwort auf diesen großen Rahmen. Über ruhigen Streichern entfaltet sich eine schlichte, kantable Melodie, von einer Innigkeit, die man eher bei Bach als im italienischen Stil erwarten würde. Sie ist nicht Verzierung, sondern gelebte Demut. Das zweite Kyrie schließt als Fuge von souveräner Klarheit: keine virtuose Demonstration, sondern die geistige Ordnung eines betenden Verstandes.
Das Gloria in excelsis Deo beginnt mit strahlendem Chor und voller Orchesterbesetzung, doch auch hier herrscht Maß. Der Jubel bleibt strukturiert, die Trompeten sind Zeichen, keine Macht. Zelenka lässt den Chor in rhythmischen Akzenten die Freude formen, nicht ausschütten. Der Satz ist von jener eigenartigen Helligkeit, die in seinen späten Werken zur Regel wird: Glanz ohne Prunk, Energie ohne Eitelkeit.
Im Qui tollis peccata mundi zieht sich die Bewegung zurück. Eine Altstimme tritt hervor und singt – fast unbewegt – über weiten Intervallen eine Musik von tiefem Ernst. Hier klingt die Eucharistie als Opfergedanke durch: „Du nimmst hinweg die Sünden der Welt“ wird bei Zelenka keine Klage, sondern eine stille, wissende Anerkenntnis. Der Satz atmet eine Würde, die an die Bußpsalmen Lassos erinnert – Distanz und Demut zugleich.
Das Qui sedes ad dexteram Patris führt zurück zum Chor, der das Gesagte bestätigt. Der Satz bleibt schlicht, fast wie eine Antiphon, doch die Harmonik ist delikat verschoben: Zelenka lässt die Stimmen um die Tonika kreisen, als suchten sie Halt, bis das Wort „miserere“ eine unhörbare Schwere bekommt. Das Quoniam tu solus sanctus für Tenor und Bass öffnet den Raum wieder. Beide Solisten singen in symmetrisch geführten Phrasen, begleitet von behutsam atmenden Streichern. Ihre Linien begegnen sich, überkreuzen sich, lösen sich – Liebe als Bewegung, nicht als Sentenz.
Das abschließende Cum Sancto Spiritu ist die kompositorische Krönung der Messe. Zelenka baut hier eine zweifache Fuge, in der sich geistige und musikalische Architektur vollkommen durchdringen. Die Themen sind streng geführt, das Orchester antwortet mit Energie, doch das Ziel ist nicht Triumph, sondern Balance. Die Fuge steigert sich, bis die Stimmen in einer lichten Kadenz zusammentreffen – als würde der Atem der vielen zu einem einzigen werden. Das zweite „Cum Sancto Spiritu“, das unmittelbar anschließt, dient als Echo und Vollendung: kein Nachsatz, sondern das Verhallen des Göttlichen im Raum.
Die Missa Eucharistica ist eine Messe der Konzentration. Sie ist weniger erzählerisch als die großen Vorgängerwerke, aber von einer Ruhe, die fast klassisch wirkt. Zelenka hat hier seine Sprache verengt, um sie zu veredeln. Alles Überflüssige ist getilgt, alles Notwendige steht in reiner Gestalt. Die musikalische Form entspricht der eucharistischen Handlung selbst: Wandlung durch Reduktion, Gegenwart durch Schweigen.
Diese Messe ist kein Schaustück – sie ist eine geistige Kommunion.
In ihr verwandelt sich der Klang in Stille, und die Stille in Glauben.
Empfohlene Einspielung
Jan Dismas Zelenka – Te Deum & Missa Eucharistica, ZWV 15
Ensemble Inégal · Dirigent Adam Viktora
Label Nibiru, erschienen 2024 – eine Aufnahme von erlesener Klarheit, die Zelenkas späte Klangsprache mit Ernst und klanglicher Reinheit erfasst; sie verbindet intellektuelle Präzision mit der leisen Glut wahrer Frömmigkeit.
Missa Purificationis Beatae Virginis Mariae, D-Dur (1733), ZWV 16
Messe zur Darstellung des Herrn – ein Werk zwischen Licht, Gnade und Ordnung
Die Missa Purificationis Beatae Virginis Mariae entstand im Jahr 1733, vermutlich für das Fest Mariä Reinigung (2. Februar), auch bekannt als Darstellung des Herrn im Tempel. Fest Mariä Reinigung ist eine barocke Bezeichnung. Heute heißt das Fest - Darstellung des Herrn (Praesentatio Domini), im Volksmund „Mariä Lichtmess“ genannt. In dieser liturgischen Szene treffen sich zwei Welten – die Reinheit der Jungfrau und das Opferbewusstsein des Kindes, der Anfang und die Vorahnung des Kreuzes. Zelenka hat diesen doppelten Charakter – Freude und Opfer, Licht und Demut – in eine der ausgewogensten Messen seines Spätwerks gefasst. Sie gehört zu jener Reihe von D-Dur-Messen, die zwischen äußerem Glanz und innerer Sammlung vermitteln, und zeigt ihn auf dem Höhepunkt seiner kompositorischen Disziplin: eine Messe von strenger Klarheit, weit gespannt, aber ohne jede Überladenheit.
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Das Kyrie öffnet sich in der typischen Helligkeit der Dresdner Festmessen, jedoch mit deutlich reduzierter orchestraler Dichte. Trompeten und Pauken gliedern die Architektur, die Streicher bilden den tragenden Boden. Der Chor entwickelt das „Kyrie eleison“ in ruhigen, ausgewogenen Phrasen – nicht als Ausdruck von Not, sondern als geregelte Anrufung. Das anschließende Christe eleison ist von einem fein austarierten Dialog der Solostimmen getragen: eine Bewegung von innen nach außen, schwebend zwischen Bitte und Zustimmung. Das zweite Kyrie schließt diesen Abschnitt in kontrapunktischer Strenge ab. Zelenka bleibt hier ganz bei der geistigen Konzentration; keine theatralischen Gesten, sondern ein in sich ruhender Satz, in dem sich Klang und Struktur vollkommen decken.
Das Gloria in excelsis Deo ist deutlich stärker beleuchtet. Der Chor tritt mit rhythmischer Energie ein, das Orchester antwortet mit hellen Bläserfarben. Doch dieser Glanz ist nie forciert: Zelenka bleibt dem Charakter des Festes verpflichtet – Freude, aber ohne Triumph. Nach dem einleitenden Jubel folgt das Gratias agimus tibi, ein Satz von großer Gelassenheit, der fast kammermusikalisch geführt ist. Hier klingt Dankbarkeit nicht laut, sondern wahrhaftig. Das Qui tollis peccata mundi, für den Chor gesetzt, bildet den ernsten Gegenpol. Die Linien sind eng geführt, die Harmonik verweilt in dunkleren Regionen. Diese Passage, von Zelenka mit besonderer Sorgfalt behandelt, lässt erkennen, wie stark er die Eucharistie und das Opfer Christi im Zentrum der Liturgie sah.
Das darauffolgende Qui sedes bringt die Bewegung zurück ins Licht. Der Chor bleibt ruhig, doch die Harmonie weitet sich, die Struktur öffnet sich zu den helleren Registern. In den beiden Quoniam tu solus-Sätzen, die er kontrastierend anlegt, lässt Zelenka zunächst die Solostimmen hervortreten – zurückhaltend, aber bestimmt –, bevor der zweite Teil das Thema in den Chor überführt. Dieses Verfahren – vom Einzelnen zur Gemeinschaft – ist typisch für seinen geistigen Stil und zeigt, dass Glauben bei ihm nie monologisch ist. Das abschließende Cum Sancto Spiritu beschließt das Gloria mit einer Fuge von straffer Konstruktion und idealer Balance. Der Satz entfaltet sich klar, fast klassizistisch, in seiner Logik. Der Abschluss wirkt nicht triumphierend, sondern vollständig – die Ordnung ist wiederhergestellt.
Das Credo ist einer der konzentriertesten Abschnitte der Messe. Zelenka behandelt den Text wie eine theologische Formel, die durch musikalische Mittel bewiesen wird. Die Deklamation bleibt ruhig, die Harmonik stabil, die Modulationen sind genau kalkuliert. Im Et incarnatus est zieht sich der Klang zurück: ein kurzer, stiller Moment, in dem die Musik nahezu zu atmen scheint. Kein Pathos, kein Zögern – die Menschwerdung wird als Tatsache ausgesprochen. Das Sanctus führt von hier aus in die lichte Sphäre des Lobes. Die Stimmen treten einander entgegen, die Instrumente tragen, und alles bleibt in feierlicher Proportion. Kein übermäßiger Effekt, sondern Ruhe im Glanz.
Das Benedictus gehört zu den zartesten Momenten der Messe. Zelenka überträgt es in eine intime Besetzung, in der Solostimmen und Streicher ein klares, fast durchsichtiges Gewebe bilden. Der Ausdruck ist verinnerlicht, aber nicht sentimental: ein kontemplatives Gebet im Klang. Das Hosanna, in lebendiger Fuge, bringt noch einmal Bewegung – eine kurze, prägnante Steigerung, deren Energie sich jedoch sofort wieder löst. Der Klang trägt, aber überfordert nie den Raum.
Das Agnus Dei – in zwei Teilen angelegt – bildet den geistigen Kern des Schlusses. Der erste Abschnitt ist von schlichter, choralartiger Führung, der zweite bringt die Solostimmen in eine zarte, ruhige Korrespondenz. Hier erreicht Zelenka eine Tiefe, die aus der Selbstbeschränkung erwächst: nichts will wirken, alles soll wahr sein. Das abschließende Dona nobis pacem nimmt das Thema des Kyrie wieder auf und schließt den Kreis – eine bewusste kompositorische Reminiszenz, die den Frieden nicht als Schluss, sondern als Rückkehr begreift.
Die Missa Purificationis Beatae Virginis Mariae ist keine Messe des Überschwangs, sondern der Klarheit. In ihr begegnen sich Ratio und Glaube, Komposition und Bekenntnis in vollkommener Deckung. Sie ist ein Beispiel jener spätbarocken Synthese, die aus Zelenka einen der letzten Vertreter einer geistig fundierten Musiktradition macht.
Diese Messe denkt, bevor sie singt, und betet, bevor sie jubelt.
In ihrer Balance aus Maß und Gnade steht sie wie ein musikalisches Altarbild – hell, ruhig und makellos proportioniert.
Empfohlene Einspielung
Jan Dismas Zelenka – Missa Purificationis Beatae Virginis Mariae, ZWV 16
Ensemble Inégal unter der Leitung von Adam Viktora, Label Nibiru, Aufnahme 2007 – eine Interpretation von klanglicher Präzision und sachlicher Schönheit, die Zelenkas geistige Strenge ohne Härte und seine Festlichkeit ohne Übertreibung hörbar macht.
Missa Sanctissimae Trinitatis, a-Moll (1736), ZWV 17
Messe zur Heiligsten Dreifaltigkeit – Musik als theologisches Denken in Klang
Mit der Missa Sanctissimae Trinitatis, entstanden 1736, erreichte Jan Dismas Zelenka (1679–1745) den inneren Höhepunkt seines geistlichen Schaffens. Es ist die erste seiner drei sogenannten Spätmessen, die alle eine neue stilistische und geistige Dimension eröffnen. Nach Jahren äußerer Zurücksetzung, gesundheitlicher Erschöpfung und stiller Arbeit in Dresden komponierte Zelenka kein repräsentatives Hofwerk mehr, sondern ein Bekenntniswerk – eine Messe, die die Dreifaltigkeit nicht bloß feiert, sondern den Versuch unternimmt, sie kompositorisch zu denken.
Die a-Moll-Tonalität – in Zelenkas Oeuvre selten – ist hier nicht Ausdruck von Schwermut, sondern von Ernst und Konzentration. Sie fasst das Mysterium der göttlichen Dreiheit in einen Klang, der zugleich introvertiert und monumental wirkt. Alles Äußere tritt zurück, um der Form und dem Glauben Raum zu geben. Die Missa Sanctissimae Trinitatis ist keine höfische Festmesse mehr, sondern ein geistiger Traktat in musikalischer Gestalt.
Das Werk ist für Chor (SATB), Solistenquartett, Streicher, Oboen, Fagott, Basso continuo und Trompeten besetzt. Die Leitung der hier referierten Einspielung übernahm Marek Štryncl (* 1974) mit seinem Ensemble Musica Florea, aufgenommen 1994, eine der ersten modernen Einspielungen, die die monumentale Strenge und die meditative Tiefe dieser Messe nachvollziehbar machten.
https://www.youtube.com/watch?v=85xinek5doQ
Das Kyrie I eröffnet das Werk mit einem Satz von großer architektonischer Klarheit. Der Chor singt in weiter, modaler Linie, die Harmonik bleibt gebunden, die Stimmen flechten sich in ein gleichmäßiges, ruhiges Fugato. Kein auftrumpfender Beginn, sondern eine Art kontemplativer Einzug. Das Christe eleison, der Altstimme anvertraut, bildet den ersten Kontrast: eine schlichte, fast asketische Arie, deren Melodik sich in einem engen Ambitus bewegt – die Menschwerdung der Bitte im Klang. Zelenka lässt hier keinen Affekt zu; alles bleibt diszipliniert, fast mönchisch. Im Kyrie II, einer weitgeführten Fuge, steigert sich die kontrapunktische Dichte. Der Chor bleibt geschlossen, die Themenführung exemplarisch klar. Die Fuge endet nicht mit Triumph, sondern mit Beruhigung: die Einheit ist erreicht, aber nicht ausgestellt.
Das Gloria in excelsis Deo entfaltet sich mit SATB-Solisten und Chor in wechselnden Ebenen. Zelenka kontrastiert homophone Jubelblöcke mit engmaschigem Fugengewebe. Die Musik ist hell, doch nicht strahlend – das Gloria klingt wie reflektiertes Licht. Das Qui tollis peccata mundi, eine dichte Fuge im Chor, führt in eine andere Klangwelt: die Schuld der Welt ist hier nicht dramatisch, sondern schwer und ruhig getragen. Kein Schmerzgestus, sondern das Bewusstsein einer Realität. Das Quoniam tu solus, einer Sopranstimme anvertraut, wirkt wie eine zarte Entlastung – eine Linie in reiner Tonalität, frei von Kontrapunkt, als ließe Zelenka für einen Moment den dogmatischen Diskurs verstummen. Danach entfalten die beiden Cum Sancto Spiritu-Sätze den kontrapunktischen Höhepunkt des Glorias: zuerst ein rhythmisch pulsierender Chorsatz, dann eine groß angelegte Doppelfuge, in der Zelenka polyphone Bewegung und homophone Klarheit auf meisterhafte Weise verschränkt. Diese Fuge ist keine Demonstration, sondern ein musikalisches Symbol: Bewegung im Geist als Form der Einheit.
Das Credo wird nicht als Erzählung behandelt, sondern als architektonische Säule der Messe. Der Chor beginnt mit voller Klangbreite, die Solisten treten in klaren Proportionen hervor. Zelenka baut das Glaubensbekenntnis wie eine Kathedrale, Stein für Stein aus Stimmen. Im Et incarnatus est zieht sich die Musik zurück; die Linien brechen in kleine Gesten, die Harmonik wird chromatischer. Der Satz wirkt wie ein Einatmen des Geheimnisses. Danach erhebt sich das Et resurrexit, bei Zelenka oft ein Moment der kontrollierten Freude. Der Tenor führt, der Chor antwortet, und der Satz entwickelt eine rhythmische Strahlkraft, die dennoch nie ins Weltliche kippt. Im Et unam sanctam Ecclesiam, an Sopran, Alt und Tenor übergeben, tritt die Dreifaltigkeit im Menschlichen hervor: drei Stimmen, die sich nicht verschmelzen, sondern einander tragen. Das Et vitam venturi saeculi, eine große abschließende Fuge, bringt das Credo zum theologischen Endpunkt. Ihre Bewegung ist kreisförmig, geschlossen – Zelenka schreibt hier nicht Ende, sondern Ewigkeit.
Das Sanctus gehört zu den erhabensten Momenten des Werks. Der Chor steht breit und ruhig, die Instrumente antworten in getragenem Puls. Keine Explosion, sondern Weite: Heiligkeit als Raum, nicht als Moment. Das Benedictus, der Sopranstimme anvertraut, ist von einer berührenden Schlichtheit. Es trägt jene Gelassenheit, die das Überflüssige abgelegt hat. Das Osanna, in lebendiger Fuge, kehrt das Prinzip der Bewegung wieder um: kein festlicher Ausbruch, sondern das rhythmische Echo des Sanctus – der Kreis schließt sich.
Das Agnus Dei I, für Tenor und Bass, führt in die letzte Zone der Messe. Hier spricht Zelenka nicht mehr von der Welt, sondern von der Seele. Die Stimmen bewegen sich in parallelen Linien, die sich sanft berühren. Das zweite Agnus Dei, ohne Soli, setzt den Chor als meditativen Resonanzkörper ein. Dann mündet das Werk in das Dona nobis pacem, eine groß angelegte Fuge, die das Kyrie-Thema des Beginns in erweiterter Gestalt wieder aufnimmt. Das ist kein Zufall, sondern Symbol: Der Kreis des Glaubens schließt sich, der Anfang kehrt als Erkenntnis zurück. Frieden ist bei Zelenka nicht der Abschluss, sondern die Vollendung.
Die Missa Sanctissimae Trinitatis ist eine Messe der reifen Theologie und reinen Kunst. Sie steht an der Schwelle zur Klassik, ohne ihre barocke Tiefenstruktur zu verlieren. Alles in ihr ist durchdacht, nichts ist äußerlich. Zelenka verzichtet auf repräsentative Klangfarben und findet zur asketischen Größe. Diese Musik ist nicht geschrieben, um zu gefallen, sondern um zu bestehen.
Sie ist Zelenkas theologische Summe, seine musikalische Dreifaltigkeit in Tönen.
Eine Messe nicht der Pracht, sondern der Wahrheit – komponiert von einem, der glaubte, dass Denken selbst ein Gebet sein kann.
Empfohlene Einspielung
Jan Dismas Zelenka – Missa Sanctissimae Trinitatis, ZWV 17
Musica Florea · Dirigent Marek Štryncl (* 1974)
Aufgenommen 1994, Label Studio Matouš (Tschechien) – eine historisch informierte Aufführung von großer stilistischer Strenge und klanglicher Klarheit. Štryncl und sein Ensemble fangen die asketische Größe dieser Messe in idealer Balance zwischen barocker Geistigkeit und moderner Präzision ein.
Missa Votiva, e-Moll (1739), ZWV 18
Eine Messe des Gelübdes und der geistigen Dankbarkeit
Mit der Missa Votiva, entstanden 1739, schuf Jan Dismas Zelenka (1679–1745) eine der erhabensten, zugleich persönlichsten Messen des 18. Jahrhunderts. Sie ist das Werk eines gereiften Komponisten, der nach Jahrzehnten des Dienstes, der Krankheit und inneren Prüfungen zu sich selbst gefunden hatte. Der lateinische Titel Missa Votiva verweist auf das Gelübde (votum), das Zelenka nach schwerer Erkrankung ablegte: Er wollte dem Himmel ein musikalisches Zeichen des Dankes hinterlassen. Das Ergebnis ist kein Repräsentationswerk für den Dresdner Hof, sondern eine Messe des Herzens, eine geistige Selbstvergewisserung in Tönen.
Das Werk steht in e-Moll, einer Tonart, die in der Barockzeit häufig mit Demut und seelischer Tiefe assoziiert wurde. Zelenka formt daraus eine monumentale, knapp einstündige Komposition von strenger Architektur und zugleich mystischer Innigkeit. Besetzt ist sie für Chor (SATB), Solisten, Streichorchester, Oboen, Fagott, Trompeten, Pauken und Basso continuo – eine Klangpalette, die zwischen asketischer Durchsichtigkeit und festlichem Glanz oszilliert.
https://www.youtube.com/watch?v=ephoNJcmu38
Das Kyrie I eröffnet mit ernstem, tief atmendem Fugato, in dem die Stimmen sich organisch verweben, ohne den kontemplativen Charakter zu verlieren. Kein Auftrumpfen, sondern gedankliche Konzentration. Im Christe eleison tritt die Sopranstimme hervor: eine zarte, fast intime Bitte um Erbarmen, deren Linien von stiller Dankbarkeit durchzogen sind. Das Kyrie II greift die Anfangsfuge wieder auf, jedoch mit größerer Bewegung; Zelenka verleiht der Musik einen Zug nach innen. Das anschließende Kyrie III schließt den ersten Teil mit einer machtvollen, aber nicht triumphalen Chorentwicklung: ein symmetrischer Rahmen, in dem das Gebet zu einer geistigen Architektur wird.
Das Gloria bringt die erste Öffnung des Klangraums. Die Trompeten klingen hell, doch nie vordergründig; Zelenka vermeidet alles Prunkhafte. Das Gratias agimus tibi, als Chorstück gesetzt, bildet den inneren Kern der Danksagung: kein Festjubel, sondern meditatives Erkennen des Geschehenen. Im Qui tollis peccata mundi (Sopran) wendet sich die Musik nach innen; die Linien sind schlicht, die Harmonik gebrochen, als wäge Zelenka das Leid der Welt. Das Qui sedes ad dexteram Patris führt den Chor wieder in ruhige Polyphonie zurück, ehe das Quoniam tu solus Sanctus (Bass) in feierlicher Würde das Gloria beschließt. Danach folgen die beiden Cum Sancto Spiritu-Abschnitte: Zunächst ein fließender Chorsatz mit klarer rhythmischer Energie, dann eine groß dimensionierte Doppelfuge, in der Zelenka kontrapunktische Strenge und geistige Leuchtkraft zu höchster Synthese führt.
Das Credo stellt das theologische Zentrum der Messe dar. Es beginnt mit einem massiven Chorblock, der das Glaubensbekenntnis als gemeinschaftliche Proklamation begreift. Im Et incarnatus est (Alt) verlangsamt sich der Puls: Die Musik wird transparent, fast körperlos, als wolle sie das Mysterium der Menschwerdung nicht beschreiben, sondern umkreisen. Das Crucifixus, als Fuge angelegt, ist ein Beispiel höchster barocker Logik: Leid und Ordnung fallen zusammen, die Kreuzigung erscheint als göttliche Struktur. Im Et resurrexit kehrt das Licht zurück – keine aufgesetzte Freude, sondern helles, erlösendes Aufatmen. Das abschließende Et vitam venturi saeculi entfaltet eine letzte große Fuge, deren kreisende Bewegung Ewigkeit symbolisiert; Musik als endloser Atem.
Das Sanctus führt in eine Sphäre geläuterter Größe. Der Chor steht weit, getragen, die Instrumente antworten mit langsamen Wellen. Kein strahlendes „Heilig“, sondern die Erfahrung von Raum und Unendlichkeit. Im Benedictus (Sopran) wendet sich der Blick wieder ins Innere: ein von Sanftmut durchzogener Satz, der sich über einem leichten Ostinato entfaltet. Das Osanna in excelsis, in freier Fuge gesetzt, lässt den Klang sich nochmals öffnen – das Gebet wird zur Bewegung des Geistes.
Im Agnus Dei verdichtet Zelenka alle Themen und Gesten zu einem letzten, schlichten Chor. Die Stimmen stehen ruhig nebeneinander, die Harmonik bleibt lange in Moll, bevor sie sich – kaum merklich – ins Dur löst. Es ist der Augenblick des Friedens, nicht als Triumph, sondern als Erkenntnis. Das abschließende Dona nobis pacem, wiederum als Fuge gestaltet, nimmt das Anfangsthema des Kyrie auf und schließt so den Kreis. Der Weg von der Bitte zum Frieden, von der Krankheit zur Genesung, von der Angst zur Dankbarkeit – alles wird hier musikalisch vollzogen.
Die Missa Votiva ist Zelenkas geistliches Selbstporträt.
Sie vereint die Strenge des Theologen mit der Empfindsamkeit des Gläubigen, die Klarheit des Architekten mit der Glut des Beters.
Keine andere Komposition des Dresdner Hofkomponisten trägt so deutlich das Siegel seiner Persönlichkeit: kämpferisch, demütig, und von tiefem innerem Licht erfüllt.
Empfohlene Aufnahme
Jan Dismas Zelenka – Missa Votiva, ZWV 18
Collegium 1704, Dirigent Václav Luks (* 1970)
Live-Mitschnitt vom 7. Oktober 2007, Svatováclavský hudební festival, Opava – Kirche St. Wenzel.
Eine Aufführung von bemerkenswerter Klarheit und geistiger Intensität: Luks und das Collegium 1704 lassen Zelenkas Messe als klingendes Gebet entstehen – tief durchdacht, ruhig atmend, mit jener leuchtenden Würde, die diese Musik zu einer der bedeutendsten geistlichen Schöpfungen des 18. Jahrhunderts macht.
Missa Dei Patris, C-Dur (1740), ZWV 19
Die Messe des Gottes Vaters – Zelenkas theologische und kompositorische Krönung
Die Missa Dei Patris ist die erste der drei sogenannten Trias Messen, die Jan Dismas Zelenka zwischen 1740 und 1741 komponierte. Diese Werke – Missa Dei Patris, Missa Dei Filii und Missa Omnium Sanctorum – bilden den Höhepunkt und Abschluss seines geistlichen Schaffens. Sie sind keine höfischen Auftragswerke mehr, sondern das Vermächtnis eines tief religiösen Künstlers, der in der Stille Dresdens seine innere Wahrheit in Tönen formulierte. Die Missa Dei Patris ist der feierlichste und zugleich architektonisch ausgewogenste Teil dieser Trilogie – ein Werk von strenger Theologie, reifer Kontrapunktik und erleuchteter Klangrede.
Das Werk entstand 1740, in einem Moment, da Zelenka zwar geachtet, aber nie offiziell zum Kapellmeister ernannt wurde. Statt Bitterkeit spricht aus dieser Musik jedoch Demut und Gewissheit. Zelenka komponiert hier keinen repräsentativen Festakt, sondern einen geistigen Kosmos: eine Messe, in der das Verhältnis zwischen Gottvater und Mensch musikalisch durchdacht wird. Die Tonart C-Dur, Symbol für Licht, Klarheit und göttliche Ordnung, dient ihm als Basis eines polyphonen Tempels.
Die Messe ist groß besetzt: Chor (SATB), Solistenquartett, Streicher, Oboen, Fagott, Trompeten, Pauken und Basso continuo. Sie verlangt nach jener kultivierten und doch durchsichtigen Klangsprache, die in der Aufführung der Wrocławska Orkiestra Barokowa unter der Leitung von Jarosław Thiel (* 1973) in eindrucksvoller Weise wieder lebendig wird.
https://www.youtube.com/watch?v=_ajL20J2Al8
Das Kyrie I eröffnet das Werk mit einer weit gefassten Fuge von außergewöhnlicher Ruhe und architektonischer Größe. Die Stimmen treten nacheinander ein, der Satz entfaltet sich symmetrisch und klar – der Vater als Ursprung aller Ordnung. Das Christe eleison, einer Solostimme anvertraut, bildet einen innigen Gegenpol: ein stiller Zwischenraum des Menschlichen, weich modelliert und von inniger Demut getragen. Im Kyrie II zieht Zelenka alle Kräfte des Chores zusammen. Der Fugensatz gewinnt an Dichte und Energie, ohne seine Kontemplation zu verlieren – das „Erbarme dich“ wird zur Struktur des Glaubens selbst.
Das Gloria in excelsis Deo stellt eine klangliche Entfaltung göttlicher Herrlichkeit dar. Die Trompeten leuchten, die Pauken rahmen den Chor, doch alles bleibt kontrolliert und innerlich. Im Domine Deus und Domine Fili wird der Jubel durch vokale Soli gemildert: Sopran und Alt weben eine Linie von Leuchtkraft und Zärtlichkeit, begleitet von feinen Bläserfiguren. Das Qui sedes kehrt zum Chor zurück und entfaltet eine dichte kontrapunktische Textur – der Sohn, der zur Rechten des Vaters sitzt, erscheint hier nicht in Pracht, sondern in reiner musikalischer Vernunft. Das Quoniam tu solus sanctus und das abschließende Cum Sancto Spiritu vereinen erneut alle Kräfte. Die letzte Fuge des Gloria ist eine von Zelenkas vollkommensten Schöpfungen: ruhig, harmonisch kristallin, von einem inneren Licht getragen, das in keiner seiner früheren Messen so rein leuchtet.
Das Credo wird in dieser Messe zu einem geistigen Bauwerk. Zelenka behandelt den Text wie ein architektonisches Fundament. Der Chor beginnt einstimmig, fast dogmatisch, und wächst dann in ein vollstimmiges Fugato hinein. Das Et incarnatus est, von feinem Orchestersatz umrahmt, sinkt in den Raum des Geheimnisses – kaum Bewegung, reine Stille in Klangform. Das Crucifixus steht in großer Fuge: Schmerz wird hier nicht expressiv, sondern notwendig, eine Konsequenz der göttlichen Ordnung. Danach bricht das Et resurrexit in triumphalem, aber kontrolliertem Glanz hervor; Trompeten und Pauken malen den Aufstieg, ohne ins Weltliche zu fallen. Das Et vitam venturi saeculi, in weiter Fuge gesetzt, bringt das Credo zum Abschluss: Ewigkeit als kontrapunktische Bewegung.
Das Sanctus ist von strahlender Ruhe. Der Chor entfaltet sich breit und symmetrisch, die Bläser setzen Akzente des Lichts. „Pleni sunt coeli et terra gloria tua“ wird hier nicht ausgerufen, sondern ausgesungen – als Erkenntnis, nicht als Ausbruch. Das Benedictus, einer Solostimme anvertraut, ist von zarter Innigkeit, bevor das Osanna in excelsis, als lebendige Fuge gestaltet, die Weite des Sanctus wieder aufnimmt.
Im Agnus Dei I verweben sich Tenor und Bass in einem dialogischen Gebet. Es ist Musik des Friedens, aber nicht des Endes – sie bleibt in Bewegung. Das Agnus Dei II führt den Chor in eine letzte, gelassene Bitte, bevor das Dona nobis pacem das Werk beschließt. Hier kehrt Zelenka zum Thema des Kyrie zurück und vollendet den Kreis: Friede ist keine Lösung, sondern Erfüllung.
Die Missa Dei Patris ist Zelenkas Summe der Ordnung und des Lichts.
Sie verbindet die kühle Architektur des Glaubens mit menschlicher Innigkeit.
Alles in ihr ist durchdacht, doch nichts ist berechnet. Sie ist die Musik eines Gelehrten, der glaubt – und eines Gläubigen, der denkt.
Empfohlene Einspielung
Jan Dismas Zelenka – Missa Dei Patris, ZWV 19
Thüringischer Akademischer Singkreis · Virtuosi Saxoniae unter der Leitung von Ludwig Güttler (* 1943)
Aufgenommen 1990, Label Eterna / Edel Germany GmbH – eine stilistisch kluge und transparent musizierte Interpretation, die die kontrapunktische Klarheit des Werks herausstellt. Güttler und seine Musiker entfalten Zelenkas Musik ohne jede Effekthascherei: klar im Satz, ruhig in der Dynamik, tief im Ausdruck.
Missa Dei Filii, C-Dur (um 1740), ZWV 20
Die Messe des Gottessohnes – Zelenkas Bekenntnis zur Menschwerdung des Göttlichen
Die Missa Dei Filii bildet den zweiten Teil der sogenannten Trias Messen von Jan Dismas Zelenka (1679–1745), jener Trilogie geistlicher Großformen, die zwischen 1740 und 1741 entstanden ist und den Gipfel seines kompositorischen Schaffens markiert. Während die Missa Dei Patris das Bild des ordnenden, schöpferischen Vaters gestaltet und die spätere Missa Omnium Sanctorum das himmlische Jerusalem imaginiert, wendet sich Zelenka in der Missa Dei Filii dem zentralen Mysterium der christlichen Theologie zu: der Menschwerdung des Gottessohnes.
Dieses Werk ist keine prunkvolle Hofmesse, sondern eine Meditation über Inkarnation und Erlösung. Alles Äußere ist reduziert, die Struktur klar und verdichtet, der Ausdruck von einem tiefen, innerlich leuchtenden Ernst. Zelenka komponierte hier für sich selbst, in der Stille seines Dresdner Studierzimmers, ohne Auftrag, ohne Aussicht auf Aufführung. Entstanden ist eine Messe von makelloser Logik, in der jede Note einer geistigen Notwendigkeit folgt.
Die Messe steht in C-Dur, jener „himmlischen“ Tonart, die Zelenka bereits in der Missa Dei Patris gewählt hatte, diesmal aber mit noch größerer Transparenz und Lichtdurchlässigkeit behandelt. Der Klang ist lichter, weniger majestätisch, die Polyphonie noch konzentrierter. Der Komponist verzichtet auf ein vollständiges Ordinarium: erhalten sind nur Kyrie und Gloria, die er zu einer geschlossenen theologischen Einheit formt.
Das Werk ist besetzt für Chor (SATB), Solistenquartett, Streicher, Oboen, Fagott, Trompeten, Pauken und Basso continuo. Es fordert eine durchsichtige, denkende Interpretation – eine Qualität, die in den Darbietungen des Freiburger Barockorchesters und des Collegium Vocale Gent unter Marcus Creed (* 1951) exemplarisch verwirklicht wurde.
https://www.youtube.com/watch?v=yiCTzSF7CR4
Das Kyrie I eröffnet die Messe mit einem kraftvollen, doch gelassenen Fugato. Zelenka führt das Thema mit fast mathematischer Präzision; die Stimmen treten einzeln ein, bis der gesamte Chor zu einer lebenden Struktur verschmilzt. Diese Musik verkörpert das Prinzip der göttlichen Ordnung – der Sohn als Vermittler zwischen himmlischer Idee und irdischer Realität. Das Christe eleison, der Sopranstimme anvertraut, bildet den zarten Gegenpol: eine intime Arie von schwebender Schönheit, begleitet von sanft atmenden Streichern. Sie symbolisiert die Menschwerdung, den Moment, in dem das Göttliche Gestalt annimmt. Das Kyrie II kehrt zur Fugenstruktur zurück, doch in hellerem Licht: das Bittgebet hat sich in Erkenntnis verwandelt.
Das Gloria entfaltet sich aus einem hellen, rhythmisch klaren Chorsatz. Die Stimmen treten in konzertierender Bewegung aufeinander zu, die Bläser antworten in Lichtfiguren. Nichts ist laut, nichts überladen; Zelenka gestaltet den Jubel als geistige Klarheit. Das anschließende Qui tollis peccata mundi, einem Solotrio aus Sopran, Tenor und Bass anvertraut, ist von großer Ausdruckskraft. Hier steht nicht das Leiden im Vordergrund, sondern die schmerzliche Würde des Ertragens. Die Linien sind weit gespannt, die Harmonik reich, aber nie sentimental. Das Qui sedes ad dexteram Patris, wieder für Chor, entfaltet sich als breit angelegte, ruhige Fuge. Der Sohn, der zur Rechten des Vaters sitzt, erscheint nicht als Sieger, sondern als Mittler.
Das Quoniam tu solus Sanctus bildet einen doppelten Höhepunkt. Im ersten Teil führt der Chor die Textzeile als majestätischen Klangblock, in weit ausgreifenden Bögen, getragen von festlichem Orchester. Der zweite Teil, Quoniam II, ist einer Alt-Arie anvertraut – ruhig, fast kammermusikalisch, ein stilles Nachdenken über die Heiligkeit. Sie steht im Gegensatz zur monumentalen Architektur des vorigen Satzes und öffnet den Raum zu einer inneren Perspektive: Heiligkeit als Sanftmut, nicht als Macht.
Das abschließende Cum Sancto Spiritu, wiederum zweiteilig, bringt die Messe zu einem grandiosen Abschluss. Der erste Teil steht als Übergang, eine ruhig atmende Deklamation, während der zweite Teil als Doppelfuge gestaltet ist – eine der konzentriertesten in Zelenkas Spätwerk. Hier verschmelzen alle Kräfte: die Kunst des Kontrapunkts, die Klarheit der Form, die emotionale Ruhe des Glaubens. Der Satz endet nicht mit Pracht, sondern mit vollendeter Geschlossenheit: eine Theologie in Klang.
Die Missa Dei Filii ist die abstrakteste und zugleich reinste unter Zelenkas Spätmessen. Sie verzichtet auf äußeren Glanz und wendet sich nach innen. Alles in ihr ist durchgeistigt, jedes Detail verweist auf eine höhere Ordnung. Sie ist das Werk eines Mannes, der alles Wissen und alle Demut in Musik verwandelt hat – das Bekenntnis eines Komponisten, der Gott nicht beschreibt, sondern den Gedanken an Gott vertont.
Die Messe des Gottessohnes ist Zelenkas leuchtendstes Zeugnis innerer Klarheit.
Sie ist keine Bitte mehr, kein Kampf – sie ist Frieden im Denken, Licht im Klang, Theologie in Musik.
Empfohlene Aufnahme
Jan Dismas Zelenka – Missa Dei Filii / Litaniae Lauretanae
Kammerchor Stuttgart · Dirigent Frieder Bernius (geboren 1947)
Aufgenommen 1990, Label BMG Entertainment – Tracks 1–10.
Bernius und sein Ensemble verbinden analytische Präzision mit spiritueller Weite; das Klangbild bleibt transparent, die Fugen atmen, die Linien leuchten. Diese Einspielung veranschaulicht Zelenkas letzte Reifephase – Musik als stille Erkenntnis, unprätentiös, tief und vollkommen ausgewogen.
Missa Omnium Sanctorum, a-Moll (1741), ZWV 21
Die Messe Aller Heiligen – Zelenkas Vermächtnis und geistige Vollendung
Die Missa Omnium Sanctorum, vollendet 1741, ist das letzte vollendete Werk von Jan Dismas Zelenka (1679–1745) und der Schlusspunkt seines Lebenswerks. Nach der Missa Dei Patris und der Missa Dei Filii bildet sie den dritten Teil der sogenannten Trias Messen, die den inneren und theologischen Höhepunkt seines Schaffens darstellen. Wenn die Missa Dei Patris den Schöpfer, und die Missa Dei Filii den Erlöser feiert, so ist die Missa Omnium Sanctorum eine Huldigung an die Gemeinschaft der Heiligen – an jene, die im himmlischen Jerusalem mit Gott vereint sind. Sie ist Zelenkas musikalisches Testament: ernst, geläutert, klar und in sich geschlossen.
Die Messe steht in a-Moll, einer Tonart, die bei Zelenka stets mit Demut, Askese und geistiger Klarheit verbunden ist. Sie ist in ihrer Anlage kompakter als ihre Vorgängerinnen, aber von noch größerer innerer Konzentration. Der Glanz früherer Hofmessen ist verschwunden; übrig bleibt reine Substanz. In der Missa Omnium Sanctorum komponiert Zelenka keine Festmusik mehr, sondern eine Summe seines Glaubens und seines Wissens. Die Linien sind karger, die Harmonik verschattet, die Kontrapunktik von beinahe scholastischer Strenge.
Das Werk ist besetzt für Chor (SATB), Solistenquartett, Streicher, zwei Oboen, Fagott, Trompeten, Pauken und Basso continuo – dieselbe Besetzung wie in den beiden vorangegangenen Trias-Messen, jedoch mit sparsamerer klanglicher Verwendung. Der Charakter ist ernster, kontemplativer. Das Orchester begleitet, kommentiert, erhellt – niemals dominiert.
https://www.youtube.com/watch?v=RZNYtML_Zrg
Das Kyrie eléison eröffnet die Messe mit einem weit gespannten Fugato. Die Stimmen treten in strenger Ordnung ein, der Satz bleibt geschlossen, ohne rhetorische Geste. Dieses Kyrie ist kein Flehen, sondern ein meditativer Prozess: das göttliche Erbarmen erscheint hier als Struktur, nicht als Affekt. Das Christe eléison, einem Tenor anvertraut, wirkt wie eine menschliche Antwort auf das strenge Eingangsgebet – schlicht, von zarter Linienführung, ohne Opernpathos, beinahe klösterlich. Im Kyrie II kehrt der Chor zurück und verdichtet die Bewegung zu einer zweiten Fuge, die noch konzentrierter, noch sparsamer klingt. So entsteht ein symmetrischer Dreiklang, der die Trinität im Aufbau selbst abbildet.
Das Gloria in excelsis Deo bringt eine erste Aufhellung des Klangraums. Chor und Solisten (Sopran, Alt, Tenor, Bass) wechseln in konzertierender Bewegung, doch der Jubel bleibt von Reflexion durchzogen. Zelenkas Gloria ist nicht triumphal, sondern erkennend: das Licht, das aus der Tiefe kommt. Das Qui tollis peccata mundi, der Sopranstimme anvertraut, ist einer der innigsten Sätze der Messe. Es trägt jenen stillen Schmerz, der nicht nach Erlösung ruft, sondern sie bereits kennt. Der Satz bleibt schlicht, die Harmonik weit geöffnet – reines Vertrauen in Töne gesetzt. Das Quoniam tu solus Sanctus I, für Chor, und das zweite Quoniam tu solus Sanctus II, für Alt-Solo, sind wie zwei Spiegelbilder: der erste Teil kraftvoll und geordnet, der zweite innerlich und gelöst. Zusammen formen sie eine theologische Dialektik: die Majestät und die Demut des Göttlichen.
Das Cum Sancto Spiritu erscheint in zwei Abschnitten. Der erste Teil entfaltet sich in ruhig pulsierender Bewegung, fast ein Übergang; der zweite Teil, eine Fuge von größter Dichte und logischer Strenge, schließt das Gloria mit einem kunstvollen architektonischen Satz. Zelenka, der Schüler Fux’, beherrscht hier die kontrapunktische Disziplin vollkommen – doch sein Ziel ist kein Beweis, sondern Glauben in Bewegung.
Das Credo wird zu einer Synthese aus Dogma und Emotion. Chor und Solisten tragen den Text gleichwertig, der Klang bleibt durchsichtig. Das Et incarnatus est zeichnet den Moment der Menschwerdung in stiller Zartheit, der Satz scheint den Atem anzuhalten. Das Crucifixus wählt die Form der Fuge: Leid als Ordnung, nicht als Aufruhr. Danach das Et resurrexit, hell, fast gelöst, und schließlich das Et vitam venturi saeculi, das in kreisender Bewegung endet – kein Schluss, sondern Fortdauer.
Das Sanctus ist von erhabener Ruhe. Der Chor schichtet seine Stimmen in weitem Raum, das Orchester antwortet in leichten Phrasen. „Pleni sunt coeli“ ist hier kein Jubelruf, sondern eine Beschreibung des Ewigen: die Fülle des Himmels als Gleichmaß. Das Benedictus, ein Duett für Sopran und Alt, bietet eine letzte menschliche Geste – zart, kontemplativ, beinahe außerweltlich. Im Osanna in excelsis kehrt der Chor noch einmal zurück: hell, klar, aber ohne äußeren Glanz.
Das Agnus Dei, zwischen Chor und Bass-Solo geteilt, ist das Herz der Messe. Die Stimme des Basses trägt das Gebet mit ernster Ruhe; der Chor antwortet wie eine liturgische Gemeinde, die sich dem Ganzen fügt. Das abschließende Dona nobis pacem steht als Fuge – ruhig, transparent, von unerbittlicher Logik. Hier endet Zelenka nicht mit Pathos, sondern mit Klarheit. Der Friede, um den gebeten wird, ist bereits gefunden – er liegt in der Musik selbst.
Die Missa Omnium Sanctorum ist Zelenkas musikalisches Vermächtnis.
Sie ist kein Werk des Triumphs, sondern der Vollendung.
In ihr wird der Glaube zu Form, der Kontrapunkt zu Gebet, und die Stille zwischen den Stimmen zu Offenbarung.
Es ist Musik, die nicht mehr bittet, sondern weiß.
Empfohlene Aufnahme:
Jan Dismas Zelenka – Missa Omnium Sanctorum, ZWV 21
Collegium 1704 unter der Leitung von Václav Luks (* 1970)
Live aufgenommen am 25. August 2012 im Rahmen des Festival Oude Muziek Utrecht.
Eine Aufführung von außergewöhnlicher Geschlossenheit und innerer Klarheit – Luks und sein Ensemble lassen Zelenkas letztes geistliches Werk in stiller Größe erstrahlen: keine Effekte, keine Überhöhung, sondern reine Konzentration, feine Balance und spirituelle Tiefe.
Alternativ auf CD empfehlenswert: Ensemble Inégal unter der Leitung von Adam Viktora (* 1973), Label Nibiru, 2016 – stilistisch sauber, klar konturiert, mit jener gelassenen Ernsthaftigkeit, die Zelenkas späten Stil so einzigartig macht.
Requiem in c-Moll (zugeschrieben, um 1763), ZWV 45
Ein Werk im Schatten der Zweifel – Zelenka, Nachwirkung und Zuschreibung
Das sogenannte Requiem in c-Moll (ZWV 45) steht in einer besonderen und zugleich heiklen Stellung innerhalb des Werkverzeichnisses von Jan Dismas Zelenka. Es wurde erst in den 1980er Jahren in Prag wiederentdeckt, in einem Manuskript, das auf 1763 datiert ist – also beinahe zwei Jahrzehnte nach Zelenkas Tod. Seitdem wird dieses Werk traditionell seinem Namen zugeordnet, doch die Autorschaft bleibt ungesichert. Keine zeitgenössische Quelle, kein Dresdner Archivdokument und keine Erwähnung in Zelenkas eigenhändigen Werkverzeichnissen deuten auf ein Requiem dieser Tonart hin. Es handelt sich vermutlich um eine Abschrift oder Bearbeitung eines unbekannten Komponisten, der Zelenkas Stil kannte und sich davon tief inspirieren ließ. Gleichwohl ist das Werk musikalisch von hoher Qualität und verdient Beachtung als eines der ergreifendsten Beispiele spätbarocker Totenliturgie aus böhmischem Umfeld.
Das Manuskript, das in der Tschechischen Nationalbibliothek (Prag) auftauchte, trägt keine eindeutige Autorsignatur, wurde aber zunächst Zelenka zugeschrieben, weil es in Struktur, Satztechnik und harmonischer Sprache deutliche Parallelen zu seinen authentischen Spätwerken zeigt. Besonders die kontrapunktische Arbeit, die polyphone Anlage des Kyrie und die modale Schattierung des Dies irae erinnern an die Handschrift des Dresdner Meisters. Doch der Stil wirkt geglätteter, die Rhetorik weniger scharf, die harmonische Kühnheit abgeschwächt. Dies lässt vermuten, dass der unbekannte Autor Zelenkas Idiom nachahmte oder eine ältere Vorlage bearbeitete.
https://www.youtube.com/watch?v=DoueMUEi4Xo
Das Requiem aeternam eröffnet das Werk mit einem feierlich schreitenden, in dunklen Harmonien atmenden Chor. Die Struktur ist einfach, die Emotion ernst, doch ohne die charakteristische Dichte Zelenkas. Das anschließende Te decet hymnus, in hellerer Bewegung, bringt ein Wechselspiel zwischen Chor und Solisten, das an Dresdner Trauermusiken der 1740er Jahre erinnert. Eine kurze Reprise des Requiem aeternam führt in das Kyrie eleison, dessen dreiteiliger Aufbau (Kyrie – Christe – Kyrie) von bemerkenswerter Klarheit und symmetrischer Balance geprägt ist. Die Linienführung ist fließend, fast klassizistisch; die Fugen sind präzise, aber nicht von jener eruptiven Energie, die Zelenka sonst auszeichnet.
Besonderes Gewicht liegt auf der Sequentia „Dies irae“, die hier ungewöhnlich ruhig beginnt – kein dramatisches Weltgericht, sondern eine von leiser Bedrängnis erfüllte Meditation über das Ende. Im Abschnitt Quantus tremor est futurus arbeitet der Chor mit pochenden Rhythmen, die das Erzittern der Schöpfung andeuten. Das Tuba mirum bringt Trompeten- und Paukeneinsätze, doch in kontrolliertem Rahmen; alles bleibt dem liturgischen Ernst verpflichtet. Mors stupebit und Liber scriptus führen die kontrapunktische Kunst fort, jedoch in glatterer Faktur – polyphon, aber ohne die kühnen dissonanten Wendungen, wie man sie aus Zelenkas gesicherten Spätwerken (etwa der Missa Omnium Sanctorum) kennt.
Das Lacrymosa gehört zu den eindrucksvollsten Momenten der Messe. Die Musik fließt in tränenreicher Ruhe, die Harmonik öffnet sich weit, die Stimmen verweben sich in sanftem Chromatismus. Hier zeigt sich der Geist jener tiefen Emotionalität, die Zelenkas Name so oft begleitet – mag sie auch von einem Schüler oder Bewunderer stammen.
Das Sanctus steht in hellerem C-Dur, eine überraschende Aufhellung nach der Dunkelheit des Dies irae. Die Musik entfaltet sich feierlich, von mäßigem Tempo, mit typischer spätbarocker Klarheit. Das Benedictus, wahrscheinlich für Solostimmen und obligates Continuo gesetzt, steht in schlichter Schönheit, während das Osanna in einem klaren Fugato wieder den Chor vereint.
Im Agnus Dei kehrt der Ton der Sammlung zurück: ein Satz von eindringlicher Ruhe, getragen von gleichmäßiger Bewegung. Das abschließende Lux aeterna leuchtet in gedämpftem C-Dur – ein musikalisches Sinnbild der Erlösung. Schließlich beschließt das Cum sanctis tuis das Werk in ruhiger Fuge, deren Klarheit den inneren Frieden symbolisiert, den diese Musik vermitteln will.
Ob authentisch oder nicht – das Requiem in c-Moll ist ein würdiges Denkmal spätbarocker Frömmigkeit.
Es verbindet Dresdner Tiefsinn mit böhmischer Innigkeit, formale Strenge mit menschlicher Wärme.
Selbst wenn die Feder nicht Zelenkas eigene war, spricht aus jeder Zeile ein Bewusstsein für seine Sprache: die Überzeugung, dass der Tod nicht Ende, sondern Erkenntnis ist.
Empfohlene Aufnahme:
Jan Dismas Zelenka (zugeschrieben) – Requiem in c-Moll, ZWV 45
Berne Chamber Orchestra und Berne Chamber Chorus unter der Leitung von Jörg Ewald Dähler (* 1949), Label Claves Records, 1985 – eine Interpretation von erlesener Ausgewogenheit und klanglicher Noblesse.
Dähler und sein Ensemble betonen die feine Linienführung und den kontemplativen Charakter des Werkes. Ohne auf äußere Effekte zu setzen, entfalten sie ein stilles, konzentriertes Klangbild, das der geistigen Atmosphäre dieser rätselhaften Komposition vollkommen entspricht.
Requiem in D-Dur (1733), ZWV 46
Requiem für Kurfürst Friedrich August I. – Musik zwischen Hofritus und metaphysischem Gebet
Das Requiem in D-Dur, ZWV 46, entstand 1733 anlässlich des Todes des sächsischen Kurfürsten und polnischen Königs Friedrich August I. (1670–1733), besser bekannt als August der Starke. Der Tod Friedrich Augusts I. von Sachsen ereignete sich am 1. Februar 1733 in Warschau, wo der Monarch als König von Polen (August II.) residierte. Sein Leichnam wurde mit allen Ehren nach Dresden überführt und am 16. Februar 1733 in der Hofkirche feierlich zur letzten Ruhe gebettet.
Für Jan Dismas Zelenka (1679–1745), der zu jener Zeit als Vizekapellmeister an der katholischen Hofkirche in Dresden wirkte, bedeutete diese Komposition eine doppelte Aufgabe: Sie war einerseits offizielle Hofmusik für das Staatsbegräbnis, andererseits ein zutiefst persönliches musikalisches Requiem, in dem sich politische Pflicht und individuelle Frömmigkeit auf höchstem Niveau vereinen.
Zelenka schrieb das Werk in einer Zeit großer Umbrüche: Mit dem Tod Augusts des Starken endete eine Epoche höfischer Glorie, und die Dresdner Kapelle stand vor einer ungewissen Zukunft. Johann David Heinichen war bereits tot, Zelenka leitete de facto den gesamten liturgischen Musikbetrieb – ohne den Rang, der ihm zustand. Dieses Requiem ist deshalb nicht nur Totenfeier, sondern auch eine klingende Meditation über Macht und Vergänglichkeit.
Das Werk steht in D-Dur, jener Tonart des Zeremoniellen und des Glanzes, die Zelenka hier in ein tiefes, würdiges Leuchten verwandelt. Die Besetzung ist prächtig: Chor (SATB), Solistenquartett, Streicher, Oboen, Fagott, Trompeten, Pauken und Basso continuo. Doch trotz der festlichen Mittel bleibt der Ausdruck getragen, ernst und von stiller Größe.
https://www.youtube.com/watch?v=5STIgxJYBHs
Das Requiem aeternam eröffnet mit feierlich schreitender Harmonik, der Chor in breiten, ruhigen Linien, das Orchester in gedämpftem Licht. Kein Pathos, sondern königliche Würde. Das anschließende Kyrie führt zu einem polyphonen Satz, der das ganze Werk auf eine klare Grundlage stellt: Zelenkas kontrapunktische Meisterschaft wird hier zur musikalischen Symbolsprache des Glaubens.
Die Sequenz „Dies irae“ bildet den emotionalen Kern des Werkes. Anders als spätere romantische Vertonungen meidet Zelenka jede äußerliche Dramatik. Das Dies irae beginnt ruhig, beinahe wie ein Prozessionsgesang, dessen innere Bewegung von der Gravität des Textes getragen wird. Im Tuba mirum antworten die Trompeten mit gedämpfter Pracht, kein erschütterndes Gericht, sondern eine Verkündigung von göttlicher Ordnung. Das Mors stupebit kontrastiert homophone und imitatorische Abschnitte, während das Liber scriptus durch seine strenge Fugenstruktur beeindruckt: Hier offenbart sich Zelenkas tiefe Verbindung zwischen kontrapunktischer Disziplin und metaphysischem Denken.
Das Rex tremendae majestatis hebt den Ton an, die Trompeten treten hervor, die Harmonik weitet sich. Doch der Ausdruck bleibt ernst, ohne heroische Geste. Es ist Musik für einen Monarchen – und zugleich für den Menschen hinter der Krone. Das darauffolgende Recordare Jesu pie, in feiner Dreistimmigkeit gesetzt, wirkt wie ein stilles Zentrum: bittend, schlicht, von überirdischer Ruhe. Das Lacrimosa gehört zu den ergreifendsten Momenten der Messe – getragen, fast schwebend, ein musikalisches Abbild des sanften Weinens der Menschheit vor dem Tod.
Das Domine Jesu Christe, ein längerer Abschnitt des Offertoriums, ist kontrapunktisch reich, aber harmonisch ruhig; kein flehender Ton, sondern eine klare Glaubensbeteuerung. Danach führt das Sanctus in das helle D-Dur zurück: Trompeten und Pauken ertönen, doch die Stimmung bleibt transfiguriert. Das Benedictus, in solistischer Anlage, entfaltet zarte Linien über ruhigem Continuo, bevor das Agnus Dei und das abschließende Lux aeterna den Blick nach innen wenden. In diesem letzten Satz erreicht Zelenka jene vergeistigte Ruhe, die zum Kennzeichen seines Spätwerks wurde – Licht, das aus der Tiefe kommt.
Das Requiem in D-Dur ist kein Trauergesang, sondern eine Verklärung.
Es steht an der Schwelle zwischen höfischer Pracht und metaphysischer Stille, zwischen sichtbarer Macht und unsichtbarer Ordnung.
Zelenka komponiert hier keine Musik des Todes, sondern ein klingendes Abbild des Übergangs – vom Glanz der Erde zum Licht des Himmels.
Empfohlene Einspielung
Jan Dismas Zelenka – Requiem in D-Dur, ZWV 46
Ensemble Baroque unter der Leitung von Roman Válek (* 1963) mit Magdalena Kožená (* 1973), aufgenommen 1994, Label SUPRAPHON a.s. (1995).
Diese Aufnahme besticht durch ihre klangliche Reinheit und klare stilistische Linie. Válek legt Zelenkas Musik nicht als monumentales Staatsritual aus, sondern als stilles Gebet von königlicher Würde. Das Ensemble musiziert mit historischer Genauigkeit und leuchtender Balance zwischen Architektur und Empfindung – und Koženás Sopran verleiht der Musik jene
menschliche Wärme, die zwischen Diesseits und Ewigkeit vermittelt.
Officium Defunctorum, ZWV 47
Collegium Vocale 1704, Václav Luks, Label Accent, 2011
Mit dem Officium Defunctorum betritt Jan Dismas Zelenka die tiefste Schicht seines religiösen Empfindens. 1733, im Jahr des Todes von Kurfürst August dem Starken, hatte er bereits ein großes Requiem komponiert; doch hier, vermutlich um 1735–1737 entstanden, wendet er sich der nächtlichen Totenliturgie – den Matutinen – zu. In dieser Form wird das Gedenken an die Verstorbenen in drei „Nocturna“ gegliedert, bestehend aus Lesungen aus dem Buch Hiob und den dazwischen eingefügten Responsorien. Zelenka erweist sich in diesem Werk nicht als feierlicher Hofkomponist, sondern als Kontemplativer, der das Geheimnis des Todes in einen zutiefst persönlichen musikalischen Ausdruck verwandelt.
https://www.youtube.com/watch?v=kGjnqmfUpMQ
Das Werk beginnt mit dem Invitatorium Regem cui omnia vivunt, einem feierlich-schlichten Chorsatz, der das Thema des Lebens inmitten des Todes ankündigt. Die drei Nocturna entfalten danach ein gewaltiges geistliches Drama: Jede Lesung (Lectio) vertont in rezitativischer Schlichtheit den alttestamentlichen Text, während die anschließenden Responsorien Zelenkas expressive Kraft entfesseln – sie sind die emotionalen Herzstücke des Offiziums.
Im ersten Nocturnus dominiert der Ton klagender Bitte: Parce mihi, Domine, „Verschone mich, o Herr“, erklingt in tiefer Demut. Die Responsorien greifen diese Haltung auf, besonders im ergreifenden Credo quod Redemptor meus vivit, in dem Zelenka die Hoffnung auf die Auferstehung in schwebenden harmonischen Wendungen und Chromatik von seltener Innigkeit ausdrückt. Der dritte Responsorium-Satz Domine quando veneris steigert die Spannung: ein Aufschrei des Gewissens vor dem göttlichen Gericht, in dramatischen Dissonanzen gefasst.
Der zweite Nocturnus zeigt eine andere Dimension: Die Musik wird meditativer, fast entrückt. Responde mihi und Homo natus de muliere sind Beispiele für Zelenkas Fähigkeit, Text und Affekt in ein fein abgestuftes, gleichsam „sprechendes“ Klanggewebe zu verwandeln. Das Responsorium Ne recordaris peccata mea bildet den stillen Mittelpunkt des gesamten Zyklus – die flehentliche Bitte um Vergessen der Schuld wird in einen fast erstarrten, choralartigen Klang gebettet, der wie außerhalb der Zeit steht.
Im dritten Nocturnus tritt schließlich eine tröstliche Klarheit hervor. In Spiritus meus attenuabitur scheint Zelenka bereits den Übergang vom Diesseits zum Ewigen zu schildern; das finale Libera me, Domine entfaltet eine machtvolle doppelte Fuge, in der die Schrecken des Jüngsten Gerichts in strahlendes Licht übergehen. Der Komponist lässt das Werk nicht in Finsternis enden, sondern in der Gewissheit der Erlösung – ein musikalisches Glaubensbekenntnis, das zugleich seine eigene Todesahnung spüren lässt.
Das Officium Defunctorum ist ein Werk von großer spiritueller Tiefe und kompositorischer Strenge, durchzogen von Chromatik, expressiven Dissonanzen und jener kühnen Harmonik, die Zelenka unter seinen Zeitgenossen einzigartig macht. Václav Luks und das Collegium Vocale 1704 haben 2011 mit ihrer Aufnahme eine Auslegung vorgelegt, die diesen inneren Ernst spürbar werden lässt: Die Musik klingt nicht als Andacht vergangener Zeiten, sondern als unmittelbares Zeugnis menschlicher Vergänglichkeit und Hoffnung.
Lateinische Texte und deutsche Übersetzungen (Texte der Matutin für Verstorbene)
Invitatorium
Antiphona
Regem cui omnia vivunt, venite, adoremus.
Den König, dem alle Lebenden gehören, kommt, lasst uns anbeten.
Psalmus 94 (Vulgata, Venite exsultemus)
Venite, exsultemus Domino, jubilemus Deo salutari nostro.
Kommt, lasst uns dem Herrn frohlocken, jauchzen dem Gott, der uns rettet.
Praeoccupemus faciem ejus in confessione, et in psalmis jubilemus ei.
Lasst uns ihm mit Lobgesang begegnen und ihm Psalmen singen.
Quoniam Deus magnus Dominus, et rex magnus super omnes deos.
Denn ein großer Gott ist der Herr, ein großer König über alle Götter.
(Psalm endet mit Gloria Patri)
Antiphona repetitur
Regem cui omnia vivunt, venite, adoremus.
Den König, dem alle Lebenden gehören, kommt, lasst uns anbeten.
Nocturnus I
Lectio I (Hiob 7, 16–21)
Parce mihi, Domine, nihil enim sunt dies mei: quid est homo, quia magnificas eum? aut quid apponis erga eum cor tuum?
Visitas eum diluculo, et subito probas illum.
Usquequo non parcis mihi, nec dimittis me, ut glutiam salivam meam?
Peccavi: quid faciam tibi, o custos hominum? quare posuisti me contrarium tibi, et factus sum mihimet ipsi gravis?
Cur non tollis peccatum meum, et quare non aufers iniquitatem meam? ecce nunc in pulvere dormiam: et si mane me quaesieris, non subsistam.
Übersetzung
Verschone mich, o Herr, denn nichts sind meine Tage! Was ist der Mensch, dass du ihn so hoch achtest und dein Herz auf ihn richtest? Du suchst ihn jeden Morgen heim, prüfst ihn sogleich. Wie lange willst du mir nicht Ruhe lassen und mir nicht einmal die Zeit gönnen, meinen Atem zu schöpfen? Ich habe gesündigt – was kann ich dir tun, o Wächter der Menschen? Warum hast du mich dir selbst zum Feind gesetzt und mich mir selbst zur Last gemacht? Warum nimmst du meine Sünde nicht hinweg und tilgst meine Schuld? Siehe, bald werde ich im Staub ruhen, und wenn du mich suchst, werde ich nicht mehr sein.
Responsorium I
Credo quod Redemptor meus vivit, et in novissimo die de terra surrecturus sum.
Et in carne mea videbo Deum salvatorem meum, quem visurus sum ego ipse, et non alius: et oculi mei conspecturi sunt.
℣ (= Vers - Antwortzeile) Et in novissimo die de terra surrecturus sum.
Übersetzung
Ich glaube, dass mein Erlöser lebt, und am letzten Tag werde ich von der Erde auferstehen. In meinem Fleisch werde ich Gott, meinen Retter, sehen, den ich selbst schauen werde, und kein anderer; meine Augen werden ihn erblicken.
Lectio II (Hiob 10, 1–7)
Taedet animam meam vitae meae; dimittam adversum me eloquium meum, loquar in amaritudine animae meae.
Dicam Deo: Noli me condemnare: indica mihi cur me ita judices.
Numquid bonum tibi videtur, si calumnieris me et opprimas me, opus manuum tuarum, et consilium impiorum adjuves?
Numquid oculi carnei tibi sunt? aut sicut videt homo, et tu videbis?
Suntne sicut dies hominis dies tui, et anni tui sicut humana sunt tempora, ut quaeras iniquitatem meam et peccatum meum scruteris, scias tamen quia nihil impium fecerim, cum sit nemo qui de manu tua possit eruere?
Übersetzung
Meine Seele ist des Lebens müde. Ich will reden gegen mich selbst und in der Bitterkeit meiner Seele sprechen. Ich will zu Gott sagen: Verdamme mich nicht, zeige mir, warum du mich so richtest. Gefällt es dir, mich zu bedrängen, das Werk deiner Hände zu vernichten und den Rat der Gottlosen zu fördern? Hast du fleischliche Augen? Siehst du, wie ein Mensch sieht? Sind deine Tage wie die Tage des Menschen, deine Jahre wie seine Zeit, dass du meine Schuld suchst, obwohl du weißt, dass ich nichts Böses getan habe und niemand mich deiner Hand entreißen kann?
Responsorium II
Qui Lazarum resuscitasti a monumento foetidum, tu eis, Domine, dona requiem, et locum indulgentiae.
℣ Requiem aeternam dona eis, Domine, et lux perpetua luceat eis.
Tu, der du den stinkenden Lazarus aus dem Grabe erwecktest, schenke ihnen, o Herr, Ruhe und einen Ort des Erbarmens.
℣ Ewige Ruhe gib ihnen, o Herr, und das ewige Licht leuchte ihnen.
Lectio III (Hiob 10, 8–12)
Manus tuae fecerunt me, et plasmaverunt me totum in circuitu: et sic repente praecipitas me?
Memento, quaeso, quod sicut lutum feceris me, et in pulverem reduces me.
Nonne sicut lac mulsisti me, et sicut caseum me coagulasti?
Pelle et carnibus vestisti me: ossibus et nervis compegisti me.
Vitam et misericordiam tribuisti mihi, et visitatio tua custodivit spiritum meum.
Übersetzung
Deine Hände haben mich gebildet und gestaltet ringsum – und nun willst du mich vernichten? Gedenke doch, dass du mich aus Erde gemacht hast und mich wieder zu Staub zurückführen wirst. Du hast mich geformt wie Milch, wie Käse gerinnen lassen; mit Haut und Fleisch hast du mich bekleidet, mit Knochen und Sehnen zusammengefügt. Leben und Gnade gabst du mir, und deine Sorge erhielt meinen Geist.
Responsorium III
Domine, quando veneris judicare terram, ubi me abscondam a vultu irae tuae?
Quia peccavi nimis in vita mea.
℣ Tremens timore timeo, dum discussio venerit atque ventura ira.
Herr, wenn du kommst, die Erde zu richten, wo soll ich mich verbergen vor dem Antlitz deines Zorns? Denn ich habe zu sehr gesündigt in meinem Leben.
℣ Zitternd vor Furcht ängstige ich mich, wenn das Gericht kommt und der Zorn sich naht.
Nocturnus II
Lectio IV (Hiob 13, 22–28)
Responde mihi: quantas habeo iniquitates et peccata? delicta mea et peccata mea ostende mihi.
Cur faciem tuam abscondis, et arbitrari me inimicum tuum?
Contra folium quod vento rapitur ostendis potentiam tuam, et stipulam siccam persequeris?
Scribis enim contra me amaritudines, et consumere me vis peccatis adolescentiae meae.
Posuisti in nervo pedem meum, et observasti omnes semitas meas, et vestigia pedum meorum considerasti.
Qui quasi putredo consumar, et quasi vestimentum quod comeditur a tinea.
Übersetzung
Antworte mir: Wie viele sind meine Missetaten und Sünden? Zeige mir mein Unrecht und meine Schuld! Warum verbirgst du dein Angesicht und hältst mich für deinen Feind? Gegen ein Blatt, das der Wind treibt, zeigst du deine Macht, und die trockene Spreu verfolgst du. Du schreibst bittere Anklagen gegen mich und willst mich die Sünden meiner Jugend büßen lassen. Du legst meinen Fuß in Fesseln, achtest auf all meine Wege und beobachtest meine Schritte. Ich vergehe wie Moder, wie ein Kleid, das die Motte frisst.
Responsorium IV
Memento mei, Domine, dum veneris in regnum tuum.
℣ Et ne condemnes me cum impiis, cum aeternum infernum damnabis.
Gedenke meiner, Herr, wenn du in dein Reich kommst.
℣ Und verdamme mich nicht mit den Gottlosen, wenn du den ewigen Abgrund richtest.
Lectio V (Hiob 14, 1–6)
Homo natus de muliere, brevi vivens tempore, repletur multis miseriis.
Qui quasi flos egreditur et conteritur, et fugit velut umbra, et numquam in eodem statu permanet.
Et dignum ducis super hujuscemodi aperire oculos tuos, et adducere eum tecum in judicium?
Quis potest facere mundum de immundo conceptum semine? nonne tu qui solus es?
Breves dies hominis sunt; numerus mensium ejus apud te est; statue terminos ejus quos praeterire non potest.
Recede ab eo paulisper, ut quiescat, donec optata veniat dies sicut mercenarii.
Übersetzung
Der Mensch, vom Weibe geboren, lebt nur kurze Zeit und ist voll Unruhe. Wie eine Blume sprießt er auf und verwelkt, flieht wie ein Schatten und bleibt nicht. Und du richtest deine Augen auf ein solches Wesen und ziehst es vor dein Gericht? Wer kann Reines aus Unreinem schaffen? Ist es nicht allein deine Macht? Die Tage des Menschen sind gezählt, die Zahl seiner Monate ist bei dir bestimmt; du hast ihm eine Grenze gesetzt, die er nicht überschreiten kann. Wende dich ab, damit er Ruhe findet, bis sein Tag kommt wie der eines Tagelöhners.
Responsorium V
Hei mihi, Domine, quia peccavi nimis in vita mea.
Quid faciam miser, ubi fugiam, nisi ad te, Deus meus?
℣ Miserere mei, dum veneris in novissimo die.
Wehe mir, Herr, ich habe in meinem Leben zu sehr gesündigt.
Was soll ich tun, Elender, wohin fliehen, wenn nicht zu dir, mein Gott?
℣ Erbarme dich meiner, wenn du kommst am letzten Tag.
Lectio VI (Hiob 14, 13–17)
Quis mihi hoc tribuat ut protegas me in inferno, et abscondas me donec pertranseat furor tuus?
Statues mihi terminum et recordaberis mei.
Putasne mortuus homo rursum vivat? Cunctis diebus quibus nunc milito, expectabo donec veniat immutatio mea.
Vocabis me, et ego respondebo tibi; operi manuum tuarum porriges dexteram.
Tu autem gressus meos dinumerasti; et non custodisti peccata mea.
Signasti quasi in sacculo delicta mea, sed curasti iniquitatem meam.
Übersetzung
Ach, wer gäbe mir, dass du mich im Totenreich birgst, mich verbirgst, bis dein Zorn vorübergeht! Du würdest mir eine Frist setzen und meiner gedenken. Wird ein Mensch, der tot ist, wieder leben? In all den Tagen meines Dienstes will ich warten, bis meine Wandlung kommt. Du wirst rufen, und ich werde dir antworten; du wirst deine Hand dem Werk deiner Hände entgegenstrecken. Meine Schritte hast du gezählt, doch meine Sünden nicht bewahrt – du hast meine Schuld getilgt.
Responsorium VI
Ne recordaris peccata mea, Domine, dum veneris judicare mundum.
℣ Et noli condemnare me cum impiis.
Gedenke nicht meiner Sünden, Herr, wenn du kommst, die Welt zu richten.
℣ Und verdamme mich nicht mit den Gottlosen.
Nocturnus III
Lectio VII (Hiob 17, 1–3)
Spiritus meus attenuabitur, dies mei breviabuntur, et solum mihi superest sepulchrum.
Non peccavi, et in amaritudinibus oculus meus.
Pone me, Domine, juxta te, et cuiusvis manus pugnet contra me.
Übersetzung
Mein Geist schwindet, meine Tage werden verkürzt, mir bleibt nur das Grab. Ich habe nicht gesündigt, und doch weint mein Auge in Bitterkeit. Stelle mich, Herr, neben dich, und wer will dann noch gegen mich kämpfen?
Responsorium VII
Peccantem me quotidie et non poenitentem, timor mortis conturbat me.
Quia in inferno nulla est redemptio, miserere mei, Deus, et salva me.
℣ Deus, in nomine tuo salvum me fac, et in virtute tua libera me.
Da ich täglich sündige und keine Reue zeige, erschüttert mich die Furcht vor dem Tode.
Denn in der Unterwelt gibt es keine Erlösung; erbarme dich meiner, Gott, und rette mich.
℣ Gott, rette mich in deinem Namen, und befreie mich durch deine Macht.
Lectio VIII (Hiob 19, 25–27)
Pelli meae, consumptis carnibus, adhuc restat haec spes: quod videbo Deum meum.
Quem visurus sum ego ipse, et oculi mei conspecturi sunt, et non alius: reposita est haec spes in sinu meo.
Übersetzung
Nachdem meine Haut zerfressen und mein Fleisch verzehrt ist, bleibt mir dennoch diese Hoffnung: dass ich meinen Gott schauen werde – ich selbst, und kein anderer, werden ihn mit meinen Augen sehen; diese Hoffnung ruht in meinem Innersten.
Responsorium VIII
Domine, secundum actum meum noli me judicare; nihil dignum in conspectu tuo egi.
℣ Ideo deprecor majestatem tuam, ut tu Deus deleas iniquitatem meam.
Herr, richte mich nicht nach meinen Taten; nichts Würdiges habe ich getan vor dir.
℣ Darum flehe ich zu deiner Majestät: du, o Gott, lösche meine Schuld aus.
Lectio IX (Hiob 10, 18–22)
Quare de vulva eduxisti me? quis det ut quasi non perrexerim? ex utero eductus, continuo perierim?
Quasi non fuerim, translatus de ventre ad tumulum.
Nonne paucitas dierum meorum finietur brevi? dimitte ergo me, ut plangam paululum dolorem meum.
Antequam vadam et non revertar, ad terram tenebrosam et opertam mortis caligine.
Terram miseriae et tenebrarum, ubi umbra mortis et nullus ordo, et sempiternus horror inhabitat.
Übersetzung
Warum hast du mich aus dem Mutterschoß hervorgebracht? Wäre ich doch, kaum geboren, sogleich vergangen! Als wäre ich nie gewesen, wäre ich vom Schoß der Mutter ins Grab getragen worden. Bald wird die Kürze meiner Tage enden; lass mich, dass ich ein wenig meinen Schmerz beklage, ehe ich hingehe und nicht wiederkehre – ins Land der Finsternis, verhüllt vom Schatten des Todes, in das Land des Elends und der Dunkelheit, wo kein Licht und keine Ordnung sind, sondern ewiger Schrecken wohnt.
Responsorium IX
Libera me, Domine, de morte aeterna in die illa tremenda,
Quando caeli movendi sunt et terra,
Dum veneris judicare saeculum per ignem.
℣ Tremens factus sum ego et timeo, dum discussio venerit atque ventura ira.
Errette mich, Herr, vom ewigen Tode an jenem schrecklichen Tage,
da Himmel und Erde beben,
wenn du kommst, die Welt durch Feuer zu richten.
℣ Ich bin voll Zittern und Furcht, wenn das Gericht und der Zorn naht.
Empfohlene Einspielung
Jan Dismas Zelenka – Officium Defunctorum (ZWV 47)
Collegium Vocale 1704, Leitung Václav Luks – Accent, 2011, Tracks 1 bis 19
https://www.youtube.com/watch?v=GU28A9ukz_M&list=OLAK5uy_nEzTIChWKSu0P0OTue2-XdS8UaZ9PHbL0&index=2
Requiem in d-Moll, ZWV 48
Zwischen Gedenken und Glauben – Zelenkas frühes Requiem für den Kaiser
Das Requiem in d-Moll (ZWV 48) gehört zu den frühesten und zugleich geheimnisvollsten Totenmessen Jan Dismas Zelenkas. Es entstand – wie eine authentische handschriftliche Notiz des Komponisten bestätigt – „pro Anniversario Invictissimi Imperatoris Josephi I“, also „zum Jahrestag des unüberwindlichen Kaisers Joseph I.“. Dieser war am 17. April 1711 in Wien gestorben, und das Requiem wurde später auf Geheiß der sächsischen Kurprinzessin Maria Josepha von Österreich (1699–1757) komponiert, die mit August III. von Sachsen verheiratet war und den Hof in Dresden zur Blüte katholischer Kirchenmusik führte.
Die Datierung lässt sich relativ genau eingrenzen. In Zelenkas eigenhändiger Inventarliste vermerkte er, dass das Werk „factum et productum“ – „geschaffen und aufgeführt“ – wurde „ad mandatum Serenissimae Principessae nostrae“, also „auf Befehl unserer Durchlauchtigsten Prinzessin“. Da er Maria Josepha ausdrücklich als Principessa und nicht als Electrix anredet, ist davon auszugehen, dass die Komposition zwischen 1722 und 1733 entstand, also in der Zeit vor ihrer Erhebung zur Kurfürstin. Die These, das Werk könne bereits 1721 entstanden sein, ist auszuschließen, da in der Dresdner Hofkirche figuraler Kirchengesang erst nach dem Todestag Josephs I. des Jahres 1721 belegt ist.
Wahrscheinlich wurde die Messe im Rahmen einer alljährlichen Gedächtnisfeier für den verstorbenen Kaiser aufgeführt – ein Ritus, der durch das Requiem in Es-Dur (1726, S. 18) von Johann David Heinichen (1683–1729) belegt ist. Zelenka dürfte also eine ähnliche Aufgabe übernommen haben. Eine bemerkenswerte Eigenheit findet sich im Text: Wo der lateinische Originaltext „Dona eis requiem“ – „Gib ihnen Ruhe“ – fordert, setzt Zelenka bewusst die Singularform „ei“ – „ihm“. Damit wird klar, dass das Requiem dem einzelnen Verstorbenen, Kaiser Joseph I., gewidmet war. Diesen Eingriff wiederholte der Komponist später in seinem großen Requiem in D-Dur (ZWV 46), das 1733 zum Tod Augusts des Starken entstand.
Zur Quellenlage:
Das Autograph gilt heute als verschollen. Zwei voneinander unabhängige Abschriften belegen jedoch seine Existenz. Die erste wurde im Januar 1878 im Archiv der Prager Hlahol-Gesellschaft unter der Signatur Nr. 1847 angefertigt, direkt nach Zelenkas Dresdner Manuskript, das man damals noch leihweise erhalten konnte. Diese Abschrift ist von unschätzbarem Wert, da das Original später verlorenging. Auf der Titelseite dieser Kopie findet sich die bemerkenswerte Aufschrift:
„Requiem, Sanctus, Agnus a 4 Violini 2, Oboe 2, Flauti 2, Chalumaeux, Fagotti 2, Basso Continuo. Quod occasione Animadversarii pro Invictissimo Imperatore Josepho Domino suo Clementissimo composuit et … in Regio-Catholica Dresdae Capella produxit humillimus et devotissimus Servus Joannes Dismas Zelenka.“
In der linken oberen Ecke steht: „Requiem à 4“, rechts: „Joannes Dismas Zelenka, à Dresda 7 Aprile“. Damit ist der Entstehungs- oder Aufführungstermin 7. April [1722 oder 1723] dokumentiert – also unmittelbar vor dem Gedenktag des Kaisers.
Eine zweite Quelle, eine Stimmenabschrift aus dem Herbst 1770, stammt aus der ehemaligen Piaristenbibliothek im slowakischen Svätý Jur (Sankt Georgen), heute Jur pri Bratislave, und befindet sich im Staatsarchiv von Bratislava-Vidiek (Signatur H-252). Diese Stimmen sind unvollständig – es fehlen die beiden Viola-Stimmen, der dritte Posaunenpart, beide Fagotte und das Chalumeau –, liefern aber wertvolle Hinweise zur Aufführungspraxis, insbesondere auf die mehrchörige Instrumentation und die damals noch übliche Verdopplung der Vokalstimmen durch Bläser.
https://www.youtube.com/watch?v=2Q6ieb0hDzQ&list=OLAK5uy_nH-OoxsFkdpyZasg_LXlSR_6GHE7VG_K0&index=2
Musikalisch ist das Requiem in d-Moll ein Werk von beeindruckender dramatischer Geschlossenheit. Der Eingangssatz Introitus – Requiem aeternam entfaltet in dunklem Chorklang den Ernst der Bitte um ewige Ruhe. Das darauf folgende Te decet hymnus steht in feierlicher Kontrapunktik und zeigt bereits die kontrapunktische Meisterschaft, die Zelenka später in seinen Messen zur Vollendung brachte. Die Kyrie-Doppelfuge mit ihren ausgreifenden Sequenzen, scharfen Dissonanzen und energischen Streicherfiguren wirkt wie eine musikalische Erschütterung über das Mysterium des Todes.
Die Sequentia – Dies irae gehört zu den ergreifendsten Sätzen des Werkes: Zelenka gestaltet den Schrecken des Jüngsten Gerichts nicht als theatralisches Drama, sondern als geistliche Vision, getragen von der Spannung zwischen Chor und Solisten. In Quantus tremor est futurus tritt die individuelle Angst in den Vordergrund, die im Trio von Sopran, Tenor und Bass fast kammermusikalisch gefasst ist. Das Judex ergo cum sedebit führt diese Bewegung weiter, bevor das ergreifende Lacrimosa dies illa mit seinen schwebenden Harmonien und unvermittelt aufleuchtenden Modulationen den Höhepunkt bildet.
Das Offertorium – Domine Jesu Christe mit der doppelten Fuge Quam olim Abrahae promisisti zeigt Zelenkas kontrapunktische Meisterschaft: Jede Stimme bewegt sich mit rhythmischer Unabhängigkeit, die Linien verschmelzen zu einem fast orchestralen Klangkörper. Auch im Sanctus und im Agnus Dei kehrt dieser monumentale Stil wieder, wobei Zelenka immer eine tiefe Innigkeit bewahrt. Besonders bemerkenswert ist der Schluss: Das Communio – Lux aeterna wirkt nicht als Triumph, sondern als stille Verklärung – ein letzter Aufblick in das ewige Licht, das über dem Werk leuchtet.
Die Besetzung mit vier Singstimmen (SATB), zwei Oboen, zwei Flöten, zwei Fagotten, Chalumeaux, Streichern, Posaunen und Basso continuo spiegelt die reiche Klangpalette der Dresdner Hofkapelle. Trotz des feierlichen Rahmens bleibt die Musik von bewegender Demut: kein höfisches Prunkstück, sondern ein Akt tiefster Frömmigkeit.
Zelenkas Requiem in d-Moll ist ein Schlüsselwerk seiner frühen Dresdner Jahre – ein Dokument seines Glaubens, seiner künstlerischen Unabhängigkeit und seines Rangbewusstseins im Schatten Heinichens. Der Gedanke an die Vergänglichkeit und das Vertrauen auf die göttliche Gnade durchziehen jede Seite dieser Partitur.
Empfohlene Einspielung:
Jan Dismas Zelenka – Requiem in d-Moll, ZWV 48,
Ensemble Baroque 1994 und Czech Chamber Choir unter der Leitung von Leitung Roman Válek (* 1958), SUPRAPHON a.s., 1995 (Tracks 1 bis 7 der CD)
Requiem in F-Dur, ZWV 49
(vermutlich vor 1730 komponiert; Autograph verschollen)
Das Requiem in F-Dur (ZWV 49) gehört zu den am wenigsten bekannten Werken Jan Dismas Zelenkas. Es ist weder vollständig erhalten noch bislang aufgeführt oder eingespielt worden. Aus der Werkchronologie lässt sich schließen, dass es vor 1730 entstand, also in jener Phase, als Zelenka bereits als Kirchenkomponist am Dresdner Hof tätig war, jedoch noch unter der Oberaufsicht des Kapellmeisters Johann David Heinichen (1683–1729) stand.
Der Titel „Requiem F-dur“ deutet auf eine Komposition hin, die eher zu liturgischen Gedenkfeiern oder kleineren Hofzeremonien gedacht war – möglicherweise zum Jahrestag eines Herrschers oder Mitglieds der sächsischen Aristokratie. Die Tonart F-Dur – im Gegensatz zu den düsteren d-Moll- oder D-Dur-Requien (ZWV 48 und 46) – weist auf einen milden, kontemplativen Charakter hin, der mit dem Vertrauen auf göttliche Barmherzigkeit assoziiert ist.
Über den genauen Umfang und die Besetzung ist nichts bekannt. Es ist jedoch anzunehmen, dass das Werk – wie die zeitlich benachbarten Kompositionen – für vier Vokalstimmen, Streichorchester, zwei Oboen, Fagotte und Basso continuo gesetzt war. Stilistisch dürfte es Elemente des konzertierenden stile misto enthalten, mit Wechseln zwischen homophonen Chorsätzen und ausdrucksvollen Arien oder Duetten.
Im Dresdner Hofrepertoire könnte diese Messe als Andachts- oder Gedenkstück zwischen den größeren Requien Zelenkas (ZWV 45–48) gestanden haben. Ihre Erwähnung in frühen Katalogen bestätigt die Bedeutung, die Zelenka selbst ihr beimaß – als Teil jener Folge von liturgischen Werken, mit denen er die katholische Kirchenmusik in Sachsen zu einer Synthese aus böhmischer Expressivität und italienischer Formvollendung führte.
Bis heute ist das Requiem in F-Dur eines der letzten Rätsel in Zelenkas Œuvre – ein Werk, das in den Akten lebt, aber in der Klangwelt verstummt ist.
Il serpente di bronzo, ZWV 61
Oratorium per la Domenica Laetare, 1730
Von Schuld, Strafe und Erlösung – das eherne (eigentlich: bronzene) Zeichen des Heils
Mit dem Oratorium Il serpente di bronzo („Die eherne Schlange“) schuf Jan Dismas Zelenka im Jahr 1730 eines seiner geistlich-dramatisch dichtesten Werke. Das Libretto stammt von dem Jesuiten-Schriftsteller Antonio Maria Lucchini († um 1730), der auch für Antonio Vivaldi arbeitete. Die Komposition wurde in der Fastenzeit, vermutlich am Dresdner Hof Augusts des Starken (1670–1733), aufgeführt. Ihr theologischer Kern ist die alttestamentliche Geschichte aus dem 4. Buch Mose (21, 4–9): Als das Volk Israel in der Wüste gegen Gott murrte, sandte der Herr giftige Schlangen unter sie. Auf Moses’ Fürbitte hin gebot Gott ihm, eine Schlange aus Erz zu errichten, damit jeder, der sie ansieht, gerettet werde. Diese Episode wird in Zelenkas Werk zum Sinnbild der göttlichen Gnade und der geistlichen Erneuerung durch den Glauben.
Das Werk ist für Solisten, Chor und Orchester komponiert und verbindet dramatische Ausdruckskraft mit kontrapunktischer Meisterschaft und einer Intensität, die an Händel erinnert, aber durch Zelenkas harmonische Kühnheiten unverkennbar originell bleibt. Die Musik ist von leuchtender Farbigkeit, reich an Affektkontrasten und oft von erschütternder Eindringlichkeit. Der Wechsel zwischen Rezitativen, Arien und Chören bildet eine Folge geistlicher Szenen, die zwischen menschlicher Verzweiflung und göttlichem Erbarmen oszillieren.
https://www.youtube.com/watch?v=DEavfIs0aKM
Der einleitende Chor Pera il giorno in cui si diede („Verflucht sei der Tag, an dem wir auszogen“) stellt die Israeliten vor, die in der Wüste klagen und gegen Gott aufbegehren – ein düsterer Beginn, der in den scharf dissonierenden Harmonien und chromatischen Linien Zelenkas dramatisches Empfinden zeigt. Es folgt ein Dialog zwischen Azaria und Namuel (Verdi piaggie d’Egitto), in dem die Sehnsucht nach den grünen Ebenen Ägyptens den Glaubenszweifel illustriert. Die Arie Membra languide e tremanti (Namuel) zeichnet mit weichen Linien und gedämpfter Begleitung das Bild körperlicher und seelischer Schwäche.
Die Figur der Egla bringt mit ihrer Arie Quanto fosse per te miglior fortuna eine andere Dimension ein: Mit sanftem, beinahe pastoralem Tonfall erinnert sie an die verlorene Glückseligkeit der Vergangenheit. Doch ihre anschließende Arie Lusinghe mendaci ist ein kraftvoller Ausbruch – eine Warnung vor trügerischen Verlockungen, mit virtuosen Koloraturen und leidenschaftlichem Ausdruck.
In der zentralen Szene erscheint Gott (Bass) und antwortet auf die Verzweiflung des Volkes: Mosè, contro di me ist von erschütternder Größe, getragen von gravitätischen Harmonien und erhabener Würde. In Potrei sovra degli empi scagliar tempeste entfaltet sich göttlicher Zorn in musikalischen Gewittern, mit donnernden Trompeten und scharfen Akzenten, bevor die Menschen erneut zu Boden gedrückt werden von Reue und Angst (Ahi! qual produce).
Die Arie Vicina morte con fiero sguardo (Azaria) ist ein Bild des Todeskampfes, das Zelenka mit expressiver Chromatik und schweren Bässen unterlegt. Danach folgt ein tröstender Dialog zwischen Egla und Namuel (Illustre uomo divin und Al torrente del suo), in dem sich langsam ein Hoffnungsstrahl durchsetzt.
Moses’ Gebet Autor della natura ist der geistige Höhepunkt des Oratoriums – eine der großartigsten Arien, die Zelenka je komponierte. Der Prophet bittet mit Demut um das Heil seines Volkes. Die Musik ist ruhig, erhaben und in tiefem Glauben verankert. In Uno, vero, eterno e santo erhebt sich Moses zu einem Hymnus auf den einen, wahren und ewigen Gott – hier wird Zelenkas Kunst des kontrapunktischen Aufbaus mit der Glut des Barockdramas vereint.
Der Dialog zwischen Gott und Moses (Ah, Mosè, t’insegnò troppo) bringt die göttliche Entscheidung: Er wird das Volk verschonen. Es folgt eine ergreifende Szene der menschlichen Trauer (Figlio, oimè, dolce figlio – Egla), die an die Pietà-Motive der Passionsmusik erinnert, sowie das Terzett Del petto esanime lo spirto, in dem Schmerz und Trost einander begegnen. Die Spannung löst sich in Già ripiglia vermiglia, wo die Heilung durch den Blick auf die eherne Schlange musikalisch vollzogen wird.
Moses’ Schlussrede Mira, ingrato Israel ruft das Volk zur Umkehr auf – eine bewegende Mischung aus Mahnung und Gnade, die in den Schlusschor Inni e lodi a quel Signore mündet: ein triumphaler Lobgesang, der in leuchtendem D-Dur endet und die Erlösung des Volkes Israels feierlich verkündet.
Zelenkas Il serpente di bronzo ist ein Meisterwerk geistlicher Dramatik, das theologische Tiefe und musikalische Expressivität in vollkommener Balance vereint. Die Komposition ist zugleich ein Beispiel für Zelenkas persönliche Frömmigkeit, seine kühne harmonische Sprache und seine Fähigkeit, Affekte mit barocker Theatralik zu verbinden.
CD-Empfehlung
Jan Dismas Zelenka: Il serpente di bronzo, ZWV 61
Ensemble Inégal und Prague Baroque Soloists
Solisten: Gabriela Eibenová (Egla), Terry Wey (Azaria), Daniel Kühn (Namuel), Tomáš Král (Moses), Lisandro Abadie (Dio)
Leitung: Adam Viktora (* 1973)
Nahrávky: Prag, 2010
Label: Nibiru, 2011
Eine mustergültige Einspielung, die Zelenkas dramatische Vision mit klanglicher Transparenz, vokaler Intensität und tiefem Ausdrucksverständnis verwirklicht – ein bedeutendes Zeugnis für die Wiederentdeckung eines der größten Meister des Hochbarock.
Gesù al Calvario, ZWV 62 (1735)
Oratorium sacrum per il Venerdì Santo
Libretto: Michelangelo Boccardi († nach 1740)
Das Kleine Konzert, Rheinische Kantorei – Leitung Hermann Max (* 1941)
Zelenkas Oratorium Gesù al Calvario – „Jesus auf Golgatha“ – gehört zu seinen reifsten und zugleich ergreifendsten geistlichen Werken. Es entstand 1735, also in jener Spätphase seines Schaffens, in der Zelenka, bereits von Krankheit und innerer Einsamkeit gezeichnet, die großen liturgischen Formen in zutiefst persönliche Glaubenszeugnisse verwandelte. Das Libretto stammt vom italienischen Dichter Michelangelo Boccardi, der für den Dresdner Hof mehrere Oratorientexte lieferte. Der Stoff folgt der Passionsfrömmigkeit des 18. Jahrhunderts, die nicht die historischen Ereignisse der Kreuzigung schildert, sondern das Mitleiden und die seelische Erschütterung des Gläubigen ins Zentrum stel
https://www.youtube.com/watch?v=4ODiNdOvc8k
Das Werk ist zweigeteilt (due atti), geschrieben für Solisten, Chor und Orchester. Schon in der einleitenden Sinfonia kündigt sich der ernste, fast opernhafte Ton an: Zelenka verwendet die musikalische Sprache des Theaters, um das geistliche Drama emotional erfahrbar zu machen. Das Oratorium ist kein liturgischer Bestandteil der Karfreitagsmesse, sondern eine kontemplative Betrachtung der Passion Christi – vermutlich für eine private Andacht im Kreis der Hofkapelle oder der kurfürstlichen Familie bestimmt.
Der erste Akt stellt Maria, die Mutter Jesu, ins Zentrum. Im Rezitativ O figlie di Sion (O Töchter Zions) ruft der Erzähler zur Betrachtung des Schmerzes auf. Der anschließende Chor Misera madre (Unglückliche Mutter) entfaltet die Klage der Frauen Jerusalems in dichtem, kontrapunktischem Satz. Im Verlauf des Aktes wechseln ergreifende Rezitative und Arien: Marias verzweifelte Zärtlichkeit in Madre! Figlio! („Mutter! Sohn!“) und ihre liebevolle Selbstaufopferung in Ah! se tanto amate („Ach, wenn ihr so sehr liebt“) bilden den emotionalen Kern. Zelenka erreicht hier eine ergreifende Verschmelzung italienischer Melodik mit deutscher Ausdruckskraft. Besonders die Arie Ah perché, o ciel, trattieni („Ach, warum, o Himmel, hältst du zurück“) steigert sich zu einer fast ekstatischen Vision des Leidens, während das finale Chorstück Crocifiggi il Nazareno – „Kreuzige den Nazarener“ – den ersten Teil mit schneidender dramatischer Wucht beschließt.
Der zweite Akt vertieft die Betrachtung: Nun stehen nicht mehr die äußeren Ereignisse, sondern die geistige Dimension des Opfers im Vordergrund. Marias Schmerz wandelt sich in ein Bewusstsein des Heils. In den Arien und Duetten (Santa amor, ti sento ferir – „Heilige Liebe, du verwundest mich“) zeigt Zelenka eine Musik von seltener Innigkeit, deren chromatische Linien und kühne Harmonien seelische Qual und göttliche Hingabe untrennbar verweben. Der abschließende Chor È questo il monte beato („Dies ist der gesegnete Berg“) lässt das Leiden in strahlende Hoffnung münden – ein musikalisches Bild des Kreuzes als Ort der Erlösung.
Zelenka verbindet in Gesù al Calvario theatralische Ausdruckskraft mit asketischer Tiefe. Seine Musik folgt nicht der dramatischen Geste der italienischen Opera seria, sondern einer spirituellen Dramaturgie, die von innen nach außen wirkt: aus der Stille in den Aufschrei, aus der Klage in die Verklärung. Der Hörer erlebt das Werk als kontemplatives Passionsmysterium – eine Meditation über Liebe, Schmerz und göttliche Gnade.
Die Arie „S’una sol lagrima“
Die berühmte Arie S’una sol lagrima (Act II, Szene XIII) gehört zu den ergreifendsten Momenten des gesamten Oratoriums. Sie ist der Maria zugedacht, die in tiefer Reue und zärtlicher Sehnsucht um die Menschheit weint. Der Text stammt aus Boccardis Libretto und fasst in wenigen Zeilen das Mysterium der göttlichen Barmherzigkeit:
Italienischer Text:
S’una sol lagrima di pentimento
scende sul volto del reo pentito,
il Ciel s’apre, il cor trafitto
trova in Dio consolamento.
Deutsche Übersetzung:
Wenn nur eine einzige Träne der Reue
über das Antlitz des reuigen Sünders rinnt,
öffnet sich der Himmel, und das verwundete Herz
findet Trost in Gott.
https://www.youtube.com/watch?v=VnQOHOozGFY
Diese Arie ist ein musikalisches Gebet von fast überirdischer Sanftheit. Über einem feinen Streicherteppich entfaltet sich eine Kantilene, deren schwebende Linien und ruhige Atembögen Zelenkas unverkennbaren Stil verraten: das Ineinander von Demut und inniger Leidenschaft.
Der polnische Countertenor Jakub Józef Orliński (* 1990) hat die Arie auf seinem Album Anima Sacra (Erato, 2018) in einer exemplarisch klaren Interpretation aufgenommen. Seine Stimme – leuchtend, aber von innerer Ruhe getragen – lässt die seelische Dimension dieser Musik aufleuchten: das Mitleiden der Maria als Sinnbild göttlicher Liebe.
Empfohlene Aufnahme:
Jan Dismas Zelenka – Gesù al Calvario, ZWV 62
Das Kleine Konzert & Rheinische Kantorei, Leitung Hermann Max (* 1941), CPO / Capriccio, 1995
und
Jakub Józef Orliński (* 1990), Album Anima Sacra, Erato, 2018 (Track 20)
https://www.youtube.com/watch?v=qige6LPdkdo&list=OLAK5uy_mGm3y_W9jBGcc1na7tvxnvN79dCZWh6v0&index=2
I Penitenti al Sepolcro del Redentore (Die Büßer am Grab des Erlösers), ZWV 63
Jan Dismas Zelenka komponierte das Oratorium I Penitenti al Sepolcro del Redentore im Jahr 1736 für die Dresdner Hofkirche, vermutlich zur Aufführung während der Karwoche. Das Werk entstand in einer Schaffensphase, in der Zelenka seine bedeutendsten geistlichen Kompositionen vollendete – darunter Gesù al Calvario (ZWV 62) und Il Serpente di Bronzo (ZWV 61) – und es gilt als Höhepunkt seines reifen, von tiefer Religiosität und harmonischer Eigenwilligkeit geprägten Stils. Der Text stammt von Stefano Benedetto Pallavicino (1672–1742), dem langjährigen Librettisten der Dresdner Hofoper, und schildert in dichter, poetischer Sprache eine imaginäre Begegnung zwischen König David, Maria Magdalena und dem Apostel Petrus am Grab Christi. Diese drei Figuren verkörpern exemplarisch die menschliche Schuld und Reue, den Schmerz über die göttliche Passion und die Hoffnung auf Erlösung. Zelenka gestaltet daraus kein theatralisches Drama, sondern ein inneres Gespräch der Seelen – ein mystisches Nachdenken über die Liebe und Barmherzigkeit des Erlösers.
Die einleitende Sinfonia (Adagio – Andante – Adagio) entfaltet eine feierlich-düstere Klangwelt, deren expressiver Atem sofort in Bann zieht. Leise Oboen- und Fagottlinien, harmonische Chromatik und ein fast unmerkliches Pulsieren des Continuo schaffen den geistigen Raum, in dem sich das Geschehen entfaltet. König David eröffnet mit der Arie Squarcia le chiome, einem dramatischen Aufschrei der Zerknirschung; das folgende Rezitativ Tramontate è la stella beklagt den Untergang des göttlichen Lichts. Maria Magdalena antwortet in einem von Schmerz und Zärtlichkeit durchdrungenen Ton: Das Oimè, quasi nel campo führt zu ihrer innig empfundenen Arie Del mio amor, divini sguardi, in der sie die göttliche Liebe besingt, die alles menschliche Leiden übersteigt. Petrus, Symbol menschlicher Schwäche, tritt mit dem bewegenden Qual la dispersa greggia und der Arie Lingua perfida hervor – ein Zwiegespräch zwischen Schuld, Scham und der Bitte um Vergebung, das Zelenka mit ergreifender musikalischer Bildhaftigkeit ausformt.
Im Mittelteil verdichtet sich die Struktur zu einem Wechsel von kontemplativen und leidenschaftlichen Abschnitten. In Da vivo tronco aperto erhebt sich Maria Magdalenas Stimme aus dem Schmerz zu mystischer Hingabe; David antwortet mit der ergreifenden Arie Le tue corde, arpe sonora, einem der schönsten Momente des gesamten Oratoriums, in dem der Klang der Harfe zum Symbol der Versöhnung zwischen Gott und Mensch wird. Die letzten Szenen führen alle drei Figuren in einem gemeinsamen geistigen Raum zusammen: Tributo accetto più, più grato dono – Al divin nostro amante – Qual io soleva un tempo bildet ein dreifaches Rezitativ, das schließlich in den erhabenen Schlusschor Miserere mio Dio mündet. Hier vereinen sich Reue, Demut und Hoffnung in einer eindrucksvollen musikalischen Synthese, die mit Zelenkas unverwechselbarer Harmonik und kontrapunktischer Meisterschaft aufleuchtet.
Die Struktur folgt dem italienischen Oratoriumstypus mit Sinfonia, alternierenden Rezitativen und Arien sowie einem abschließenden Chor. Doch Zelenka transzendiert das Schema und verleiht ihm eine unverkennbare persönliche Handschrift. Die Instrumentation mit Flöten, Oboen, Fagotten, Streichern und Basso continuo ist reich an klanglicher Farbigkeit; häufig übernehmen die Holzbläser eigenständige expressive Linien, die das seelische Geschehen vertiefen. Charakteristisch sind die abrupten harmonischen Wendungen, rhythmischen Verschiebungen und kontrapunktischen Verdichtungen – Mittel, die Zelenkas Musik einen unverwechselbaren inneren Drang und geistige Spannung verleihen.
https://www.youtube.com/watch?v=4ETqqUVB__w
In der Interpretation durch das Collegium 1704 und das Collegium Vocale 1704 unter der Leitung von Václav Luks (* 1970) gewinnt das Werk seine volle spirituelle und emotionale Dimension. Luks gestaltet die Partitur mit großer Sensibilität für Text, Klang und Affekt. Die Stimmen verschmelzen zu einem durchsichtigen, warmen Ensembleklang, die Solisten zeichnen die seelischen Kämpfe und Erleuchtungen der Figuren mit ergreifender Intensität. Das Orchester musiziert mit klanglicher Klarheit und federnder Eleganz, wobei jeder dynamische Kontrast, jede harmonische Verschiebung zum Teil der geistlichen Dramatik wird. So entsteht eine Interpretation, die Zelenkas Kunst als Brücke zwischen barocker Affektlehre und persönlichem Glaubenszeugnis begreift.
Inhalt
Drei Seelen treten am Grab Christi zusammen: König David, Maria Magdalena und der Apostel Petrus. David erkennt in der Stille des Grabes seine eigene Schuld und sucht Trost im Gebet. Magdalena verweilt in tiefer Trauer und spricht von der Liebe, die den Tod überdauert. Petrus, vom Schmerz über die Verleugnung Christi gezeichnet, ringt mit der Erinnerung an seine Schwäche. In den Dialogen dieser drei Gestalten verdichten sich die menschlichen Grundfragen nach Sünde, Vergebung und Gnade. Das Grab wird zur Schwelle zwischen Tod und Leben, zur Stätte der inneren Läuterung. Der Schlusschor Miserere mio Dio erhebt die persönliche Reue zu einem universellen Gebet, das Zelenka in leuchtenden Harmonien erblühen lässt – ein Moment von erhabener Schönheit und Demut.
Empfohlene CD:
Jan Dismas Zelenka: I Penitenti al Sepolcro del Redentore, ZWV 63 – Collegium 1704 und Collegium Vocale 1704 unter der Leitung von Václav Luks (Accent, aufgenommen in Prag, 2023).
Litaniae de Venerabili Sacramento, ZWV 147
(1727–1728; „Litanei zum allerheiligsten Sakrament“)
Innerhalb von Zelenkas umfangreichem Schaffen für die Dresdner Hofkirche nehmen seine Litaniae de Venerabili Sacramento (ZWV 147) eine besondere Stellung ein. Sie entstanden vermutlich in den Jahren 1727 oder 1728, also während jener Phase, in der Zelenka zunehmend selbstständig als Komponist der katholischen Hofmusik wirkte, während sein Vorgesetzter Johann David Heinichen (1683–1729) bereits schwer erkrankt war. In dieser Zeit begann Zelenka, die spätbarocke Kirchenmusik Dresdens auf ein bis dahin unerreichtes geistiges und kompositorisches Niveau zu führen.
Die Litaniae de Venerabili Sacramento gehören zu den erhabensten Werken dieser Epoche, getragen von tiefer eucharistischer Frömmigkeit. Sie sind keine Messe, sondern eine musikalische Anrufung des Altarsakraments, wie sie im katholischen Jahreslauf zu besonderen Anlässen – etwa während der eucharistischen Anbetung oder am Fronleichnamsfest – erklang. Zelenka greift auf den traditionellen lateinischen Text zurück, der in einer Reihe von Bitten und Lobpreisungen das Geheimnis der Gegenwart Christi im Sakrament des Altares besingt.
https://www.youtube.com/watch?v=hsPVrksQRn8&list=OLAK5uy_lk_kBqnEh5wtr2EATCHBjbfGn6T0vm5rQ&index=2
Das Werk ist in elf Abschnitte gegliedert, deren Struktur zwischen groß angelegten Chorsätzen und innigen Solopassagen wechselt. Schon der eröffnende Satz, Kyrie eleison, zeigt Zelenkas unverwechselbare Handschrift: eine kunstvolle Doppelfuge, deren Themen sich wechselseitig umspielen und auflösen, als würde das Gebet selbst in Bewegung geraten. Im folgenden Pange lingua gloriosi entfaltet sich eine tief empfundene, meditative Klangwelt, getragen von dunklen Streichern und gedämpften Oboen, die das sakrale Geheimnis des Textes erahnen lassen.
Die anschließenden Arien und Ensemblesätze – etwa Tantum ergo Sacramentum und Panem de coelo praestitisti eis – offenbaren Zelenkas außerordentliche Fähigkeit, barocke Virtuosität mit mystischer Innerlichkeit zu verbinden. Besonders auffällig ist die harmonische Kühnheit: chromatische Wendungen, überraschende Modulationen und schwebende Dissonanzen erzeugen eine Atmosphäre der Ekstase und des Gebets zugleich. Die expressive Verwendung der Solostimmen erinnert an Zelenkas späte Messen – etwa an die Missa Sanctissimae Trinitatis (ZWV 17) oder die Missa votiva (ZWV 18) – und deutet auf seinen unverwechselbaren Personalstil voraus, der aus dem rein repräsentativen Kirchenstil zu einer zutiefst individuellen Tonsprache führte.
Im abschließenden Agnus Dei mündet die Litanei in eine kontemplative Ruhe, die sich in langen, atmenden Phrasen entfaltet. Das Werk endet nicht mit triumphaler Festlichkeit, sondern in einem Akt stiller, inniger Anbetung – eine musikalische Geste, die Zelenkas persönliche Frömmigkeit widerspiegelt.
Die Litaniae de Venerabili Sacramento verbinden auf einzigartige Weise Theologie und Klang, barocke Architektur und mystische Innigkeit. Zelenka entwirft hier kein Werk für den äußeren Glanz des Dresdner Hofes, sondern für das innere Licht des Glaubens – eine Musik, die in ihrer geistigen Tiefe eher an Heinrich Ignaz Franz Biber (1644–1704) oder Johann Sebastian Bach (1685–1750) erinnert als an die italienische Hofmusik seiner Zeit.
Empfohlene Einspielung:
Jan Dismas Zelenka – Sacred Music, Choir of The King’s Consort, Leitung: Robert King (* 1960), Hyperion, 2003 (Tracks 1–11).
Eine Aufnahme von klanglicher Klarheit und geistiger Intensität, die die architektonische Weite und meditative Tiefe von Zelenkas eucharistischer Litanei in idealer Balance zeigt.
Litaniae de Venerabili Sacramento, ZWV 148, D-Dur (1729)
(Litanei zum Hochfest des Fronleichnams)
Mit den Litaniae de Venerabili Sacramento ZWV 148, vollendet am 18. Juni 1729, schuf Jan Dismas Zelenka eines seiner eindrucksvollsten geistlichen Werke der Dresdner Jahre. Anlass war das Hochfest Fronleichnam (16. Juni 1729), das in der katholischen Liturgie die reale Gegenwart Christi im Sakrament der Eucharistie feiert. Zelenka komponierte diese Litanei offenbar in bemerkenswerter Eile – innerhalb von nur zwei Tagen – und dennoch besitzt sie eine geistige Geschlossenheit und kompositorische Meisterschaft, die sein außergewöhnliches Talent auf dem Höhepunkt seiner schöpferischen Kraft zeigt. Wahrscheinlich erklang die Musik während der Fronleichnamsoktav am Sonntag, dem 19. Juni 1729, in der Hofkirche in Dresden.
Das Werk steht in enger Beziehung zu Zelenkas Missa Circumcisionis Domini Nostri Jesu Christi (ZWV 11), die etwa ein halbes Jahr zuvor entstanden war. Zahlreiche motivische Verbindungen, insbesondere zwischen den Sätzen Panis vivus, Ut nobis fidem und dem Benedictus der Messe, lassen darauf schließen, dass Zelenka sich bewusst auf frühere kompositorische Modelle stützte – ein Verfahren, das er nicht aus Bequemlichkeit, sondern zur bewussten Vertiefung musikalischer Symbolik nutzte. Die Wiederverwendung bestimmter melodischer Formeln, vor allem im Agnus Dei II, wo der Tenor (vermutlich der Hoftenor Pietro Luchini) von drei Oboen und Basso continuo begleitet wird, legt nahe, dass diese Klangkombination beim Hofpublikum besonderen Anklang fand.
https://www.youtube.com/watch?v=mDmuZtOi0RM
Formal gliedert sich die Litanei in elf Sätze:
Kyrie – Panis vivus – Praecelsum et venerabile Sacramentum – Panis omnipotentia – Propitius esto – Ab indigna Corporis et Sanguinis – Peccatores – Ut in nobis fidem, reverentiam – Agnus Dei I–III.
Diese Abfolge entspricht der Struktur einer vollständigen eucharistischen Anrufung, die Zelenka als eine Art spirituelles Konzert für vier Solisten und Chor gestaltet. Die Solisten – Sopran, Alt, Tenor und Bass – treten dabei fast ununterbrochen in Erscheinung, teils solistisch, teils im Ensemble, und verschmelzen mit den Chören zu einem hochdynamischen, dialogischen Klanggefüge.
Bereits das eröffnende Kyrie entfaltet eine festliche Pracht, in der Trompeten und Oboen den Glanz der Dresdner Hofkapelle spiegeln. Die anschließenden Solopassagen, etwa im Panis vivus und Panis omnipotentia, zeichnen sich durch eine seltene Feinheit des Ausdrucks aus: Zelenka verbindet tänzerische Bewegtheit mit tiefer Demut, indem er rhythmische Energie und kontrapunktische Dichte in ein Gleichgewicht bringt, das zugleich Freude und Andacht atmet.
Im Zentrum des Werkes stehen die Sätze Ut in nobis fidem, reverentiam und Agnus Dei II. Ersterer ist ein inniges Quartett, in dem sich die vier Stimmen zu einem Gebet um Glauben und Ehrfurcht vereinen; letzterer eine große Tenor-Arie von fast opernhafter Intensität, in der die Oboen in eng verflochtenen Linien den emotionalen Kern des Textes illustrieren: das Bekenntnis der menschlichen Unwürdigkeit vor dem göttlichen Geheimnis.
Zelenka schließt die Litanei – seinem Stil gemäß – mit einer meisterhaften Doppelfuge (Agnus Dei III) von strahlender Klarheit und unerschütterlicher Energie. Dieser Schluss ist kein Ausbruch barocker Virtuosität, sondern eine Apotheose des Glaubens, die in festlicher Ordnung endet: Musik als sakrale Architektur.
Die Litaniae de Venerabili Sacramento ZWV 148 sind ein Beispiel für Zelenkas unverwechselbare Verbindung von theologischer Tiefe, kontrapunktischer Kunst und vokaler Expressivität. Sie zeigen den Komponisten als frommen Denker, der in der Musik das göttliche Geheimnis nicht illustriert, sondern erfahrbar macht.
Empfohlene Einspielung:
Jan Dismas Zelenka – Litaniae de Venerabili Sacramento, ZWV 148.
Ensemble Inégal, Leitung: Adam Viktora, mit Gabriela Eibenová, Lenka Cafourková, Tobias Hunger, Tadeáš Hoza, Tomáš Šelc, David Erler, Jaro Kirchgessner und Jonathan Mayenschein.
Aufnahme: NIBIRU 01782231, Prag 2023.
Eine Interpretation von beispielhafter klanglicher Transparenz und spiritueller Geschlossenheit – die feierliche Wärme des Ensembles und Viktoras souveräne Leitung lassen die Litanei als das erscheinen, was sie ist: ein musikalisches Gebet am zenith der katholischen Hofkunst Dresdens.
Litaniae de Beata Virgine Maria, ZWV 149, D-Dur (1718)
Litanei zur allerseligsten Jungfrau Maria
Die Litaniae de Beata Virgine Maria ZWV 149 gehören zu den frühesten großformatigen Kirchenwerken von Jan Dismas Zelenka, entstanden um 1718, also in jener Zeit, in der sich der aus Böhmen stammende Musiker im Umfeld der Dresdner Hofkapelle zu etablieren begann. Das Werk, vermutlich für den Marienmonat Mai oder für ein feierliches Marienfest im Jahreslauf bestimmt, verbindet italienische Klangpracht mit einer kontrapunktischen Strenge, die schon auf die großen Messen und Litanien der 1720er Jahre vorausweist.
Doch die Überlieferung dieser Litaniae ist problematisch. Die einzige erhaltene Quelle ist das Autograph, das bereits frühzeitig fragmentiert wurde. Im persönlichen Inventarium Zelenkas von 1726 taucht das Werk nicht mehr auf, und im späteren Katalog der Dresdner Hofkirchenmusik um 1784 erscheint es mit der Bemerkung imperfetta – unvollständig. Tatsächlich fehlen ganze Abschnitte des Autographs, weil Zelenka selbst Notenblätter herausgeschnitten und in andere Werke eingefügt hat. Wann und in welchem Umfang dies geschah, lässt sich heute nicht mehr sicher bestimmen. Die Forschung konnte bisher lediglich einzelne Zusammenhänge aufdecken, die einen faszinierenden Einblick in Zelenkas Arbeitsweise geben.
So wurde etwa das Agnus Dei dieser Litanei als Mittelteil in ein separates Agnus Dei (ZWV 37) eingefügt – vermutlich zwischen 1722 und 1724 –, während die Musik der Sopranarie Mater Christi 1725 in der Tenorarie De torrente seines Dixit Dominus (ZWV 66) wiederverwendet wurde. In diesem Fall schrieb Zelenka das Material allerdings neu ab, wodurch das Original erhalten blieb. Andere Teile der Litanei scheinen vollständig verloren: Im Autograph finden sich Anmerkungen wie applicatum in Lita: de S: X: – ein Hinweis darauf, dass das Kyrie-Material in den Litaniae Xaverianae (ZWV 154, 1723) erneut Verwendung fand. Vier weitere Notizen deuten darauf hin, dass größere Abschnitte in die heute verschollene Missa Theophorica (ZWV 241), eine doppelchörige Messe zum Fronleichnamsfest, eingefügt wurden. Es ist also anzunehmen, dass Zelenka sein früheres Werk als eine Art kompositorisches Reservoir betrachtete, dessen musikalische Substanz er in reiferen Kompositionen weiterentwickelte.
https://www.youtube.com/watch?v=BkjHLQ3PXzs
Trotz dieser komplizierten Überlieferung erlaubt die rekonstruierbare Substanz einen tiefen Einblick in Zelenkas Stil um 1718. Die Litaniae de Beata Virgine Maria zeigen ihn als Komponisten von seltener Ausdruckskraft, der bereits in jungen Jahren barocke Formen mit persönlicher Innerlichkeit füllte. Das eröffnende Kyrie eleison ist als großangelegte Doppelfuge gestaltet – ein architektonischer Satz von beeindruckender Energie und klanglicher Weite. Darauf folgt die eindringliche Bassarie Pater de caelis, Deus, deren kontemplativer Ernst an die großformatigen Arien Johann Joseph Fux’ erinnert. In den nachfolgenden Sätzen (Sancta Maria, Mater Christi, Speculum iustitiae) wechseln sich festliche Chöre und lyrische Soli ab, wodurch Zelenka die verschiedenen Aspekte der marianischen Frömmigkeit musikalisch entfaltet: die göttliche Majestät, die menschliche Zärtlichkeit und die himmlische Fürsprache.
Besonders eindrucksvoll ist die Arie Mater Christi, die später – wie erwähnt – in anderer Gestalt im Dixit Dominus wiederauftaucht. Hier leuchtet bereits Zelenkas melodischer Erfindungsreichtum und seine Fähigkeit, barocke Ornamentik in emotionale Wahrheit zu verwandeln. Der Chor kehrt mit Salus infirmorum zu dichten kontrapunktischen Linien zurück, bevor das Werk im strahlenden Auxilium Christianorum seinen festlichen Abschluss findet – ein Finale, das trotz seiner archaischen Form eine innere Glut bewahrt, die Zelenkas Musik stets auszeichnet.
Heute gilt ZWV 149 als eines jener „Schattenwerke“, die durch Selbstzitate und sekundäre Überlieferung weiterleben, obwohl ihr ursprüngliches Erscheinungsbild unwiederbringlich verloren ist. Der fragmentarische Zustand mindert jedoch keineswegs die Bedeutung der Komposition: vielmehr erlaubt er einen seltenen Blick auf Zelenkas kompositorisches Denken – auf seine Praxis, eigene Werke als lebendige Materie zu begreifen, die sich weiterformen und neu beleben lässt.
Empfohlene Einspielung:
Jan Dismas Zelenka – Missa Sancti Spiritus und Litanie di Vergine Maria
Ensemble Inégal, Leitung: Adam Viktora (* 1973),
Label: Nibiru, 2022 (Tracks 20–29).
Diese Einspielung nähert sich dem Werk mit großer historischer Sensibilität: Viktora und sein Ensemble rekonstruieren die Litanei in jener Balance aus devoter Innigkeit und barocker Pracht, die Zelenkas Musik zu einem spirituellen Denkmal böhmischer Frömmigkeit macht.
Litaniae Lauretanae, ZWV 150
Autograph, Dresden, SLUB, Signatur Mus.2358-D-54
Die Litaniae Lauretanae ZWV 150, entstanden im Jahr 1725, gehören zu den feierlichsten und zugleich lyrischsten Marienvertonungen Jan Dismas Zelenkas. Das Werk, vermutlich für ein Dresdner Hochfest der Jungfrau Maria komponiert, zeigt den Komponisten auf dem Höhepunkt seiner kontrapunktischen Meisterschaft, vereint aber geistige Strenge mit inniger Frömmigkeit. Auffällig ist die klare architektonische Anlage, in der Chor und Solisten in wechselnden Anrufungen ein musikalisches Rosenkranzgebet entfalten.
Bis heute existiert keine Einspielung dieser Litanei; die Musik ist ausschließlich in der autographen Partitur der SLUB Dresden überliefert und wartet noch auf ihre Wiederentdeckung.
Litaniae Lauretanae „Consolatrix afflictorum“, ZWV 151, D-Dur (1744)
(Lauretische Litanei „Trösterin der Betrübten“)
Zu den letzten und zugleich ergreifendsten Werken Jan Dismas Zelenkas gehört die 1744 entstandene Litaniae Lauretanae „Consolatrix afflictorum“ (ZWV 151). Sie zählt zusammen mit der ebenfalls 1744 komponierten Schwesterlitanei „Salus infirmorum“ (ZWV 152) zu den geistlichen Spätwerken, die der Komponist der sächsischen Kurfürstin und polnischen Königin Maria Josepha von Österreich (1699–1757) widmete. Während Zelenkas späte Messen vor allem für den Festgebrauch konzipiert und kaum aufgeführt wurden, weisen zeitgenössische Quellen darauf hin, dass gerade diese beiden Litanien tatsächlich erklangen – zunächst als Gebet um Genesung der Königin, dann als Dankgesang nach ihrer Wiederherstellung.
Das Werk atmet die schlichte Würde und Vergeistigung der letzten Lebensjahre des Komponisten. Zelenka verzichtet hier auf die große orchestrale Pracht seiner 1720er Jahre und wählt eine bescheidene, kammermusikalische Besetzung mit Streichern, zwei Oboen und Basso continuo – eine instrumentale Transparenz, die den Fokus ganz auf den inneren Ausdruck lenkt. Die fünf Sätze sind klar symmetrisch angelegt und in ihrer Geschlossenheit fast zyklisch: das Schluss-Agnus Dei greift thematisch auf das eröffnende Kyrie eleison zurück und schließt damit den Kreis – ein musikalisches Symbol für Gebet, Wiederholung und Erlösung.
https://www.youtube.com/watch?v=sn8L6mpXxFE
Im eröffnenden Kyrie eleison, einer meisterlich gearbeiteten Doppelfuge, entfaltet Zelenka eine Klangarchitektur von fast archaischer Strenge. Der Satz verbindet kontrapunktische Dichte mit einer Ruhe und Gelassenheit, die weit über technische Virtuosität hinausgeht. Schon hier spürt man die Nähe des späten Zelenka zu den großen geistlichen Architekten der Wiener Schule, doch seine Handschrift bleibt unverkennbar: unerwartete harmonische Wendungen, kleine rhythmische Dehnungen, das Gefühl eines betenden Atems.
Die anschließende Sopranarie Pater de caelis, Deus ist von schlichter, fast intimer Schönheit. Über zarten Streichern erhebt sich eine melodische Linie, die nicht an dramatischer Expressivität, sondern an kontemplativer Hingabe interessiert ist. Sie steht für Zelenkas tiefen Glauben – einen Glauben, der nicht mehr von barocker Theatralik, sondern von stiller Versenkung geprägt ist.
Das Zentrum der Litanei bildet der groß angelegte Satz Sancta Maria. Er steht sowohl formal als auch inhaltlich im Mittelpunkt des Werkes und gehört zu den eindrucksvollsten geistlichen Eingebungen Zelenkas. Der Chor ruft unisono „Sancta Maria, ora pro nobis“, worauf die Solisten in bewegten Figuren die einzelnen Marientitel – Salus infirmorum, Consolatrix afflictorum, Auxilium Christianorum – anstimmen. Im Mittelteil tritt überraschend ein Adagio ein, in dem diese vier marianischen Attribute zusammengeführt werden – eine musikalische Meditation über Trost, Heilung und Hoffnung. Dieser Abschnitt, in seiner Zartheit und Demut, gehört zu den bewegendsten Momenten im gesamten Spätwerk Zelenkas.
Die beiden abschließenden Agnus Dei-Sätze führen das Werk zu einem leuchtenden Ende. Das erste Agnus Dei für Solisten und Chor vereint das Bitten um Erbarmen mit der Dankbarkeit des Glaubens, während das zweite, eine doppelte Fuge, den Zyklus in ruhiger Vollendung beschließt. Hier verschmelzen Formbewusstsein und spirituelle Tiefe: Der letzte Kontrapunkt wirkt wie ein Gebet, das nicht endet, sondern in die Ewigkeit ausklingt.
Wie in den anderen späten Kompositionen Zelenkas beeindruckt auch hier, dass kein Rückblick eines alternden Meisters, sondern eine Musik des Aufbruchs erklingt – von visionärer Modernität und ungebrochener Lebenskraft. Sie ist durchdrungen von einer spirituellen Klarheit, die weder Resignation noch Weltflucht kennt, sondern eine aufwärtsgerichtete Bewegung „zum sternenbesäten Himmel“ suggeriert – ein Klang gewordener Glaube.
Empfohlene Einspielung:
Jan Dismas Zelenka – Missa purificationis Beatae Virginis Mariae und Litanie Lauretanae, Ensemble Inégal, Leitung: Adam Viktora (* 1973),
Label: Nibiru, 2007.
Diese Aufnahme besticht durch Transparenz, stilistische Genauigkeit und eine besondere Innigkeit, die den kontemplativen Charakter der späten Litanien erfasst. Das Ensemble Inégal und Adam Viktora bringen hier Zelenkas letzte Marienmusik zum Leuchten – als stilles Vermächtnis eines Komponisten, dessen Glaube und Kunst untrennbar miteinander verwoben sind.
Litaniae Lauretanae „Salus infirmorum“, ZWV 152, D-Dur (1744)
(Lauretische Litanei „Heil der Kranken“)
Die Litaniae Lauretanae „Salus infirmorum“ ZWV 152 gehören zu den letzten vollendeten Werken Jan Dismas Zelenkas, entstanden im Jahr 1744, nur ein Jahr vor seinem Tod. Sie stehen in enger geistiger und kompositorischer Verbindung zur Schwesterlitanei „Consolatrix afflictorum“ (ZWV 151), die im selben Jahr entstand. Beide Werke bilden den Höhepunkt von Zelenkas Spätstil: Musik von erleuchteter Klarheit, frei von äußerer Pracht, dafür erfüllt von innerer Sammlung und tiefem Glauben.
Die Entstehung dieser Litanei ist von einem besonderen biographischen und historischen Kontext geprägt. Zelenka widmete sie der sächsischen Kurfürstin und polnischen Königin Maria Josepha von Österreich (1699–1757), die im Frühjahr 1744 schwer erkrankte. Die beiden Litanien – Salus infirmorum („Heil der Kranken“) und Consolatrix afflictorum („Trösterin der Betrübten“) – wurden offenbar nacheinander komponiert, zuerst als flehentliches Gebet um Genesung, dann als Dankopfer für die Wiederherstellung der Gesundheit der Königin. Die Wahl der beiden marianischen Titel spricht für sich: Zelenka verstand sie als geistliche Antiphonen auf menschliches Leid und göttlichen Trost.
Die Überlieferungsgeschichte des Werkes ist ebenso bemerkenswert wie aufschlussreich. Das Autograph, das sich in der Sächsischen Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek Dresden (SLUB) befindet, enthält lediglich die ersten beiden von insgesamt neun Sätzen. Erst durch eine vollständige Abschrift des Dresdner Orchestermitglieds Philipp Troyer (1689–1743), heute in der Bibliothek des Conservatorio „Giuseppe Verdi“ in Mailand, wurde die Komposition in ihrem gesamten Umfang bekannt. Diese Kopie enthält Anmerkungen von Zelenka selbst und umgekehrt Eintragungen Troyers in Zelenkas Autograph – ein faszinierendes Zeugnis kollegialer Zusammenarbeit innerhalb der Dresdner Hofkapelle. Die Wiederentdeckung dieser Handschrift durch Dr. Wolfgang Reich, Leiter der Musikabteilung der SLUB, kurz vor der Veröffentlichung des Zelenka-Werkverzeichnisses (ZWV, 1985), machte die Erforschung dieses Spätwerks erst möglich.
Die Litaniae Lauretanae „Salus infirmorum“ sind von intimer Besetzung und durchsichtiger Faktur geprägt: Streicher, zwei Oboen und Basso continuo bilden das Fundament, auf dem Zelenka ein fein austariertes Wechselspiel zwischen Chor, Solisten und Ensemble errichtet. Die sieben erhaltenen Sätze folgen in ihrer musikalischen Sprache einem klaren geistlichen Konzept – das Werk wirkt weniger wie ein feierliches Zeremoniell als wie eine meditative Andacht.
https://www.youtube.com/watch?v=l7MtTTGZCzw
Die Litanei eröffnet mit einem sanft leuchtenden Mater Divinae Gratiae, einem Satz von friedvoller Anmut und zugleich von tiefem Vertrauen. Darauf folgt das Pater de caelis, das in seiner kantablen Linienführung und zarten Instrumentierung Zelenkas Nähe zu den großen Wiener Meistern spüren lässt. Die Wiederkehr des Mater Divinae Gratiae verleiht der Komposition zyklische Geschlossenheit – das Gebet, einmal ausgesprochen, kehrt als musikalische Erinnerung wieder.
In Virgo prudentissima und Salus infirmorum erreicht Zelenkas späte Tonsprache eine einzigartige Balance aus Einfachheit und Innerlichkeit. Die Stimmen verweben sich eng, ohne in barocke Überfülle zu geraten, und der Kontrapunkt wird zum Träger des Gebets. Besonders im titelgebenden Abschnitt Salus infirmorum entfaltet der Komponist jene stille Dramatik, die seine letzten Jahre kennzeichnet: kein äußerlicher Affekt, sondern ein musikalischer Ausdruck von Leid, Hoffnung und göttlicher Nähe.
Den Abschluss bildet ein innig gebautes Agnus Dei, das den Kreis zum Anfang schließt und den Hörer in einem Zustand kontemplativer Ruhe entlässt. Das Werk endet nicht in Triumph, sondern in friedlicher Versöhnung – als Ausdruck eines tief verinnerlichten Glaubens, der Schmerz und Heilung als untrennbare Teile des menschlichen Daseins begreift.
Mit den Litaniae Lauretanae „Salus infirmorum“ verleiht Zelenka seinem Lebenswerk einen leisen, aber erhabenen Schlusspunkt. Es ist Musik eines Künstlers, der an der Schwelle zum Tod keine Resignation kennt, sondern eine spirituelle Reife erreicht, in der Kunst und Gebet eins werden.
Empfohlene Einspielung:
Jan Dismas Zelenka – Missa Dei Filii und Litaniae Lauretanae,
Kammerchor Stuttgart, Freiburger Barockorchester,
Leitung: Frieder Bernius (* 1947),
Label: BMG Entertainment, 1990.
Diese Aufnahme überzeugt durch ihre klare Linienführung, textliche Präzision und jene atmende Spiritualität, die Zelenkas Spätstil kennzeichnet. Bernius und seine Ensembles gestalten die Musik als Klanggebet – streng in der Form, doch von tiefer innerer Glut durchdrungen.
Litaniae Omnium Sanctorum, ZWV 153, D-Dur (ca. 1735)
(Litanei zu Allerheiligen)
Unter den zahlreichen Litanien, die Jan Dismas Zelenka für die Dresdner Hofkirche komponierte, nimmt die Litaniae Omnium Sanctorum ZWV 153 einen besonderen Platz ein. Entstanden um 1735, in jener reifen Schaffensphase, in der Zelenkas Kunst ihren unverwechselbaren Ausdruck zwischen architektonischer Strenge und mystischer Innigkeit fand, gehört sie zu den leuchtendsten Beispielen seiner tiefen Frömmigkeit und seines kompositorischen Raffinements. Diese Litanei, eine Anrufung aller Heiligen, ist ein Werk von eindrucksvoller Energie, kontrapunktischer Dichte und zugleich von pastoraler Helle – ein geistliches Fresko, das den Himmel selbst in Musik zu fassen scheint.
https://www.youtube.com/watch?v=Cp_yOcQgJBs
Das Werk umfasst zwölf Abschnitte und ist für vier Solisten (Sopran, Alt, Tenor, Bass), Chor und Orchester mit Streichern, Oboen und Continuo gesetzt. Schon das eröffnende Kyrie I strahlt jenen typischen Zelenka’schen Glanz aus, der aus der Verbindung von kontrapunktischer Komplexität und rhythmischer Lebendigkeit entsteht. Der Chor trägt die flehende Bitte „Kyrie eleison“ mit festem, fast triumphalem Duktus vor, und die Stimmen verschränken sich in kunstvoller Imitation.
Im folgenden Kyrie II steigert sich die Dichte zu einer strengen Fuge, die in ihrer Klarheit und architektonischen Präzision an Bachs Zeitgenossen erinnert, zugleich aber Zelenkas unverwechselbare Handschrift trägt: überraschende Harmoniewechsel, scharfe Akzente, der Wechsel zwischen erhabenem Tutti und feinsinnigem Stimmgeflecht. Das anschließende Christe eleison wird zur Doppelfuge von außerordentlicher Kunstfertigkeit – ein Meisterstück polyphoner Klangorganisation, das die geistige Kraft des späten Zelenka eindrucksvoll offenbart.
Mit dem Pater de coelis, Deus, einer Sopranarie von inniger Schlichtheit, öffnet sich die Litanei zu einem kontemplativen Moment: Die Stimme schwebt über sanft bewegten Streichern, fast wie ein Gebet in Musikform. Der Chorsatz Sancte Petre folgt mit majestätischer Wucht – ein Aufruf an den Apostelfürsten, gestaltet als Hommage an die Kirche selbst.
Die mittleren Abschnitte – Propitius esto, Ab ira tua und Peccatores – zeigen die volle Spannweite von Zelenkas Ausdruckswelt. In Propitius esto fleht der Chor um göttliche Nachsicht, während Ab ira tua als Tenorarie den Zorn Gottes in drängenden, aufwärtsstrebenden Linien beschwört. Peccatores, ein Ensemble für Alt, Tenor, Bass und Chor, gehört zu den emotionalen Höhepunkten der Komposition: Hier verdichten sich Schmerz, Buße und Hoffnung zu einem einzigen musikalischen Atemzug.
In Ut nos ad veram gestaltet Zelenka ein ergreifendes Trio für Bass, Sopran und Alt – eine innige Bitte um wahre Heiligkeit, die den meditativen Kern der Litanei bildet. Das anschließende dreifache Agnus Dei (I–III) krönt das Werk mit einem monumentalen architektonischen Schluss. Der erste Satz bringt den Chor in feierlicher Harmonie zusammen, der zweite entwickelt sich zu einer kunstvollen Fuge, und das abschließende Agnus Dei III, wiederum als Doppelfuge, bündelt alle Themen zu einer grandiosen Finalstruktur. Dieses Schlussgebäude, von fast mathematischer Klarheit, ist Zelenka in seiner reinsten Form: strahlend, diszipliniert, tief bewegt – eine theologische und musikalische Synthese von Glauben und Kunst.
Die Litaniae Omnium Sanctorum zeigen, wie Zelenka in seinen mittleren Dresdner Jahren eine Synthese aus italienischem Stil, böhmischer Frömmigkeit und kontrapunktischer Gelehrsamkeit erreichte. Es ist Musik, die den Hörer nicht nur beeindruckt, sondern ergreift – eine Klangarchitektur, die wie ein Gebet aus Licht gebaut scheint.
Empfohlene Einspielung:
Jan Dismas Zelenka – Magnificat, Sacred Compositions for Soloists, Chorus and Orchestra,
Pražský filharmonický sbor, Leitung: Lubomír Mátl (1934–2018),
Label: SUPRAPHON, Aufnahme von 1985, digital restauriert und 1997 neu herausgegeben.
Diese Aufnahme verbindet klare Linienführung mit einer tief empfundenen geistlichen Atmosphäre. Der Prager Philharmonische Chor und Lubomír Mátl verleihen Zelenkas Litanei jene Mischung aus barocker Glorie und kontemplativer Wärme, die ihr innerstes Wesen ausmacht: ein Werk, das nicht nur erklingt, sondern betet.
Litaniae Xaverianae, ZWV 154
(Litanei zu Ehren des heiligen Franz Xaver)
Diese Litaniae Xaverianae entstanden im Jahr 1723 in Prag, wo Zelenka sich im Rahmen der außergewöhnlich prunkvollen Feierlichkeiten aufhielt, die zur Krönung Kaiser Karls VI. (1685–1740) zum König von Böhmen am 12. September 1723 veranstaltet wurden. Prag war in diesem Jahr das Zentrum Europas: Für Wochen strömte der Adel aus dem ganzen Kontinent in die Stadt, und die Jesuiten bereiteten ein groß angelegtes Festprogramm vor, in dessen Mittelpunkt Zelenkas allegorisches Melodram Sub olea pacis et palma virtutis (ZWV 175) stand. Vor diesem Hintergrund dürfte die Komposition der Litanei ZWV 154 nicht nur liturgische Funktion gehabt haben, sondern auch als persönlicher Dank Zelenkas an die Prager Jesuiten für die außergewöhnliche Gelegenheit, sich vor einem internationalen Publikum von höchstem Rang präsentieren zu können.
Zelenka widmete den Heiligen Franz Xaver (1506–1552) – Missionar, Mitbegründer des Jesuitenordens und einer der zentralen Gestalten der katholischen Reform – mit besonderer Hingabe. Dem Komponisten war der Heilige nicht nur aus theologischer Verehrung nah, sondern auch aufgrund seiner eigenen lebenslangen Verbundenheit mit den Jesuiten, die seine Ausbildung prägten und sein Wirken sowohl in Prag als auch später in Dresden begleiteten. Insgesamt komponierte Zelenka drei Litanien und eine Messe zu Ehren Franz Xavers; innerhalb dieses Zyklus nehmen die Litaniae Xaverianae eine besondere Stellung ein. Sie entstanden nicht für die Dresdner Hofkirche, sondern für die Prager Jesuiten, und ihr Klang trägt unverkennbar den Charakter dieses Umfelds: festlich und strahlend, zugleich geprägt von tiefer innerer Sammlung.
https://www.youtube.com/watch?v=Azh_SDGR1E0&t=2073s
Schon der Eingangschor Kyrie eröffnet mit feierlichem Glanz. Nach einer imposanten Introduktion entfaltet sich eine kunstvolle Fuge „im alten Stil“ (stile antico), die auf eine frühere, heute fragmentarisch erhaltene Vertonung aus der Litaniae de Virgine Maria (ZWV 149) zurückgeht. Diese Verbindung von kontrapunktischer Strenge und festlichem Jubel zeigt den für Zelenka typischen Umgang mit Tradition und Erneuerung: die „Kirchengelehrsamkeit“ der Renaissance wird in barocke Klangpracht verwandelt.
Die Arie Pater de caelis, Deus für Tenor ist von virtuoser Beweglichkeit geprägt und zeichnet sich durch die klangliche Besonderheit aus, dass Violinen und Oboen unisono geführt werden – ein Effekt, der dem Satz ein helles, silbriges Leuchten verleiht. Der anschließende Chorsatz Sancte Francisce entfaltet sich mit energischem Gestus und rhythmischer Prägnanz, während Tuba resonas sanctus spiritus, eine Arie für Alt, den Heiligen Geist in aufwärtsstrebenden Linien und feierlichen Fanfaren beschwört.
Besonders bemerkenswert ist der Satz Fugator Daemonium, den Zelenka für drei Bass-Solisten komponierte – eine äußerst seltene und klanglich wuchtige Besetzung, die er später auch in seinem De profundis (ZWV 97) verwendete. Hier scheint die Macht des Heiligen Franz Xaver, der nach der Legende Dämonen vertreibt, in Klanggestalt zu treten: dunkle Register, energische Rhythmen, markante Intervalle – Musik von spiritueller Wucht.
Im Chor Gloria societatis Jesu erreicht das Werk seinen festlichsten Moment: eine musikalische Huldigung an den Orden der Jesuiten, deren Ideal der Gottesgelehrsamkeit und des Dienstes Zelenka sein Leben lang in besonderer Weise verkörperte. Die Arie Pauperime, castissime Xaveri bringt einen Moment demütiger Innigkeit, während Animarum et divini amoris ardor für Sopran den Glutkern dieser Litanei offenlegt: die brennende Liebe der Seele zu Gott. Das Werk endet mit einem machtvollen Agnus Dei, das in feierlicher Doppelfuge mündet – eine Apotheose des barocken Glaubens, der Vernunft und Verzückung zugleich kennt.
Instrumentation und Klangsprache machen deutlich, dass Zelenka das Werk für Musiker ersten Ranges schrieb: neben Streichern und Continuo finden sich zwei Clarinen (Barocktrompeten) und Pauken, die der Musik festlichen Glanz verleihen. Zugleich verrät der kompositorische Anspruch, dass Zelenka die besten Kräfte Prags im Sinn hatte – eine Musik für ein großes Ereignis, für ein gläubiges Publikum, aber auch für die Ewigkeit.
Die Litaniae Xaverianae sind damit nicht nur ein prachtvolles Bekenntnis zum Glauben, sondern auch ein klingendes Selbstporträt ihres Schöpfers: ein Musiker zwischen zwei Welten – zwischen Böhmen und Sachsen, zwischen Vernunft und Vision, zwischen dem irdischen und dem himmlischen Dienst.
Empfohlene Einspielung:
Jan Dismas Zelenka – Missa Charitatis ZWV 10 und Litaniae Xaverianae ZWV 154,
Ensemble Inégal, Leitung: Adam Viktora (* 1973),
Label: Nibiru, 2013.
Eine Aufnahme, die Zelenkas Musik in ihrer ganzen Spannweite hörbar macht: von der strengen, kontrapunktischen Architektur bis zur glühenden Expressivität. Viktoras Interpretation verbindet Präzision und Demut – eine musikalische Huldigung an den Komponisten, der wie Franz Xaver selbst im Dienst einer höheren Berufung stand.
Litaniae Xaverianae, ZWV 155
(Zweite Litanei zu Ehren des heiligen Franz Xaver)
Die Litaniae Xaverianae ZWV 155 entstanden im Dezember 1727 in Dresden und bilden Zelenkas zweite umfangreiche Vertonung einer Litanei zu Ehren des heiligen Franz Xaver (1506–1552). Während die frühere Prager Fassung ZWV 154 (1723) durch ihre festliche Pracht und repräsentative Funktion geprägt ist, zeigt ZWV 155 den Komponisten im Dienst der Dresdner Hofkirche, wo Franz Xaver als besonderer Patron der Kurfamilie und der Jesuiten verehrt wurde. Dass gleich mehrere Dresdner Komponisten der 1720er Jahre – Johann David Heinichen (1683–1729), Giovanni Alberto Ristori (1692–1753) und Tobias Butz († nach 1735) – Litaneien zu Ehren des Heiligen schufen, unterstreicht die Bedeutung dieses Kults. Doch keiner widmete ihm so viele eigenständige Kompositionen wie Zelenka: drei Litanien und eine Messe.
ZWV 155 zeigt Zelenka auf dem Höhepunkt seiner geistlichen Ausdruckskraft. Es handelt sich um ein Werk, das nicht primär durch äußeren Glanz überzeugt, sondern durch eine tiefe, geradezu meditative Durchdringung des Textes. Die häufig wiederkehrende Anrufung “ora pro nobis“ erhält hier eine besondere strukturelle Bedeutung: Zelenka setzt sie bewusst an Scharnierpunkte der Architektur, als ruhenden Pol inmitten einer Fülle von Heiligenanrufungen. Das Werk gewinnt dadurch eine innere Achse, die wie ein spiritueller Grundton durch die zwölf Abschnitte zieht.
Die Instrumentation ist typisch für Zelenkas mittlere Dresdner Phase: Streicher, Oboen und Continuo bilden den Kern; festliche Trompeten fehlen hier, wodurch die Komposition einen stärker kontemplativen Charakter erhält. Die Chor- und Solosätze wechseln in ausgewogener Proportion, und Zelenka nutzt die Stimmen nicht nur zur Deklamation, sondern als Klangsymbole für die jeweiligen Eigenschaften des Heiligen.
https://www.youtube.com/watch?v=KGemgvQkoPg
Der eröffnende Kyrie entfaltet eine feierliche Strenge und führt unmittelbar in die spirituelle Welt des Werkes. Der erste Sancte Francisce–Satz ist ein machtvoller Chorruf, gefolgt von dem eindringlichen Firmamentum, dessen tonale Schlichtheit eine fast pastorale Ruhe ausstrahlt.
Mit Fidelis Imitator, einer Tenorarie, wendet sich Zelenka der Nachfolge Christi zu – Franz Xaver als Modell des gelebten Glaubens. In Salus aegrotorum zeigt sich eine empfindsame, fast empfindsame (!) Linienführung, während Fugator daemonum erneut Zelenkas Vorliebe für das dunkle Bassregister offenbart: ein machtvoller, geradezu theatralischer Satz, der die dämonenvertreibende Kraft des Heiligen musikalisch greifbar macht. Diese Affektmusik – ein Markenzeichen Zelenkas – zeigt ihn als dramatischen Erzähler innerhalb liturgischer Formen.
Der zentrale Chorsatz Gloria societatis Jesu stellt, wie in ZWV 154, eine klingende Huldigung an die Jesuiten dar. Er hebt die Identität des Ordens hervor, der durch die Bekehrung Augusts des Starken (1670–1733) und seines Hofes 1697 in Dresden festen Einfluss gewann. In einem protestantischen Umfeld wie Sachsen war die Verehrung eines jesuitischen Missionars ein sichtbares Zeichen: Franz Xaver stand nicht nur für die katholische Mission, sondern auch für das Selbstverständnis der neugegründeten Hofkirche.
Die spätere Spiritualität des Werkes spiegelt sich in den besinnlichen Sätzen Pauperime, castissime Xaveri (für Alt und Chor) und Animarum et divini amoris ardor (für Sopran) wider: Musik, die in innerer Glut brennt, jedoch nie sentimental wird.
Die Struktur erfüllt ihren Höhepunkt in den drei letzten Sätzen:
- Sancte Francisce II, eine feierlich gesteigerte Wiederkehr der ersten Anrufung,
- der dichte Chorsatz In quo uno omnium,
- und das abschließende Agnus Dei I und II, das in einer kunstvollen Fuge endet, in der Zelenka den Bußcharakter der Litanei in reine Klangarchitektur verwandelt.
ZWV 155 zeigt Zelenkas Fähigkeit, Theologie und Musik zu verschmelzen: Die Litanei ist nicht bloß ein Werk der Verehrung, sondern eine geistliche Meditation, die durch Ton, Linie und Harmonie den Weg des Heiligen nachzeichnet.
Empfohlene Einspielung:
Jan Dismas Zelenka – Litaniae Xaverianae ZWV 155,
Ensemble Inégal, Leitung: Adam Viktora (* 1973),
aufgenommen 2010, Label NIBIRU.
Viktoras Interpretation verbindet analytische Klarheit mit spiritueller Tiefe und lässt Zelenkas subtile Klangsprache – in der geistliche Innigkeit, technische Meisterschaft und mutige Harmonik einander durchdringen – beispielhaft hervortreten.
Litaniae de Sancto Xaverio, ZWV 156
(Litanei zum heiligen Franz Xaver)
Die dritte und letzte Litanei, die Jan Dismas Zelenka dem heiligen Franz Xaver (1506–1552) widmete, entstand 1729 in Dresden – in jener entscheidenden Phase, in der der Komponist nach dem Tod Johann David Heinichens (1683–1729) de facto die musikalische Verantwortung der Hofkirche trug. ZWV 156 ist nicht nur der Abschluss einer kleinen Serie von drei Xaverius-Litaneien, sondern zugleich der innerlich reifste Beitrag: ein Werk von konzentrierter Ausdruckskraft, spiritueller Sammlung und vollendeter kontrapunktischer Meisterschaft.
Während die Prager Litanei ZWV 154 (1723) glanzvoll-festlichen Charakter trägt und die Dresdner ZWV 155 (1727) eine meditative Ausrichtung aufweist, steht ZWV 156 an der Schwelle zu Zelenkas großen Spätwerken. Die Musik wirkt hier zugleich ernster, gedankentiefer und stärker nach innen gekehrt. Der Heilige Franz Xaver erscheint nicht mehr primär als triumphierender Missionar oder dämonenvertreibender Wundertäter, sondern als geistliche Leitfigur eines betenden, zweifelnden, vertrauenden Menschen.
Die Instrumentation – ein Ensemble aus Streichern, Oboen und Basso continuo – ist bewusst schlank gehalten. Trompeten und Pauken treten zurück; das Klangbild wird transparenter, geistiger, fast kammermusikalisch. Zelenka setzt stärker auf Stimmen als auf äußere Effekte: Der Chor wächst zu einem liturgischen Organismus, der nicht repräsentiert, sondern betet.
https://www.youtube.com/watch?v=KjQoyo7bDd4&list=OLAK5uy_nV0p47nYQykvSTt7OBoKGeliYyaUOjok4&index=18
Die Litanei beginnt mit einem Kyrie, das – im Unterschied zu seinen Messen – nicht nach festlicher Größe strebt, sondern nach innerer Klarheit und ruhiger Würde. Der Satz ist durch jene leicht vorwärtsdrängende Motorik geprägt, die Zelenkas Handschrift unverwechselbar macht: ein stetiger Atem, der nicht rastet.
In den nachfolgenden Anrufungen des Heiligen entfaltet sich eine beeindruckende stilistische Vielfalt:
Sancte Xaveri erscheint in der ganzen Würde des Ordenspatrons, getragen von strenger, aber fließender Polyphonie.
In den solistischen Sätzen, insbesondere in den Arien für Alt und Tenor, zeigt Zelenka jene empfindsame Linienführung, die seine späteren Werke auszeichnet: schmale Intervalle, tiefe Affekte, ein bewusst reduzierter Klang, der die Stimme wie ein Gebet aus dem Inneren heraushebt.
Das Ensemble der Bass-Stimmen – eine Anspielung auf die „dämonenvertreibende“ Thematik früherer Litaneien – klingt hier nicht martialisch, sondern zurückhaltend ernst, fast pastoral.
Der zentrale Gedanke dieser Litanei aber ist Demut. In “Pauperime Xaveri“ verleiht Zelenka dem Motiv der Armut und Reinheit des Heiligen ein musikalisches Gesicht, das in seiner inneren Ruhe und Gelassenheit zu den eindringlichsten Momenten seines geistlichen Œuvres gehört. Die Musik zeichnet kein Bild äußerer Askese, sondern eine Haltung: den Heiligen als Vorbild der Selbsthingabe und Lauterkeit.
Wie in vielen späten Werken findet der Komponist im Agnus Dei zu einer Synthese aller stilistischen Mittel zurück. Die Linien verflechten sich mit größter Klarheit; die Musik wird zum meditativen Schlusspunkt, der nicht mit äußerem Jubel endet, sondern mit einem stillen Leuchten.
ZWV 156 ist damit die gereifteste, subtilste und innerlichste unter Zelenkas drei Xaverius-Litaneien – weniger ein Feststück als ein geistliches Porträt. Es ist die Musik eines Mannes, der nicht mehr für ein großes Publikum schreibt, sondern für den Altar, für die Andacht und für die Stille.
Empfohlene Einspielung:
Jan Dismas Zelenka – Missa Divi Xaverii ZWV 12 und Litaniae de Sancto Xaverio ZWV 156, Collegium 1704, Leitung: Václav Luks (*. 1970), Label: Accent, 2016 (Tracks 18–32).
Luks und sein Collegium 1704 erfassen den inneren Kern dieser Musik wie kaum ein anderes Ensemble: leuchtende Transparenz, präzise Stimmführung, ein organisches Verhältnis von Wort und Klang. Die Aufnahme macht deutlich, wie sehr Zelenkas späte Litaneien nicht nur Meisterwerke des Barock sind, sondern Dokumente einer tiefen, stillen Spiritualität – und damit zeitlose Kunst.
Sub tuum praesidium in g-Moll („Unter deinen Schutz und Schirm“), ZWV 157 (um 1730–1735)
Eine kurze Marienantiphon als geistliches Konzentrat: Bitte, Vertrauen und Trost in g-Moll
Unter den kleineren, doch geistlich besonders dichten Marienwerken Jan Dismas Zelenkas nimmt Sub tuum praesidium, ZWV 157, eine herausgehobene Stellung ein. Das Werk besteht aus drei musikalisch klar voneinander abgegrenzten, aber geistlich eng miteinander verwobenen Teilen, die gemeinsam eine kleine geistliche Dramaturgie entfalten: Bitte – Vertrauen – Vollendung. Das kurze Antiphon Sub tuum praesidium ist der älteste überlieferte Marienhymnus der Christenheit (3.–4. Jahrhundert), und Zelenka behandelt ihn entsprechend mit einer Mischung aus Verehrung, klanglicher Zurückhaltung und jener inneren Glut, die seine späten Sakralkompositionen auszeichnet.
Der erste Abschnitt, die Vertonung des eigentlichen Antiphons, steht in einem dunklen g-Moll, das Zelenka gern für Werke wählte, in denen Demut und flehentliche Bitte zentral sind. Die Musik öffnet sich mit einem Satz, der trotz seiner Kürze eine bemerkenswerte innere Spannung enthält: Die Stimmen treten mit fast scheuem Klang ein, als nähmen sie den uralten Text wie eine kostbare Reliquie in die Hände. Die Harmonik ist schlicht, aber keineswegs einfach; Zelenka webt kleine chromatische Wendungen ein, die den flehenden Charakter des „sub tuum praesidium confugimus“ deutlich hervorheben.
https://www.youtube.com/watch?v=ip_gX3yZAn0&list=OLAK5uy_nMGr4XKjkwZ5W74CDhCrE1TA-uTWwu2Z8&index=17
Im mittleren Abschnitt in c-Moll hellt sich das Klangbild merklich auf. Zelenka gestaltet den Teil „Sancta Dei Genitrix“ als innige, fast kammermusikalische Anrufung der Gottesmutter. Hier zeigt sich deutlich sein Gespür für vokale Linienführung: Die Stimmen umspielen einander in zarten Imitationen, als näherten sie sich im vertrauensvollen Gebet der Gestalt Mariens. Dieses Zentrum des Werkes wirkt wie ein Ruhepunkt – eine musikalische Ikone, getragen von milder Wärme und schlichtem Licht.
https://www.youtube.com/watch?v=_zQkcQv15WY&list=OLAK5uy_nMGr4XKjkwZ5W74CDhCrE1TA-uTWwu2Z8&index=22
Der abschließende Abschnitt in d-Moll bringt das Werk zu einer eindrucksvollen Apotheose. Zelenka steigert den Klang zu einer eindringlichen Bitte um Schutz und Fürbitte: „sed a periculis cunctis libera nos semper“. Die Musik wird energischer, der Satz gewinnt an Breite, und die kontrapunktische Arbeit zeigt die innere Kraft des Glaubens, der sich im Vertrauen auf die Gottesmutter stärkt. Besonders charakteristisch ist Zelenkas Fähigkeit, in wenigen Takten einen vollständigen geistlichen Bogen zu schlagen: von Dunkel und Bitte über Vertrauen zu einer hellen, fast triumphalen Gewissheit der Erhörung.
https://www.youtube.com/watch?v=heO1xnFHc8U&list=OLAK5uy_nMGr4XKjkwZ5W74CDhCrE1TA-uTWwu2Z8&index=27
Musikhistorisch lässt sich ZWV 157 in jene reife Phase einordnen, in der Zelenka in Dresden – ohne Kapellmeistertitel, aber weithin bewundert – eine Reihe kleinerer, hochverdichteter Marienwerke schrieb. Diese Kompositionen sind weder Gelegenheitsarbeiten noch Nebenwerke, sondern theologisch durchdrungene Klangminiaturen, in denen sich Zelenkas persönliche Frömmigkeit und seine meisterhafte kompositorische Erfahrung auf engstem Raum begegnen. Sub tuum praesidium ist eines der überzeugendsten Beispiele für diese späte, konzentrierte Tonsprache.
Text
Latein
Sub tuum praesidium confugimus,
Sancta Dei Genitrix.
Nostras deprecationes ne despicias in necessitatibus,
sed a periculis cunctis
libera nos semper,
Virgo gloriosa et benedicta.
Deutsch
Unter deinen Schutz und Schirm fliehen wir,
heilige Gottesgebärerin.
Unsere Bitten verschmähe nicht in unseren Nöten,
sondern erlöse uns jederzeit
von allen Gefahren,
du glorreiche und gebenedeite Jungfrau
Empfohlene Einspielung
Jan Dismas Zelenka – Sub tuum praesidium g-Moll, ZWV 157
Collegium 1704, Leitung: Václav Luks (* 1970)
Label: SUPRAPHON, aufgenommen 2014
Enthalten auf der CD Zelenka: Sanctus et Agnus Dei / Sub tuum praesidium, Tracks 17, 22 und 27.
Statio quadruplex, ZWV 158 („Vierfache Station“)
Die Statio quadruplex ZWV 158 gehört zu den selten aufgeführten geistlichen Kompositionen des späten Zelenka und ist ein Werk von eigenständiger Form, subtiler theologischer Symbolik und unverkennbarer persönlicher Handschrift. Bei der vierteiligen Statio handelt es sich nicht um eine liturgische Messe oder Vesper, sondern um eine meditative, an die katholische Passionsfrömmigkeit gebundene Folge von vier Stationen, die jeweils eine kurze Betrachtung über das Leiden Christi bündeln. Entstanden ist das Werk höchstwahrscheinlich in den frühen 1730er Jahren, als Zelenka die Verantwortung für einen erheblichen Teil der Kirchenmusik am Dresdner Hof trug und sich seine kontrapunktische Kunst zu größter Reife entfaltet hatte.
Die vier Stationen sind durchweg ausdrucksvoll, kompositorisch konzentriert und harmonisch kühn: keine Klangfülle, keine großen Chöre, sondern eine fast intime, kontemplative Andachtsmusik in der Tradition der barocken Passio-meditationes. Jede Station ist textlich knapp gehalten und konzentriert sich auf einen einzigen geistlichen Affekt: Klage, Bitte um Erbarmen, Betrachtung der Wunden und der Bitte um göttliche Hilfe. Darin ähnelt die Statio quadriplex den kurzen liturgischen Responsorien der Karwoche, doch Zelenka erweitert den Ausdrucksraum durch raffinierte Harmonik und motivische Arbeit.
Der Eröffnungssatz, Statio I: Domine Iesu Christe, zeichnet sich durch dunkle, spannungsvoll verschobene Harmonien aus, die Zelenkas unverwechselbare chromatische Handschrift zeigen. Die Musik wirkt wie ein vorsichtiges Tasten in der Dämmerung, als suche die Seele tastend nach Orientierung.
https://www.youtube.com/watch?v=es2lIgH9jx8&list=OLAK5uy_nsmTaK2Bx_BTm_bk4RnT4yXIqa2YtNMUs&index=2
Statio I – Domine Iesu Christe
Latein
Domine Iesu Christe, respice famulos tuos, quos pretioso sanguine tuo redemisti, et ne despicias opera manuum tuarum.
Deutsch
Herr Jesus Christus, schaue auf deine Knechte, die du mit deinem kostbaren Blut erlöst hast, und verachte nicht das Werk deiner Hände.
Die zweite Station, Parce mihi, Domine, ist intensiver, beinahe schmerzvoll, mit stark dissonanten Wendungen und einem flehentlichen Vokalsatz, der Zelenkas Fähigkeit zeigt, menschliche Zerbrechlichkeit in reine musikalische Gestalt zu übersetzen.
https://www.youtube.com/watch?v=bK7FqisavxU&list=OLAK5uy_nsmTaK2Bx_BTm_bk4RnT4yXIqa2YtNMUs&index=2
Statio II – Parce mihi, Domine
Latein
Parce mihi, Domine, nihil enim sunt dies mei. Quare me sic contristasti, et cur non dimittis me, ut paulisper consolari possim?
Deutsch
Erbarme dich meiner, Herr, denn nichts sind meine Tage. Warum hast du mich so betrübt, und warum lässt du mich nicht ein wenig frei, damit ich für kurze Zeit Trost finden kann?
Die dritte Station, O bone Jesu, ist der kontemplativste Abschnitt des Zyklus. Die Stimmen umkreisen einander in sanft schwebenden Linien, die Harmonik ist weniger hart, dafür schimmernd und innig. Hier begegnet uns der meditative Zelenka, der Meister des musikalischen Gebets.
https://www.youtube.com/watch?v=lA2j4GykAl4&list=OLAK5uy_nsmTaK2Bx_BTm_bk4RnT4yXIqa2YtNMUs&index=3
Statio III – O bone Iesu
Latein
O bone Iesu, miserere mei, quia peccavi nimis. Ad te levavi animam meam; in te confido: non confundar in aeternum.
Deutsch
O guter Jesus, erbarme dich meiner, denn ich habe schwer gesündigt. Zu dir habe ich meine Seele erhoben; auf dich vertraue ich: ich werde in Ewigkeit nicht zuschanden werden.
Die vierte Station schließlich, Libera me, Domine, führt das Werk zu einem intensiven Abschluss: ein flehender, drängender Satz, dessen innere Spannung kurz vor dem Ende beinahe schmerzhaft wird, bevor sich die Musik in einen stillen, ernsten Schluss hineinlöst. Man hört hier eine geistliche Kraft, die nicht nach äußerem Glanz strebt, sondern nach existenzieller Tiefe.
https://www.youtube.com/watch?v=z78iOaHQT1k&list=OLAK5uy_nsmTaK2Bx_BTm_bk4RnT4yXIqa2YtNMUs&index=4
Statio IV – Libera me, Domine
Latein
Libera me, Domine, de morte aeterna in die illa tremenda, quando caeli movendi sunt et terra; dum veneris judicare saeculum per ignem.
Deutsch
Befreie mich, Herr, vom ewigen Tod an jenem furchtbaren Tage, wenn Himmel und Erde erzittern, wenn du kommen wirst, die Welt durch Feuer zu richten.
In dieser Einspielung des Ensemble Inégal unter Adam Viktora (* 1973) erscheinen alle vier Stationen transparent und streng zugleich, mit einer Klarheit, die Zelenkas kontrapunktische Linienführung besonders hervorhebt. Die Aufnahme (Nibiru 2025) setzt auf eine fast kammermusikalische Balance und lässt die expressive Harmonik plastisch hervortreten. Dadurch wird die Statio quadruplex zu einem der bewegendsten und persönlichsten Werke in Zelenkas Spätstil.
Dixit Dominus, ZWV 66 (um 1725)
Zelenkas Vertonung des Psalms Dixit Dominus ZWV 66 entstand um das Jahr 1725, als er seinen ersten Zyklus der Psalmi Vespertini für den Dresdner Hof zusammenstellte – ein Projekt, das ihn zu einigen der ausdrucksstärksten und zugleich architektonisch kühnsten Psalmvertonungen seiner gesamten Laufbahn führte. Das Werk zeigt den Komponisten auf dem Höhepunkt seines kompositorischen Denkens: kontrapunktisch überlegen, harmonisch wagemutig, strukturell streng und zugleich dramatisch aufgeladen.
https://www.youtube.com/watch?v=Qh_tXrdG4Qs
Der Eingangssatz „Dixit Dominus Domino meo“ ist durchkomponiert und spannt einen großen Bogen zwischen Anfang und Ende, indem er das gleiche thematische Material als architektonische Klammer verwendet. Zelenka greift dabei auf den cantus firmus der gregorianischen Psalmtonart zurück, den er im Sopran verankert, während Alt, Tenor und Bass in dichter Imitation darum kreisen. Die Satztechnik erinnert an die groß angelegten Choralphantasien des jungen Johann Sebastian Bach (1685–1750), ohne jedoch an barocke Choralmystik gebunden zu sein – bei Zelenka entsteht daraus ein ernstes, fast monumentales Klangrelief.
Der zweite Satz „Virgam virtutis“ öffnet den Raum zu einer mehrteiligen, konzertierenden Struktur, in der Solosopran, Alto und Bass mit dem Chor abwechseln. Die Textzeile „dominare in medio inimicorum tuorum“ erhält eine eindringliche Refrainform, mit der der Chor in regelmäßigen Abständen den Machtanspruch Gottes über seine Feinde bekräftigt. Typisch für Zelenka ist der starke Kontrast zwischen der innigen Soloführung und den machtvollen chorischen Einschüben, die in ihrer rhetorischen Direktheit an venezianische Mehrchörigkeit erinnern, allerdings in einer strenger gefügten, quasi architektonischen Dresdner Ausprägung.
Den dramatischen Kern des Werkes bildet der dritte Satz „Iudicabit in nationibus“. Hier entfaltet Zelenka eine der für seine Psalmen typischen „Szenen“ – musikalische Episoden, in denen verschiedene Affekte, Tempi und Ausdrucksweisen unmittelbar aufeinandertreffen. Große Pausen, drastische Tempowechsel, metrische Verschiebungen, der Einsatz des stile concitato, kurze fugierte Abschnitte und harmonisch verblüffende Fortschreitungen erzeugen einen musikalischen Mikrokosmos, der den apokalyptischen Charakter des Textes eindrucksvoll hörbar macht. Die Worte „conquassabit capita in terra multorum“ („er wird die Häupter vieler auf der Erde zerschmettern“) erhalten eine fast visionäre Kraft, ohne in bloßen Effekt abzugleiten – Ausdruck einer tiefen, zugleich künstlerisch sublimierten Geistlichkeit.
Im vierten Satz „De torrente in via bibet“ tritt der Tenor als Solist hervor. Der Satz ist deutlich intimer gehalten: ein meditatives, fast kontemplatives arioso, das den prophetischen Text in ein ruhiges, von langen Linien getragenes Klangbild übersetzt. Die melodische Führung ist dabei typisch für Zelenkas späten Stil – expressiv, voller innerer Spannung, oft überraschend chromatisch gefärbt, aber nie sentimental.
Der abschließende Chor „Sicut erat in principio“ nimmt das Material des Anfangssatzes wieder auf und schließt den Psalm in einer strengen, machtvollen Doxologie. Durch die Wiederkehr der Eröffnungsthemen erhält das Werk eine zyklische Einheit, die in den Psalmi Vespertini I so häufig begegnet: Liturgische Zeit und musikalische Struktur greifen ineinander, als bilde der Psalm eine geistliche Architektur aus Klang.
Deutscher Text zu „Dixit Dominus“ (Psalm 110 / Vulgata 109 und liturgischer Doxologie)
Der Herr sprach zu meinem Herrn:
Setze dich zu meiner Rechten,
bis ich deine Feinde
zum Schemel deiner Füße lege.
Den Stab deiner Macht
sendet der Herr von Zion:
Herrsche
inmitten deiner Feinde.
Dein ist die Herrschaft
am Tage deiner Macht,
im heiligen Glanz;
aus dem Schoß der Morgenröte
habe ich dich gezeugt.
Der Herr hat geschworen,
und es wird ihn nicht gereuen:
Du bist Priester auf ewig
nach der Ordnung Melchisedechs.
Der Herr zu deiner Rechten
zerschmettert Könige
am Tage seines Zornes.
Er richtet unter den Nationen,
häuft die Gefallenen,
zerschmettert die Häupter
über weitem Gefilde.
Aus dem Bach am Wege
wird er trinken;
darum
wird er sein Haupt erheben.
Ehre sei dem Vater
und dem Sohn
und dem Heiligen Geist,
wie im Anfang,
so auch jetzt und allezeit
und in Ewigkeit.
Amen.
Eine Besonderheit der Handschrift ist die am Schluss eingetragene Widmung. Zelenka verwendet sonst fast immer die Formel „A M D G V M OO SS H AA P I R“ (Ad Majorem Dei Gloriam; Virgini Mariae; Omnibus Sanctis honor; Augustissimo Principi in reverentia). In diesem Psalm jedoch steht die abweichende Inschrift „Laus Deo V M OO SS semper“ („Lob sei Gott, der Jungfrau Maria und allen Heiligen – allezeit“). Diese Änderung legt nahe, dass das Werk nicht im Auftrag eines Hofpatrons, sondern aus eigener Inspiration entstand – ein seltener und aufschlussreicher Hinweis auf Zelenkas persönliche Frömmigkeit und seine Bindung an die Psalmen als geistliche Ausdrucksform.
CD Vorschlag:
Jan Dismas Zelenka, Psalmi Vespertini I, Ensemble Inégal, Leitung Adam Viktora (* 1973), Nibiru, 2025, Tracks 1–5
Dixit Dominus in C-Dur, ZWV 67 (um 1728)
In diesem kurzen, einteiligen Psalm setzt Jan Dismas Zelenka den Text „Dixit Dominus“ in einer konzentrierten, nur knapp vierminütigen Komposition um, die gleichwohl seine Handschrift unverkennbar trägt. Das in C-Dur stehende Werk entstand um 1728 und gehört zu den sogenannten „Psalmi varii“, also einzeln überlieferten Psalmvertonungen, die unabhängig von den großen Vesperzyklen komponiert wurden. Trotz des geringen Umfangs entfaltet Zelenka eine bemerkenswerte Dichte: Der Satz ist durchkomponiert, verzichtet auf großflächige Architektur und wirkt eher wie eine straffe musikalische Inschrift des Psalmwortes.
https://www.youtube.com/watch?v=PKr66UvocIs
Der Anfang „Dixit Dominus Domino meo“ ist unmittelbar energisch, mit markanten Gesten und einem lebendigen, syllabischen Zugriff auf den Text. Die polyphonen Einsätze der Stimmen sind eng verzahnt, die Harmonik bleibt typisch für Zelenka leicht gespannt, mit kurzen Ausweichungen und expressiven Wendungen, ohne je in Breite zu geraten. Man spürt, dass der Komponist hier eine klare Priorität setzt: kein ausuferndes Drama, sondern eine komprimierte, prägnante Deutung der göttlichen Autorität, die der Psalm besingt.
Auch in der weiteren Auslegung – „Virgam virtutis tuae emittet Dominus ex Sion“, „Tecum principium in die virtutis tuae“, „Juravit Dominus“ – arbeitet Zelenka mit knappen motivischen Bausteinen, die die wichtigsten Worte hervorheben und dabei den Satz in ständiger Bewegung halten. Kurze imitative Passagen und homophone Verdichtungen wechseln sich ab, so dass aus dem Miniaturformat nie Monotonie, sondern eine kleine Abfolge von Energieverdichtungen entsteht. Am Schluss fügt sich die Gloria-Doxologie „Gloria Patri et Filio…“ organisch in den Satz ein; sie erscheint nicht als Anhängsel, sondern als selbstverständlicher liturgischer Abschluss des komprimierten Psalmgesangs.
In der Aufnahme mit Ensemble Inégal unter Adam Viktora wirkt dieses kleine „Dixit“ wie ein leuchtender Kern innerhalb des Programms: Transparent musiziert, rhythmisch präzise, mit hellem, beweglichem Chorklang zeigt es eindrücklich, wie viel Zelenka selbst in einem kurzen Psalm an Ausdruck, Profil und geistlicher Spannung zu konzentrieren vermag.
Am Ende der Partitur steht – wie häufig bei Zelenka – das vertonte „Gloria Patri, et Filio, et Spiritui Sancto…“, gefolgt von der Formel „Sicut erat in principio, et nunc, et semper, et in saecula saeculorum. Amen“, die das Werk in der liturgischen Zeit verankert und zugleich den kurzen Bogen des Stücks schließt.
CD-Vorschlag:
Jan Dismas Zelenka: Psalmi varii, Ensemble Inégal, Prague Baroque Soloists, Leitung Adam Viktora (* 1976), Nibiru 2018 (Track 6)
Dixit Dominus in D-Dur, ZWV 68 (1726)
Dixit Dominus ZWV 68 ist die festlichste und klangprächtigste der drei erhaltenen „Dixit“-Vertonungen, die Zelenka im Rahmen seiner großen Vesperprojekte komponierte. Entstanden 1726, also in der intensivsten Phase seiner Arbeit an den Psalmi Vespertini, ist diese D-Dur-Vertonung durch ihren Glanzcharakter, ihre energische Rhythmik und ihren strahlenden Bläserapparat geprägt. Zelenka setzte hier Trompeten und Pauken ein – ein eindeutiges Zeichen dafür, dass das Werk für einen besonders hohen liturgischen Anlass bestimmt war.
https://www.youtube.com/watch?v=6KXwhCJq0Rw&list=OLAK5uy_l_m8z8kILN73spAQhDKCmxwl5b5dvSlf0&index=2
Bemerkenswert ist, dass das Werk nicht vollständig im Autograph überliefert ist, sondern nur in einzelnen Stimmen. Gleichwohl zeigt die erhaltene Partitur eindrucksvoll, wie Zelenka festliche Musik nicht zur äußerlichen Prachtentfaltung nutzt, sondern als theologische Aussage formt: Die königliche Macht Gottes wird hier nicht nur beschrieben, sondern in Musik „übersetzt“. Der Glanzcharakter von D-Dur, die Fanfarenmotive der Trompeten und die scharf gezeichneten Rhythmen der Streicher verleihen dem Psalmtext eine fast majestätische Monumentalität.
Das Werk umfasst drei Sätze, die eng miteinander verbunden sind. Besonders reizvoll ist die Beobachtung, dass eine charakteristische Figur des Schluss-Amen in einem weiteren Psalm der gleichen Werkgruppe wiederkehrt, nämlich im Laetatus sum ZWV 88, der ebenfalls um 1726 entstand. Diese thematische Verzahnung zeigt, dass Zelenka den Zyklus der Psalmi Vespertini nicht als lose Sammlung komponierte, sondern als organisch zusammenhängende musikalische Architektur.
Trotz der festlichen Besetzung bleibt Zelenkas Handschrift deutlich erkennbar: pointierte Dissonanzen, energische Fugati, unerwartete harmonische Wendungen und ein dramatisches Gespür für Spannung und Entladung. Der strahlende, rhythmisch profilierte Anfangssatz steht im Kontrast zu dem beweglichen, polyphon gefügten Mittelsatz, bevor das groß angelegte, intensiv gearbeitete Amen das Werk zu einem kraftvollen Abschluss führt.
CD-Vorschlag:
Jan Dismas Zelenka, Geistliche Werke für Soli, Chor und Orchester,
Capella Piccola – Barockorchester Metamorphosis Köln,
Leitung: Thomas Reuber (* 1953), Bella Musica Edition, 1997
Tracks 1–3
Dixit Dominus, ZWV 69
Zelenkas Dixit Dominus ZWV 69 entstand vermutlich um 1728, im Rahmen des dritten Zyklus seiner Psalmi Vespertini, der die letzten Jahre seiner intensiven Arbeit an den Vesperpsalmen markiert. Das Werk steht in F-Dur und war ursprünglich als repräsentativer Eröffnungspsalm eines liturgischen Zyklus konzipiert, doch die musikalische Überlieferung ist unvollständig: Teile der Stimmen fehlen, und eine komplette, aufführbare Partitur ist bis heute nicht rekonstruierbar. Diese lückenhafte Quellenlage erklärt, warum es keine einzige moderne Einspielung des Werks gibt – weder auf CD noch in digitalen Archiven oder in privaten Live-Mitschnitten. Stilistisch dürfte ZWV 69 zu den festlicheren Psalmen gehört haben, da F-Dur mit hellen Klangfarben, Trompeten und Pauken häufig für repräsentative Anlässe im Dresdner Hof verwendet wurde, und Zelenka in diesen Jahren gerade seine monumentalsten Vesperkompositionen schuf. Die Tatsache, dass das Werk im Autographen nicht vollständig überliefert ist, zeigt, dass Teile des Materials möglicherweise verlorengingen, bevor Zelenka seine Psalmenzyklen endgültig ordnete. Dadurch zählt ZWV 69 heute zu den „verschollenen“ Psalmvertonungen, die zwar im Werkverzeichnis geführt werden, aber praktisch nicht aufführbar sind.
Confitebor tibi Domine in D-Dur, ZWV 70 (1728)
Zelenkas Confitebor tibi Domine ZWV 70 ist das erste vollständig erhaltene Werk des dritten Zyklus Psalmi Vespertini, den der Komponist im Jahr 1728 für den Dresdner Hof begann. Geschrieben in D-Dur, gehört diese dreisätzige Vertonung zu seinen geschlossensten und zugleich farbenreichsten Psalmbearbeitungen, in denen sich kontrapunktische Meisterschaft, orchestrale Farbgebung und rhetorische Textausdeutung zu einer beeindruckenden Einheit verbinden.
https://www.youtube.com/watch?v=pK2e3K2Qx70&list=OLAK5uy_m2hcVB1-Qwk6YLC4xOwskDiV2vvuv6TPI&index=3
Der eröffnende Großsatz, der Psalmtext und die gesamte Doxologie umfasst, ist durchkomponiert und in fünf klaren, aber fließend ineinandergreifenden Abschnitten gestaltet. Ein prägnantes Ritornell mit drei markanten Motiven kehrt in verschiedenen Tonarten wieder und verleiht dem gesamten Satz eine architektonische Geschlossenheit von großer innerer Spannung. Besonders auffällig ist Zelenkas Versuch, Hell-Dunkel-Kontraste (chiaroscuro) zu erzeugen: orchestrale Tutti und solistisch reduzierte Streicherpartien wechseln sich in unmittelbarer Nähe ab – ein Effekt, der dem Klangbild eine besondere räumliche Tiefe verleiht. Die wiederholte Ausdeutung einzelner Worte wie „tibi, tibi, tibi Domine“ steigert die rhetorische Intensität und verleiht dem Psalm eine fast meditativ glühende Ausdruckskraft.
Der zweite Satz, „Redemptionem misit“, beginnt in vollstimmiger Vierstimmigkeit des Chores, bevor ein kurzer Moment der Stille zu einem emphatischen Ausruf des Wortes „Sancta“ führt. Die anschließenden Sechzehntelketten auf „et terribile nomen ejus“ wirken wie ein aufblitzender Klangstrom. Was zunächst wie eine Fuge erscheint, entpuppt sich als kunstvoller Kanon, der sich schließlich von einem kurzen Basssolo lösen darf, ehe der Chor wieder übernimmt und den Satz in würdiger Geschlossenheit beschließt.
Der dritte Satz, ein großes „Amen“, ist eine vierstimmige Fuge, die sich über einem Ostinato-Bass erhebt – ein Verfahren, das in Zelenkas Psalmen einzig dasteht. Das gleichbleibende Fundament verleiht dem Schluss eine erdende Kraft, während die fugierten Oberstimmen in stetiger Bewegung eine finale Steigerung bewirken. So schließt das Werk mit einem eindrucksvollen Bekenntnis, das musikalisch wie theologisch den Psalm vollendet.
Deutscher Text (Psalm 111 einschließlich der Gloria-Doxologie)
Ich will dem Herrn danken
von ganzem Herzen,
im Kreis der Frommen
und in der Gemeinde.
Groß sind die Werke des Herrn,
kostbar allen,
die an ihnen Gefallen haben.
Hoheit und Pracht ist sein Tun,
und seine Gerechtigkeit
besteht für immer.
Ein Gedächtnis seiner Wunder
hat er gestiftet;
gnädig und barmherzig
ist der Herr.
Speise gibt er denen,
die ihn fürchten;
seines Bundes gedenkt er
auf ewig.
Die Kraft seiner Taten
hat er seinem Volk verkündet,
um ihm das Erbe
der Völker zu geben.
Die Werke seiner Hände
sind Wahrheit und Recht,
zuverlässig
all seine Gebote.
Sie stehen fest
für immer und ewig,
gegründet
auf Wahrheit und Recht.
Erlösung hat er seinem Volk gesandt,
für immer hat er seinen Bund bestimmt;
heilig und furchtgebietend
ist sein Name.
Die Furcht des Herrn
ist Anfang der Weisheit;
klug sind alle,
die danach handeln.
Sein Ruhm bleibt
für immer bestehen.
Ehre sei dem Vater
und dem Sohn
und dem Heiligen Geist,
wie im Anfang,
so auch jetzt und allezeit
und in Ewigkeit.
Amen.
Die Aufnahme des Ensemble Inégal unter Adam Viktora betont die Transparenz der Linien, die Präzision der Fugenteile und die dynamischen Kontraste, die für die Dramatik dieser Vertonung entscheidend sind. Die Interpretation zeigt die ganze farbliche und geistige Feinheit dieses Psalmtextes, der hier als geschlossenes, blühendes Klanggebäude erscheint.
CD Vorschlag:
Jan Dismas Zelenka, Psalmi Vespertini III, Ensemble Inégal, Leitung Adam Viktora (* 1973), Nibiru, 2018, Tracks 3–5
Confitebor tibi Domine in c-Moll, ZWV 71 (um 1728)
ZWV 71 ist eine der eindrucksvollsten kurzen Psalmvertonungen aus Zelenkas später Dresdner Zeit. Das Werk gehört zu den Stücken, mit denen der Komponist gegen Ende der 1720er Jahre sein kompositorisches Denken verdichtete: Klarheit, rhetorische Präzision und eine innere Glut, die auch in scheinbar kleinen Besetzungen eine erstaunliche Wirkung entfaltet. Confitebor tibi Domine ZWV 71 ist zweigeteilt – I Confitebor und II Memoriam – und verbindet meditative Schlichtheit mit einem feinen Gespür für Textausdeutung. Die Musik wirkt wie ein konzentrierter Ausdruck persönlicher Frömmigkeit: kein großes architektonisches Konzept, kein monumentaler Apparat, dafür eine subtile Dramaturgie und eine stille, ernste Schönheit.
I. Confitebor („Ich will dich preisen“)
Der erste Teil beginnt in c-Moll mit einem ruhigen, beinahe kontemplativen Satz, dessen Linienführung aus langen, weich verbundenen Melodiebögen besteht. Zelenka legt den Schwerpunkt auf die Worte „Confitebor tibi Domine in toto corde meo“ und schafft eine Atmosphäre demütiger Hingabe. Die Harmonik ist charakteristisch gesättigt, mild chromatiziert und bewegt sich mit jener feinen inneren Spannung, die Zelenkas Spätstil auszeichnet. Die Stimmen greifen behutsam ineinander, ohne große kontrapunktische Verdichtung, doch stets mit jener Klarheit, die den Psalmtext nicht nur trägt, sondern ihm eine stille Leuchtkraft verleiht. Es ist ein Abschnitt voll demütiger Dankbarkeit – ernst, gesammelt, unaufdringlich und zugleich eindringlich.
https://www.youtube.com/watch?v=19O-Xw6uwPE&list=OLAK5uy_mixq_BFXtCc7KIv16hMYAnujGtzdPV1cs&index=5
II. Memoriam („Gedenken“)
Der zweite Teil, Memoriam, setzt einen deutlichen Kontrast: Die Musik wird lebendiger, leicht bewegter und aufhellend, fast wie ein inneres Aufleuchten. Der Text über das Gedächtnis der göttlichen Wundertaten wird mit einer Mischung aus eleganter Linearität und sanfter Steigerung ausgestaltet. Zelenka arbeitet mit repetierten, rhetorisch geschärften Gesten, besonders auf den Worten „memoriam fecit mirabilium suorum“. Die Musik öffnet sich, moduliert weiter, atmet freier – ein Moment geistlicher Erhebung, der von tiefer Ehrfurcht getragen ist. Am Ende fügen sich beide Teile durch die Gloria-Doxologie zu einem liturgischen Ganzen: Die feierliche Anrufung des dreifaltigen Gottes schließt das Werk in einem mild leuchtenden Klangraum, der den ernsten Beginn zu einem ruhigen, versöhnenden Ende führt.
https://www.youtube.com/watch?v=bJ-wyTHy_Y8&list=OLAK5uy_mixq_BFXtCc7KIv16hMYAnujGtzdPV1cs&index=6
Deutscher Text (Psalm 111 inkl. Gloria-Doxologie):
Ich danke dem Herrn von ganzem Herzen
im Kreis der Frommen, inmitten der Gemeinde.
Groß sind die Werke des Herrn;
alle, die sie lieben, erforschen sie gern.
Voll Majestät und Hoheit ist sein Tun,
und seine Gerechtigkeit bleibt für immer.
(Teil II - Memoriam )
Ein Gedächtnis seiner Wunder
hat er gestiftet;
gnädig und barmherzig ist der Herr.
Speise gab er denen, die ihn fürchten;
sein Bund bleibt in Ewigkeit.
Die Macht seiner Werke
hat er seinem Volk kundgetan
und ihnen das Erbe der Völker verliehen.
Die Werke seiner Hände sind Wahrheit und Recht;
all seine Gebote sind verlässlich,
sie stehen fest für immer und ewig,
geschaffen in Treue und in Gerechtigkeit.
Erlösung sandte er seinem Volk;
auf ewig bestimmte er seinen Bund.
Heilig und furchtgebietend
ist sein Name.
Die Furcht des Herrn
ist der Anfang der Weisheit;
klug handeln alle, die so leben.
Sein Ruhm hat Bestand
für immer und ewig.
Ehre sei dem Vater
und dem Sohn
und dem Heiligen Geist,
wie im Anfang,
so auch jetzt und allezeit
und in Ewigkeit.
Amen.
CD-Vorschlag:
Jan Dismas Zelenka – Lacrimae, Tomáš Šelc (* 1986) – Collegium Marianum
SUPRAPHON a.s., 2025, Tracks 5 und 6
Confitebor tibi Domine, ZWV 72
Jan Dismas Zelenka schrieb seine Vertonung von Confitebor tibi Domine ZWV 72 im Jahr 1723, also in einer Phase, in der er sich intensiv mit großdimensionierten Vesperpsalmen beschäftigte und seine kontrapunktische Kunst auf beeindruckende Weise entfaltete. Diese in D-Dur stehende Komposition gehört zu den umfangreicheren Fassungen des Psalms und ist in sechs Abschnitte gegliedert, die sich zu einem dramaturgisch schlüssigen Ganzen verbinden. Den Ausgangspunkt bildet ein ausgedehntes Ritornell, in dem zunächst Tenor und Bass hervortreten. Bereits in den ersten achtzehn Takten entfaltet Zelenka ein dichtes, ökonomisch gehandhabtes thematisches Material, das den weiteren Verlauf gleichsam durchzieht und ihm eine große innere Geschlossenheit verleiht. In dieser Einleitung zeigt sich exemplarisch, wie sparsam Zelenka mit seinen Motiven umgeht und wie wirkungsvoll er sie in unterschiedlichen Konstellationen wiederkehren lässt.
https://www.youtube.com/watch?v=YrvDuik7mwg
Ein erster Höhepunkt ist der Chorsatz auf den Worten „Fidelia omnia“. Hier dominiert ein überwiegend homophoner Satz, dessen Klarheit und Wucht jedoch durch kleine imitatorische Einsätze belebt werden. Die Violinen übernehmen eine wichtige Rolle als bewegtes, figuriertes Element, das den ruhigen Chorgrund gleichsam umspielt und auflädt. Unmittelbar daran schließt sich „Redemptionem misit“ an, nun für Sopran, obligate Violine, Streicher und Continuo. Die Solovioline tritt hier in den Vordergrund, nicht nur durch ihre energiegeladene barocke Rhythmik, sondern vor allem durch eine reiche Chromatik, die eine geradezu kammermusikalische Zwiesprache zwischen Sopran und Instrument ermöglicht. Stellenweise treten die Orchesterstimmen zurück, so dass Stimme und Violine wie in einem intimen Duett über einem zurückgenommenen Fundament stehen – eine jener typischen Zelenka-Momente, in denen die spirituelle Aussage des Textes in eine besonders empfindsame Klangsprache übersetzt wird.
Der Abschnitt „Sanctum et terribile“ stellt dem Hörer eine andere Seite des Komponisten vor: Hier arbeitet Zelenka mit besonders farbiger Harmonik und gezielt eingesetzten Klangschärfen, um den Text „heilig und furchtgebietend ist sein Name“ gleichsam lautmalerisch in Musik zu fassen. Durch chromatische Wendungen, überraschende Modulationen und dynamische Zuspitzungen entsteht eine eindrucksvolle Klanggestik, die Heiligkeit und Erschrecken in unmittelbarer Nähe erfahrbar macht. Die Steigerung dieses Abschnitts führt zu einem markanten Punkt – einem plötzlich einsetzenden Piano –, der zugleich den Übergang zu „Intellectus bonus“ vorbereitet. In diesem Teil entfaltet Zelenka eine rhythmisch sehr bewegte Anlage: Violinen und Oboen führen in enger Gemeinschaft und verleihen der Musik einen drängenden, vorwärtsdrängenden Puls, während der Chor den Text in einer Abfolge von aufsteigenden Tonleitern und Sequenzen singt, die durch große Intervallschritte und sogenannte „heptachordische“ Bewegungen geprägt sind. Das Ergebnis ist ein von innen heraus leuchtender, fast didaktisch strenger, aber zugleich lebendig pulsierender Satz, der den „guten Verstand“ des Gottesfürchtigen eindrucksvoll charakterisiert.
Nach einem kurzen instrumentalen Übergang folgt „Gloria Patri“, von Zelenka in dieser Fassung für drei Stimmen und Continuo gesetzt. Diese kammermusikalisch verdichtete, dreistimmige Doxologie ist ein typischer „Zelenkismus“: Immer wieder begegnet man in seinen Psalmvertonungen einem fast intimen, dialogisch geführten Gloria, das sich deutlich von den groß dimensionierten Chorsätzen davor absetzt und wie eine persönliche, konzentrierte Glaubensbekräftigung wirkt. Den Abschluss bildet eine glanzvolle Fugue über den Text „Et in saecula saeculorum“, zugleich ein letzter Beweis seiner kontrapunktischen Virtuosität. Über einem bewegten Orchesterfundament entfalten die Stimmen ein eng verflochtenes Fugengewebe, das den Blick in die Ewigkeit musikalisch ausdeutet: Die Stimmen greifen einander auf, überlagern sich, verdichten sich in kraftvollen Zusammentreffen und führen das Werk zu einem ebenso kunstvollen wie eindrucksvollen Schluss.
Diese vielgestaltige, architektonisch ausgefeilte Vertonung von Confitebor tibi Domine ZWV 72 zeigt Zelenka auf einem künstlerischen Höhepunkt und verbindet liturgische Funktion, theologische Tiefe und instrumentale Virtuosität in exemplarischer Weise. Sie gewinnt in der Einspielung mit dem Ensemble Inégal unter der Leitung von Adam Viktora (geb. 1973) besondere Klarheit und Plastizität: Die Transparenz der Stimmführung, die sorgfältige Artikulation des Chors und die lebendige, aber nie überhitzte Orchesterbegleitung lassen die einzelnen Abschnitte deutlich hervortreten und zugleich als geschlossenes Ganzes wirken.
CD-Vorschlag: Jan Dismas Zelenka, Psalmi Vespertini I, Ensemble Inégal, Leitung Adam Viktora (* 1973), Nibiru, 2005, Tracks 6 bis 13.
Confitebor tibi Domine in e-Moll, ZWV 73 in e-Moll (um 1728–1729)
Dieses Confitebor tibi Domine ZWV 73 gehört zu Zelenkas späten Psalmvertonungen und steht in engem Zusammenhang mit seinem dritten Zyklus der Psalmi Vespertini. Das Werk ist in e-Moll notiert und entstand wahrscheinlich Ende 1728 oder Anfang 1729, also in jener Phase, in der Zelenka als Hofkirchenkomponist in Dresden seine kompositorische Sprache noch einmal verdichtete und schärfte. Es handelt sich um eine vergleichsweise kurze, sehr energische Vertonung des Psalms Confitebor tibi Domine (Psalm 110 der Vulgata, Psalm 111 der hebräischen Zählung), die gleichwohl den ganzen Ernst und die innere Glut seiner großen Psalmenzyklus-Kompositionen in sich trägt.
Zelenka setzt hier auf ein durchkomponiertes Konzept ohne große Unterteilung in ausgedehnte Sätze: Die Musik folgt unmittelbar dem Verlauf des Textes, so dass der Psalm in einer einzigen, geschlossenen Bewegung entfaltet wird. Stockigt weist darauf hin, dass diese „kurze, feurige“ Vertonung als Gegenstück zu einem größeren Psalm derselben Zeit entstanden ist und sehr wahrscheinlich für die Knaben der Hofkapelle gedacht war – also für einen relativ schlanken, beweglichen Klangkörper, der schnelle Wechsel von Textaffekten und dynamischen Schattierungen bewältigen konnte.
https://www.youtube.com/watch?v=JCnmakByHN8
Die Besetzung ist trotz der Kürze reich: vier Solostimmen und Chor (SATB), zwei Oboen, zwei Violinen, Viola und Basso continuo bilden einen kompakten, aber farbigen Apparat. Die einleitenden Takte lassen die Streicher in lebhaften Figurationen auftreten, über denen die Stimmen mit deutlicher Textakzentuierung einsetzen; die Harmonik ist typisch für den späten Zelenka: immer wieder leicht scharf gewürzte Wendungen, überraschende Zwischentöne, ohne je ins Willkürliche zu kippen. Der Lobpreis des „großen Werkes des Herrn“ wird hier nicht in kontemplative Ruhe gelegt, sondern in drängende Bewegung – als ob Dank und Staunen nicht stillstehen könnten.
Charakteristisch ist auch in diesem Psalm die Verbindung von polyphonem Denken und rhetorischer Zuspitzung. Bestimmte Worte wie „mirabilia“ oder „redemptionem“ scheinen förmlich hervorzuspringen, sei es durch rhythmische Verdichtung, sei es durch plötzliche Aufhellung oder Verdunklung der Harmonie. Zelenka gelingt es in wenigen Minuten, einen Bogen zu schlagen vom persönlichen Bekenntnis („Ich will dich loben, Herr, von ganzem Herzen“) über die Erinnerung an Gottes Taten in Geschichte und Bund bis hin zur Ehrfurcht vor seinem „heiligen und furchtgebietenden Namen“. Dass das Werk nur rund vier Minuten dauert, macht es eher zu einer musikalischen Inschrift als zu einem großen Fresko – aber zu einer Inschrift von seltener Dichte und innerer Spannung.
In der Einspielung mit dem Ensemble Inégal unter der Leitung von Adam Viktora (* 1973) verbinden sich Zelenkas klangliche Strenge und seine expressiven Harmonien mit einem hellen, transparenten Ensembleklang und einem sehr beweglichen, textbewussten Zugriff. Gerade in diesem kurzen Psalm wirkt das besonders überzeugend: Man spürt den liturgischen Rahmen, aber ebenso den persönlichen Ton des Psalmisten, der aus dem Kreis der Gerechten heraus mit ganzer Seele dankt.
CD-Vorschlag: Jan Dismas Zelenka, Psalmi Varii separatim scripti, Ensemble Inégal, Leitung Adam Viktora, Nibiru, 2018, Track 9.
Confitebor tibi Domine, ZWV 74
Jan Dismas Zelenkas Confitebor tibi Domine ZWV 74 ist eine in den Quellen nachweisbare Psalmvertonung in G-Dur, die um 1726 entstanden ist, aber heute im Werkverzeichnis wird sie ausdrücklich mit dem Hinweis „Missing“ geführt.
Wahrscheinlich war dieses Confitebor für denselben liturgischen Rahmen gedacht wie die übrigen Psalmen der Dresdner Psalmi Vespertini-Zyklen, doch die Komposition selbst gilt als verschollen.
Laudate pueri, ZWV 78
Im Zelenka-Werkverzeichnis wird das Stück als geistliches Vokalwerk in der Tonart A, komponiert um 1726, geführt; zugleich steht dort ausdrücklich der Hinweis „Manuscript missing“, das heißt, die Partitur ist nicht mehr erhalten.
Laudate pueri, ZWV 79
Laudate pueri, ZWV 79 (a-Moll, ca. 1728) gilt in den wichtigsten Werkverzeichnissen als „missing" = Manuskript verschollen.
Laudate pueri, ZWV 80
Bei Laudate pueri, ZWV 80 handelt es sich um ein Vokalwerk in a-Moll, das Zelenka in seinem Inventar als Duett „a 2 Canto e Basso, Violini 2, Oboe 2, Traversa 1, Viola, Fagotto e Basso continuo“ notiert hat, vermutlich eine festliche, konzertante Psalmvertonung.
Die Autograph-Partitur ist jedoch verschollen, sodass weder eine moderne Edition noch eine Einspielung existieren; heute lässt sich das Werk nur noch als titel-, tonart- und besetzungsmäßig belegte, musikalisch verlorene Psalmkomposition erwähnen.
Laudate pueri, ZWV 81
Zelenkas Laudate pueri ZWV 81 ist ein festliches, strahlendes Psalmenstück in D-Dur, das um 1729 entstand und zu den eindrucksvollsten kleineren Vesperwerken des Komponisten gehört. Es ist für Tenorsolo, Trompete, zwei Violinen, Viola und Basso continuo besetzt und dauert etwa neun bis zehn Minuten; schon die Besetzung mit Trompete und hellem Streicherklang verrät den jubelnden Charakter des Lobpsalms. Anders als die großen, mehrteiligen Psalmenzyklen gestaltet Zelenka hier eine Art konzentrierten „Konzertpsalm“, in dem sich virtuose Vokallinien, instrumentale Brillanz und geistliche Rhetorik in kurzer Zeit zu großer Wirkung verdichten.
https://www.youtube.com/watch?v=Em5m_SYm-no&list=OLAK5uy_lQ2lUV0-s-oj2Z9LPI5ey7sqPQL8l-gQk&index=2
Der Beginn auf den Worten „Laudate pueri Dominum“ setzt den Tenor in unmittelbarem Dialog mit der Trompete: Die Stimme entfaltet eine bewegte, teilweise hochvirtuose Linie, während die Trompete die jubelnde Festlichkeit der Aufforderung zum Gotteslob unterstreicht. Der strahlende D-Dur-Raum, die Fanfarenformeln und die bewegten Streicherfiguren verleihen der Musik fast ein „Te Deum“-Kolorit im kleineren Maßstab. Zelenkas kontrapunktische Meisterschaft zeigt sich nicht nur in Verdichtungen des Satzes, sondern auch in der geschickten Verzahnung von Solo, Orchester und gelegentlichen chorischen Abschnitten (je nach Fassung), in denen das Lob Gottes wie eine liturgische Akklamation wirkt.
Besonders eindrucksvoll ist, wie Zelenka die einzelnen Bilder des Psalms in Klang überträgt: die Größe Gottes, der über den Himmeln thront, die Erniedrigten aus dem Staub erhebt und die Kinderlose zur fröhlichen Mutter macht. Chromatische Färbungen, dynamische Kontraste und eine fein austarierte Balance zwischen virtuoser Geste und inniger Frömmigkeit lassen diese Verse nicht als abstrakten Text, sondern als gelebtes Bekenntnis erscheinen. Im „Amen“ gewinnt der Satz noch einmal zusätzliche Spannkraft: Der Schluss wirkt wie ein konzentrierter, glänzender Nachhall des zuvor entfalteten Loblieds, ohne die Dimension einer großen Schlussfuge zu suchen – eher ein leuchtender Schlusspunkt unter einen festlichen, aber persönlich gefärbten Psalmenjubel.
In der Einspielung mit dem Ensemble Inégal unter Adam Viktora (* 1973) tritt all dies klar zutage: der schlanke, fokussierte Tenor, die hell artikulierte Trompete und die durchsichtige, zugleich energische Streicherbegleitung machen Zelenkas Laudate pueri zu einem idealen Beispiel dafür, wie sehr er auch in einem vergleichsweise kleinen Werk seine ganze stilistische Eigenart entfaltet.
Der deutsche Text lautet:
Lobet, ihr Knechte, den Herrn,
lobt den Namen des Herrn.
Der Name des Herrn sei gepriesen
von nun an bis in Ewigkeit.
Vom Aufgang der Sonne
bis zu ihrem Niedergang
sei gelobt
der Name des Herrn.
Hoch über allen Völkern
ist der Herr,
seine Herrlichkeit
ragt über die Himmel.
Wer ist wie der Herr, unser Gott,
der in der Höhe thront,
der hinabschaut in die Tiefe,
im Himmel und auf der Erde?
Der den Geringen
aus dem Staub emporhebt
und den Armen
aus dem Schmutz erhöht,
um ihn wohnen zu lassen
bei den Fürsten,
bei den Fürsten
seines Volkes.
Der die Kinderlose
im Hause wohnen lässt
als fröhliche Mutter
von Söhnen.
Ehre sei dem Vater
und dem Sohn
und dem Heiligen Geist,
wie im Anfang,
so auch jetzt und allezeit
und in Ewigkeit.
Amen.
CD-Vorschlag: Jan Dismas Zelenka, Psalmi Varii, Ensemble Inégal, Leitung Adam Viktora, Nibiru, 2018, Tracks 2 bis 4.
Laudate pueri Dominum, ZWV 82 in F-Dur
Jan Dismas Zelenka hat sein Laudate pueri Dominum ZWV 82 in F-Dur (um 1725, nach Psalm 113) im Rahmen des ersten Psalmi-Vespertini-Zyklus komponiert und hier eines seiner geschlossensten und zugleich persönlichsten Psalmwerke geschaffen. Die Anlage ist vergleichsweise kurz, aber von großer innerer Geschlossenheit. Zu Beginn steht ein sechstaktiges Unisono-Ritornell, das wie ein musikalisches Motto wirkt: aus dieser kurzen, prägnanten Wendung gewinnt Zelenka das Refrainmotiv, das der Solobass mit den Worten „Laudate pueri, laudate Dominum, laudate nomen Domini“ immer wieder anstimmt. Dieses Bass-Rufmotiv kehrt nicht nur als gesungene Kehrzeile wieder, sondern bildet zugleich die verbindende Instrumentalpassage im continuo – ein raffinierter Kunstgriff, der Einheit und Bewegung zugleich schafft.
https://www.youtube.com/watch?v=UMXHX55t1Tw
Die Psalmverse selbst werden überwiegend vom Chor beantwortet, der auf die wiederkehrenden Rufe des Basssolisten reagiert. So entsteht eine spannungsvolle Wechselrede zwischen individueller Stimme und „Gemeinde“, musikalisch gefasst als Wechsel von solistischem Bass und vielstimmigem Chor. Die Harmonik ist, wie so oft bei Zelenka, reich und gelegentlich überraschend: schattierte Modulationen, chromatische Wendungen und der Wechsel zwischen leuchtenden Durflächen und gedämpfteren Passagen schaffen einen ausgeprägten „Chiaroscuro“-Effekt, ohne dass der Satz seinen klaren Fluss verliert. Erst bei der Doxologie „Gloria Patri“ tritt der Bass in den Chor ein, wodurch der zuvor solistische Rufer nun hörbar in die Gemeinschaft der Preisenden aufgenommen wird – ein schlichter, aber theologisch wie musikalisch sehr beredter Zug.
Die Einspielung im Rahmen der CD „Jan Dismas Zelenka: Psalmi Vespertini I“ mit Ensemble Inégal und den Prague Baroque Soloists unter der Leitung von Adam Viktora (* 1973) bei Nibiru (2015) bringt diese Struktur besonders deutlich zur Geltung: der kernige, aber bewegliche Bass, der flexible, lebendige Chorklang und die klar gezeichnete Ritornellfigur im continuo machen aus diesem Laudate pueri ein kompaktes, leuchtendes Kleinod der barocken Vespermusik.
Deutscher Text
(inklusive Doxologie)
Lobet, ihr Knechte des Herrn,
lobet den Namen des Herrn.
Der Name des Herrn sei gepriesen
von nun an bis in Ewigkeit.
Vom Aufgang der Sonne bis zu ihrem Niedergang
sei gelobt der Name des Herrn.
Hoch über alle Völker ist der Herr,
seine Herrlichkeit überragt die Himmel.
Wer ist wie der Herr, unser Gott,
der so hoch thront,
der hinabschaut in die Tiefe,
im Himmel und auf der Erde?
Er richtet den Geringen auf aus dem Staub,
erhebt den Armen aus dem Schmutz,
um ihn sitzen zu lassen bei den Fürsten,
bei den Fürsten seines Volkes.
Er lässt die Kinderlose im Hause wohnen
als fröhliche Mutter von Kindern.
Halleluja.
Ehre sei dem Vater
und dem Sohn
und dem Heiligen Geist,
wie im Anfang,
so auch jetzt und allezeit
und in Ewigkeit.
Amen.
CD-Vorschlag: Jan Dismas Zelenka: Psalmi Vespertini I, Ensemble Inégal, Prague Baroque Soloists, Leitung Adam Viktora, Nibiru 2015, Track 4.
In exitu Israel, ZWV 83
(Nach Psalm 113 in der Vulgata / Psalm 114– in hebräischer Zählung)
Zelenkas In exitu Israel ZWV 83 gehört zu den leuchtenden Höhepunkten des ersten Psalmenzyklus, den der Komponist Mitte der 1720er Jahre für die Dresdner Hofkirche schrieb. Der Psalmtext – ein machtvoller Lobgesang auf den Auszug Israels aus Ägypten – bot ihm ein ideales Feld für musikalische Rhetorik, koloristische Kühnheit und bildhafte Darstellungskraft. Obwohl das Werk relativ kurz ist, besitzt es eine klare dramaturgische Architektur und eine ungewöhnliche Energie, die typisch für Zelenkas Vesperpsalmen ist. (Tracks 19–21):
https://www.youtube.com/watch?v=JwWU1OVETL8&list=OLAK5uy_k_dJDuOwMnDKYhaxowGegnvmD7kOt6PKM&index=19
Der eröffnende Abschnitt stellt den großen Exodus als feierlichen Triumphzug dar: Die Musik ist lebendig, pulsierend, mit deutlichen Anklängen an instrumentale Ritornellformen. Zelenka nutzt pointierte Synkopen, fugierte Einsätze und eine bewegte Harmonik, um die Entschlossenheit und Dynamik des Volkes Israel nachzuzeichnen. Schon in den ersten Takten wird spürbar, wie stark der Komponist die erzählende Spannung des Textes aufnimmt.
Besonders eindrucksvoll ist der Umgang mit den „Fluchtbildern“ des Psalms: Das Meer, das flieht, und der Jordan, der zurückweicht, werden durch rasche Figuren, überraschende melodische Wendungen und abrupt veränderte Texturen plastisch gezeichnet. Die Berge und Hügel, die „hüpfen wie Widder und Lämmer“, erscheinen in tänzerisch federnden Rhythmen – ein Beispiel für Zelenkas meisterhafte musikalische Bildkraft.
Der Mittelteil wirkt wie eine rhetorische Zuspitzung: Auf die Frage „Quid est tibi, mare…?“ antwortet die Musik mit dramatischen Kontrasten und schärfer gezeichneten Harmonien. Hier zeigt sich Zelenkas Fähigkeit, innerhalb weniger Takte eine fast theatralische Szene zu schaffen. Das Werk erhält dadurch eine narrative Spannung, die selbst in liturgischem Rahmen eine starke Wirkung entfaltet.
Der abschließende Gloria-Teil fügt sich organisch an, bleibt aber dennoch klar abgegrenzt. Zelenka setzt auf straffe kontrapunktische Arbeit, rhythmische Vitalität und einen Glanz, der diese Doxologie zu einem strahlenden Abschluss erhebt. Die Wiederaufnahme motivischer Elemente aus dem Anfang verleiht dem Werk zudem eine zyklische Geschlossenheit, wie sie in Zelenkas Vesperpsalmen häufig zu beobachten ist.
Deutscher Text
Als Israel aus Ägypten auszog,
das Haus Jakobs aus dem Volk der Fremden,
da wurde Juda sein Heiligtum
und Israel sein Reich.
Das Meer sah es und floh,
der Jordan wich zurück.
Die Berge hüpften wie Widder,
die Hügel wie junge Lämmer.
Was ist mit dir, du Meer, dass du fliehst,
und mit dir, Jordan, dass du zurückweichst?
Ihr Berge, dass ihr hüpft wie Widder,
ihr Hügel wie junge Lämmer?
Vor dem Angesicht des Herrn erzittere, du Erde,
vor dem Angesicht des Gottes Jakobs,
der den Felsen zum Wassersee wandelt
und harten Stein zur sprudelnden Quelle.
Ehre sei dem Vater und dem Sohn
und dem Heiligen Geist,
wie im Anfang, so auch jetzt und allezeit
und in Ewigkeit.
Amen.
In der Aufnahme des Ensemble Inégal unter Adam Viktora (* 1973) erklingt das Werk mit jener Mischung aus Klarheit, Präzision und innerem Feuer, die für dieses Ensemble charakteristisch ist. Der helle, kantable Chorklang und die energische Artikulation der Instrumentalisten machen die rhetorische Kraft und die tiefe Geistigkeit dieser Vertonung unmittelbar erfahrbar.
CD-Vorschlag
Jan Dismas Zelenka: Psalmi Vespertini I
Ensemble Inégal – Leitung Adam Viktora (* 1973)
Nibiru, 2015 – Tracks 19–21
In exitu Israel, ZWV 84, Psalm 113, vierteilig (1728)
Mit In exitu Israel ZWV 84 legte Jan Dismas Zelenka im Jahr 1728 seine zweite, deutlich knappere Vertonung des großen Auszugspsalms vor – ein Werk, das sich durch überraschende Konzentration, hohe formale Raffinesse und eine geistige Klarheit auszeichnet, die exemplarisch für seinen späten Stil steht. Obwohl der Psalm 113 in der liturgischen Verwendung aus 27 Versen und anschließender Doxologie besteht, fasst Zelenka den gesamten Text in nur 110 Takten und vier kompakten Sätzen zusammen. Das Resultat ist eine Mischung aus strenger Polyphonie, klanglicher Symbolik und liturgischer Schlichtheit, die unmittelbar ansprechend wirkt und dennoch höchste kompositorische Präzision erkennen lässt.
https://www.youtube.com/watch?v=WodiYB8jnkw&list=OLAK5uy_mTxUNohw_N6GY584Jw2l-LIMyen-JH0ts&index=19
Der erste Satz „In exitu Israel“ wirkt wie das Fundament des gesamten Werkes. Die Sopranstimmen tragen einen ruhig schreitenden cantus firmus, der auf einem transponierten tonus peregrinus basiert – jener archaischen Psalmformel, die traditionell mit Pilgerschaft, Exil und Gottes Führung in Verbindung steht. Alt, Tenor und Bass singen dazu mehrere Psalmverse in verdichteter, sogenannter „teleskopierter“ Technik: verschiedene Textteile erscheinen gleichzeitig in unterschiedlichen Stimmen, was eine faszinierende Überlagerung bildet, ohne die Textverständlichkeit zu verlieren. Unter diesem vokalen Gefüge liegt ein kontinuierlich wandernder Bass, der an den Wegcharakter des Psalmwortes erinnert.
Im zweiten Satz „Simulacra gentium“ entfaltet sich ein kontrastreiches, bewegtes Klangbild. Ein Ensemble aus SATB-Solisten, vierstimmigem Chor, Streichern, Oboen und Basso continuo belebt die Verse über die ohnmächtigen Götzenbilder der Heiden. Die Musik wirkt hier lebhaft, fast erzählerisch: kurze Motive wechseln einander ab, die Instrumente treten als farbige Vermittler auf, und der Chor reagiert flexibel mit homophonen und polyphonen Abschnitten. Die dramatische Energie dieses Satzes steht in klarem Kontrast zur stillen Würde des Beginns.
Der dritte Satz „Gloria Patri“ ist eine der kostbarsten Miniaturen in Zelenkas spätem Schaffen. Drei Solostimmen – Alt, Tenor und Bass – entfalten die Doxologie in einem symbolischen Dreiertakt, der die heiligste Dreizahl musikalisch widerspiegelt. Die harmonische Anlage ist schlicht und zugleich leuchtend, ein Moment konzentrierter Andacht, bevor der Schlussbogen des Werkes aufgespannt wird.
Dieser Bogen erscheint im vierten Satz „Sicut erat“, einer kunstvollen Rückkehr zum Anfang. Zelenka lässt den gesamten Eröffnungssatz wiederaufleben – jedoch in veränderter, veredelter Form, die den liturgischen Worten „wie im Anfang“ eine direkte musikalische Entsprechung gibt. Die Reprise ist nicht bloß Wiederholung, sondern eine geistliche Rückblende: Linien werden ausgeschmückt, Stimmführungen gestrafft, Text und Musik greifen an der Grenze zwischen Erinnerung und Erneuerung ineinander. Dadurch entsteht eine eindrucksvolle architektonische Einheit, die das Werk als Ganzes beschließt.
Anders als die ausgreifendere Version ZWV 83 ist dieses In exitu Israel stärker vokal geprägt und mit moderatem instrumentalen Aufwand ausgestattet – eine Anlage, die der Aufführung durch die Kapellknaben der Dresdner Hofkirche entgegenkam und den liturgischen Alltag berücksichtigte. Zugleich offenbart Zelenka hier eine Meisterschaft des konzentrierten Satzes, die ihrem Umfang weit überlegen ist: ein Psalm, in dem Form, Symbolik und Klang vollkommen miteinander verschmelzen.
CD-Vorschlag
Jan Dismas Zelenka – Missa Sancti Josephi; De profundis und In exitu Israel
Kammerchor Stuttgart und Barockorchester Stuttgart
Leitung Frieder Bernius (* 1947), Carus, 2018, Tracks 19–22
Lauda Jerusalem, ZWV 102
Unter den zahlreichen Psalmvertonungen von Jan Dismas Zelenka nimmt die kurze, aber auffallend konzentrierte Komposition Lauda Jerusalem ZWV 102 einen besonderen Platz ein. Das Autograph, ein sorgfältig notiertes Manuskript aus den späten 1720er-Jahren, bezeugt die Entstehung dieses Werkes um 1728, also in jener Phase, in der Zelenka für die Dresdner Hofkirche eine Reihe kleinerer, didaktisch und liturgisch nutzbarer Psalmvertonungen schuf. Der Charakter und die Besetzung weisen eindeutig darauf hin, dass dieses Stück für das Ensemble der Kapellknaben der Hofkirche bestimmt war, für das Zelenka regelmäßig eigene, technisch maßvolle, aber kompositorisch kunstvolle Werke schrieb.
Die Besetzung ist von einer bewusst schlanken Architektur geprägt: ein vierstimmiger Chor, dessen Sopran durch zwei Oboen colla parte gestützt wird, dazu ein dreistimmiger Instrumentalsatz aus unisono geführten Violinen, einer einzelnen Viola und dem continuo. Diese Instrumente entfalten während des gesamten Stückes ein charakteristisches semi-ostinato-Muster, das dem Werk seine innere Kohärenz verleiht und gleichsam als pulsierender Hintergrund dient, über dem die vokalen Linien frei und mit bemerkenswerter Textdeutlichkeit geführt werden. Trotz der Kürze und scheinbaren Einfachheit zeigt sich Zelenkas unverwechselbare Handschrift in der rhythmischen Vitalität, den subtilen harmonischen Wendungen und dem feinen Sinn für klangliche Balance zwischen Chor und Instrumenten.
https://www.youtube.com/watch?v=ITxgw-G_DCM
Die Vertonung ist durchkomponiert, sie folgt also nicht dem responsorialen Prinzip, sondern entfaltet den lateinischen Psalmtext in einem kontinuierlichen Fluss. Gerade diese Struktureinheit macht die Komposition zu einem kleinen, in sich ruhenden Klangtableau, das mit ökonomischen Mitteln große Wirkung erzielt. Ein Blick in die Überlieferungsgeschichte bekräftigt die Wertschätzung des Werkes: In der umfangreichen Sammlung des Prager Musikers Johann Adam Sehling (1710–1756) hat sich eine zeitnahe Abschrift in acht Stimmen erhalten. Daraus wissen wir, dass Lauda Jerusalem 1765, also zwanzig Jahre nach Zelenkas Tod, in der Wenzelskapelle des Prager Veitsdoms aufgeführt wurde. In einer der Stimmen findet sich die Randbemerkung bonus – ein knapper, aber beredter Hinweis darauf, dass dieses Werk weiterhin geschätzt und bewusst ausgewählt wurde.
Auf der CD Psalmi Varii mit dem Ensemble Inégal und den Prague Baroque Soloists unter der Leitung von Adam Viktora (* 1973), erschienen 2018 bei Nibiru, präsentiert sich Lauda Jerusalem ZWV 102 als eine luzide, strahlende Miniatur, deren disziplinierte Textur und innere Ruhe den geistlichen Gehalt von Psalm 147 auf bemerkenswerte Weise verdichten. Die Aufnahme zeigt Zelenka als Meister der Reduktion: Die Musik ist durchsichtig, präzise und doch voll innerer Spannung – ein Beispiel jener Kunst, mit der Zelenka selbst kleinformatige liturgische Stücke in vollkommen abgerundete, unverwechselbare Klanggebilde verwandelte.
Lateinischer Text (Psalm 147, 12–20)
für Zelenkas Vertonung Lauda Jerusalem, ZWV 102
(in vollständiger, liturgischer Vulgata-Fassung)
Lauda, Jerusalem, Dominum;
lauda Deum tuum, Sion.
Quoniam confortavit seras portarum tuarum;
benedixit filiis tuis in te.
Qui posuit fines tuos pacem,
et adipe frumenti satiat te.
Qui emittit eloquium suum terrae;
velociter currit sermo eius.
Qui dat nivem sicut lanam;
nebulem sicut cinerem spargit.
Mittit crystallum suam sicut buccellas;
ante faciem frigoris eius quis sustinebit?
Emittet verbum suum, et liquefaciet ea;
flabit spiritus eius, et fluent aquae.
Qui annuntiat verbum suum Jacob,
justitias et judicia sua Israel.
Non fecit taliter omni nationi,
et judicia sua non manifestavit eis.
Alleluia.
Deutsche Übersetzung
Preise den Herrn, Jerusalem,
lobe deinen Gott, o Zion.
Denn er hat die Riegel deiner Tore stark gemacht
und deine Kinder in deiner Mitte gesegnet.
Er ist es, der deinen Grenzen Frieden verleiht
und dich mit dem besten Weizen sättigt.
Er sendet sein Wort hinab zur Erde,
schnell läuft sein Auftrag dahin.
Er lässt Schnee fallen wie Wolle
und streut den Reif aus wie Asche.
Er wirft seine Eiskristalle nieder wie Brocken;
wer kann vor seiner Kälte bestehen?
Dann sendet er sein Wort und lässt alles schmelzen;
sein Wind weht, und die Wasser fließen.
Er hat Jakob sein Wort verkündet,
Israel seine Satzungen und Entscheidungen.
So hat er an keinem anderen Volk gehandelt;
seine Entscheidungen hat er ihnen nicht offenbart.
Halleluja.
CD-Vorschlag:
CD Jan Dismas Zelenka, Psalmi Varii, Separatim Scripti, Ensemble Inégal, Leitung Adam Viktora, Nibiru, 2018, Track 1.
ZWV 103 gilt in der heutigen Forschung als verschollen.
Es handelt sich – dem Werkverzeichnis nach – um eine weitere Psalmvertonung aus dem Dresdner Kontext, die vermutlich in den späten 1720er- oder frühen 1730er-Jahren entstanden ist. Das Autograph ist nicht erhalten, und auch zeitgenössische Abschriften sind bislang nirgends nachgewiesen. In den älteren Dresdner Katalogen erscheint lediglich ein Eintrag, der die Existenz des Werkes bestätigt – jedoch ohne Textincipit, ohne Besetzungsangabe und ohne Umfangsbeschreibung.
Damit zählt ZWV 103 zu denjenigen Kompositionen Zelenkas, von denen wir zwar sicher wissen, dass sie existierten, deren Musik jedoch vollständig verloren ist. Gründe dafür könnten die allgemeinen Verluste der Dresdner Hofkirchenbestände sein, die mehrfach – u. a. durch Verlagerungen, Kriegsereignisse und spätere Aussonderungen – dezimiert wurden.
Lauda Jerusalem, ZWV 104
Mit Lauda Jerusalem ZWV 104 schuf Jan Dismas Zelenka eine der kraftvollsten und musikalisch reichsten Fassungen des Jerusalemer Lobliedes aus Psalm 147. Während die eng gefasste Komposition ZWV 102 für die Kapellknaben der Dresdner Hofkirche bestimmt war, begegnet uns in der späteren Version ZWV 104 ein Werk von deutlich größerem Format, das stilistisch und konzeptionell auf die festlichen Anforderungen der Hofkirchenmusik der 1730er-Jahre ausgerichtet ist. Es entstand wahrscheinlich zwischen 1733 und 1735, also genau in jener Phase, in der Zelenka mit außergewöhnlicher Intensität an seinen Vesperpsalmen arbeitete und gleichzeitig als de-facto-Leiter der Kirchenmusik des sächsischen Hofes wirkte.
https://www.youtube.com/watch?v=CH9IC-aFgfs
Schon die Besetzung macht klar, dass ZWV 104 eine vollgültige, repräsentative Psalmvertonung war, die für die großen geistlichen Anlässe vorgesehen war. Der vierstimmige Chor wird von einem farbig und klanglich differenziert eingesetzten Orchester getragen, das in der Aufnahme von Ensemble Inégal und den Prague Baroque Soloists unter Adam Viktora (* 1973) seine ganze Leuchtkraft entfaltet. Charakteristisch für dieses Werk ist Zelenkas Fähigkeit, die monumentale Textarchitektur des Psalms zugleich energisch, durchsichtig und rhetorisch prägnant in Musik zu übertragen. Besonders die eröffnenden Zeilen „Lauda, Jerusalem, Dominum“ vertont er mit einer eindrucksvollen Mischung aus klanglicher Strahlkraft und kontrapunktischer Präzision: Die Stimmen setzen sich in klaren gestaffelten Einsätzen ab, während das Orchester einen rhythmisch pulsierenden Untergrund bildet, der den Lobcharakter des Textes unmittelbar erfahrbar macht.
Im Verlauf des Werkes entwickelt Zelenka eine bemerkenswerte Vielfalt an Satztechniken und Ausdrucksnuancen. Die Textzeilen über den Frieden an den Grenzen Israels, über Schnee und Frost sowie über das schmelzende Wort Gottes erhalten jeweils musikalische Gestalt, ohne je ins bloß illustrative Klangmalen abzugleiten. Typisch für Zelenka ist die Wechselwirkung von kontrapunktischer Arbeit und konzertierendem Duktus, bei der das Orchester nicht nur begleitet, sondern aktiv strukturelle Impulse gibt. Immer wieder wird der Chorsatz durch instrumentale Linien aufgehellt, sei es durch figuriert geführte Violinen, markante Bassgänge oder durch die charakteristisch straff gesetzten Mittelstimmen, die dem Ganzen eine außergewöhnliche kompositorische Dichte verleihen.
Besonders eindrucksvoll ist der große Schlussabschnitt, in dem Zelenka das Alleluia mit einer Mischung aus tänzerischem Schwung und gelehrter Stimmführung behandelt. Die abschließende Steigerung, harmonisch kühn und rhythmisch von innerer Spannung getragen, verleiht dem Werk jene typisch „zelenkasche“ Erhabenheit, die seine Vesperpsalmen so unverwechselbar macht: eine Mischung aus Energie, Ernst, kontrapunktischer Meisterschaft und barocker Klangfülle.
In der Einspielung auf der CD Psalmi Vespertini II (Nibiru 2017), Track 9, erscheint ZWV 104 als ein reifes, grandios proportioniertes Vesperstück, das Zelenkas Rang als einer der eigenständigsten Kirchenkomponisten des 18. Jahrhunderts eindrucksvoll bestätigt. Die Interpretation von Ensemble Inégal und den Prague Baroque Soloists unter Adam Viktora hebt sowohl den liturgischen Glanz als auch die strukturelle Feinheit der Komposition hervor und ermöglicht einen eindrucksvollen Zugang zu diesem meisterhaften Psalmmusik-Tableau, das im Gesamtwerk Zelenkas zu den Höhepunkten der Psalmvertonungen zählt.
CD-Vorscchlag
Jan Dismas Zelenka, Psalmi Vespertini II, Ensemble Inégal, Prague Baroque Soloists, Leitung Adam Viktora, Nibiru, 2017, Track 9.
Beatus vir in G-Dur, ZWV 75 (nach Psalm 111)
Zelenkas Beatus vir ZWV 75 gehört zu den farbenreichsten und zugleich würdevollsten Psalmvertonungen seines ersten Vesperzyklus. Die Komposition entstand um 1725, in jener Phase, in der Zelenka mit besonderem Eifer an der großen Dreigliederung seiner drei Psalmi Vespertini-Zyklen arbeitete. Der Psalm Beatus vir, ein Preisgesang auf den frommen und standhaften Gerechten, bot ihm Gelegenheit zu einer vielseitigen musikalischen Ausdeutung: Licht und Glanz, innige Frömmigkeit, aber auch der strenge moralische Ton des biblischen Weisheitsstils verbinden sich zu einem Werk von außerordentlicher Geschlossenheit.
Zelenkas Beatus vir ZWV 75 ist eine lichtdurchflutete, festliche und zugleich kunstvoll gebaute Vertonung des Psalms Beatus vir, die den Charakter des ersten Psalmi-Vespertini-Zyklus wie unter einem Brennglas sichtbar macht. Das Werk entfaltet sich in vier deutlich voneinander abgesetzten Sätzen, die jedoch durch motivische Verbindungen und eine konsistente Tonalität zu einem geschlossenen Ganzen verschmelzen. Der Grundton ist freudig, dennoch nie oberflächlich; Zelenka verbindet strahlende Klangfarben mit strenger kontrapunktischer Disziplin.
https://www.youtube.com/watch?v=zfFEtrE3jnU
Der erste Satz eröffnet mit einem hellen, energischen Choreinsatz, in dem der Sopransolist immer wieder hervortritt und die Seligpreisung des Gerechten in einer Mischung aus Festlichkeit und innerer Haltung zum Leuchten bringt. Die Musik bewegt sich rasch, fast tänzerisch, jedoch stets in sauberer Linienführung. Der Wechsel von solistischen Partien und Tutti schafft ein dialogisches Gefüge, das den Psalmvers Beatus vir qui timet Dominum zugleich nach außen hin verkündet und innerlich meditativ ausleuchtet.
Im zweiten Satz bringt Zelenka den Satz Peccator videbit in Form einer Fughetta. Dieser Abschnitt kontrastiert deutlich mit der vorangegangenen Festlichkeit: die Musik wird schärfer, kontrapunktischer, dichter, ohne den Fluss zu verlieren. Die Fughetta zeigt Zelenkas meisterhafte Fähigkeit, selbst kurze Abschnitte mit klarer kontrapunktischer Struktur, rhythmischer Energie und rhetorischer Prägnanz auszustatten. Der Gegensatz zwischen dem Gerechten und dem Sünder wird nicht nur theologisch, sondern auch musikalisch greifbar.
Der dritte Satz, Gloria Patri et Filio, wird dem Sopransolo anvertraut. Hier wechselt die Atmosphäre zu einem feierlich-innerlichen Ton, beinahe arios, mit eleganten Melodielinien, die über einem zurückhaltenden Fundament schweben. Dieser Abschnitt wirkt wie ein verträumter Moment der Sammlung, bevor das Werk in seine abschließende Krönung eintritt.
Der vierte Satz, das Amen, ist eine voll ausgearbeitete Fuge und zeigt Zelenka auf der Höhe seiner kontrapunktischen Kunst. Die Stimmen greifen klar ineinander, das Thema wird mit großer Meisterschaft geführt, und der Satz endet in einer machtvollen, triumphierenden Geste. Wie so oft bei Zelenka erhält das Amen nicht bloß einen liturgischen Abschluss, sondern eine musikalische Apotheose, die das gesamte Werk krönt.
Die Aufnahme des Ensemble Inégal unter Adam Viktora lässt dieses strahlende, klar gegliederte und kontrapunktisch reich gesättigte Werk in seiner ganzen Eleganz und farblichen Transparenz erklingen. Klanglich verbindet sie schlanken Kammerchorklang mit präziser Artikulation und hoher stilistischer Sensibilität.
Deutscher Text – Psalm „Beatus vir“ (Psalm 111)
Wohl dem Menschen, der den Herrn fürchtet
und große Freude hat an seinen Geboten.
Mächtig wird seine Nachkommenschaft im Lande;
das Geschlecht der Redlichen wird gesegnet sein.
Reichtum und Fülle sind in seinem Haus,
und seine Gerechtigkeit besteht für immer.
Den Redlichen geht ein Licht auf in der Finsternis:
ein Gnädiger, ein Barmherziger, ein Gerechter.
Wohl dem, der freigebig ist und leiht,
der seine Angelegenheiten ordnet mit Bedacht.
Niemals wird er wanken;
für immer wird des Gerechten gedacht.
Vor böser Kunde fürchtet er sich nicht;
sein Herz ist fest, vertrauend auf den Herrn.
Unerschütterlich ist sein Herz, ohne Furcht;
er wird schauen, wie seine Feinde fallen.
Er streut aus, er gibt den Armen;
seine Gerechtigkeit bleibt in Ewigkeit,
sein Horn wird erhoben in Ehre.
Der Frevler sieht es und zürnt;
mit den Zähnen knirscht er und vergeht.
Doch was die Frevler wünschen – das wird zunichte.
CD-Vorschlag
Jan Dismas Zelenka: Psalmi Vespertini I
Ensemble Inégal – Leitung Adam Viktora (* 1973), Nibiru, 2015
Tracks 14–17
https://www.youtube.com/watch?v=NWlFFyUhNUg&list=OLAK5uy_k_dJDuOwMnDKYhaxowGegnvmD7kOt6PKM&index=14
Beatus vir, ZWV 76
Das Beatus vir ZWV 76, vermutlich in den frühen 1720er-Jahren entstanden und in G-Dur angelegt, gehört zu jenen straff gearbeiteten, zugleich außerordentlich leuchtenden Psalmvertonungen Zelenkas, in denen der Komponist seine kontrapunktische Meisterschaft mit einem ausgeprägt festlichen Klangideal verbindet. Der Eröffnungssatz „Beatus vir“ ist für Bass-Solo und Chor konzipiert und steht exemplarisch für Zelenkas Fähigkeit, solistische und chorische Kräfte in einer einzigen musikalischen Bewegung zu verschmelzen.
https://www.youtube.com/watch?v=ydZJfeXEoeE
Der Bass eröffnet mit einem markanten thematischen Gestus, dessen energische Intervalle und vitale Rhythmik unmittelbar die geistliche Kernbotschaft des Psalms – die Seligkeit des Gerechten – ins Klangbild heben. Der Chor nimmt dieses Material auf, kommentiert, verdichtet und kontrastiert es, sodass ein lebendiger Dialog entsteht, der durch die strahlende Tonart und den festlich geführten Satz eine nahezu litaneiartige Klarheit gewinnt.
Der zweite Teil „Gloria Patri“, hier einem Sopran anvertraut, bildet den lyrischen Mittelpunkt der Komposition. Zelenka wählt eine ariose, hell timbrierte Linienführung, deren Melodik einerseits dem Charakter der Doxologie entspricht, andererseits aber jene für ihn typische innere Spannung erkennen lässt: feine chromatische Einfärbungen, gezielte harmonische Schattierungen und eine geschmeidige, fast instrumental gedachte Sopranlinie verleihen dem kurzen Satz einen unerwarteten Reichtum. Die Doxologie wird so nicht bloß rezitiert, sondern meditativ ausgeleuchtet.
Den Abschluss bildet das „Amen“, eine groß angelegte Doppelfuge, wie man sie nur bei Zelenka findet. Der Satz verbindet gelehrte Strenge mit barocker Virtuosität: zwei Themen, gegensätzlich im Charakter und doch eng verwandt, werden in kunstvoller Permutation geführt, geschichtet, verschränkt und am Höhepunkt in einem machtvollen Tutti zusammengeführt. Die kontrapunktische Dichte ist außergewöhnlich, doch bleibt der Satz durchsichtig: Die Fuge wirkt nicht akademisch, sondern wie ein musikalisches Bekenntnis, das den Psalm mit einer finalen Geste von Kraft und innerer Gewissheit beschließt.
ZWV 76 zeigt Zelenka als Meister des liturgischen Formats: konzentriert in der Form, reich im Ausdruck, festlich im Klang und von einer inneren, fast meditativen Strahlkraft getragen. Die Kombination aus solistischer Individualität, chorischer Wucht und kontrapunktischer Kunst macht dieses Beatus vir zu einem der eindrücklichsten kleineren Psalmen seines frühen Dresdner Schaffens.
Deutsche Übersetzung
Wohl dem Menschen, der den Herrn fürchtet
und große Freude hat an seinen Geboten.
Mächtig wird sein Geschlecht im Lande,
das Geschlecht der Frommen wird gesegnet sein.
Reichtum und Fülle wohnen in seinem Haus,
und seine Gerechtigkeit bleibt ewig bestehen.
Dem Rechtschaffenen geht ein Licht auf in der Finsternis:
gütig, barmherzig und gerecht ist er.
Wohl dem, der gnädig ist und leiht,
der seine Sachen ordnet, wie es recht ist.
Niemals gerät er ins Wanken;
in ewiger Erinnerung bleibt der Gerechte.
Er fürchtet sich nicht vor böser Kunde;
sein Herz ist fest, auf den Herrn vertraut er.
Sein Herz ist sicher, er fürchtet sich nicht,
bis er seine Lust sieht an seinen Feinden.
Er streut aus und gibt den Armen;
seine Gerechtigkeit bleibt ewig bestehen;
sein Horn wird erhöht in Herrlichkeit.
Der Frevler wird es sehen und sich ärgern,
mit den Zähnen wird er knirschen und vergehen;
die Wünsche der Gottlosen werden zunichte.
Ehre sei dem Vater und dem Sohn
und dem Heiligen Geist,
wie im Anfang, so auch jetzt und allezeit
und in Ewigkeit.
Amen.
CD-Vorschlag
Jan Dismas Zelenka: Missa Gratias agimus tibi
Kammerchor Stuttgart · Barockorchester Stuttgart
Leitung Frieder Bernius (* 1947), Carus, 2024, Tracks 22–24
https://www.youtube.com/watch?v=iF5RmjLXcCQ&list=OLAK5uy_lcF22gCt0bZuv4TaLqF-2yZJQtRKEUxLw&index=22
Beatus vir, ZWV 77
ZWV 77 ist im Zelenka-Werkverzeichnis als ein weiteres „Beatus vir“ verzeichnet, doch das Werk gilt vollständig verschollen. Es existieren weder Partituren noch Stimmen, keine Abschriften, keine Fragmente und keinerlei musikalische Substanz, die eine Edition oder Aufführung ermöglichen würde. Die Quellenlage beschränkt sich auf eine reine Titelüberlieferung, vermutlich aus einem alten Dresdner Inventar.
Tonart, Besetzung, Umfang und Entstehungsjahr sind nicht überliefert. Da keine Quelle erhalten ist, existiert keine Einspielung und auch keine Rekonstruktion.
Damit steht ZWV 77 heute als titelbelegtes, aber musikalisch vollständig verlorenes Werk in Zelenkas Vesperpsalm-Projekten – vergleichbar mit einigen anderen verschollenen Psalmen seiner Dresdner Jahre.
Ave maris stella in d-Moll, ZWV 110
Von Zelenkas Ave maris stella in d-Moll (ZWV 110) ist keine Musik überliefert. Zwar wird die Komposition im Zelenka-Werkverzeichnis eindeutig genannt – einschließlich Tonartangabe – doch das Werk selbst ist vollständig verschollen: weder Stimmen noch Partitur haben sich erhalten, und auch Hinweise auf zeitgenössische Aufführungen fehlen. Daher existieren weder moderne Editionen noch Einspielungen. In der Forschung gilt ZWV 110 als eines jener verloren gegangenen Marienmotetten Zelenkas, deren Existenz nur durch die archivalische Titelüberlieferung belegt ist.
Deus tuorum militium in C-Dur („Gott deiner Streiter“), ZWV 113
Hymnus zum Fest eines Märtyrers
Dieses Werk ist eine kurze Hymnenvertonung Jan Dismas Zelenkas, gesetzt für Stimmen, Violine und Basso continuo. Die Tonart ist C-Dur; der Text geht auf einen anonymen Hymnus des 6. Jahrhunderts zurück (Deus tuorum militum – ein traditioneller Heiligenhymnus im römischen Brevier). Das Stück gehört zu einer kleinen Gruppe liturgischer Hymnen, die Zelenka vermutlich in den 1720er Jahren komponierte. Die Musik ist überliefert, aber es existiert keine moderne Einspielung.
Iste confessor („Dieser Bekenner“), ZWV 117
Hymnus zum Fest eines Heiligen, der kein Märtyrer ist
Auch dieses Werk ist eine kurze Hymnenvertonung für Stimmen, Violine und Basso continuo. Iste confessor ist ein klassischer Brevierhymnus zu Ehren eines heiligen Bekenners (z. B. Bischöfe, Heilige ohne Martyrium). Eine Tonart ist in den heutigen Quellen nicht eindeutig überliefert, die Entstehung dürfte ebenfalls in die 1720er Jahre fallen. Die Komposition ist erhalten, jedoch gibt es derzeit keine bekannte Aufnahme.
Veni Creator Spiritus („Komm, Schöpfer Geist“), ZWV 120
Pfingsthymnus, einer der ältesten der Kirche
Librettist: anonym, traditionell meist Hrabanus Maurus ? (um 776–856) zugeschrieben.
Diese Vertonung des bekannten Pfingsthymnus ist wie die anderen beiden für Stimmen, Violine und Basso continuo geschrieben. Die Tonart wird in den Quellen nicht eindeutig genannt, das Werk gehört aber klar zu Zelenkas Sammlung liturgischer Hymnen. Veni Creator Spiritus ist einer der zentralen Texte des Pfingstfestes und der Firmung. Auch dieses Werk ist überliefert, aber bis heute nicht eingespielt.
Chvalte Boha silného in G-Dur („Lobt Gott den Mächtigen“), ZWV 165
Chvalte Boha silného, ZWV 165, gehört zu den ganz ungewöhnlichen Beiträgen im Œuvre Jan Dismas Zelenkas. Während fast alle seine geistlichen Werke lateinische Liturgie-Texte vertonen, steht hier ein tschechischer Psalm im Mittelpunkt – ein klarer Hinweis darauf, dass dieses Werk für einen besonderen Anlass oder eine spezifische lokale Gemeinschaft gedacht war, möglicherweise für eine Bruderschaft oder ein privates Andachtsumfeld im böhmischen Raum. Die Komposition ist dreiteilig angelegt und zeigt, wie souverän Zelenka auch in einer Volkssprache bleiben konnte, ohne seine typische kontrapunktische Präzision oder seinen expressiven Ernst zu verlieren.
https://www.youtube.com/watch?v=dtb160xvlEs
Der erste Teil (Chvalte Boha silného) beginnt mit einem kräftigen, fast festlichen Choreinsatz, der den Psalmvers in homophonen Gesten mit deutlicher Textverständlichkeit präsentiert. Die Harmonik ist hell, eindeutig und klar strukturiert – ein bewusster Schritt Zelenkas, um die volkssprachliche Botschaft unmittelbar verständlich zu machen.
Der zweite Teil (Chvalte zvuku trouby) ist bewegter und kontrastiert durch schnelle Figuren, lebendige Rhythmen und kurze imitatorische Einsätze. Die Musik wirkt wie ein Aufruf zum aktiven Gotteslob: energiegeladen, elegant gebaut und mit typischen Zelenka-Schärfen in der Harmonik. Hier spürt man den Komponisten der Dresdner Hofkirche, der selbst einem tschechischen Text dramatische Kraft verleihen kann.
Der dritte Teil (Všeliký duch chval Hospodina, Allelujah!) rundet das Werk mit einer Mischung aus ruhiger Andacht und festlicher Erhöhung ab. Zelenka kombiniert homophone Linien mit kurzen polyphonen Verdichtungen und führt die Musik zu einem klaren, fast leuchtenden Abschluss. Die klangliche Balance zwischen volkssprachlicher Direktheit und barocker Kunstfertigkeit zeigt sich hier besonders deutlich – als hätte Zelenka bewusst eine Brücke zwischen böhmischer Frömmigkeit und höfischer Musikkultur geschlagen.
Die Aufnahme mit den Pražští madrigalisté unter Pavel Baxa (1951–2020) hebt gerade diese Mischung hervor: Klarheit des Textes, schlanke Linienführung, und ein eindringlicher, würdevoller Ton, der die spirituelle Intensität des ungewöhnlichen Werkes sehr gut einfängt.
Tschechischer Text
Chvalte Boha silného,
chvalte Pána mocného,
chvalte jméno jeho svaté.
On jest Pán náš veliký,
on jest ochránce náš,
on jest světla našeho dárce.
Chvalte jej na výsostech,
chvalte jej na zemi,
chvalte jej všickni lidé.
Deutsche Übersetzung
Lobet Gott, den Mächtigen,
lobet den Herrn, den Gewaltigen,
lobet seinen heiligen Namen.
Er ist unser großer Herr,
er ist unser Beschützer,
er ist der Spender unseres Lichtes.
Lobet ihn in der Höhe,
lobet ihn auf Erden,
lobet ihn, all ihr Menschen.
CD-Vorschlag
Jan Dismas Zelenka – Psalmi
Pražští madrigalisté – Leitung Pavel Baxa (1951–2020)
SUPRAPHON a.s., 1994, Track 1:
https://www.youtube.com/watch?v=iBnKzYbwfS4&list=OLAK5uy_krNye7TdR6z0pOpW3x9kVkasnugSxmptI&index=2
Alma redemptoris mater in g-Moll („Milde Mutter des Erlösers“), ZWV 123
Das Alma redemptoris mater ZWV 123 gehört zu einer kleinen Gruppe marianischer Antiphonen, die Zelenka Mitte der 1720er Jahre für die Dresdner Hofkirche komponierte. Eine genaue Datierung ist aufgrund der lückenhaften Quellenlage unsicher, doch stilistische Merkmale und die Handschriftenanalyse deuten auf die Jahre 1725–1726. Das Werk ist in drei Abschnitte gegliedert – Alma redemptoris mater, Súrgere und Virgo prius – und folgt damit einer Form, die Zelenka mehrfach für Antiphonen verwendet hat: Ein eröffnender, frei gestalteter Satz, ein bewegter Mittelteil und ein kontemplativer Abschluss.
https://www.youtube.com/watch?v=sEuVe7qFJp4
Der erste Abschnitt, „Alma redemptoris mater“, ist von einer warmen, kantablen Linienführung geprägt und entfaltet ein klangliches Bild der marianischen Milde. Zelenka verbindet Polyphonie und homophone Passagen, arbeitet mit sanften Dissonanzen und erzeugt damit eine Atmosphäre inniger Verehrung. Der zweite Teil, „Súrgere“, bringt eine deutliche Steigerung: lebhaftere Rhythmen, engere Imitationen und eine klare textliche Pointierung, die den Gedanken der übernatürlichen Geburt und des göttlichen Eingreifens musikalisch hervorhebt. Der abschließende Abschnitt, „Virgo prius“, ist ruhiger und zentriert, oft im Dialog zwischen Stimmen geführt, mit einer Harmonik, die in die für Zelenka typische Mischung aus strenger Linearität und schimmernder Chromatik übergeht. Diese Dreiteiligkeit macht ZWV 123 zu einer marianischen Meditation, die trotz ihrer Kürze den ganzen Reichtum seines geistlichen Ausdrucks enthält.
Eine moderne Einspielung dieses Werkes ist bislang nicht bekannt, doch die erhaltene Handschrift zeigt, dass es sich um ein sorgfältig konzipiertes, liturgisch voll funktionsfähiges Antiphonensetting handelt, das zu den wichtigen marianischen Stücken in Zelenkas Schaffen gehört.
Lateinischer Text und deutsche Übersetzung
I. Alma redemptoris mater
Latein
Alma Redemptoris Mater,
quae pervia caeli porta manes,
et stella maris,
succurre cadenti,
surgere qui curat populo.
Tu quae genuisti,
natura mirante,
tuum sanctum Genitorem,
Virgo prius ac posterius,
Gabrielis ab ore
sumens illud Ave,
peccatorum miserere.
Deutsch
Milde Mutter des Erlösers,
du bleibst das offene Tor des Himmels
und der Stern des Meeres.
Steh dem fallenden Volk bei,
das sich müht, wieder aufzustehen.
Du hast geboren –
zum Staunen der Natur –
den heiligen Urheber deines Lebens.
Du Jungfrau vor wie nach der Geburt,
du nahmst aus Gabriels Mund
das Wort des Grußes:
Erbarme dich der Sünder.
II. Súrgere
Latein
Súrgere tandem fac populum tuum, Domina,
et obtine pro nobis misericordiam.
Deutsch
Lass endlich dein Volk aufstehen, Herrin,
und erflehe für uns Erbarmen.
(Dies ist ein traditioneller Zusatzvers, der in vielen mittelalterlichen Handschriften erscheint und in Zelenkas Version ebenfalls vertont ist.)
III. Virgo prius
Latein
Virgo prius, ac posterius,
Gabrielis ab ore
sumens illud Ave,
peccatorum miserere.
Deutsch
Du Jungfrau zuvor und danach,
die aus Gabriels Mund
das „Gegrüßet seist du“ empfing,
erbarme dich der Sünder.
Alma redemptoris Mater in d-Moll, ZWV 124
ZWV 124 ist eine kurze, konzentrierte Vertonung der marianischen Antiphon „Alma redemptoris mater“, vermutlich um 1725–1726 entstanden. Das Werk gehört zu mehreren Fassungen, die Zelenka diesem Text widmete, und zählt zu seinen kompaktesten Antiphonen. Die musikalische Anlage ist schlicht, aber prägnant: ein fein gearbeiteter Vokalsatz, der den Text in ruhiger, ernster d-Moll-Färbung auslegt. Charakteristisch ist Zelenkas harmonische Klarheit, die er hier mit sparsamer, aber wirkungsvoller Stimmführung verbindet. Trotz der Kürze zeigt sich seine Fähigkeit, eine liturgische Antiphon mit innerer Spannung, feinem Ausdruck und ausgewogener Linearität zu gestalten. Eine autographe Quelle existiert; das Werk ist jedoch nur selten aufgeführt und kaum auf CD dokumentiert.
https://www.youtube.com/watch?v=O3Vd_V31V98
Alma redemptoris mater, ZWV 125
Alma redemptoris mater ZWV 125 gehört zu Zelenkas kleinen marianischen Antiphonen und ist vermutlich um 1725–1726 entstanden – in derselben Zeit wie ZWV 123 und 124. Die Forschungslage ist äußerst dünn; das Werk gilt als kurzes Vokalstück, wahrscheinlich für einfachen liturgischen Gebrauch in der Dresdner Hofkirche. Die Besetzung ist nicht eindeutig überliefert, doch aufgrund der Parallelen zu ZWV 123 und 124 ist von einer kleinen Vokalformation mit Continuo auszugehen.
Das Werk ist nicht vollständig erforscht, weder modern ediert noch professionell eingespielt. In allen modernen Verzeichnissen erscheint ZWV 125 als überliefert, aber ohne bekannte Aufführung, ohne CD und ohne Aufnahme. Die Tonart ist in den frei zugänglichen Quellen nicht angegeben, und es gibt auch keine verlässliche Aussage über den Umfang der Sätze.
Trotzdem ist es wahrscheinlich, dass ZWV 125 – ähnlich wie ZWV 123 und 124 – eine kurze, klar strukturierte Antiphon ist, die den liturgischen Text Alma redemptoris mater vollständig oder in knapper Form vertont.
Eine Einspielung existiert nicht.
Alma redemptoris mater in d-Moll, ZWV 126 (30. Dezember 1730)
Zelenkas Alma redemptoris mater ZWV 126 gehört zu seinen eindrucksvollsten Marienantiphonen und ist zugleich das einzige dieser vier Werke, das sich autograph datiert erhalten hat: Dresda / 1730 / 30 Decembris. Damit liegt es in der festlichen Zeit zwischen Weihnachten und Neujahr, in der die Dresdner Hofkirche besonders reichhaltige Marienmusik pflegte. Dass am 31. Dezember 1730 laut Jesuiten-Tagebuch zuerst die Litanei von Loreto und anschließend das Alma redemptoris mater gesungen wurde, legt sehr nahe, dass Zelenkas neue Komposition genau an diesem Tag erklang – wahrscheinlich sogar als Erstaufführung.
https://www.youtube.com/watch?v=ETfBNeBER9A
Das Werk ist dreisätzig angelegt und zeigt Zelenka auf dem Höhepunkt seiner lyrischen, farblich schillernden Spätphase. Der erste Satz, Alma redemptoris mater, steht im Larghetto und entfaltet eine fast kammermusikalische Transparenz: Zwei Traversflöten – vermutlich von Pierre-Gabriel Buffardin (1689–1768) und Johann Joachim Quantz (1697–1773) gespielt – umspielen eine zarte Sopranlinie. Die Violinen spielen con sordini, die Viola ist ad libitum, der Bass trägt den leisen, atmenden Grund (solo pianissimo sempre). Es entsteht ein Klangbild von außergewöhnlicher Zärtlichkeit und kontemplativer Sanftheit – eine musikalische Marienikone in pastellfarbenem Licht.
Der zweite Satz, Succúrre cadénti, bildet einen scharfen Kontrast: Markiert mit „Forte. Senza Sordini. Senza Flauti“, entfaltet er eine drängende, kraftvolle Dramatik. Hier begegnet uns Zelenkas unverkennbares Temperament – rhythmisch gespannt, rhetorisch scharf konturiert und harmonisch kühn. Der Text „Surgere qui curat…“ erhält eine energische, geradezu kämpferische Deutung, die das Bittgebet des Gläubigen in leidenschaftliche Bewegung setzt.
Der dritte Satz, Peccatórum miserére, schließt das Werk in einem innigen Adagio. Die Flöten schweigen erneut, die Streicher begleiten mit gedämpfter Wärme. Der Satz wirkt wie ein musikalischer Gebetsraum, in dem sich die gesamte Antiphon zu einem stillen, demütigen Schluss sammelt. Die Bitte um Erbarmen wird zu einem der bewegendsten Momente innerhalb von Zelenkas Marienkompositionen.
ZWV 126 zeigt in exemplarischer Weise Zelenkas Meisterschaft, Text und Klang in seelische Tiefe zu verwandeln. Die ungewöhnliche Instrumentierung, die präzise Affektregie und die Mischung aus Intimität und dramatischer Kraft machen dieses Werk zu einer der kostbarsten Marienantiphonen des Dresdner Barock.
Deutscher Text
Heilige Mutter des Erlösers,
du offener Himmel, du leuchtendes Tor,
du Meeresstern, komm zu Hilfe
dem gefallenen Volk, das aufzustehen sucht.
Du hast den staunenswürdigen Schöpfer
der Welt geboren,
und doch bist du Jungfrau geblieben:
Du, die du Gabriel’s Gruß vernommen hast,
gewähre uns Sünderinnen und Sündern
dein Erbarmen.
CD-Vorschlag
Jan Dismas Zelenka: Solo Motettes
Countertenor Alex Potter – Capriccio Basel Baroque Orchestra,
Leitung: Dominik Kiefer, Pan Classics, 2012, Track 2:
https://www.youtube.com/watch?v=2vUr7sC88-4&list=OLAK5uy_kr8hTzFTEiBrl2DAGSoCVlMMbl75pQagk&index=2
Alma redemptoris mater, ZWV 127 (um 1728)
ZWV 127 gehört zu Zelenkas vier bekannten Vertonungen der marianischen Antiphon Alma redemptoris mater. Die Entstehung wird in die späten 1720er Jahre gelegt, wahrscheinlich um 1728, doch die Quellenlage ist schmal, und die Forschung konnte bislang keine genauere Einordnung liefern. Stilistisch steht das Werk ZWV 127 zwischen dem strengeren liturgischen Typus und einem stärker solistisch geprägten Antiphonensatz: Die Musik ist übersichtlich, klar gebaut und konzentriert sich auf die unmittelbare Textausdeutung, ohne die dramatischen Kontraste der späteren, reich orchestrierten Vertonung von 1730 (ZWV 126).
https://www.youtube.com/watch?v=kjO3_nNKbBA
Der erste Abschnitt „Alma redemptoris mater“ ist kantabel und ruhig gehalten; die Linienführung ist weich, der Satz kompakt, und die Harmonik bleibt eng geführt. Zelenka legt den Schwerpunkt auf fließende Melodik und eine betonte Andachtlichkeit, wodurch die Antiphon eine intime, fast kontemplative Färbung erhält.
Der zweite Teil „Súrgere“ ist bewegter, mit strafferer Rhythmik und einer deutlich hervorgehobenen Bitte um Beistand. Hier wird der Text „Stehe auf, der du sorgst…“ musikalisch als Aufwärtsdrängen gestaltet, ohne jedoch in virtuose Gebärden auszubrechen.
Der dritte Abschnitt „Virgo prius“ bildet den Abschluss: ein kurzer, würdevoller Teil, in dem die Reinheit und das Geheimnis der Gottesmutterschaft mit zarter Harmonik und klarer Linienführung hervorgehoben werden. Auch hier zeigt Zelenka seine Fähigkeit, aus kleinsten Formen geistliche Intensität zu gewinnen.
Insgesamt ist ZWV 127 ein schlichtes, dabei aber ausdrucksvolles Werk von hoher Reinheit und Konzentration – eine Antiphon, die liturgische Schlichtheit mit der typisch zartsinnigen Musiksprache Zelenkas verbindet.
Deutscher Übersetzung
Alma redemptoris mater
Erhabene Mutter des Erlösers,
du Pforte des Himmels und Stern des Meeres,
komm dem gefallenen Volk zu Hilfe,
das nach Wiederaufrichtung verlangt.
Súrgere
Erhebe dich, du, der für uns eintritt;
du hast den Schöpfer der Welt geboren
zum Staunen der Natur.
Virgo prius
Du bist Jungfrau zuvor,
Jungfrau in der Geburt
und Jungfrau auch danach geblieben.
Erbarme dich unser.
Himmlische Weyhnacht – Festliche Gesänge von Luther bis Bach
Bell’Arte Salzburg – Marie Luise Werneburg (Sopran), Leitung Annegret Siedel (* 1963), Track 11:
https://www.youtube.com/watch?v=YpNmkB_9BOY&list=OLAK5uy_k3C7DcakDkCxD-rbB4YXvKqip-iBM7gMA&index=11
Ave Regina coelorum in g-Moll, ZWV 128/1
Zelenkas Ave Regina coelorum ZWV 128 gehört zu seinen innigsten und zugleich kunstvollsten Marienantiphonen. Vermutlich entstand das Werk um die Mitte der 1720er Jahre, in jener Schaffensphase, in der der Komponist sich intensiv mit den vier großen marianischen Antiphonen des Kirchenjahres beschäftigte. Diese g-Moll-Vertonung greift den gesungenen Gebetscharakter des Textes mit einer eindrucksvollen Mischung aus schlichter Andacht und kontrapunktischer Subtilität auf – ein typisch „zelenkischer“ Klang, der zwischen Spannung und Zärtlichkeit schwebt.
https://www.youtube.com/watch?v=20wYNSihzpM
Der Beginn wirkt wie eine leise, ehrfürchtige Anrufung: Die Stimmen steigen weich und dennoch bestimmt an, fast wie ein musikalisches Niederknien vor der Gottesmutter. Zelenka verwendet hier eine melodische Linienführung, die reich an kleinen expressiven Seufzermotiven ist, aber nie ins Sentimentale gleitet. Der harmonische Raum bleibt weit und beweglich; charakteristisch sind chromatische Durchgänge und überraschende Wendungen, die das Gebet zum Leuchten bringen.
In der Mittelpartie entfaltet sich eine fein abgestimmte Polyphonie, in der jede Stimme ein eigenes Gewicht erhält. Besonders eindrucksvoll ist die Art, wie Zelenka den Text “Ave, Domina angelorum“ ausdeutet: Der Chorsatz weitet sich, wird strahlender, beinahe visionär, ohne die Grundhaltung der Demut aufzugeben. Die Linien bleiben klar, und doch schwingen im Hintergrund jene typisch dichten harmonischen Verflechtungen, die Zelenka unverwechselbar machen.
Die abschließende Bitte “Ora pro nobis“ gestaltet der Komponist mit innigem Ernst. Der Schluss ist nicht triumphal, sondern sanft, leicht verdunkelt, wie ein stilles, gläubiges Vertrauen. Die g-Moll-Tonart verleiht dem Werk einen empfindsamen Ernst, der die Architektur des Stückes zu einer eindrucksvollen Einheit führt: ein kurzes, aber außerordentlich konzentriertes Meisterwerk geistlicher Musik.
Lateinischer Text – deutsche Übersetzung
Ave, Regina coelorum,
ave, Domina angelorum:
Sei gegrüßt, Himmelskönigin,
sei gegrüßt, Herrin der Engel.
Salve radix, salve porta,
ex qua mundo lux est orta:
Sei gegrüßt, du Wurzel, sei gegrüßt, du Tor,
aus dem das Licht der Welt hervorgegangen ist.
Gaude, Virgo gloriosa,
super omnes speciosa:
Freue dich, ruhmreiche Jungfrau,
schöner als alle anderen.
Vale, o valde decora,
et pro nobis Christum exora.
Leb wohl, du überaus Schöne,
und bitte Christus für uns.
CD-Vorschlag
Jan Dismas Zelenka: Geistliche Werke für Soli, Chor und Orchester
Capella Piccola – Barockorchester Metamorphosis Köln,
Leitung Thomas Reuber (* 1952), Bella Musica Edition, 1997, Track 6:
https://www.youtube.com/watch?v=N4OGnRSt118&list=OLAK5uy_l_m8z8kILN73spAQhDKCmxwl5b5dvSlf0&index=6
Es gab sechs Fassungen Ave Regina coelorum:
ZWV 128/1 – in G-Moll (die berühmteste; häufig mit Video / Aufnahme zu finden)
ZWV 128/2 – in d-Moll
ZWV 128/3 – in a-Moll
ZWV 128/4 – in a-Moll
ZWV 128/5 – in F-Dur
ZWV 128/6 – in D-Dur
Nur einige wenige davon sind musikalisch wirklich erhalten, und nur eine, nämlich die G-Moll-Version ZWV 128/1, ist derzeit in Aufnahmen zugänglich.
Regina caeli laetare (C-Dur / a-Moll / C-Dur), ZWV 129
ZWV 129 enthält drei verschiedene Vertonungen der marianischen Oster-Antiphon Regina caeli laetare. Die Quelle listet die Tonarten C-Dur – a-Moll – C-Dur und die Besetzung SATB, 2 Oboen, 2 Violinen, Viola, Continuo auf.
Das Werk stammt aus der Zeit nach 1728.
Eine veröffentlichte Einspielung ist nicht nachweisbar; keine der Diskographien (Carus, Supraphon, Nibiru, Accent) führt ZWV 129. Auch bei YouTube erscheint keine Audiodatei, die eindeutig ZWV 129 ist.
Text, den Zelenka vertont:
Regina caeli, laetare, alleluia;
quia quem meruisti portare, alleluia,
resurrexit sicut dixit, alleluia.
Ora pro nobis Deum, alleluia.
Deutsche Übersetzung:
Himmelskönigin, freue dich, Halleluja!
Denn der, den du zu tragen würdig warst, Halleluja,
ist auferstanden, wie er gesagt hat, Halleluja.
Bitte für uns zu Gott, Halleluja.
Regina caeli laetare ZWV 130, (Nr. 2 in a-Moll), um 1729
ZWV 130 ist eine eigenständige weitere Vertonung der Osterantiphon Regina caeli. Die Quellen geben an: ca. 1729, Besetzung SS-Solisten, SSATB-Chor, Violine, Continuo.
Dieses Werk existiert in einer gesicherten Aufnahme (Link) - ein Fragment, es ist das Einzige, was eingespielt worden ist:
https://www.youtube.com/watch?v=XigfRu5OUBc
Die Vertonung ist feierlich und virtuoser als ZWV 129, mit stark ausgeprägten Sopranpassagen und einer kompakten, typisch „späten“ Dresdner Klangsprache.
Text: (identisch wie oben)
Regina caeli laetare…
Liturgische Antiphon, ZWV 131
ZWV 131 ist eine der kleinen liturgischen Antiphonen (antiphonae), die Jan Dismas Zelenka in den späten 1720er–frühen 1730er Jahren für den Dresdner Hof komponiert hat.
Der Titel der Komposition lautet:
ZWV 131 – „Regina coeli“
(nicht zu verwechseln mit ZWV 129, ebenfalls „Regina coeli“, aber anderer Satz und anderer Tonumfag)
Gattung: Marianische Antiphon (Regina coeli)
Text: Regina caeli laetare, alleluia… (klassischer Ostertext)
Überlieferung: Autographe Quelle vorhanden (Bibliothek Dresden)
Tonart: C-Dur (laut Katalogeinträgen der SLUB Dresden und IMuB)
Instrumentation: SATB, Violinen, Viola, basso continuo
Datierung: nach 1728 (so im Quellenkatalog dokumentiert)
Sätze: eine einzige zusammenhängende Vertonung, kein mehrteiliger Aufbau
Diskographie
Es gibt keine veröffentlichte CD-Einspielung von ZWV 131.
Weder bei Nibiru, Supraphon, Carus, Accent, Pan Classics, Hyperion, ECM, Chandos, Archiv, harmonia mundi oder Brilliant Classics taucht das Werk auf.
Auch YouTube, Spotify und andere Plattformen zeigen keine Aufnahme.
Lateinischer Text
(Standardtext der Antiphon „Regina coeli“ – identisch für alle vier Regina-coeli-Vertonungen Zelenkas)
Regina coeli, laetare, alleluia:
Quia quem meruisti portare, alleluia,
Resurrexit, sicut dixit, alleluia.
Ora pro nobis Deum, alleluia.
Deutsche Übersetzung
Himmelskönigin, freue dich, Halleluja!
Denn der, den du zu tragen würdig warst, Halleluja,
ist auferstanden, wie er gesagt hat, Halleluja.
Bitte für uns zu Gott, Halleluja.
Regina coeli (C-Dur), ZWV 132
Im Werkverzeichnis von Jan Dismas Zelenka wird ZWV 132 als „Regina coeli“ geführt.
Tonart: C-Dur (laut Katalogangaben).
Status: Missing / verloren – das Werk ist nicht überliefert.
Es existieren keine Partituren, keine Stimmen, keine moderne Edition, keine CD-Einspielung, keine nachweisbare Aufführung.
Die Quellenlage beschränkt sich auf eine katalogisierte Erwähnung (Titel + Tonart).
Auch große Datenbanken (IMSLP, DIAMM, Klassika, jdzelenka.net) bestätigen den Verlust.
ZWV 132 ist also ein titelseitig belegtes, aber vollständig verlorenes Werk Zelenkas in C-Dur.
Mehr Informationen existieren nach heutigem Stand nicht.
Regina caeli laetare in F-Dur, ZWV 134
ZWV 134 ist eine von Zelenkas marianischen Osterantiphonen und wurde vor 1728 komponiert. Die Autograph-Überlieferung zeigt eine schlanke, bewusst einfache Anlage, wahrscheinlich als repertoiretaugliches Stück für das Fest Mariä Verkündigung (25. März) oder andere Osterfeiern im Dresdner Hofgottesdienst bestimmt. Über konkrete historische Aufführungen sind keine Quellen erhalten.
https://www.youtube.com/watch?v=YjyTRgSKoZk
Die Komposition ist bemerkenswert durch ihre ungewöhnliche Besetzung für drei hohe Stimmen, die zunächst den cantus firmus des gregorianischen Antiphons über einem „gehenden Bass“ der Instrumente tragen. Die oberen Streicher und Oboen schaffen eine helle Harmonik, die später die drei Stimmen in enger Dreiklangsharmonie zusammenführt.
Ein kurzer Abschnitt im dreifachen Takt für Stimmen und Basso continuo bildet den Mittelteil; anschließend kehren die Instrumente zum einleitenden Material zurück und führen das Werk zu einem klaren, freudigen „alleluia“.
Insgesamt ist ZWV 134 eine kompakte, lichtdurchflutete Antiphon, deren formale Einfachheit und gezielt reduzierte Besetzung den festlichen Ostercharakter unterstreichen, ohne die kontrapunktische Strenge der großen Vesperpsalmen zu übernehmen.
Lateinischer Text
Regina caeli, laetare, alleluia:
Quia quem meruisti portare, alleluia,
Resurrexit, sicut dixit, alleluia.
Ora pro nobis Deum, alleluia.
Deutsche Übersetzung
Himmelskönigin, freue dich, Halleluja!
Denn der, den du zu tragen würdig warst, Halleluja,
ist auferstanden, wie er gesagt hat, Halleluja.
Bitte für uns zu Gott, Halleluja.
CD-Vorschlag
Sacred Music by Jan Dismas Zelenka
The King’s Consort
Leitung Robert King (* 1960)
Hyperion Records, 2003
Track 12:
https://www.youtube.com/watch?v=9zgxhb4616g&list=OLAK5uy_lk_kBqnEh5wtr2EATCHBjbfGn6T0vm5rQ&index=12
Salve Regina in a-Moll, ZWV 135
Das Salve Regina in a-Moll ZWV 135 gehört zu Zelenkas eindrucksvollsten marianischen Antiphonen und wurde im September 1730 abgeschlossen. Obwohl Zelenka das Werk in seinem eigenen Katalog als Originalkomposition eintrug, handelt es sich nachweislich um eine revidierte, erweiterte und neu instrumentierte Fassung eines früheren Werkes, das er bereits 1719 kopierte (damals als ZWV 204 geführt). Die Urfassung war für eine Solostimme mit zwei Violinen und Oboe ausgelegt; Zelenka entwickelte daraus ein klanglich reiches, fünfteiligen Solomotett, das in seiner ausdrucksstarken Orchestrierung deutlich seine Handschrift trägt.
https://www.youtube.com/watch?v=5t16uE0UlKw
Auffällig ist Zelenkas prominenter Einsatz der Holzbläser – besonders der Traversflöte und der Oboe –, die gemeinsam mit Streichern und Basso continuo eine farbige, empfindsame und mitunter geradezu opernhafte Klangwelt schaffen. Der erste Satz beginnt mit gedämpften Streichern und einem feinen Dialog von Flöte, Oboe und Violine, wodurch eine sanfte, innige Grundstimmung entsteht.
Die folgenden Abschnitte (Ad te clamamus, Eia ergo, Et Jesum benedictum) steigern die Expressivität: Zelenka nutzt scharfe harmonische Wendungen, expressive chromatische Linien und kontrastierende Affekte, um das Flehen, die Hoffnung und das Vertrauen des Textes musikalisch auszudeuten. Die Holzbläser übernehmen oft eine kommentierende, fast rhetorische Rolle.
Der letzte Satz (Ostende, o clemens, o pia) bildet den glanzvollen Abschluss: ein inniges, warmes Arioso mit reich verzierter Begleitung, in der Zelenkas unverwechselbare Mischung aus kontrapunktischer Klarheit und emotionalem Reichtum besonders hervortritt. Das Werk ist in seiner finalen Form ein substanzielles, kunstvoll ausgearbeitetes Solomotett, das innerhalb der marianischen Antiphonen des Dresdner Hofes eine herausragende Stellung einnimmt.
Lateinischer Text
I – Salve Regina
Salve, Regina, mater misericordiae,
vita, dulcedo et spes nostra, salve.
II – Ad te clamamus
Ad te clamamus, exsules filii Evae.
Ad te suspiramus, gementes et flentes
in hac lacrimarum valle.
III – Eia ergo
Eia ergo, advocata nostra,
illos tuos misericordes oculos
ad nos converte.
IV – Et Jesum benedictum
Et Jesum, benedictum fructum ventris tui,
nobis post hoc exsilium ostende.
V – Ostende – O clemens, o pia
O clemens, o pia,
o dulcis Virgo Maria.
Deutsche Übersetzung
I – Sei gegrüßt, o Königin
Sei gegrüßt, o Königin, Mutter der Barmherzigkeit,
unser Leben, unsere Süße und unsere Hoffnung, sei gegrüßt.
II – Zu dir rufen wir
Zu dir rufen wir, verbannte Kinder Evas.
Zu dir seufzen wir, klagend und weinend
in diesem Tal der Tränen.
III – So denn, unsere Fürsprecherin
So denn, unsere Fürsprecherin,
wende deine barmherzigen Augen
zu uns hin.
IV – Und Jesus, die gesegnete Frucht
Und Jesus, die gesegnete Frucht deines Leibes,
zeige uns nach diesem Erdenwallen.
V – O gütige, o milde
O gütige, o milde,
o süße Jungfrau Maria.
CD-Vorschlag
Sacred Music by Jan Dismas Zelenka
The King’s Consort
Leitung Robert King (* 1960)
Hyperion Records, 2003
Tracks 13–17:
https://www.youtube.com/watch?v=hk_oLEjD9Kc&list=OLAK5uy_lk_kBqnEh5wtr2EATCHBjbfGn6T0vm5rQ&index=13
Salve Regina ZWV 136
Das Salve Regina, ZWV 136, ist ein im Werkverzeichnis von Jan Dismas Zelenka als geistliches Werk in a-Moll verzeichnet. Das Stück ist nachweislich katalogisiert, doch es gibt keine bekannte moderne Einspielung, keine CD-Aufnahme und keine eindeutige Online-Aufführung. Auch eine moderne Edition scheint nicht veröffentlicht worden zu sein. Damit gehört ZWV 136 zu den Zelenka-Werken, die zwar titel- und tonartlich belegt sind, aber in der heutigen Praxis kaum zugänglich sind und offenbar nicht aufgeführt werden. Das Werk bleibt daher ein weitgehend unerforschtes Salve-Regina aus Zelenkas Spätphase.
Salve Regina a-Moll, ZWV 137
Das Salve Regina ZWV 137 ist eines von sieben erhaltenen Salve-Regina-Werken Jan Dismas Zelenkas (1679–1745). Das Werk wurde wahrscheinlich nach Zelenkas Rückkehr aus Wien (1719) komponiert, wo er intensiv mit der kontrapunktischen Tradition der italienischen Meister vertraut gemacht wurde. Besonders eng knüpft diese Antiphon an Girolamo Frescobaldi (1583–1643) an: Zelenka gestaltet weite Teile der Komposition als kunstvolle Parodie über die „Canzon quarti toni“ aus Frescobaldis Sammlung Fiori Musicali (1635).
Die Parodie ist äußerst sorgfältig gearbeitet und zeigt Zelenkas Fähigkeit, ältere Vorlagen in einen neuen geistlichen Kontext zu überführen. Die kontrapunktische Struktur bleibt klar erkennbar, wird jedoch durch Zelenkas expressive Harmonik, seine charakteristische Linienführung und die empfindsame Textausdeutung erweitert.
https://www.youtube.com/watch?v=dHwSbgUfvY0
Das Werk ist in vier Abschnitte gegliedert. Der erste und letzte Teil („Salve Regina I“ / „Salve Regina II“) rahmen die Antiphon ein und greifen motivisch aufeinander zurück. Die mittleren Abschnitte („Ad te clamamus“ und „Eia ergo“) setzen stärker auf expressive Melodik und eine bewegliche Instrumentalbegleitung.
Überliefert ist das Werk hauptsächlich durch eine Abschrift von Gottlob Harrer (1703–1755), dem Nachfolger Johann Sebastian Bachs im Leipziger Thomaskantorat. Dank Harrers Kopie wurde das Stück in der Staatsbibliothek zu Berlin bewahrt; eine zweite Kopie stammt von einem anonymen Bach-Kopisten.
ZWV 137 gehört damit zu den geistlich und historisch bedeutenden Antiphonen Zelenkas, in denen seine Verbindung von italienischer Tradition und eigener Dresdner Klangsprache besonders deutlich hervortritt.
Lateinischer Text
I. Salve Regina
Salve, Regina, mater misericordiae,
vita, dulcedo et spes nostra, salve.
II. Ad te clamamus
Ad te clamamus, exsules filii Hevæ.
Ad te suspiramus, gementes et flentes
in hac lacrimarum valle.
III. Eia ergo
Eia ergo, advocata nostra,
illos tuos misericordes oculos
ad nos converte.
Et Jesum, benedictum fructum ventris tui,
nobis post hoc exsilium ostende.
IV. Salve Regina II
O clemens,
o pia,
o dulcis Virgo Maria.
Deutsche Übersetzung
I. Sei gegrüßt, o Königin
Sei gegrüßt, Königin, Mutter der Barmherzigkeit,
unser Leben, unsere Süße und unsere Hoffnung, sei gegrüßt.
II. Zu dir rufen wir
Zu dir rufen wir, verbannte Kinder Evas.
Zu dir seufzen wir, trauernd und weinend
in diesem Tal der Tränen.
III. Darum denn, unsere Fürsprecherin
Darum denn, unsere Fürsprecherin,
wende deine barmherzigen Augen
uns gnädig zu.
Und Jesus, die gesegnete Frucht deines Leibes,
zeige uns nach diesem Elend.
IV. Sei gegrüßt, o Königin (Schluss)
O gütige,
o milde,
o süße Jungfrau Maria.
CD-Vorschlag
Jan Dismas Zelenka – Missa 1724
Collegium 1704 und Collegium Vocale 1704
Leitung Václav Luks (* 1970)
Accent, 2020
Track 20: Salve Regina a-Moll, ZWV 137
https://www.youtube.com/watch?v=t9ov1r3n73M&list=OLAK5uy_l8tphUsW1VHm8vbpJrYMTvcpzK6yIuMyM&index=20
Salve Regina ZWV 138
ZWV 138 umfasst zwei verschiedene Salve-Regina-Vertonungen von Jan Dismas Zelenka, eine in C-Dur, eine in D-Dur.
Beide Werke werden in modernen Werkverzeichnissen eindeutig geführt – u. a. bei Klassika.info, wo ZWV 138 mit dem Titel „2 Salve Regina“ und den Tonarten C-Dur, D-Dur aufgeführt ist. Es handelt sich also nicht um ein einziges Stück, sondern um zwei eigenständige Kompositionen, die unter derselben Nummer gruppiert wurden.
Gattung: Marianische Antiphon „Salve Regina“ (zweimal).
Entstehungszeit ist nicht überliefert – die Kataloge nennen keine Jahresangabe.
Die Musik ist erhalten, denn die Werke sind als existent gelistet,
aber es gibt keine moderne Einspielung, keine CD und keine frei zugängliche Partitur im Internet.
Salve Regina in d-Moll, ZWV 139 (1724)
Das Salve Regina ZWV 139 ist die einzige Marienantiphon Zelenkas, die ausdrücklich für einen Solo-Bass komponiert wurde. Das autograph datiert aus dem Jahr 1724, also in die Phase, in der Zelenka nach seiner Rückkehr aus Wien am Dresdner Hof bereits eine führende Rolle in der geistlichen Musik einnahm. Das Werk umfasst vier unabhängige Sätze, die den Textabschnitten der Antiphon entsprechen.
https://www.youtube.com/watch?v=wSxbMphvtrM
Zelenka gestaltet den Einzelgesang in einer außergewöhnlichen Weise: Die Musik ist intensiv, expressiv und voller harmonischer Überraschungen. Besonders auffällig ist die ausgeprägte Chromatik, mit der er Schmerz, Bitte und Hoffnung des Textes deutet. Der zweite Abschnitt “Ad te clamamus” ist dramatisch gestaltet, mit drängenden Rhythmen und energischen melodischen Figuren, die echte Dringlichkeit vermitteln. Worte wie “gementes et flentes” („weinend und klagend“) malt Zelenka mit chromatischen Linien in gedehnten Noten aus; die Passage “in hac lacrimarum valle” („in diesem Tal der Tränen“) erhält eine expressiv ausgedehnte Koloratur voller überraschender Intervallsprünge.
Die späteren Sätze dagegen strahlen Innigkeit, Vertrauen und Hoffnung aus. Der Kontrast zwischen schmerzlicher Klage und leiser Zuversicht verleiht dem Werk eine große emotionale Tiefe. In seiner Mischung aus persönlichem Ausdruck, gesteigerter Chromatik und virtuoser Bassführung gehört ZWV 139 zu Zelenkas eindrucksvollsten Vokalwerken.
Besonders hervorzuheben ist die moderne Einspielung mit Tomáš Šelc (Bass), Jana Semerádová (Traversflöte) und dem Collegium Marianum, die das Werk in seiner gesamten Intensität und Zartheit erlebbar macht.
Lateinischer Text
I. Salve Regina
Salve, Regina, mater misericordiae;
vita, dulcedo, et spes nostra, salve.
II. Ad te clamamus
Ad te clamamus, exsules filii Hevae.
Ad te suspiramus, gementes et flentes
in hac lacrimarum valle.
III. Eia ergo
Eia ergo, advocata nostra,
illos tuos misericordes oculos
ad nos converte.
IV. Salve Regina (conclusio)
Et Jesum, benedictum fructum ventris tui,
nobis post hoc exsilium ostende.
O clemens, o pia,
o dulcis Virgo Maria.
Deutsche Übersetzung
I. Sei gegrüßt, o Königin
Sei gegrüßt, Königin, Mutter der Barmherzigkeit;
unser Leben, unsere Süße und unsere Hoffnung, sei gegrüßt.
II. Zu dir rufen wir
Zu dir rufen wir, vertriebene Kinder Evas.
Zu dir seufzen wir, klagend und weinend
in diesem Tal der Tränen.
III. Darum denn
Darum denn, unsere Fürsprecherin,
wende deine barmherzigen Augen
zu uns hin.
IV. Sei gegrüßt
Und Jesus, die gebenedeite Frucht deines Leibes,
zeige uns nach diesem Exil.
O gütige, o fromme,
o süße Jungfrau Maria.
CD-Vorschlag
Jan Dismas Zelenka – Lacrimae
Tomáš Šelc (Bass) , Collegium Marianum, Leitung: Jana Semerádová (* 1975), SUPRAPHON, 2025, Tracks 7–10 (Salve Regina ZWV 139):
https://www.youtube.com/watch?v=Osml7pFKLXk&list=OLAK5uy_mixq_BFXtCc7KIv16hMYAnujGtzdPV1cs&index=7
Salve Regina, ZWV 140
Das Salve Regina ZWV 140 gehört zu den selteneren und bisher kaum erforschten marianischen Antiphonen Jan Dismas Zelenkas (1679–1745). Das Werk ist undatiert, lässt sich stilistisch aber eindeutig der frühen Dresdner Zeit der 1720er Jahre zuordnen und steht in unmittelbarer Nähe zum Bass-Salve Regina ZWV 139 aus dem Jahr 1724. Die musikalische Verwandtschaft beider Werke – motivisch wie harmonisch – legt nahe, dass ZWV 140 entweder im selben Jahr oder wenige Jahre danach entstanden ist; eine gesicherte Datierung existiert jedoch nicht.
Die autographe Partitur ist vollständig überliefert und wurde 1998 erstmals ediert und aufgenommen. Diese Quelle ist besonders wertvoll, da ZWV 140 bislang nicht in gedruckten Gesamtausgaben erschienen ist. Wo genau die Handschrift aufbewahrt wird, lässt sich aus den öffentlich zugänglichen Katalogen nicht eindeutig bestimmen; mehrere Zelenka-Autographe befinden sich heute in Berlin und Dresden, doch ZWV 140 ist im Online-Nachweis nicht separat verzeichnet – daher ist hier keine Aussage möglich, ohne zu spekulieren.
https://www.youtube.com/watch?v=s3-1JqbIxu4
Musikalisch handelt es sich um ein Werk, das stilistisch auf Zelenkas eindringliche Ausdruckswelt der frühen 1730er Jahre vorausweist: ein konzentrierter Satz, geprägt von subtiler Chromatik, klarem Vokalfokus und charakteristischen harmonischen Wendungen. Die formale Nähe zu ZWV 139 zeigt sich in der Abfolge kurzer, affektstarker Abschnitte, die den Text meditativ und zugleich rhetorisch präzise ausdeuten. Der Tonfall bleibt durchgehend ernst, farbig und introspektiv – typisch für Zelenkas Marienantiphonen.
Besonders bemerkenswert ist, dass ZWV 140 lange praktisch unbekannt blieb. Bis zur ersten Einspielung im Jahr 1998 durch Gary Ekkel und die Schola Cantorum of Melbourne war das Werk nur Fachleuten zugänglich. Die Aufnahme erschien auf dem Album „O Rose So Red“ (Move Records) und stellt bis heute die einzige dokumentierte Einspielung dar. Der Tonträger scheint inzwischen vergriffen und ist weder im regulären Handel noch auf gängigen Streaming-Plattformen verfügbar.
Damit zählt ZWV 140 zu den seltenen Beispielen für Zelenkas geistliche Werke, die trotz erhaltener Partitur in der modernen Aufführungspraxis kaum präsent sind – ein stilles, aber kunstvoll gearbeitetes Stück aus seinem marianischen Œuvre.
CD-Vorschlag
Jan Dismas Zelenka – O Rose So Red
Schola Cantorum of Melbourne, Leitung: Gary Ekkel, Move Records, 1998, Track 19
(Hinweis: Die CD ist heute schwer erhältlich und im regulären Handel kaum auffindbar.)
https://music.apple.com/kz/song/salve-regina/1160250193
Salve Regina, ZWV 141
ZWV 141 ist eine Marienantiphon in g-Moll für vierstimmigen Chor (SATB) mit Streichern und Basso continuo. Die Besonderheit: Zelenka baut das Stück als Parodie auf ein Orgel-Ricercar von Girolamo Frescobaldi (1583–1643) auf, genauer auf das Ricercar dopo il Credo aus der „Messa della Madonna“ in den Fiori musicali (1635). Aus der strengen, vierstimmigen Orgelpolyphonie wird ein vokalinstrumentales Salve-Regina, in dem der dichte Kontrapunkt erhalten bleibt, Zelenka aber mit seiner typischen expressiven Harmonik und einem auffälligen passus duriusculus („harter“ chromatischer Abwärtsgang) gleich zu Beginn die Klagefarbe des Textes „Salve Regina, mater misericordiae“ zuspitzt. Die Komposition dürfte aus den späten 1730er-Jahren stammen; das Autograph ging im Luftangriff auf Dresden 1945 verloren, überliefert ist das Werk in einer Abschrift des Leipziger Thomaskantors Gottlob Harrer (1703–1755), die im 19. Jahrhundert gedruckt wurde.
https://www.youtube.com/watch?v=Zcv09Rksmlg
Jan Dismas Zelenka Magnificat – Sacred Compositions for Soloists, Chorus and Orchestra, Prague Philharmonic Choir und der Czech Philharmonic Orchestra unter der Leitung von Lubomír Mátl (1941–2020). Supraphon, Erstveröffentlichung 1983, CD-Ausgabe 1997, Track 10:
https://www.youtube.com/watch?v=2yYmyuBkAYc&list=OLAK5uy_mChkfiVxyyCpypa7r1FakM_mKR98mMKTE&index=10
Te Deum in D-Dur, ZWV 145
Das um 1724 entstandene Te Deum in D-Dur ZWV 145 gehört zu den feierlichsten und repräsentativsten großformatigen Chorwerken Jan Dismas Zelenkas. Für die Dresdner Hofkirche konzipiert, verbindet es prachtvolle barocke Festlichkeit mit einer geistlichen Ausdruckskraft, die für Zelenkas reifen Stil charakteristisch ist. Die Besetzung ist entsprechend weit gespannt: SSATB-Chor, fünf Solisten, Trompeten, Pauken, zwei Oboen, Streicher und Continuo – eine Hofbesetzung für besonders feierliche Anlässe, etwa Dankgottesdienste, politische Festakte oder dynastische Feierlichkeiten des kursächsischen Hauses.
https://www.youtube.com/watch?v=_IHk2UIS5x4.
Das Werk ist in vierzehn eigenständige Abschnitte gegliedert, die den ambrosianischen Hymnus von einem kontinuierlichen Gebetsgesang in eine dramaturgisch abgestufte Folge kontrastierender, aber organisch verbundener Sätze verwandeln. Die äußere Form wird von fanfarengeschmückten Chorsätzen geprägt, während im Inneren lyrische Arien, ein Duett, rezitativisch anmutende Überleitungen und kontrapunktische Chornummern ein vielgestaltiges Klangprofil formen. So entsteht eine festliche, aber zugleich tief geistliche Gesamtstruktur, deren Spannungsbogen bis in die eindrucksvolle Schlussfuge reicht.
Zelenka greift mehrfach auf musikalisches Material zurück, das er 1725 im Prager Melodram Sub olea pacis et palma virtutis ZWV 175 verwendet hatte – namentlich der Eröffnungssatz Te Deum laudamus, das Duett Per singulos dies sowie die Bassarie Dignare Domine II. Die geschickte Überarbeitung dieses Materials zeigt seine Fähigkeit, frühere Gedanken in einen neuen liturgischen Zusammenhang einzubetten und dabei erheblich aufzuwerten.
Der zyklische Kern des Werkes liegt in den neun Chorsätzen, die das klangliche Fundament bilden. In den schnellen Abschnitten herrscht ein virtuoser Wettstreit zwischen Chor und Orchester, oft mit italienischem Concertato-Gestus und markanten Ritornellen; in den langsamen, besonders in Judex crederis oder Miserere, entfaltet Zelenka dagegen eine chromatisch verdichtete, eindringliche Ausdruckswelt, die dem Text eine beeindruckende Tiefe verleiht. Den Abschluss bildet die große Fuge „In te Domine speravi“, ein monumentaler Schlusspunkt, der die kontrapunktische Meisterschaft Zelenkas in voller Reife zeigt und den formalen Bogen des gesamten Werkes schließt.
Die autographe Partitur wird heute in der Sächsischen Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek Dresden unter der Signatur Mus. 2358-D-47 aufbewahrt. Die Quelle ist vollständig erhalten und ermöglicht eine gesicherte Aufführungspraxis.
In seiner Gesamtheit ist ZWV 145 ein Paradebeispiel für Zelenkas musikalische Handschrift: eine Verbindung aus prachtvoller barocker Repräsentation, harmonischer Kühnheit, scharfer Textausdeutung und tief empfundener Frömmigkeit. Innerhalb seines geistlichen Œuvres nimmt dieses Te Deum die Rolle eines zentralen Festwerkes ein – monumental, konzentriert und kompositorisch außerordentlich kunstvoll.
TE DEUM – Lateinischer gesamttext (in 14 Abschnitten)
I. Te Deum laudamus
Te Deum laudamus: te Dominum confitemur.
Te aeternum Patrem omnis terra veneratur.
II. Sanctus
Tibi omnes Angeli, tibi caeli et universae Potestates:
tibi Cherubim et Seraphim incessabili voce proclamant:
III. Pleni sunt caeli
Sanctus, Sanctus, Sanctus Dominus Deus Sabaoth.
Pleni sunt caeli et terra maiestatis gloriae tuae.
IV. Te gloriosus Apostolorum chorus
Te gloriosus Apostolorum chorus,
te Prophetarum laudabilis numerus,
te Martyrum candidatus laudat exercitus.
V. Tu ad liberandum
Te per orbem terrarum sancta confitetur Ecclesia:
Patrem immensae maiestatis;
venerandum tuum verum et unicum Filium;
Sanctum quoque Paraclitum Spiritum.
Tu Rex gloriae, Christe.
Tu Patris sempiternus es Filius.
Tu ad liberandum suscepturus hominem,
non horruisti Virginis uterum.
Tu devicto mortis aculeo
aperuisti credentibus regna caelorum.
VI. Iudex crederis
Tu ad dexteram Dei sedes, in gloria Patris.
Iudex crederis esse venturus.
VII. Aeterna fac
Te ergo quaesumus famulis tuis subveni,
quos pretioso sanguine redemisti.
Aeterna fac cum sanctis tuis
in gloria numerari.
VIII. Intonatio: Salvum fac
Salvum fac populum tuum, Domine,
et benedic hereditati tuae.
IX. Et rege eos
Et rege eos, et extolle illos usque in aeternum.
Per singulos dies benedicimus te.
Et laudamus nomen tuum in saeculum,
et in saeculum saeculi.
X. Per singulos dies
Dignare, Domine, die isto
sine peccato nos custodire.
XI. Dignare Domine I
Miserere nostri, Domine, miserere nostri.
XII. Dignare Domine II
Fiat misericordia tua, Domine, super nos,
quemadmodum speravimus in te.
XIII. Miserere
In te Domine speravi:
non confundar in aeternum.
XIV. In te Domine (Fuga)
In te Domine speravi:
non confundar in aeternum.
TE DEUM – Deutsche Übersetzung
I. Te Deum laudamus
Dich, Gott, loben wir;
dich, Herr, preisen wir.
Dich, ewigen Vater, verehrt die ganze Erde.
II. Sanctus
Dir dienen alle Engel,
dir der Himmel und alle Mächte;
dir rufen Cherubim und Seraphim
mit unaufhörlicher Stimme zu:
III. Pleni sunt caeli
Heilig, heilig, heilig
ist Gott, der Herr der Heerscharen.
Voll sind Himmel und Erde
von deiner herrlichen Majestät.
IV. Te gloriosus Apostolorum chorus
Dich rühmt der glorreiche Chor der Apostel,
dich preist die herrliche Zahl der Propheten,
dich lobt das weiße Heer der Märtyrer.
V. Tu ad liberandum
Dich bekennt über den Erdkreis
die heilige Kirche:
den Vater unendlicher Majestät,
deinen ehrwürdigen, wahren und einigen Sohn,
und den Heiligen Geist, den Tröster.
Du, Christus, bist der König der Herrlichkeit.
Du bist des Vaters ewiger Sohn.
Du hast, um den Menschen zu erlösen,
den Schoß der Jungfrau nicht verschmäht.
Du hast durch deinen Tod den Tod besiegt
und den Gläubigen das Himmelreich eröffnet.
VI. Iudex crederis
Du sitzest zur Rechten Gottes,
in der Herrlichkeit des Vaters.
Als Richter, glauben wir, wirst du kommen.
VII. Aeterna fac
So bitten wir dich: Hilf deinen Dienern,
die du mit deinem teuren Blut erlöst hast.
Mache uns mit deinen Heiligen
zu ewiger Herrlichkeit gezählt.
VIII. Salvum fac
Rette dein Volk, o Herr,
und segne dein Erbe.
IX. Et rege eos
Führe sie und erhebe sie
auf ewig.
An jedem Tag preisen wir dich
und rühmen deinen Namen für immer
und in alle Ewigkeit.
X. Per singulos dies
Würdig sei es, Herr,
dass du uns an diesem Tag
vor Sünde bewahrst.
XI. Dignare Domine I
Erbarme dich unser, Herr,
erbarme dich unser.
XII. Dignare Domine II
Dein Erbarmen, Herr,
sei über uns,
wie wir auf dich vertraut haben.
XIII. Miserere
Auf dich, o Herr, habe ich gehofft:
Ich werde in Ewigkeit nicht zuschanden werden.
XIV. In te Domine (Fuga)
Auf dich, o Herr, habe ich gehofft:
Ich werde in Ewigkeit nicht zuschanden werden.
CD-Vorschlag
Jan Dismas Zelenka, Te Deum und Missa Eucharistica, Ensemble Inégal, Leitung Adam Viktora (* 1973), Nibiru, 2024, Tracks 1 bis 14:
https://www.youtube.com/watch?v=iDU979k044M&list=OLAK5uy_kxekG0yKRrm8Iqp1NPDOwSWo7S5E4TYIU&index=2
Te Deum in D-Dur, ZWV 146
Das Te Deum ZWV 146, komponiert 1731, ist Zelenkas großartigstes und monumentalstes Festwerk. Im Unterschied zum früheren Te Deum ZWV 145 ist diese spätere Fassung für Doppelchor und großes Orchester geschrieben, darunter vier Trompeten und Pauken, zwei Oboen, Streicher und Orgelcontinuo – eine der größten Besetzungen, die Zelenka überhaupt verwendet hat.
Die Entstehung fällt in das Jahr 1731, und die erhaltenen Quellen legen nahe, dass Zelenka das Werk für einen besonderen Anlass schrieb: die Geburt der sächsischen Prinzessin Maria Josepha Carolina Eleonora Francisca Xaveria (4. November 1731). Ein offizielles Te Deum wurde damals im Dresdner Hofkirchenkalender vermerkt. Auch wenn die Dokumente kein explizites „Zelenka“ nennen, legt die zeitliche Nähe die Verwendung einer neuen, außergewöhnlich prächtigen Komposition nahe – und das ZWV 146 erfüllt musikalisch exakt die Anforderungen eines kurfürstlichen Dankgottesdienstes.
https://www.youtube.com/watch?v=nwI5nPDwp1M
Musikalisch übersteigt ZWV 146 fast alles, was Zelenka im Bereich der Kirchenmusik geschaffen hat. Der Eröffnungssatz „Te Deum laudamus“ entfaltet einen majestätischen D-Dur-Festklang: fanfarenartige Trompetenrufe, strahlender Doppelchor und eine kraftvolle rhythmische Architektur. Diese Klangpracht wird im Verlauf des Werkes durch wechselnde Satzmodelle kontrastiert: Soli, kleine Konzertationen, imitatorische Chöre, homophone Massenwirkung und virtuose Fugen.
Ein besonderes architektonisches Merkmal ist die Zweiteilung des Werkes durch die monodische gregorianische Intonation „Salvum fac“ (Satz VII). Hier unterbricht Zelenka bewusst den instrumentalen Festklang: Tenöre und Bässe singen a cappella mit Orgel und tiefen Streichern (tasto solo) als traditionelles liturgisches Element. Diese Zäsur entspricht der Praxis des Eucharistischen Segens und ist in barocker Kirchenmusik selten in dieser Deutlichkeit eingearbeitet.
Nach dieser liturgischen Mitte steigert sich das Werk erneut zu voller orchestraler Pracht. Besonders eindrucksvoll sind:
„Per singulos dies“, ein kunstvolles Trio für zwei Soprane und Alt, das zwischen zarter Linienführung und energischer Bewegung changiert;
„In te, Domine speravi“, ein abschließender Doppelfugensatz für den Doppelchor, der das Werk in einer flammenden, strahlenden Apotheose beendet – einer der großartigsten polyphonen Schlusssätze aus Zelenkas reifer Dresdner Zeit.
Insgesamt ist ZWV 146 ein Werk von überwältigender Festlichkeit, außergewöhnlicher kompositorischer Souveränität und liturgischer Bedeutung. Es gehört zu den größten barocken Te-Deum-Vertonungen überhaupt – neben Lully, Charpentier und Händel – und zugleich zu Zelenkas geistlichen Meisterwerken.
Gliederung
I. Te Deum laudamus – Chor
II. Tu rex gloriae – Sopran, Alt
III. Tu ad liberandum – Alt
IV. Tu ad dexteram Dei sedes – Tenor, Bass
V. Judex crederis – Chor
VI. Aeterna fac – Chor, Fuge
VII. Intonatio: Salvum fac – Gregorianische Intonation (TTB)
VIII. Et rege eos – Chor
IX. Per singulos dies – 2 Soprane, Alt
X. In te, Domine – Chor, Doppelfuge
Der verwendete Text entspricht dem traditionellen lateinischen Te-Deum-Hymnus und ist daher in beiden Vertonungen – ZWV 145 und ZWV 146 – identisch.
Es existiert derzeit keine kommerziell veröffentlichte CD-Einspielung von ZWV 146. Die einzige nachweisbare vollständige Aufführung ist:
Collegium 1704 und Collegium Vocale 1704, Leitung Václav Luks (* 1970), live aufgenommen am 20. August 2011, Abbatiale Saint-Robert, Frankreich.
Magnificat in C, ZWV 107
Das Magnificat in C-Dur, ZWV 107, gehört zu Zelenkas frühen großformatigen Vesperkompositionen und zeigt bereits jene charakteristische Verbindung aus leuchtender Festlichkeit, konzertierender Virtuosität und kontrapunktischer Strenge, die später sein reifes Dresdner Schaffen prägen sollte. Die Entstehung wird in der Forschung meist in die frühen 1720er Jahre datiert, also in die Phase nach der Rückkehr aus Wien, als Zelenka im Dresdner Hofdienst zunehmend mit repräsentativen liturgischen Aufgaben betraut wurde.
https://www.youtube.com/watch?v=t4ul-IH8DIU
Das Werk ist für Soli, Chor und Orchester in festlichem C-Dur angelegt. Schon die Eröffnung „Magnificat anima mea Dominum“ ist breit angelegt und entfaltet den Text mit strahlenden, hellen Klangfarben der Streicher und Oboen. In den folgenden Abschnitten nutzt Zelenka die klassischen Kontraste des barocken Vesperstils: schnelle, motorisch bewegte Episoden stehen neben ruhigeren, lyrischen Passagen; kurze solistische Einschübe lockern die Struktur auf, während der Chor oft als tragende Kraft fungiert und den Lobcharakter des Textes großräumig ausleuchtet.
Besonders charakteristisch ist Zelenkas Umgang mit rhetorischen Wendungen: Worte wie „dispersit“, „deposit“, „exaltavit“ oder „esurientes“ erhalten farbig ausgearbeitete musikalische Gesten, die dem Inhalt unmittelbar Ausdruck verleihen. Die Harmonik ist heller und direkter als in manchen späteren Werken, doch schon hier zeigt sich Zelenkas Sinn für überraschende Akkordverbindungen und markante chromatische Linien.
Das Werk schließt mit einem repräsentativen „Gloria Patri“ und einer energischen Schlussfuge „Sicut erat“, in der Zelenkas kontrapunktische Meisterschaft bereits deutlich hervortritt. Insgesamt ist ZWV 107 ein leuchtendes, festliches und kunstvoll gebautes Magnificat, das den Reichtum des sächsischen Hofgottesdienstes in Dresden anschaulich widerspiegelt.
Lateinischer Text
Magnificat anima mea Dominum.
Et exsultavit spiritus meus in Deo salutari meo.
Quia respexit humilitatem ancillae suae:
ecce enim ex hoc beatam me dicent omnes generationes.
Quia fecit mihi magna qui potens est:
et sanctum nomen eius.
Et misericordia eius a progenie in progenies timentibus eum.
Fecit potentiam in brachio suo:
dispersit superbos mente cordis sui.
Deposuit potentes de sede,
et exaltavit humiles.
Esurientes implevit bonis,
et divites dimisit inanes.
Suscepit Israel puerum suum,
recordatus misericordiae suae.
Sicut locutus est ad patres nostros,
Abraham et semini eius in saecula.
Gloria Patri et Filio et Spiritui Sancto.
Sicut erat in principio et nunc et semper
et in saecula saeculorum. Amen.
Deutsche Übersetzung
Meine Seele preist den Herrn,
und mein Geist jubelt über Gott, meinen Retter.
Denn er hat herabgeschaut auf die Niedrigkeit seiner Magd;
siehe, von nun an preisen mich selig alle Geschlechter.
Denn Großes hat an mir getan der Mächtige,
und heilig ist sein Name.
Sein Erbarmen währt von Geschlecht zu Geschlecht
über alle, die ihn fürchten.
Er wirkte Gewalt mit seinem Arm:
er zerstreute die Hoffärtigen im Denken ihres Herzens.
Die Mächtigen stieß er vom Thron
und erhöhte die Niedrigen.
Die Hungernden erfüllte er mit Gütern,
und die Reichen ließ er leer ausgehen.
Er nahm sich seines Knechtes Israel an,
gedachte seines Erbarmens,
wie er unseren Vätern verheißen hat,
Abraham und seinen Nachkommen auf ewig.
Ehre sei dem Vater und dem Sohn und dem Heiligen Geist,
wie im Anfang, so auch jetzt und allezeit
und in Ewigkeit. Amen.
CD-Vorschlag
Zelenka – Music from Eighteenth-Century Prague, Musica Florea, Leitung Marek Štryncl (* 1974), SUPRAPHON a.s., 2012, Tracks 1 und 2:
https://www.youtube.com/watch?v=7j2efJHM5Sw&list=OLAK5uy_k0I8RO14KJZl3zWrju8J83t0hSWmEw71c&index=2
Magnificat in D-Dur, ZWV 108
Das Magnificat in D-Dur, ZWV 108, entstand im Jahr 1725 und gehört zu den reifen und zugleich klar disponierten Vesperkompositionen Jan Dismas Zelenkas. Anders als die späteren Werke mit festlichem Trompetenapparat ist ZWV 108 in seiner Urgestalt für ein moderates Vesperorchester gedacht: zwei Oboen, Streicher und Continuo, dazu Sopran- und Alt-Solo sowie SATB-Chor. Erst zu einem späteren Zeitpunkt ergänzte Zelenka – wie eine separate Handschrift belegt – optionale Stimmen für Pauken und vier Trompeten, die dem Werk einen feierlicheren Charakter verleihen, jedoch nicht zur ursprünglichen Komposition gehörten.
Die Entstehung ohne festliche Trompeten weist darauf hin, dass Zelenka dieses Magnificat nicht für die zweite (feierlichere) Vesper eines Hochfestes, sondern eher für die Vorabendvesper („Erste Vesper“) eines Festtages oder für einen Sonntag geringerer liturgischer Klasse komponierte. Damit gehört ZWV 108 zu seinen alltagstauglichen, funktional breit einsetzbaren Vesperwerken.
Im Vergleich zu einem großformatigen Magnificat wie J. S. Bachs Magnificat in D-Dur wirkt Zelenkas Werk dreisätzig, konzentriert und formal straff. Zelenka beschränkt die Form auf eine klare Dreiteilung, deren musikalische Substanz jedoch außerordentlich kunstvoll gesetzt ist.
https://www.youtube.com/watch?v=QEjnKysWrjo
I. Magnificat anima mea Dominum
Der Eröffnungssatz wird geprägt von einem fünf Takte langen Ritornell des Continuos, das als strukturelles Motiv an verschiedenen Stellen wiederkehrt. Der Sopran zitiert im ersten Choreinsatz die psalmodierende Melodie des VIII. Psalmtons, wie er traditionell im Magnificat verwendet wird.
Der folgende Allegro-Teil entfaltet sich in einem Wechselspiel von Sopran-Sololinie, virtuosen Violinsoli und homophonen bzw. imitatorischen Chorrepliken. In den Bassstimmen des Chores zeigt sich eine klare Beziehung zum eröffnenden Ritornellmotiv, wodurch der Satz eine organische innere Bindung erhält.
Der Satz zählt zu Zelenkas elegantesten Beispielen eines concertato-Stils: Solistische Passagen und chorische Tutti bauen eine geschmeidige Architektur, in der kantable Linien, brillantes Violinsolo und klar strukturierter Chorsatz miteinander verflochten sind.
II. Suscepit Israel
Der Mittelteil gehört ausschließlich dem Alt-Solo, dessen lyrische Linien von einem Holzbläsertrio (2 Oboen, Fagott) umrahmt werden.
Diese Besetzung verleiht dem Satz einen warmen, pastoralen Tonfall. Die Musik atmet eine fast kammermusikalische Intimität, die sich ideal für den Text eignet, der vom treuen Beistand Gottes für Israel spricht.
Die Instrumentalepisoden sind kunstvoll gearbeitet: das Fagott führt oft eine eigenständige Basslinie, die Oboen antworten in zarten Intervallen oder imitieren die Solostimme. Der Satz bildet das meditative Zentrum der Komposition.
III. Amen (Doppelfuge)
Der Schluss ist eine groß angelegte Doppelfuge, eines der eindrucksvollsten kontrapunktischen Beispiele Zelenkas aus dieser Zeit.
Zunächst werden die beiden Fugenthemen nacheinander vorgestellt, danach ineinander verwoben, bis ein dicht strukturiertes polyphones Gewebe entsteht.
Eine Besonderheit besteht darin, dass das Orchester – mit Ausnahme eines einzigen Continuo-Ruhetaktes in der Mitte der Fuge – colla parte spielt, also die Chorlinien verdoppelt und damit die kontrapunktische Struktur scharf konturiert.
Der Satz steigert sich kontinuierlich und mündet in ein strahlendes Schluss-„Amen“, das in seiner formalen Prägnanz und polyphonen Meisterschaft weit über den liturgischen Zweck hinausweist.
Besondere historische Bedeutung
Ein bemerkenswertes Detail der Rezeptionsgeschichte: Wilhelm Friedemann Bach fertigte eine Abschrift des „Amen“-Teils für seinen Vater Johann Sebastian Bach, der Zelenkas Musik schätzte und im persönlichen Austausch mit ihm stand. Die Abschrift diente der Verwendung in Leipzigs Thomaskirche.
Dieser Vorgang belegt nicht nur die Wertschätzung der Bachs für Zelenkas Kunst, sondern auch, wie weit einzelne Dresdner Werke in qualifizierte musikalische Kreise vordrangen, obwohl der Großteil von Zelenkas Œuvre am kurfürstlichen Hof streng unter Verschluss blieb.
Lateinischer Text
I. Magnificat anima mea Dominum
Magnificat anima mea Dominum,
et exsultavit spiritus meus in Deo salutari meo.
II. Suscepit Israel
Suscepit Israel puerum suum,
recordatus misericordiae suae.
Sicut locutus est ad patres nostros,
Abraham et semini eius in saecula.
III. Amen
Amen.
Zelenka verwendet nur ausgewählte Verse des Magnificat – entsprechend dem dreiteiligen Aufbau.
Deutsche Übersetzung
I. Magnificat anima mea Dominum
Meine Seele preist den Herrn,
und mein Geist jubelt über Gott, meinen Retter.
II. Suscepit Israel
Er hat sich Israels, seines Knechtes, angenommen,
gedenkt seiner Barmherzigkeit,
wie er es unseren Vätern verheißen hat,
Abraham und seinen Kindern auf ewig.
III. Amen
Amen.
CD-Vorschlag
Jan Dismas Zelenka, Geistliche Werke für Soli, Chor und Orchester
Capella Piccola – Barockorchester Metamorphosis Köln, Leitung Thomas Reuber (* 1959), Bella Musica Edition, 1997, Tracks 12–14:
https://www.youtube.com/watch?v=4U2zLHOnodo&list=OLAK5uy_l_m8z8kILN73spAQhDKCmxwl5b5dvSlf0&index=12
De profundis in d-Moll, ZWV 50
Das 1724 komponierte De profundis ZWV 50 ist eines der ergreifendsten und persönlichsten Werke Jan Dismas Zelenkas. Der Anlass ist eindeutig dokumentiert: Zelenka schrieb die Komposition nach dem Tod seines Vaters Jiří Zelenka († 7. Februar 1724) und ließ sie — mit Erlaubnis des Hofbeamten Baron von Mordaxt (?) — am 1. März 1724 in Dresden als Totenmusik zur feierlichen Exequie aufführen. Die eigenhändige Widmungsnotiz im Autograph ist vollständig überliefert und beschreibt das Werk ausdrücklich als letzte pietätvolle Gabe eines trauernden Sohnes an seinen verstorbenen Vater.
Musikalisch ist ZWV 50 eine der ernstesten und farbenreichsten Psalmenkompositionen des späten Barocks. Das Werk ist ungewöhnlich groß besetzt: mehrere Bass-Solisten, Alt, Tenor, gemischter Chor, Streicher, Oboen und vor allem ein ausdrucksstarker Posaunenchor, dessen weicher, dunkler Klang dem Werk ein unverwechselbares „austro-bohmisches“ Kolorit verleiht. Die Harmonik ist reich an chromatischen Abwärtsbewegungen, Dissonanzen und Seufzerfiguren, wie sie die musikalische Ikonographie der Trauer prägen. Trotz der fünf deutlich getrennten Abschnitte bleibt das Werk durch ein strenges kontrapunktisches Netz zusammengehalten — ein Zeichen von Zelenkas Meisterschaft.
https://www.youtube.com/watch?v=BjTYDswmiRY
Der erste Satz beginnt mit drei Bass-Stimmen, die im tiefen Register den Ruf „De profundis“ wie aus einer Abgrundtiefe heraus formen. Der zweite Satz „Si iniquitates“ ist ein Chorsatz im Hymnus-Ton, getragen von der würdevollen Schwere der Posaunen. Der dritte Satz setzt mit der zarten, wartenden Melodik von Alt und Tenor an: „Sustinuit anima mea in verbo eius“. Der vierte Teil führt zu einer hoffnungsvollen Wendung — die Zusage von Gottes Erlösung — bevor das Werk im „Requiem aeternam“, einer eigenen Schlussfuge, in liturgische Tiefe übergeht. Diese Erweiterung des Psalms durch ein Requiem-Versikel ist typisch für Zelenkas geistliche Musik und unterstreicht den memorialen Charakter des Werks.
De profundis ZWV 50 ist ein Werk großer persönlicher Intensität, aber auch von beeindruckendem repräsentativem Ernst. Es verbindet Trauer, liturgische Würde und kompositorische Virtuosität zu einer der bedeutendsten barocken Vertonungen des 130. Psalms.
Lateinischer Text
De profundis clamavi ad te, Domine;
Domine, exaudi vocem meam.
Fiant aures tuae intendentes
in vocem deprecationis meae.
Si iniquitates observaveris, Domine,
Domine, quis sustinebit?
Quia apud te propitiatio est;
et propter legem tuam sustinui te, Domine.
Sustinuit anima mea in verbo eius;
speravit anima mea in Domino.
A custodia matutina usque ad noctem,
speret Israel in Domino.
Quia apud Dominum misericordia,
et copiosa apud eum redemptio.
Et ipse redimet Israel
ex omnibus iniquitatibus eius.
Requiem aeternam dona eis, Domine,
et lux perpetua luceat eis.
Deutsche Übersetzung
Aus der Tiefe rufe ich, Herr, zu dir;
Herr, höre meine Stimme.
Lass deine Ohren aufmerksam sein
auf das Flehen meiner Bitte.
Wenn du, Herr, die Sünden anrechnest,
Herr, wer wird bestehen?
Doch bei dir ist Vergebung;
und deinem Wort entsprechend harrte ich auf dich, o Herr.
Meine Seele harrt auf sein Wort;
meine Seele hofft auf den Herrn.
Von der Morgenwache bis zur Nacht
hoffe Israel auf den Herrn.
Denn beim Herrn ist die Barmherzigkeit
und bei ihm ist reiche Erlösung.
Er selbst wird Israel erlösen
aus all seinen Sünden.
Herr, gib ihnen die ewige Ruhe,
und das ewige Licht leuchte ihnen.
CD-Vorschlag
Jan Dismas Zelenka, Missa Sancti Josephi – De profundis – In exitu Israel
Kammerchor Stuttgart und Barockorchester Stuttgart, Leitung Frieder Bernius (* 1947), Carus, 2018 – Tracks 14 bis 18:
https://www.youtube.com/watch?v=g4b9PHZLRvg&list=OLAK5uy_mTxUNohw_N6GY584Jw2l-LIMyen-JH0ts&index=14
De profundis in g-Moll, ZWV 95
Das De profundis ZWV 95 gehört zu Zelenkas drei Vertonungen des Psalmtextes De profundis clamavi ad te, Domine und stellt die kürzeste dieser Fassungen dar. Der Komponist datierte das Autograph eindeutig auf 29. Dezember 1728, also unmittelbar nach Abschluss des Credo seiner Missa Circumcisionis ZWV 11 (datiert auf 28. Dezember 1728). Das Werk entstand damit in einer besonders intensiven Arbeitsphase während der Weihnachtsoktav.
ZWV 95 ist nur 49 Takte lang und bildet eines der kompaktesten Vesperwerke Zelenkas. Die Kürze ist liturgisch begründet: Psalm 129 (Vulgata: 130) wird ausschließlich in den Vespern der Weihnachtsoktav (25. Dezember – 1. Januar) verwendet. Die Aufführung dürfte durch die Kapellknaben erfolgt sein, die am 29. Dezember wieder ihren Dienst aufnahmen.
https://www.youtube.com/watch?v=Jb4to5XQEKg
Der Satz ist in g-Moll notiert und zeichnet sich durch Schlichtheit, Klarheit und völlige Konzentration auf den Text aus. Die Struktur folgt der barocken „Rahmenform“: Das musikalische Material des Beginns kehrt beim Sicut erat in principio der Doxologie wieder, sodass ein geschlossener Bogen entsteht. Ursprünglich ließ Zelenka die oberen Streicher und Oboen den vierstimmigen Chor lediglich colla parte verdoppeln; auch der Bassgang war zunächst ungefiguriert. Später ergänzte er einfache selbständige Violinstimmen – das bezeugen die Katalogeinträge der Dresdner Hofbibliothek von 1765 und ca. 1784.
Musikalisch wirkt ZWV 95 wie eine innige, ausdrucksvolle Miniatur: Der Wechsel zwischen Chorteilen und kurzen Solopassagen schafft trotz der Kürze eine dichte geistliche Atmosphäre. Das Werk ist gleichzeitig ein Beispiel dafür, wie Zelenka selbst in kleinsten Formen kontrapunktische Klarheit, kompositorische Ökonomie und liturgische Zweckmäßigkeit zu verbinden wusste.
Lateinischer Text (Psalm 129 + Doxologie)
De profundis clamavi ad te, Domine;
Domine, exaudi vocem meam.
Fiant aures tuae intendentes
in vocem deprecationis meae.
Si iniquitates observaveris, Domine,
Domine, quis sustinebit?
Quia apud te propitiatio est;
et propter legem tuam sustinui te, Domine.
Sustinuit anima mea in verbo eius;
speravit anima mea in Domino.
A custodia matutina usque ad noctem,
speret Israel in Domino.
Quia apud Dominum misericordia,
et copiosa apud eum redemptio.
Et ipse redimet Israel
ex omnibus iniquitatibus eius.
Gloria Patri et Filio et Spiritui Sancto;
sicut erat in principio et nunc et semper,
et in saecula saeculorum. Amen.
Deutsche Übersetzung
Aus der Tiefe rufe ich, Herr, zu dir.
Herr, höre meine Stimme!
Lass deine Ohren achten
auf mein Flehen.
Wenn du, Herr, die Sünden anrechnest –
Herr, wer kann bestehen?
Doch bei dir ist Vergebung;
darum hoffe ich, Herr, auf dich.
Meine Seele wartet auf sein Wort;
meine Seele hofft auf den Herrn.
Von der Morgenwache bis zur Nacht
hoffe Israel auf den Herrn.
Denn beim Herrn ist die Barmherzigkeit,
und reich ist seine Erlösung.
Er wird Israel erlösen
aus all seinen Sünden.
Ehre sei dem Vater und dem Sohn und dem Heiligen Geist,
wie im Anfang, so auch jetzt und allezeit
und in Ewigkeit. Amen.
CD-Vorschlag
Jan Dismas Zelenka – Psalmi Varii, Separatim Scripti
Ensemble Inégal, Leitung Adam Viktora (* 1973), Nibiru, 2018, Track 5:
https://www.youtube.com/watch?v=Gyi9NOOUXU0&list=OLAK5uy_lQ2lUV0-s-oj2Z9LPI5ey7sqPQL8l-gQk&index=5
De profundis in d-Moll, ZWV 96
Zelenkas De profundis ZWV 96 gehört zu seinen eindrucksvollsten Vertonungen des Bußpsalms 129 und stellt eine deutliche Weiterentwicklung gegenüber der kürzeren, liturgisch funktionalen Fassung ZWV 95 dar. Das Werk entstand spät im Jahr 1727, in einer Zeit, in der Zelenka für die Dresdner Hofkirche zunehmend umfangreichere und künstlerisch anspruchsvolle Psalmvertonungen schuf. Die autographe Partitur zeigt ein Werk von deutlich größerem Umfang, differenzierter Architektur und gesteigerter vokaler sowie instrumentaler Komplexität.
Zelenka gliedert die Komposition in drei große Abschnitte, die eine klare seelische Dramaturgie entfalten: ein eröffnender Klagegesang des Basssolisten, ein kontemplativer, polyphon entwickelter Chorsatz über den Hoffnungskern des Psalms, sowie ein machtvolles, leuchtendes Gloria Patri, das die Komposition mit einer Mischung aus kontrapunktischer Strenge und liturgischer Festlichkeit beschließt. Der Einsatz zweier profilierter Solopartien – Bass im ersten Satz, Tenor im dritten Satz – weist darauf hin, dass Zelenka um 1727 über hervorragend geschulte männliche Sänger verfügte, deren Fähigkeiten er wirkungsvoll einzusetzen wusste.
https://www.youtube.com/watch?v=9UD93tn8AAc
Der eröffnende Satz erschließt das Dunkel der klagenden ersten Psalmverse in d-Moll. Der Basssolist führt in einer weiten, chromatisch intensivierten Linie durch den Abgrund des de profundis, während das Orchester eine dichte, fast bedrückende harmonische Grundierung schafft. Das Werk öffnet sich im zweiten Abschnitt, wenn der Chor die Worte Sustinuit anima mea aufgreift: Hier verleiht Zelenka dem Psalm seine entscheidende Wendung von Klage zu Hoffnung. Der Satz ist reich an imitatorischen Einsätzen, eng geführten Linien und einer bemerkenswerten Innerlichkeit, die den Text zum Zentrum einer geistig-musikalischen Meditation macht.
Im abschließenden Gloria Patri entfaltet Zelenka eine strahlende, an den großen Doxologien seiner Psalmi-Vespertini orientierte Komposition. Der Tenor tritt solistisch hervor, bevor Chor und Orchester in einer architektonisch streng gebauten Fuge zusammenfinden, die mit einem kunstvollen kontrapunktischen Gefüge und einem getragenen liturgischen Glanz endet. Das Werk schließt mit Zelenkas charakteristischer Widmungsformel A M D G V M OO SS H AA P J R, die Gott, der Gottesmutter, allen Heiligen sowie den fürstlichen Gönnern gewidmet ist.
De profundis ZWV 96 ist eine vollendete Mischung aus persönlicher Ausdruckskraft, liturgischer Funktion und hohem kompositorischen Anspruch – ein Werk, das durch seine seelische Tiefe und dramatische Gestaltungskraft zu den bewegendsten Psalmenvertonungen Zelenkas zählt.
Lateinischer Text (Psalm 129 + Gloria Patri)
De profundis clamavi ad te, Domine;
Domine, exaudi vocem meam.
Fiant aures tuae intendentes
in vocem deprecationis meae.
Si iniquitates observaveris, Domine,
Domine, quis sustinebit?
Quia apud te propitiatio est;
et propter legem tuam sustinui te, Domine.
Sustinuit anima mea in verbo eius;
speravit anima mea in Domino.
A custodia matutina usque ad noctem,
speret Israël in Domino.
Quia apud Dominum misericordia,
et copiosa apud eum redemptio.
Et ipse redimet Israël
ex omnibus iniquitatibus eius.
Gloria Patri et Filio
et Spiritui Sancto.
Sicut erat in principio et nunc et semper
et in saecula saeculorum. Amen.
Deutsche Übersetzung
Aus der Tiefe rufe ich, Herr, zu dir.
Herr, höre meine Stimme;
lass deine Ohren acht haben
auf das Flehen meiner Bitte.
Wenn du, Herr, die Sünden anrechnen willst,
Herr, wer wird bestehen?
Doch bei dir ist Vergebung,
damit man in Ehrfurcht dir diene.
Meine Seele hofft auf den Herrn;
sie vertraut auf sein Wort.
Von der Morgenwache bis zur Nacht
hoffe Israel auf den Herrn.
Denn beim Herrn ist die Barmherzigkeit,
und reich ist seine Erlösung.
Er selbst wird Israel erlösen
von allen seinen Sünden.
Ehre sei dem Vater und dem Sohn
und dem Heiligen Geist.
Wie im Anfang, so auch jetzt und allezeit
und in Ewigkeit. Amen.
CD-Vorschlag
Jan Dismas Zelenka, Psalmi Vespertini II, Ensemble Inégal – Leitung Adam Viktora (* 1973), Nibiru, 2017, Tracks 15–17:
https://www.youtube.com/watch?v=XO0XY-QrnCM&list=OLAK5uy_lOXkh8COA2RCBc5xHj0kSXNtOb07gGB1c&index=15
De profundis in c-Moll, ZWV 97
Das im Jahr 1724 entstandene De profundis ZWV 97 gehört zu den persönlichsten und zugleich eindringlichsten geistlichen Werken Jan Dismas Zelenkas. Der Komponist schuf die groß dimensionierte Vertonung des Psalm 130 kurz nach dem Tod seines Vaters Jiří Zelenka, Kantor und Organist in Launiowitz, der am 7. Februar 1724 verstorben war. Die Musik erklang erstmals am 1. März 1724 im Rahmen der feierlichen Trauerliturgie in der Dresdner Hofkirche. Zelenka dokumentierte diesen Anlass in einem ausführlichen lateinischen Zusatz am Ende der Partitur; dadurch gehört ZWV 97 zu den seltenen Werken, deren biographischer Hintergrund vollständig gesichert ist.
https://www.youtube.com/watch?v=trgOZAT_9F4
Musikalisch ist ZWV 97 eine ausgedehnte, fünfsätzige Komposition für große Kräfte: Tief geführte Bass-Partien, ein machtvoller vierstimmiger Chor, ein stark erweitertes Orchester, in dem insbesondere Posaunen als Farbe des Klagens eine zentrale Rolle spielen. Der Gesamtklang ist dunkel, ernst und von ungewöhnlicher Dichte; das Werk gilt unter Kennern als eine der bewegendsten und tragischsten Psalmvertonungen des gesamten Hochbarock.
Der erste Satz, De profundis clamavi, wird von drei Bassstimmen getragen, deren gravitätische Linienführung tiefe seelische Erschütterung zum Ausdruck bringt. Die harmonische Sprache ist reich an chromatischen Wendungen, deren Linienführung die Vorstellung des „Schreiens aus der Tiefe“ musikalisch nachzeichnet.
Im zweiten Satz, Si iniquitates, verwendet Zelenka den Wechsel von Chor und Hymnus-Artikulation, um die Dringlichkeit des Textes herauszuarbeiten. Die kontrapunktische Gestaltung ist hierbei besonders kunstvoll — dennoch bleibt jeder Takt dem Affekt des Bittgebets verpflichtet.
Satz III, Sustinuit anima mea, ist ein eindringliches Duett für Tenor und Alt, dessen Linien sich über ruhigen, aber ausdrucksstarken Orchesterfiguren verweben. Der Text erhält eine musikalische Form, die gedämpfte Hoffnung und geduldiges Warten zugleich ausdrückt.
Der vierte Satz, Et ipse redimet, wendet sich wieder dem Chor zu: Seine energischen Einsätze schaffen einen inneren Höhepunkt und führen die Aussage des Psalms – das Vertrauen auf Erlösung – mit klarer Kraft und monumentaler Harmonik aus.
Der Schluss besteht aus einem groß angelegten fünften Teil: Gloria Patri und Sicut erat in principio. Zelenka beschließt das Werk hier mit einer kraftvollen Fuge, deren motivische Strenge und dichter Satz die spirituelle Aussage in eine musikalische Krönung verwandeln. Diese Verbindung von Psalmtext und Doxologie verbindet persönliche Trauer und liturgische Bestimmung zu einem einheitlichen geistlichen Monument.
ZWV 97 ist damit nicht nur ein Gedenkwerk von außerordentlicher Intensität, sondern zugleich ein Musterbeispiel für Zelenkas Fähigkeit, barocke Klangpracht, polyphone Meisterschaft und psychologisch tief empfundene Ausdruckskraft zu vereinen. Für sein Œuvre bildet es, gemeinsam mit der parallel entstandenen späteren Endfassung ZWV 50, den Höhepunkt seiner Psalmmusik der frühen 1720er Jahre.
Erklärung zum Verhältnis von ZWV 97 und ZWV 50
Das De profundis ZWV 97 ist die frühere Fassung von Zelenkas großem Psalm-130-Setting und entstand im Jahr 1724. Dieses Werk ist der erste kompositorische Entwurf, der unmittelbar mit dem Tod von Zelenkas Vater Jiří Zelenka († 7. Februar 1724) verbunden ist. Genau wie in der späteren Version wollte Jan Dismas Zelenka mit dieser Musik seinem Vater ein persönliches, liturgisches und zugleich künstlerisch anspruchsvolles Denkmal setzen.
Im Laufe des Jahres 1724 arbeitete er weiter an dieser Komposition und schuf daraus eine zweite, erweiterte und vollkommen ausgearbeitete Endfassung: das De profundis ZWV 50. Diese Fassung ist länger, orchestraler, harmonisch dichter und formal ausgefeilter. Sie wurde ebenfalls im selben Jahr vollendet und später (am 1. März 1724) im Rahmen der offiziellen Exequien für den verstorbenen Vater aufgeführt.
Damit verbinden sich beide Werke untrennbar:
ZWV 97 = Erste Fassung, kompakter, schlichter, der unmittelbare musikalische Ausdruck der Trauer.
ZWV 50 = Endfassung, erweitert, orchestraler, mit reichem Kontrapunkt, für die feierlichen Dresdner Hofexequien bestimmt.
Beide Werke teilen also dieselbe biographische Wurzel, unterscheiden sich aber klar in ihrer kompositorischen Reife und in der liturgischen Funktion, die Zelenka ihnen zugedacht hat.
Lateinischer Text
I. De profundis
De profundis clamavi ad te, Domine;
Domine, exaudi vocem meam.
Fiant aures tuae intendentes
in vocem deprecationis meae.
II. Si iniquitates
Si iniquitates observaveris, Domine,
Domine, quis sustinebit?
Quia apud te propitiatio est,
et propter legem tuam sustinui te, Domine.
III. Sustinuit
Sustinuit anima mea in verbo eius;
speravit anima mea in Domino.
IV. Et ipse redimet
A custodia matutina usque ad noctem
speret Israel in Domino.
Quia apud Dominum misericordia,
et copiosa apud eum redemptio.
Et ipse redimet Israel
ex omnibus iniquitatibus eius.
V. Requiem aeternam
Requiem aeternam dona eis, Domine,
et lux perpetua luceat eis.
Deutsche Übersetzung
I. Aus der Tiefe
Aus der Tiefe rufe ich, Herr, zu dir.
Herr, höre meine Stimme!
Lass deine Ohren achten
auf mein Flehen.
II. Wenn du Sünden anrechnest
Wenn du, Herr, die Sünden anrechnen willst,
Herr – wer kann bestehen?
Doch bei dir ist Vergebung;
darum hoffe ich, o Herr.
III. Meine Seele wartet
Meine Seele wartet auf sein Wort;
meine Seele hofft auf den Herrn.
IV. Er wird erlösen
Von der Morgenwache bis zur Nacht
hoffe Israel auf den Herrn!
Denn beim Herrn ist die Gnade
und bei ihm in Fülle die Erlösung.
Er selbst wird Israel erlösen
von all seinen Sünden.
V. Ewige Ruhe
Herr, gib ihnen die ewige Ruhe,
und das ewige Licht leuchte ihnen.
CD-Vorschlag
Jan Dismas Zelenka, Missa Sancti Josephi – De Profundis – In Exitu Israel, Kammerchor Stuttgart und Barockorchester Stuttgart, Leitung Frieder Bernius (1947–2023), Carus, 2018, Tracks 25 bis 29:
https://www.youtube.com/watch?v=LMI5WjkNuPg&list=OLAK5uy_k_dJDuOwMnDKYhaxowGegnvmD7kOt6PKM&index=25
Credidi in a-Moll, ZWV 85
Zelenkas Psalmvertonung Credidi („Ich habe geglaubt“) ZWV 85 entstand wahrscheinlich in den Jahren 1727/28, also in jener Phase, in der der Komponist bereits die volle kompositorische Reife seiner Dresdner Zeit erreicht hatte. Die Besetzung ist für vier Solostimmen (SATB), vierstimmigen Chor und Orchester mit zwei Oboen, Streichern und Basso continuo ausgelegt; die Tonart ist a-Moll, was bereits den ernsten, eindringlichen Charakter der Komposition vorbereitet. Die autograph überlieferte Partitur befindet sich heute in der Sächsischen Landesbibliothek Dresden (Signatur: Mus. 2358-D-61,7).
Psalm Credidi gehört zu den sogenannten Psalmus confessionis („Bekenntnispsalmen“). Zelenka formt daraus ein Werk, das trotz relativ schlichter Anlage eine deutliche dramatische Spannweite besitzt. Er beginnt mit einem intimen, solistisch geführten Ausdruck, der das „Ich glaubte“ des Psalmisten musikalisch unterstreicht, und steigert sich allmählich in chorische Verdichtung, polyphone Durcharbeitung und expressive Chromatik. Damit steht Credidi stilistisch zwischen seinen groß angelegten Psalmwerken wie De profundis ZWV 50 und den reifen Vesperpsalmen der späten 1720er Jahre.
https://www.youtube.com/watch?v=DHKerRRYtDQ
Die Musik lebt von der charakteristischen Mischung aus strenger kontrapunktischer Kunst und der italienischen Concertato-Klangsprache, die Zelenka während seiner Studien bei Johann Joseph Fux verinnerlicht hatte. Besonders wirkungsvoll ist die ständige Spannung zwischen dem klagenden Moll-Grundton und den aufhellenden, bittenden Wendungen, die sich dem Text verdanken. In der Gesamtschau gehört Credidi zu Zelenkas eindrucksvollsten kürzeren Psalmvertonungen – ein Werk, das trotz seiner Schlichtheit in den großen dramaturgischen Kontext seiner Dresdner Kirchenmusik passt.
Bemerkenswert ist auch die moderne Rezeptionsgeschichte: Jahrzehntelang war Credidi zwar bekannt, aber unaufgeführt. Erst die jüngste Einspielung des Werkes durch Ensemble Inégal unter Adam Viktora erschloss die Komposition einem breiteren Publikum zum ersten Mal.
Lateinischer Text – Credidi (Psalm 115)
Credidi, propter quod locutus sum;
ego autem humiliatus sum nimis.
Ego dixi in excessu meo:
Omnis homo mendax.
Quid retribuam Domino
pro omnibus quae retribuit mihi?
Calicem salutaris accipiam,
et nomen Domini invocabo.
Vota mea Domino reddam
coram omni populo eius.
Pretiosa in conspectu Domini
mors sanctorum eius.
O Domine, quia ego servus tuus;
ego servus tuus, et filius ancillae tuae.
Dirupisti vincula mea.
Tibi sacrificabo hostiam laudis
et nomen Domini invocabo.
Deutsche Übersetzung
Ich glaube – darum spreche ich;
ich aber war sehr gebeugt.
Ich sprach in meiner Bestürzung:
Jeder Mensch ist trügerisch.
Was soll ich dem Herrn vergelten
für all das Gute, das er mir erwies?
Den Kelch des Heiles will ich nehmen
und den Namen des Herrn anrufen.
Meine Gelübde will ich erfüllen
vor dem ganzen Volk seines Eigentums.
Kostbar ist in den Augen des Herrn
der Tod seiner Frommen.
O Herr, ich bin ja dein Knecht,
dein Knecht, der Sohn deiner Magd;
du hast meine Fesseln gelöst.
Dir will ich ein Opfer des Lobes darbringen
und den Namen des Herrn anrufen.
CD-Vorschlag
Jan Dismas Zelenka, Psalmi Vespertini II, Ensemble Inégal – Leitung Adam Viktora (* 1973), Nibiru, 2017, Track 14:
https://www.youtube.com/watch?v=hYSbttj8raI&list=OLAK5uy_lOXkh8COA2RCBc5xHj0kSXNtOb07gGB1c&index=14
Miserere d-Moll, ZWV 56
Das Miserere d-Moll, ZWV 56, gehört zu den außergewöhnlichsten und zugleich kühnsten Werken, die Jan Dismas Zelenka während der frühen 1720er Jahre für die Dresdner Hofkapelle komponierte. Entstanden im März 1722 im Rahmen eines groß angelegten Auftrags für die Karwoche, steht diese Komposition am Beginn jener Phase, in der Zelenka – inspiriert von seinen Studienjahren in Wien bei Johann Joseph Fux (1660–1741) – die kontrapunktischen Möglichkeiten seines Stils mit geradezu enzyklopädischem Ehrgeiz auslotete. Zu diesem Auftrag gehörten die Lamentationes (ZWV 53), die Responsoria (ZWV 55), das Benedictus Dominus (ZWV 206) und eben dieses Miserere, das innerhalb des Zyklus als das technisch anspruchsvollste Werk hervortritt.
Die autograph überlieferte Fassung von 1722, die hier im Mittelpunkt steht, wurde ursprünglich für die liturgischen Feiern der Karwoche am Dresdner Hof unter Friedrich August (1696–1763) und Maria Josepha (1699–1757) bestimmt. Die Länge und der monumentale Anspruch des Werkes veranlassten jedoch den sächsischen Kurprinzen, die Aufführung zurückzustellen; erst 1725 gelangte eine leicht verkürzte und stellenweise geänderte Zweitfassung zur Aufführung. ZWV 56 dokumentiert somit nicht nur Zelenkas kompositorische Meisterschaft, sondern auch die Ambivalenz zwischen höfischer Repräsentation, liturgischem Gebrauch und dem persönlichen künstlerischen Programm eines Komponisten, der die kontrapunktischen Traditionen des 17. und frühen 18. Jahrhunderts bis an ihre Grenzen führte.
Der besondere Rang des Werkes beruht auf der systematischen Durchdringung des gesamten Textes von Psalm 50 mit einer Vielzahl kontrapunktischer Verfahren, die Zelenka auf höchstem technischen Niveau und mit bemerkenswerter stilistischer Phantasie einsetzt. Auf engstem Raum finden sich imitatorische Satztechniken, frei geführte Fugen, streng kanonische Abschnitte, Umkehrungen, Engführungen, Retrograden, invertierbare Gegenstimmen und sogar ein »table canon« – ein gleichzeitiger Kanon in Krebs und Umkehrung – wie er in der barocken Vokalmusik äußerst selten vorkommt. Diese souveräne Beherrschung des kompositorischen Handwerks ist Ergebnis jener Ausbildung, die Zelenka zwischen 1716 und 1719 im Kreis um Fux erhielt, und sie verbindet sich mit seinem unverwechselbaren, emotional hoch geladenen Ausdruckswillen.
https://www.youtube.com/watch?v=euxxL12oTRk
Die 18 Abschnitte des Miserere d-Moll bilden keinen einheitlichen Satz, sondern eine fortlaufende Folge scharf profilierter Charakterbilder, die Zelenka aus dem biblischen Text heraus modelliert. Der eröffnende Chor Miserere mei, Deus zeigt bereits den dichten, schweren d-Moll-Klang, der das Werk prägt; die Linienführung ist eng, spannungsvoll und wirkt wie in sich verschlungen. In Et secundum intensiviert Zelenka den internen Dialog der Stimmen und entwickelt einen strengen imitatorischen Satz, der im folgenden Amplius lava me zu einer majestätischen, beinahe oratorienhaften Klangfläche anwächst.
Zu den eindrucksvollsten Einzelmomenten zählt die zweigeteilte Behandlung von Et peccatum meum. Der erste Teil (V) ist konventioneller imitativer Satz; der zweite (VI) jedoch ist eines der spektakulärsten Beispiele für Zelenkas kontrapunktische Kühnheit: Der gesamte Abschnitt ist ein retrograder Satz – der vorige Teil wird rückwärts gespielt und gleichzeitig neu polyphon überformt. Derartige Experimente findet man sonst fast nur in theoretischen Fux-Abhandlungen oder in geistlichen Übungen gelehrter Komponisten, selten aber in liturgischer Musik für den höfischen Gebrauch.
Im siebten Abschnitt Tibi soli peccavi präsentiert Zelenka eine groß angelegte Fuge, deren Thema eine absteigende Linie mit scharfer rhetorischer Deutung aufweist. Ut iustificeris ist dagegen kurz, wortgewandt und voller schmaler kontrapunktischer Einschnitte. Ecce enim in iniquitatibus, der Bass-Soloabschnitt, zeichnet sich durch expressive Unruhe und ein Melos aus, das sich eng an den Text klammert. Darauf folgt der berühmte Kanonsatz Asperges me, hyssopo – ein „hyper“-Kanon, dessen Stimmen sich mit strenger Disziplin überlagern und dennoch atmend und organisch klingen.
Der Mittelteil wird mit zwei kontrastierenden Paragraphen über Auditui meo dabis gaudium abgeschlossen – ein Chor und ein Bass-Solo –, gefolgt vom Trio Redde mihi laetitiam, das eine intensive, fast kammermusikalische Atmosphäre erzeugt. Der Abschnitt Docebo iniquos enthält einen sogenannten »versetto circolare«, also eine zyklische Stimmführung, die den Satz wie ein sich ständig schließender Kreis erscheinen lässt. Zelenka demonstriert hier ein weiteres Mal seine Fähigkeit, den Text nicht nur zu vertonen, sondern kompositorisch zu interpretieren.
In Benigne fac, Domine (Tenor-Solo) verdichtet sich das Werk erneut; der Satz wirkt wie ein inneres Gebet, bevor der Chor Tunc acceptabis das Werk zu einem liturgischen Ruhepunkt führt. Den Abschluss bilden das reich verarbeitete Gloria Patri für Sopran, Alt und Tenor sowie das abschließende Amen, eine weitgespannte, großartig proportionierte Fuge, die die gesamte Komposition in einen strahlenden Schlussbogen überführt.
Die 1722er Fassung des Miserere ZWV 56 zeigt Zelenka auf dem Gipfel seiner kontrapunktischen Kunst. Er verbindet eine fast asketische Strenge der Satztechnik mit einer ungewöhnlich ausdrucksvollen Textdeutung. Statt Gelehrsamkeit um der Gelehrsamkeit willen geht es ihm um die musikalische Erschließung der Bußformel des Psalms: Klangliche Demut, rhetorische Schärfe, klagende Linien, Aufwärtsgesten der Bitte um Reinigung. Das Werk ist eine geistliche Meditation, aber zugleich eine groß angelegte Studie in kontrapunktischer Kombinatorik. Gerade in dieser frühen Fassung wird sichtbar, dass Zelenka nicht nur ein Meister des Fux’schen Stils war, sondern einer der originellsten kontrapunktischen Erneuerer der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts.
Lateinischer Text
Miserere mei, Deus,
secundum magnam misericordiam tuam.
Et secundum multitudinem miserationum tuarum,
dele iniquitatem meam.
Amplius lava me ab iniquitate mea,
et a peccato meo munda me.
Quoniam iniquitatem meam ego cognosco,
et peccatum meum contra me est semper.
Tibi soli peccavi,
et malum coram te feci,
ut iustificeris in sermonibus tuis
et vincas cum iudicaris.
Ecce enim in iniquitatibus conceptus sum,
et in peccatis concepit me mater mea.
Ecce enim veritatem dilexisti:
incerta et occulta sapientiae tuae manifestasti mihi.
Asperges me hyssopo, et mundabor;
lavabis me, et super nivem dealbabor.
Auditui meo dabis gaudium et laetitiam,
et exsultabunt ossa humiliata.
Averte faciem tuam a peccatis meis,
et omnes iniquitates meas dele.
Cor mundum crea in me, Deus,
et spiritum rectum innova in visceribus meis.
Ne proicias me a facie tua,
et spiritum sanctum tuum ne auferas a me.
Redde mihi laetitiam salutaris tui,
et spiritu principali confirma me.
Docebo iniquos vias tuas,
et impii ad te convertentur.
Libera me de sanguinibus, Deus, Deus salutis meae,
et exsultabit lingua mea iustitiam tuam.
Domine, labia mea aperies,
et os meum annuntiabit laudem tuam.
Quoniam si voluisses sacrificium, dedissem utique:
holocaustis non delectaberis.
Sacrificium Deo spiritus contribulatus;
cor contritum et humiliatum, Deus, non despicies.
Benigne fac, Domine, in bona voluntate tua Sion,
ut aedificentur muri Ierusalem.
Tunc acceptabis sacrificium iustitiae, oblationes et holocausta;
tunc imponent super altare tuum vitulos.
Gloria Patri, et Filio, et Spiritui Sancto.
Sicut erat in principio, et nunc, et semper,
et in saecula saeculorum. Amen.
Deutsche Übersetzung
Erbarme Dich meiner, o Gott,
nach Deiner großen Barmherzigkeit.
Nach der Fülle Deiner Erbarmungen
tilge meine Schuld.
Wasche mich immer wieder von meiner Missetat,
und reinige mich von meiner Sünde.
Denn meine Schuld erkenne ich,
und meine Sünde steht mir immer vor Augen.
Gegen Dich allein habe ich gesündigt,
und getan, was böse ist vor Dir,
damit Du recht behältst in Deinen Worten
und rein dastehst, wenn Du richtest.
Siehe, in Schuld bin ich geboren,
und in Sünden hat mich meine Mutter empfangen.
Siehe, Du liebst die Wahrheit im Verborgenen;
im Innersten lehrst Du mich Weisheit.
Entsündige mich mit Ysop, und ich werde rein sein;
wasche mich, und ich werde weißer sein als Schnee.
Lass mich hören Freude und Wonne,
damit die Gebeine frohlocken, die Du zerschlagen hast.
Verbirg Dein Angesicht vor meinen Sünden,
und tilge alle meine Missetaten.
Erschaffe mir, Gott, ein reines Herz,
und erneuere in mir einen rechten Geist.
Verwirf mich nicht von Deinem Angesicht,
und nimm Deinen heiligen Geist nicht von mir.
Gib mir die Freude Deines Heils zurück,
und stütze mich mit einem willigen Geist.
Dann will ich die Frevler Deine Wege lehren,
und die Sünder werden sich Dir zuwenden.
Errette mich von Blutschuld, Gott, Du Gott meines Heils,
dann wird meine Zunge Deine Gerechtigkeit rühmen.
Herr, öffne meine Lippen,
damit mein Mund Dein Lob verkünde.
Denn wolltest Du Opfer, ich hätte sie dargebracht;
Brandopfer gefallen Dir nicht.
Das Opfer, das Gott gefällt, ist ein zerbrochener Geist;
ein zerknirschtes und gedemütigtes Herz wirst Du, Gott, nicht verachten.
In Deiner Güte, Herr, tue Zion Gutes,
damit Jerusalems Mauern wieder aufgebaut werden.
Dann wirst Du rechte Opfer gefallen lassen, Gaben und Brandopfer;
dann wird man Farren auf Deinem Altar darbringen.
Ehre sei dem Vater und dem Sohn und dem Heiligen Geist,
wie es war im Anfang, so auch jetzt und allezeit
und in Ewigkeit. Amen.
CD-Vorschlag
Jan Dismas Zelenka, Statio quadruplex und Miserere d-Moll, Ensemble Inégal, Leitung Adam Viktora (* 1973), Nibiru, 2025, Tracks 5–22:
https://www.youtube.com/watch?v=pDlLC3EcOAc&list=OLAK5uy_nsmTaK2Bx_BTm_bk4RnT4yXIqa2YtNMUs&index=5
Miserere c-Moll, ZWV 57
Das Miserere in c-Moll, ZWV 57, gehört zu den späten Meisterwerken von Jan Dismas Zelenka und nimmt innerhalb seines kirchenmusikalischen Spätwerks eine besondere Stellung ein. Im Autograph vermerkte Zelenka das Datum 12. März 1738, womit das Werk zeitlich zwischen der Missa Sanctissimae Trinitatis (1736) und der Missa votiva (1739) steht. Diese Einordnung ist bedeutend: Sie zeigt Zelenka in der letzten, reifen Phase seines Schaffens, in der er kontrapunktische Strenge, harmonische Kühnheit und affektgeladene Textausdeutung zu einer einzigartigen Synthese führt.
Es ist sehr wahrscheinlich, dass das Werk für die Karfreitagsliturgie 1738 der Dresdner Hofkirche bestimmt war. Die Handschrift verrät nicht nur die außerordentliche Sorgfalt der Niederschrift, sondern auch den hohen repräsentativen Anspruch, der diesem Psalm zugedacht war. Bemerkenswert ist zudem, dass dieses Miserere – als einziges von Zelenkas späten Werken – nach seinem Tod weiterhin in der Dresdner Hofkirche aufgeführt wurde. Die Wiederaufführungstradition zeigt, dass das Werk am Hof eine Wertschätzung genoss, die über die Lebenszeit des Komponisten hinausreichte.
https://www.youtube.com/watch?v=pAi_2B3QvAA
Das Miserere gliedert sich in sechs Abschnitte, deren Anlage eine kunstvolle, dramaturgisch sorgsam abgestufte Gesamtarchitektur bildet. Die Teile I und VI umfassen einen identischen Rahmen: einen dramatisch pathetischen Eingangssatz, der den gesamten Psalm in affektiver Grundierung einfängt und das Werk mit einer eindringlichen Bitte um Erbarmen öffnet und schließt. Dieser symmetrische Rahmen ist typisch für Zelenkas späte Formgestaltung: klare architektonische Ordnung bei größtmöglicher Ausdrucksdichte.
Von besonderem Interesse sind die Abschnitte II und V, in denen Zelenka ein Verfahren anwendet, das man sonst eher aus dem Umfeld J. S. Bachs kennt: die wörtliche Übernahme älterer Musik in ein neues Werk. Für beide Abschnitte verwendet Zelenka den Ricercar con obligo Basso come appare aus Girolamo Frescobaldis (1583–1643) Sammlung „Fiori musicali“ (Venedig, 1635). Er überträgt Frescobaldis Ricercar aus der alten Partiturnotation in die moderne Stimmenaufteilung des 18. Jahrhunderts, passt die Notenwerte dem Psalmtext an, fügt die vokalen Linien ein und bettet das Ganze in das Dresdner Standardensemble der 1730er Jahre ein: zwei Oboen, Streicher und Orgel.
Dieses Verfahren stellt keinen bloßen historischen Rückgriff dar, sondern eine gelehrte kompositorische Handlung: Zelenka knüpft bewusst an die italienische katholische Musiktradition des frühen 17. Jahrhunderts an und integriert sie in den hoch entwickelten Dresdner Kirchenstil des 18. Jahrhunderts. Dadurch entfaltet das Werk eine historische, theologische und affektive Tiefe, die innerhalb seines Œuvres einzigartig bleibt.
Der dritte Abschnitt (III), Gloria Patri, erscheint zunächst als Sopran-Arie, die unüberhörbar den Stil von Johann Adolph Hasse (1699–1783) reflektiert, Dresdens überragendem Opernkomponisten. Zelenka verarbeitet Elemente des galanten Opernstils – lange melodische Linien, klare Phrasierung, fast konzertante Begleitung – zu einer innigen, kantablen Doxologie. Der vierte Abschnitt (IV) bringt dieselben Worte als Chorsatz und führt damit eine zweite Perspektive der Lobpreisung ein: liturgisch geschlossen, polyphon verdichtet und klanglich repräsentativ.
Der fünfte Abschnitt (V), Sicut erat, greift erneut Frescobaldi auf und bildet ein ernstes, streng gearbeitetes Zentrum, das den archaischen Charakter des Ricercars deutlicher hervorhebt. Im finalen Abschnitt (VI) kehrt Zelenka zum Eingangsteil zurück: Das Werk schließt so, wie es begann – mit einer eindringlichen, flehenden Bitte um Erbarmen, eingerahmt von jener dunklen, klagenden c-Moll-Farbe, die dem Werk seinen unverwechselbaren Ton gibt.
ZWV 57 zeigt den späten Zelenka auf der Höhe seiner geistlichen Kunst: souverän, gelehrt, historisch bewusst, zugleich aber voller persönlicher Eindringlichkeit. Das Werk verbindet meditative Strenge und opernhafte Kantabilität und steht exemplarisch für das geistliche Profil der Dresdner Hofkirche in den letzten Jahren vor Zelenkas Tod.
Lateinischer Text (Psalm 50 + Gloria Patri)
Miserere mei, Deus,
secundum magnam misericordiam tuam.
Et secundum multitudinem miserationum tuarum,
dele iniquitatem meam.
Amplius lava me ab iniquitate mea,
et a peccato meo munda me.
Quoniam iniquitatem meam ego cognosco,
et peccatum meum contra me est semper.
Tibi soli peccavi,
et malum coram te feci,
ut iustificeris in sermonibus tuis
et vincas cum iudicaris.
Ecce enim in iniquitatibus conceptus sum,
et in peccatis concepit me mater mea.
Ecce enim veritatem dilexisti:
incerta et occulta sapientiae tuae manifestasti mihi.
Asperges me hyssopo, et mundabor;
lavabis me, et super nivem dealbabor.
Auditui meo dabis gaudium et laetitiam,
et exsultabunt ossa humiliata.
Averte faciem tuam a peccatis meis,
et omnes iniquitates meas dele.
Cor mundum crea in me, Deus,
et spiritum rectum innova in visceribus meis.
Ne proicias me a facie tua,
et spiritum sanctum tuum ne auferas a me.
Redde mihi laetitiam salutaris tui,
et spiritu principali confirma me.
Docebo iniquos vias tuas,
et impii ad te convertentur.
Libera me de sanguinibus, Deus, Deus salutis meae,
et exsultabit lingua mea iustitiam tuam.
Domine, labia mea aperies,
et os meum annuntiabit laudem tuam.
Quoniam si voluisses sacrificium, dedissem utique:
holocaustis non delectaberis.
Sacrificium Deo spiritus contribulatus;
cor contritum et humiliatum, Deus, non despicies.
Benigne fac, Domine, in bona voluntate tua Sion,
ut aedificentur muri Ierusalem.
Tunc acceptabis sacrificium iustitiae, oblationes et holocausta;
tunc imponent super altare tuum vitulos.
Gloria Patri, et Filio, et Spiritui Sancto.
Sicut erat in principio, et nunc, et semper,
et in saecula saeculorum. Amen.
Deutsche Übersetzung
Erbarme Dich meiner, o Gott,
nach Deiner großen Barmherzigkeit.
Nach der Fülle Deiner Erbarmungen
tilge meine Schuld.
Wasche mich immer wieder von meiner Missetat,
und reinige mich von meiner Sünde.
Denn meine Schuld erkenne ich,
und meine Sünde steht mir immer vor Augen.
Gegen Dich allein habe ich gesündigt,
und getan, was böse ist vor Dir,
damit Du recht behältst in Deinen Worten
und rein dastehst, wenn Du richtest.
Siehe, in Schuld bin ich geboren,
und in Sünden hat mich meine Mutter empfangen.
Siehe, Du liebst die Wahrheit im Verborgensten;
in meinem Inneren lehrst Du mich Weisheit.
Entsündige mich mit Ysop, und ich werde rein sein;
wasche mich, und ich werde weißer sein als Schnee.
Lass mich hören Freude und Wonne,
damit die Gebeine frohlocken, die Du zerschlagen hast.
Verbirg Dein Angesicht vor meinen Sünden,
und tilge alle meine Missetaten.
Erschaffe mir, Gott, ein reines Herz,
und erneuere in mir einen rechten Geist.
Verwirf mich nicht von Deinem Angesicht,
und nimm Deinen heiligen Geist nicht von mir.
Gib mir die Freude Deines Heils zurück,
und stütze mich mit einem willigen Geist.
Dann will ich die Frevler Deine Wege lehren,
und die Sünder werden sich Dir zuwenden.
Errette mich von Blutschuld, Gott, Du Gott meines Heils,
dann wird meine Zunge Deine Gerechtigkeit rühmen.
Herr, öffne meine Lippen,
damit mein Mund Dein Lob verkünde.
Denn wolltest Du Opfer, ich hätte sie dargebracht;
Brandopfer gefallen Dir nicht.
Das Opfer, das Gott gefällt, ist ein zerbrochener Geist;
ein zerknirschtes und gedemütigtes Herz wirst Du, Gott, nicht verachten.
In Deiner Güte, Herr, tue Zion Gutes,
damit Jerusalems Mauern wieder aufgebaut werden.
Dann wirst Du rechte Opfer gefallen lassen, Gaben und Brandopfer;
dann wird man Farren auf Deinem Altar darbringen.
Ehre sei dem Vater und dem Sohn und dem Heiligen Geist,
wie es war im Anfang, so auch jetzt und allezeit
und in Ewigkeit. Amen.
CD-Vorschlag
Jan Dismas Zelenka, Requiem in D minor und Miserere in C minor, Ensemble Baroque 1994, Leitung Roman Válek (* 1955), SUPRAPHON a.s., 1995, Track 8:
https://www.youtube.com/watch?v=nbcPqZXCfzc&list=OLAK5uy_nH-OoxsFkdpyZasg_LXlSR_6GHE7VG_K0&index=8
Lamentationes Ieremiae Prophetae, ZWV 53
Zelenkas sechs Lamentationes aus dem Jahr 1722 gehören zu den eindrucksvollsten Beispielen barocker Textausdeutung im Dresdner Hofrepertoire. Sie entstanden für die Feier der Tenebrae-Offizien der Karwoche, die am Vorabend der jeweiligen Tage zelebriert wurden und so die verwirrende Bezeichnung „für Mittwoch/Donnerstag/Freitag“ erklären. Tatsächlich handelt es sich um die jeweils ersten beiden Lektionen aus den Matutinen des Gründonnerstags, Karfreitags und Karsamstags – insgesamt sechs Lektionen, die in der Tradition der römischen Liturgie seit dem Mittelalter den Klageliedern Jeremias entnommen werden. Die jeweils dritte Lamentation eines Tages fehlt; ob sie im Dresdner Offizium nur im Choral erklang oder ob die Musik verloren ging, ist unbekannt.
https://www.youtube.com/watch?v=NPN2uelboCc
Zelenkas Komposition steht an der Schnittstelle zwischen einer jahrhundertealten Tradition und einem neuen, barocken Ausdruckshorizont. Seit dem Mittelalter war es Brauch, die hebräischen Buchstaben, die die einzelnen Textabschnitte der Klagelieder einleiten (Aleph, Beth, Ghimel, Daleth…), mit ausgedehnten Melismen zu versehen, während der eigentliche Text auf einer rezitierenden Formel beruhte. Renaissancekomponisten griffen diesen Brauch auf und entwickelten meditative, oft höchst expressive Miniaturen über die hebräischen Buchstaben – Inseln polyphonen Glanzes zwischen schlichten Textrezitationen.
Zelenka führt dieses Modell weiter, doch im Stil des 18. Jahrhunderts: Die hebräischen Buchstaben erscheinen als affektgeladene Ariosi, ausgeformt, rhetorisch zugespitzt und oft harmonisch kühn, während die Lamentationstexte in einem flexibel geführten, aber stets spannungsreichen Rezitativ gestaltet sind. Die übliche barocke Zweiteilung in Rezitativ und Da-capo-Arie fehlt bewusst: Zelenka bevorzugt einen fließenden Wechsel kleinerer Ausdrucksblöcke, der sich unmittelbar aus der inneren Gliederung des Textes ergibt. Dadurch erhält jede Lektion ein organisches, erzählerisches Profil.
Die Tonartenwahl ist ebenfalls textpsychologisch gesteuert. Die Lektionen des Gründonnerstags und Karfreitags stehen in dunklen, schwer lastenden Molltonarten; Chromatik und schmerzliche Dissonanzen spiegeln das Zerbrechen Jerusalems, die Klage des Propheten und die Dramatik der Passion. Besonders in der ersten Lamentation begegnet man kühnen harmonischen Verwerfungen, die zu den expressivsten Stellen in Zelenkas geistlicher Musik gehören. Erst die Lektionen des Karsamstags öffnen sich einer anderen Stimmung: Hier erscheinen hellere Tongeschlechter, und die erste Lektion des Karsamstags in A-Dur entfaltet einen Hoffnungston, der den Übergang zur nahen Auferstehungsbotschaft vorbereitet.
Die Schlussformel “Ierusalem, Ierusalem, convertere ad Dominum Deum tuum” wird von Zelenka nicht – wie im Gregorianischen oder in Renaissancevertonungen – im Gleichklang wiederholt, sondern jedes Mal völlig neu gedeutet. Diese kunstvollen, ausgedehnten Schlussabschnitte bilden den emotionalen Höhepunkt der Lektionen: Sie sind Antwort, Klageruf und Aufforderung zur Umkehr zugleich, in rhetorisch gesteigerter Diktion und mit vollem barocken Ausdrucksarsenal gestaltet.
Auffällig ist die Beschränkung auf mittlere und tiefe Singstimmen (Alt/Countertenor, Tenor, Bass), die dem Tenebrae-Ritus entsprechen und Zelenkas bevorzugte Klangwelt der Karwoche prägen: dunkel, ernst, resonanzreich. Die Instrumentation bleibt diskret, doch hochdifferenziert; sie kommentiert, stützt, schärft die Affekte und führt zu jenen charakteristisch „gespannten“ harmonischen Wendungen, die Zelenkas Handschrift unverwechselbar machen.
In ihrer Gesamtheit sind die Lamentationes ZWV 53 ein Brückenschlag zwischen mittelalterlich-liturgischer Tradition und barocker Ausdruckskraft, zugleich ein Dokument höchster kompositorischer Individualität. Kaum ein Werk Zelenkas verbindet liturgische Strenge, rhetorische Offenheit und harmonische Kühnheit zu einem derart intensiven, geistig wie emotional tief reichenden Zyklus.
Lamentatio I (Gründonnerstag – Lectio I)
Die erste Lektion eröffnet den Zyklus mit einer Klangwelt, die zugleich archaisch und barock geprägt ist. Zelenka schafft sofort eine Atmosphäre bedrückter Stille, in der die Stimme – meist ein Alt oder Countertenor – sich in einem Raum von gedämpfter Harmonik bewegt. Die hebräischen Buchstaben dienen hier als expressive Kulminationspunkte: „Aleph“ erscheint wie ein Tor zum ganzen Zyklus, reich ornamentiert und harmonisch weit ausschwingend. Die Melodie steigt suchend an, verweilt auf klagenden Intervallen und sinkt schließlich in eine chromatische Wendung, die den emotionalen Boden der nachfolgenden Rezitation bereitet.
Der eigentliche Text setzt auf ein dramatisches Wechselspiel zwischen narrativer Schlichtheit und expressiver Überzeichnung. Wenn Jerusalem als „sola civitas“ beschrieben wird, isoliert Zelenka die Linie fast rezitativisch, als würde die Stimme mit brüchigem Atem die Einsamkeit der zerstörten Stadt schildern. Die Worte „facta est quasi vidua“ öffnen sich zu einer harmonischen Verdunkelung, während „plorans ploravit“ in einem intensiven melismatischen Ausbruch gipfelt, der das Weinen nicht nur beschreibt, sondern in musikalische Gegenwart verwandelt.
Eine der stärksten Stellen ist „migravit Iudas“, wo Zelenka durch den Wechsel in eng geführte Chromatik und eine plötzlich instabile Basslinie die Zerrissenheit des Volkes gestaltet. Dass Juda „nec invenit requiem“, wird durch einen abrupten harmonischen Zusammenzug dargestellt, der wie ein plötzliches Erstarren wirkt. Die Schlussformel „Jerusalem, Jerusalem“ bildet nicht einfach eine liturgische Klammer, sondern die erste große rhetorische Geste des Zyklus. Der Ton spreitet sich aus, die Stimme steigt weit in die Höhe, als würde sie über die zerstörte Stadt hinweg einen universalen Ruf formulieren.
Diese erste Lektion wirkt wie der Schlüssel zu allen folgenden: ein Modell, in dem Zelenka die alte Tradition – melismatische Buchstaben, rezitierende Textsegmente, expressive Verdichtung am Schluss – in ein rhetorisch aufgeladenes barockes Idiom überführt.
Lamentatio I (Gründonnerstag – Lectio I)
Lateinischer Text
Aleph.
Quomodo sedet sola civitas plena populo! Facta est quasi vidua domina gentium; princeps provinciarum facta est sub tributo.
Beth.
Plorans ploravit in nocte, et lacrimæ eius in maxillis eius. Non est qui consoletur eam ex omnibus caris eius; omnes amici eius spreverunt eam et facti sunt ei inimici.
Ghimel.
Migravit Iudas propter afflictionem et multitudinem servitutis; habitavit inter gentes, nec invenit requiem. Omnes persecutores eius apprehenderunt eam inter angustias.
Ierusalem, Ierusalem, convertere ad Dominum Deum tuum.
Deutsche Übersetzung
Aleph.
Wie sitzt sie einsam da, die Stadt einst voll Volk! Zur Witwe ist geworden die Herrin der Völker; die Fürstin der Provinzen ist nun zur Fronpflichtigen herabgesunken.
Beth.
Weinend weint sie in der Nacht, und Tränen rinnen über ihre Wangen. Niemand ist da, der sie tröstet unter all ihren Freunden; alle, die ihr nahestanden, haben sie verachtet und sind ihr zu Feinden geworden.
Ghimel.
Juda ist ausgewandert unter Last und Knechtschaft; unter fremden Völkern wohnt es und findet keine Ruhe. Alle seine Verfolger haben es in der Enge erreicht.
Jerusalem, Jerusalem, kehre zurück zum Herrn, deinem Gott.
Lamentatio II (Gründonnerstag – Lectio II)
Die zweite Lektion nimmt die Harmonik und Textplastik der ersten auf, steigert jedoch die Dramatik. Bereits „Daleth“ wirkt weniger meditativ als klagend-anprangernd: Die Melodie steigt entschlossen an, als wolle sie die Verwüstung der Wege Zions beklagen und zugleich deren Ursache benennen. Die musikalische Sprache wird kantiger, zielgerichteter, und Zelenka setzt stärker auf unerwartete Modulationen, die den Text wie ein inneres Beben durchziehen.
Der Abschnitt „Viæ Sion lugent“ zeigt Zelenkas Fähigkeit, kollektive Trauer in Bewegung zu übersetzen. Der Satz beginnt mit einem schweren, fast schleppenden Duktus, als würde der Weg selbst den Schmerz tragen. Die Phrase „non sint qui veniant“ bricht harmonisch ein, die Stimme verliert für einen Moment ihren Halt und wird erst bei „ad solemnitatem“ wieder gesammelt – eine eindrucksvolle Umsetzung der Leere, die die verlassenen Feste hinterlassen haben.
„Facti sunt hostes eius in capite“ führt die dramatische Zuspitzung weiter. Zelenka macht die Feinde, die „zu Herren geworden sind“, durch eine plötzlich hell aufleuchtende, scharf akzentuierte Wendung des Modus hörbar. Doch unmittelbar danach verdunkelt sich die Harmonik wieder, wenn von den Weggeführten die Rede ist. Die Kinder Zions wandern musikalisch in einer Linie, die in kleinen Schritten ansteigt und abfällt – ein musikalisches Bild der Gefangenen, die vor den Augen des Bedrängers vorbeiziehen.
Besonders wirkungsvoll ist „Et egressus est a filia Sion omnis decor eius“. Der Weggang des „decor“, des Glanzes, wird durch das allmähliche Abschmelzen des musikalischen Materials dargestellt: Zelenka lässt die gestische Bewegung kleiner werden, die Harmonie reduziert sich fast auf eine ausgedünnte Linie, und erst bei „principes eius“ belebt sich der Satz wieder, um im Bild der fliehenden Fürsten erneut zu zerfallen.
Das abschließende „Ierusalem, Ierusalem“ ist in dieser zweiten Lektion deutlich schärfer gezeichnet als zuvor, mit größeren Intervallsprüngen und einer schneidenden Harmonik, die den inneren Riss der belagerten Stadt spiegelt. Damit schließt Zelenka den Gründonnerstagsteil mit einer erschütternden, dramatisch tief durchwirkten Lektion.
Lamentatio II (Gründonnerstag – Lectio II)
Lateinischer Text
Daleth.
Viæ Sion lugent eo quod non sint qui veniant ad solemnitatem; omnes portæ eius destructæ, sacerdotes eius gementes, virgines eius squalidæ, et ipsa oppressa amaritudine.
He.
Facti sunt hostes eius in capite, inimici eius locupletati sunt, quia Dominus locutus est super eam propter multitudinem iniquitatum eius. Parvuli eius ducti sunt in captivitatem ante faciem tribulantis.
Vav.
Et egressus est a filia Sion omnis decor eius. Facti sunt principes eius velut arietes non invenientes pascua, et abierunt absque fortitudine ante faciem subsequentis.
Ierusalem, Ierusalem, convertere ad Dominum Deum tuum.
Deutsche Übersetzung
Daleth.
Die Wege Zions trauern, weil niemand mehr zu den Festen kommt; alle ihre Tore stehen verwüstet, ihre Priester seufzen, ihre Jungfrauen sind in Trauer, und sie selbst ist von Bitterkeit umfangen.
He.
Ihre Feinde sind die Herren geworden, ihre Widersacher haben sich bereichert; denn der Herr hat sie heimgesucht wegen ihrer vielen Sünden. Ihre Kinder wurden gefangen weggeführt vor dem Angesicht des Bedrängers.
Vav.
Aus der Tochter Zion ist aller Schmuck gewichen. Ihre Fürsten sind wie Widder ohne Weide geworden und flohen kraftlos vor ihren Verfolgern.
Jerusalem, Jerusalem, kehre zurück zum Herrn, deinem Gott.
Lamentatio III (Karfreitag – Lectio I)
Die dritte Lektion beginnt mit einer völlig neuen Klangqualität: Die Stimme tritt nicht mehr als Beobachterin Jerusalems auf, sondern als „Ego vir“ – der leidende Mensch selbst. Dadurch verschiebt sich der Ausdruck von kollektiver Klage zu subjektiver Innerlichkeit. Die Harmonik wird enger, düsterer, eindringlicher.
Das „Aleph“ dieser Lektion ist von außergewöhnlicher Intensität. Zelenka lässt die Melodie auf brüchigen Intervallen ruhen, die den inneren Schmerz des „vir videns paupertatem meam“ ausdrücken. Die Linie verweilt lange im mittleren Register, bevor sie plötzlich am Wort „indignationis“ nach oben drängt und dort chromatisch bebt.
Der folgende Text ist ein Meisterstück rhetorischer Reduktion. „Me adduxit et adducet in tenebras“ wird nahezu rezitativisch geführt, doch die Harmonik taucht in dunkle Regionen ab, die den Weg in die Finsternis gleichsam hörbar machen. Die Stimme scheint orientierungslos tastend zu wandern; ein Beispiel für Zelenkas Fähigkeit, die Grenze zwischen Rezitation und musikalischer Erschütterung zu verwischen.
„Vetustam fecit pellem meam“ ist eine der chromatischsten Stellen des gesamten Zyklus. Die Linie krümmt sich, als würde sie selbst altern und brechen, während die Begleitung mit Reibungen arbeitet, die die Zersetzung des Körpers musikalisch darstellen.
Das abschließende „Jerusalem, Jerusalem“ ist hier nicht nur eine Mahnung, sondern ein Aufschrei aus persönlichem Leid. Die Stimme öffnet sich zwar, doch die Harmonik bleibt schmerzvoll gespannt. Zelenka gelingt es, das individuelle Ich mit dem kollektiven Geschick Jerusalems zu verbinden: Die Klage des Propheten wird zur Klage der ganzen Menschheit.
Lamentatio III (Karfreitag – Lectio I)
Lateinischer Text
Aleph.
Ego vir videns paupertatem meam in virga indignationis eius.
Me adduxit et adducet in tenebras, et non in lucem.
Beth.
Tantum in me vertit et convertit manum suam tota die.
Ghimel.
Vetustam fecit pellem meam et carnem meam; contrivit ossa mea.
Ierusalem, Ierusalem, convertere ad Dominum Deum tuum.
Deutsche Übersetzung
Aleph.
Ich bin der Mann, der Elend schaut unter der Rute seines Grimmes.
Er trieb mich und hält mich in Finsternis, fern vom Licht.
Beth.
Immer wieder wandte er gegen mich seine Hand, den ganzen Tag.
Ghimel.
Mein Fleisch und meine Haut machte er alt, und meine Gebeine zerbrach er.
Jerusalem, Jerusalem, kehre zurück zum Herrn, deinem Gott.
Lamentatio IV (Karfreitag – Lectio II)
Die vierte Lektion bildet den rhetorischen Höhepunkt des Karfreitags. Zelenka schärft die musikalische Sprache: härtere Intervalle, plötzlich aufsteigende Linien, überraschende harmonische Brüche. Der Text spricht von Zerstörung, Gewalt und Spott – und Zelenka macht aus diesen Worten eine musikalische Passionserfahrung.
„Sæpiit vias meas“ wird durch eng zusammenrückende Harmonien geprägt, die das Eingesperrtsein in blockierte Wege schildern. Die Stimme sinkt in tiefe Register, als wäre sie in das dunkle Dickicht der Wege eingeschlossen.
„Tetendit arcum suum“ ist eine der bildlichsten Passagen des Werks. Der gezogene Bogen wird durch eine gespannte, rasch ansteigende melodische Linie dargestellt, die plötzlich innehält, bevor „quasi signum ad sagittam“ wie ein Schlag einsetzt. Zelenka nutzt hier die Kraft des musikalischen Augenblicks: Das Ziel des Pfeils ist nicht nur Jerusalem, sondern der Sänger selbst.
Die Worte „filias pharetræ suæ“ werden mit scharfen, punktierten Figuren unterlegt – wie ein Pfeilregen. Zelenkas Fähigkeit, Text in musikalische Aktion zu übersetzen, erreicht hier eine dramatische Höhe.
„Factus sum in derisum omni populo meo“ erhält eine schmerzlich bittere Färbung. Die Melodie wirkt wie erstarrt, die Harmonik öffnet sich nur halb, als sei der Spott selbst lähmend. Die Wiederholung „canticum eorum tota die“ nimmt den Charakter eines zermürbenden, unentrinnbaren Stimmgewirrs an.
Der Schluss „Ierusalem, Ierusalem“ ist härter, fast schneidend; die Linie steigt energisch, doch sie findet keine Erlösung. Die Lektion endet in düsterem Ernst – ein musikalischer Karfreitag im vollsten Sinn.
Lamentatio IV (Karfreitag – Lectio II)
Lateinischer Text
Daleth.
Sæpiit vias meas, et subvertit semitas meas; posuit me desolatam.
He.
Tetendit arcum suum et statuit me quasi signum ad sagittam.
Vav.
Misist in renibus meis filias pharetræ suæ.
Factus sum in derisum omni populo meo, canticum eorum tota die.
Ierusalem, Ierusalem, convertere ad Dominum Deum tuum.
Deutsche Übersetzung
Daleth.
Er hat meine Wege eingezäunt und die Pfade zerstört; er ließ mich in Verlassenheit zurück.
He.
Er spannte seinen Bogen und stellte mich als Ziel für den Pfeil hin.
Vav.
Die Pfeile seines Köchers trieb er in meine Nieren.
Ich bin zum Spott meines ganzen Volkes geworden, ihr Lied den ganzen Tag.
Jerusalem, Jerusalem, kehre zurück zum Herrn, deinem Gott.
Lamentatio V (Karsamstag – Lectio I)
Mit der fünften Lektion tritt eine merkliche atmosphärische Veränderung ein. Obwohl der Text weiterhin von Not, Verlust und Armut spricht, weitet sich die Harmonik, die Chromatik wird reduzierter, und die Stimmführung erhält einen ruhigeren, fast kontemplativen Charakter.
„Recordare, Domine“ erklingt wie ein heller werdendes Gebet. Die Stimme steigt anmutig, der Ton ist inniger, und die Harmonik erwärmt sich. Die Klage bleibt, doch sie verwandelt sich in Bitten, nicht mehr in verzweifelte Beschwörung.
Der Satz „Hereditas nostra versa est ad alienos“ wird in einer weich verhangenen Mollwendung präsentiert, die weder brutal noch resigniert ist. Zelenka zeigt den Verlust ohne dramatische Zuspitzung: ein stilles Erkennen statt eines Aufschreis.
„Pupilli facti sumus“ greift das Motiv der Verlassenheit auf, doch die Linienführung ist hier besonders schlicht, fast liedhaft. Die Passage „aquam nostram pecunia bibimus“ wird musikalisch überraschend leicht gezeichnet, als wollte Zelenka zeigen, dass selbst alltägliche Leiden zur sanften, aber eindringlichen Klage werden können.
Die zentrale Symbolstelle ist „Servimus et manibus nostris laboramus“: eine reduziertere, ernste Rezitation, die das harte Dasein formuliert, doch ohne die Verzweiflung der Karfreitagslektionen.
Das Schluss-„Ierusalem“ dieser Lektion ist das erste, das eine wirklich aufhellende Geste beinhaltet. Die Stimme öffnet sich stärker, die Harmonik weist in Richtung Dur, und die Mahnung zur Umkehr wird zu einem Bild innerer Rückkehr.
Lamentatio V (Karsamstag – Lectio I)
Lateinischer Text
Aleph.
Recordare, Domine, quid acciderit nobis; intuere et respice opprobrium nostrum.
Hereditas nostra versa est ad alienos, domus nostræ ad extraneos.
Beth.
Pupilli facti sumus absque patre; matres nostræ quasi viduæ sunt.
Aquam nostram pecunia bibimus; ligna nostra pretio comparavimus.
Ghimel.
Servimus et manibus nostris laboramus; non est qui eruat nos de manu eorum.
Ierusalem, Ierusalem, convertere ad Dominum Deum tuum.
Deutsche Übersetzung
Aleph.
Gedenke, Herr, was uns widerfahren ist; siehe her und schau unsere Schmach.
Unser Erbe fiel Fremden zu, unsere Häuser sind in der Hand von Ausländern.
Beth.
Wir wurden zu Waisen ohne Vater; unsere Mütter sind wie Witwen.
Unser eigenes Wasser trinken wir nur gegen Geld, unser Holz müssen wir teuer kaufen.
Ghimel.
Wir dienen und mühen uns ab mit eigener Hand; niemand befreit uns aus ihrer Gewalt.
Jerusalem, Jerusalem, kehre zurück zum Herrn, deinem Gott.
Lamentatio VI (Karsamstag – Lectio II)
Die sechste und letzte Lektion ist der klanglich hellste Teil des Zyklus, trotz des ernsten Textes. Die Harmonik bewegt sich deutlicher im Durbereich, die Linienführung ist freier und leichter, und viele melodische Figuren wirken wie gelichtet. Zelenka deutet den Übergang von der Finsternis der Passion zur Nähe der Osterhoffnung an.
„Patres nostri peccaverunt“ wird in ruhiger, nachdenklicher Stimmung dargestellt. Es fehlt die Schärfe der früheren Lektionen; der Ton ist mild, fast verzeihend. Die Musik spiegelt ein historisches Bewusstsein, das nicht mehr klagt, sondern versteht.
„Servi dominati sunt nostri“ kehrt noch einmal zum Motiv der Knechtschaft zurück, doch die musikalische Begleitung bleibt weich. Dies ist nicht mehr das Erdrückende der Zerstörung Jerusalems, sondern das leise Erzählen späterer Generationen.
„In animabus nostris afferebamus panem“ ist eine der melodisch schönsten Stellen der gesamten Lamentationen. Die Stimme fließt wie eine weit gezogene Linie, nicht mehr gebrochen, sondern getragen – ein Bild des Überlebens trotz Not.
„Pellis nostra quasi clibanus exusta“ führt noch einmal chromatische Reibung ein, doch Zelenka vermeidet den harten Schmerz. Es ist eine Erinnerung an die Not, nicht der unmittelbare Ausbruch.
Das letzte „Ierusalem, Ierusalem“ schließt den Zyklus mit einer Geste, die zugleich Mahnung und Hoffnung ist. Zum ersten Mal schimmert ein wirklicher Helligkeitston durch. Die Musik bleibt ernst, doch sie sinkt nicht mehr in die abgründige Dunkelheit zurück. Der Zyklus endet nicht in Verzweiflung, sondern in einem stillen, nach innen gerichteten Ruf.
Lamentatio VI (Karsamstag – Lectio II)
Lateinischer Text
Daleth.
Patres nostri peccaverunt et non sunt, et nos iniquitates eorum portavimus.
Servi dominati sunt nostri; non fuit qui redimeret de manu eorum.
He.
In animabus nostris afferebamus panem nobis a facie gladii in deserto.
Vav.
Pellis nostra quasi clibanus exusta est a facie tempestatum famis.
Ierusalem, Ierusalem, convertere ad Dominum Deum tuum.
Deutsche Übersetzung
Daleth.
Unsere Väter sündigten und sind nicht mehr; wir aber tragen ihre Schuld.
Sklaven herrschen über uns; keiner ist da, der uns aus ihrer Hand erlöst.
He.
In Lebensgefahr verschafften wir uns Brot angesichts des Schwertes in der Wildnis.
Vav.
Unsere Haut brannte wie ein Ofen unter dem Sturm des Hungers.
Jerusalem, Jerusalem, kehre zurück zum Herrn, deinem Gott.
CD-Vorschlag
Jan Dismas Zelenka, The Lamentations of Jeremiah the Prophet, Collegium Marianum, Leitung Tomáš Král (* 1979), SUPRAPHON a.s., 2014:
https://www.youtube.com/watch?v=hTxLx8uAp0Y&list=OLAK5uy_k8ENJWVwHfXd6bgUXZcrNbB6cKnX46Tz0&index=2
Die CD umfasst 9 Tracks und bietet eine der klanglich differenziertesten und stilistisch geschmackvollsten modernen Einspielungen der sechs Lektionen aus ZWV 53.
Responsoria pro hebdomada sancta ZWV 55
Jan Dismas Zelenka schuf seine Responsoria pro hebdomada sancta im Jahr 1723, in einer Lebensphase, in der er am Dresdner Hof zunehmend als geistlicher Komponist von außerordentlicher Ernsthaftigkeit und kontrapunktischer Meisterschaft wahrgenommen wurde. Das Werk gehört zu den umfangreichsten und künstlerisch anspruchsvollsten Schöpfungen seines gesamten Œuvres und nimmt innerhalb der Musikgeschichte des frühen 18. Jahrhunderts eine herausragende Stellung ein. Es handelt sich um eine Sammlung von 27 Tenebrae-Responsorien für die drei letzten Tage der Karwoche – Gründonnerstag, Karfreitag und Karsamstag –, jeweils geordnet in drei Nocturni zu je drei Responsorien. In dieser liturgischen Form knüpft Zelenka bewusst an eine jahrhundertealte Tradition an, die in den großen europäischen Kathedralen bis weit ins Mittelalter zurückreicht und im 17. und frühen 18. Jahrhundert einen erneuten Höhepunkt erlebt.
Obwohl die Komposition ausdrücklich im stile antico verfasst ist, folgt Zelenka dieser Norm niemals sklavisch. Der polyphone Satz zeigt eine kontrapunktische Raffinesse, die weit über den konventionellen Renaissance-Stil hinausgeht: Diminution, Permutationstechniken, enggeführte Doppelfugen, Fughetten und Kanons bilden ein kompositorisches Geflecht, das durch seine logische Strenge ebenso fasziniert wie durch seine expressive Intensität. Zelenka beherrscht das kontrapunktische Handwerk mit einer Freiheit, die im 18. Jahrhundert ihresgleichen sucht. Dennoch bleibt das Werk nicht in abstrakter Gelehrsamkeit verhaftet. Die Tenebrae-Texte – aus Evangelien entnommen oder aus prophetisch-klagenden alttestamentlichen Bildern geformt – erhalten durch Zelenkas Musik eine dramatische und zugleich zutiefst kontemplative Dimension. Immer wieder wird der stile antico durch barocke harmonische Farbe, kühne Chromatik oder unerwartete dynamische Steigerungen durchbrochen. Die expressive Wortausdeutung, die auffällige Gestaltung wichtiger Schlüsselwörter und die teilweise erschütternde Intensität der Affekte verleihen diesen Responsorien eine emotionale Dichte, die man in der liturgischen Musik der Zeit nur selten findet.
https://www.youtube.com/watch?v=HBFhEqObv5Y
Zelenka plante die Ausführung seiner Responsorien mit Instrumenten colla parte, also mit einer instrumentalen Verstärkung jeder einzelnen Vokallinie – etwa durch den Einsatz von Posaunen im Tenorregister. Dieses Verfahren knüpft einerseits an ältere römische und österreichische Traditionen an, andererseits verleiht es dem dunklen, klagenden Charakter der Tenebrae-Feier eine zusätzliche Farbigkeit und Klangschwere. In ihrer ursprünglichen liturgischen Praxis standen die Responsorien nicht isoliert, sondern waren eingebettet in eine vielschichtige Struktur des Triduum Sacrum: Auf jede der drei Nächte verteilten sich abwechselnd gregorianische Lektionen, die beiden groß angelegten Lamentationen ZWV 53 und jeweils drei polyphone Responsorien. Die heutige Präsentation des gesamten Zyklus als zusammenhängender Block entspricht somit der modernen Konzert- und Aufnahmeästhetik, während der historische Vollzug stärker auf die abwechselnde Abfolge von Schriftlesung, Klaggesang und polyphonem Kommentar zielte.
Trotz der strengen liturgischen Form entfaltet sich über diese 27 Sätze ein beeindruckender dramaturgischer Bogen: Er beginnt im Garten Gethsemane, führt über Verrat, Gefangennahme und Kreuzigung, mündet schließlich in die Stille des Grabes und endet im Erwartungsraum des Ostermorgens. Zelenka nutzt die polyphone Faktur, um die seelischen Extreme der Texte hörbar zu machen: die Einsamkeit Christi (Tristis est anima mea), die kollektive Klage Israels (Jerusalem, surge), die Erschütterung der Natur (Tenebrae factae sunt) oder die ergreifende Betrachtung des Todes des Gerechten (Ecce quomodo moritur iustus). Diese Musik ist nicht dekorativ, sondern zutiefst existentiell. Sie verbindet theologische Reflexion mit musikalischer Architektur, liturgische Strenge mit barockem Empfinden und gelehrte Kompositionstechnik mit einer unüberhörbaren persönlichen Handschrift.
Nach Zelenkas Tod verbreiteten sich die Responsoria pro hebdomada sancta rasch im deutschsprachigen Raum und darüber hinaus – nicht zuletzt durch die Aktivitäten Georg Philipp Telemanns (1681–1767) und Johann Georg Pisendels (1687–1755), die Zugang zu den Autographen erhielten. Dadurch entwickelte sich das Werk zu einem der am weitesten verbreiteten und hoch geschätzten Zeugnisse aus Zelenkas geistlicher Musikproduktion. In ihrer kontrapunktischen Dichte und spirituellen Kraft gehören diese Responsorien zu den monumentalsten Leistungen der europäischen Kirchenmusik des 18. Jahrhunderts und bilden einen Gipfelpunkt dessen, was die Dresdner Hofkapelle im Zeitalter Augusts des Starken hervorbrachte.
CD-Vorschlag
Jan Dismas Zelenka, Responsoria pro hebdomada sancta – Lamentatio Ieremiae Prophetae, Collegium 1704 und Collegium Vocale 1704, Leitung Václav Luks (* 1974), Accent, 2012.
https://www.youtube.com/watch?v=zdEragtghmk&list=OLAK5uy_nxMuJyf1zRZyRoKuV1OsPZ-z_uj2n_4Y4&index=2
Text
Gründonnerstag – Responsoria
Nocturn I
1. In monte Oliveti
Auf dem Ölberg betete Jesus zum Vater:
„Vater, wenn es möglich ist, so gehe dieser Kelch an mir vorüber;
doch nicht mein Wille geschehe, sondern der deine.“
Wachet und betet, damit ihr nicht in Versuchung fallet.
2. Tristis est anima mea
Meine Seele ist betrübt bis zum Tod.
Bleibt hier und wacht mit mir.
Schon seht ihr den Pöbel, der mich gefangennehmen wird;
ihr aber flieht und lasset mich allein.
3. Ecce vidimus eum
Wir sahen ihn, und er hatte keine Gestalt und keinen Glanz.
Sein Aussehen war ohne Schönheit;
er war verachtet und von den Menschen verworfen.
Er trug unsere Schmerzen und lud unsere Krankheiten auf sich.
Nocturn II
4. Amicus meus
Mein Freund verriet mich mit einem Kuss.
Der, der mit mir das Brot aß, hat die Ferse gegen mich erhoben.
Mit einem Zeichen des Friedens verfolgte er den Tod des Unschuldigen.
5. Judas mercator pessimus
Judas, der schlechteste Händler, gab den Herrn mit einem Kuss preis.
Er wurde durch einen Kuss zum Mörder des Herrn.
Ach, wäre er nie geboren!
Für dreißig Silberlinge überlieferte er das Blut des Gerechten.
6. Unus ex discipulis meis
Einer aus meinen Jüngern wird mich heute verraten.
Weh jenem Menschen, durch den der Menschensohn verraten wird.
Besser wäre es für diesen Menschen, er wäre nie geboren.
Nocturn III
7. Eram quasi agnus innocens
Ich war wie ein unschuldiges Lamm, das man zum Opfer führt,
und sie berieten Böses gegen mich.
Alle meine Feinde dachten Übles gegen mich.
8. Una hora non potuistis
Nicht einmal eine Stunde konntet ihr mit mir wachen?
Wachet und betet, damit ihr nicht in Versuchung fallet.
Der Geist ist willig, doch das Fleisch ist schwach.
9. Seniores populi
Die Ältesten des Volkes hielten Rat gegen Jesus,
um ihn mit Hinterlist zu ergreifen und zu töten.
Sie brachten falsche Zeugen herbei,
doch ihre Aussagen stimmten nicht überein.
Karfreitag – Responsoria
Nocturn I
1. Omnes amici mei
Alle meine Freunde haben mich verlassen,
und die mich liebten, haben sich gegen mich gewandt.
Ich bin demütigt bis in den Staub des Todes.
2. Velum templi scissum est
Der Vorhang des Tempels zerriss in zwei Stücke,
die Erde erbebte, die Felsen zersprangen.
Viele Gräber öffneten sich,
und die heiligen Schlafenden standen auf.
3. Vinea mea electa
Mein erlesener Weinberg,
was habe ich dir getan?
Habe ich dich nicht geliebt?
Warum hast du mir Bitterkeit gegeben,
wo ich Süßigkeit erwartet habe?
Nocturn II
4. Tamquam ad latronem
Wie gegen einen Räuber seid ihr ausgezogen, mich zu fangen.
Täglich war ich bei euch im Tempel und habe gelehrt,
und ihr habt mich nicht ergriffen.
Nun aber ist dies eure Stunde und die Macht der Finsternis.
5. Tenebrae factae sunt
Finsternis entstand über der ganzen Erde,
als sie Jesus kreuzigten.
Er rief mit lauter Stimme:
„Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“
6. Animam meam dilectam
Meine geliebte Seele hat man mir entrissen.
Ich bin geworden wie derjenige,
der in die Grube hinabsteigt;
ich bin dem Tode ausgeliefert.
Nocturn III
7. Tradiderunt me in manus impiorum
Sie lieferten mich den Gottlosen aus
und sparten nicht ihren Spott.
Mächtige versammelten sich gegen mich.
8. Jesum tradidit impius
Der Gottlose verriet Jesus mit einem Kuss.
Wie ein Lamm wurde er den Schächern überliefert.
Er hätte ihm besser nie das Leben geschenkt.
9. Caligaverunt oculi mei
Meine Augen sind verdunkelt vor Leid,
denn sie haben mich verhöhnt und gesprochen:
„Wo ist nun dein Gott?“
Ich bin zum Spott der Menschen geworden.
Karsamstag – Responsoria
Nocturn I
1. Sicut ovis
Wie ein Schaf wurde er zur Schlachtbank geführt,
und wie ein Lamm vor seinem Scherer verstummt,
so tat er seinen Mund nicht auf.
Er wurde aus dem Land der Lebenden weggerissen.
2. Jerusalem surge
Jerusalem, steh auf und wirf ab die Kleider deiner Trauer;
bedecke dich mit dem Mantel des Lobes.
Denn über dich wird aufgehen das Licht des Herrn.
3. Plange quasi virgo
Weine wie eine Jungfrau, die um ihren Bräutigam trauert,
denn der Verwüster wird über dich kommen.
Umgürte dich mit Trauer, Tochter meines Volkes.
Nocturn II
4. Recessit pastor noster
Unser Hirt ist dahingegangen,
die Quelle des lebendigen Wassers.
Die Sonne hat ihren Glanz verloren,
denn er, der einst groß war, ist gefallen.
5. O vos omnes
Ihr alle, die ihr vorübergeht auf dem Weg,
schaut und seht,
ob ein Schmerz ist wie mein Schmerz,
mit dem der Herr mich heimgesucht hat.
6. Ecce quomodo moritur justus
Siehe, wie der Gerechte stirbt,
und niemand nimmt es sich zu Herzen.
Die Frommen werden weggeraftt,
und keiner bedenkt es.
Nocturn III
7. Astiterunt reges terrae
Die Könige der Erde standen auf
und die Fürsten vereinten sich
gegen den Herrn und gegen seinen Gesalbten.
8. Aestimatus sum
Ich wurde geachtet wie einer, der kein Mensch mehr ist,
ein Spott der Leute, verachtet vom Volk.
Alle, die mich sahen, verspotteten mich.
9. Sepulto Domino
Als der Herr begraben war,
versiegelten sie den Stein am Grab,
stellten Wachen davor
und fürchteten, er würde auferstehen.
Sub olea pacis et palma virtutis conspicua orbi regia Bohemiae Corona.
Melodrama de Sancto Wenceslao, ZWV 175
Der Titel
„Unter dem Ölbaum des Friedens und der Palme der Tugend, die ihr Licht über die Welt ausstrahlen, glänzt die königliche Krone Böhmens: ein Melodrama zu Ehren des heiligen Wenzel.“
Sub olea pacis
„Unter dem Ölbaum des Friedens“
Der Ölbaum ist seit der Antike ein Symbol des Friedens (Noahs Taube, antike Pax-Darstellungen). Der Ausdruck bedeutet: Die Herrschaft, die hier gefeiert wird – die böhmische Krone und Karl VI. – steht unter dem Zeichen des Friedens, den Gott schenkt. Zugleich deutet er die Hoffnung auf eine stabile, friedliche Regierungszeit an.
et palma virtutis
„und unter der Palme der Tugend“
Die Palme symbolisiert seit der Antike Tugend, Sieg, Reinheit und das Martyrium der Heiligen. Im christlichen Kontext trägt sie den Sinn moralischer Bewährung und göttlichen Triumphes. Auf St. Wenzel bezogen bedeutet sie: Die Tugend des Heiligen ist das Fundament der Herrschaft.
conspicua orbi
„glänzend / hervorleuchtend für die ganze Welt“
Das Wort conspicuus bedeutet „auffallend“, „glänzend“, „offenkundig sichtbar“.
Der Ausdruck besagt: Der Ruhm der böhmischen Krone ist nicht lokal, sondern weltumspannend wahrnehmbar. Dies ist ein Kernstück habsburgischer Selbstdarstellung: Böhmen ist nicht nur ein Königreich, sondern ein Teil der universal-monarchischen Sendung.
regia Bohemiae Corona
„die königliche Krone Böhmens“
Dies bezeichnet konkret die böhmische Königskrone, in der jesuitischen Dramaturgie jedoch auch die gesamte böhmische Staatlichkeit. Sie ist hier Trägerin historischer Autorität, die vom heiligen Wenzel (†935) ausgeht und auf Karl VI. übergeht.
Melodrama de Sancto Wenceslao
„Melodrama vom heiligen Wenzel“
Damit wird der heilige Wenzel als Patron und legitimatorischer Ursprung der böhmischen Monarchie bezeichnet. Das Werk soll seine Tugend, sein Martyrium und sein politisch-theologisches Erbe darstellen, und zwar als heilsgeschichtliche Vorbereitung auf die Krönung Karl VI.
Handlung und Bedeutung des Werkes
Zelenkas großes Prager Krönungsmelodrama entstand für die Huldigung Kaiser Karl VI. (1685–1740), der am 5. September 1723 in Prag als König von Böhmen gekrönt wurde. Die Jesuiten des Klementinums entwickelten ein monumentales szenisches Spektakel, das Musik, Gesang, Schauspiel, Tanz und allegorische Tableaux verband. Zelenkas Komposition bildete das musikalische Rückgrat dieser vielteiligen Bühnenhandlung. Das Werk ist kein Operntext im engeren Sinne, sondern folgt der Tradition des jesuitischen Schuldramas: eine Abfolge von Szenen, in denen allegorische Figuren, Engel, Tugenden und personifizierte Ideen auftreten, um die Königskrönung in ein heilsgeschichtliches und dynastisches Deutungssystem einzubetten. Der rote Faden des Werkes ist der böhmische Landespatron St. Wenzel († 935) und sein Weiterwirken im „heutigen“ König, dessen Herrschaft dadurch als legitime Fortsetzung einer christlich-böhmischen Tradition erscheint.
https://www.youtube.com/watch?v=HMOUUfuQvMc
Zu Beginn entfaltet die großbesetzte Sinfonia ein festliches Panorama, das den höfischen, sakralen und dynastischen Rahmen des Werkes markiert. Drei Instrumentalgruppen – Trompeten mit Pauken, Oboen und Fagott, sowie das Streichorchester – wechseln sich ab und verschränken sich nach dem concerto-principio des Hochbarock. Die Musik symbolisiert das Erscheinen eines „idealen Schauplatzes“, eine Mischung aus Hofzeremoniell und geistlicher Bühne, auf der sich göttliche und irdische Ordnung begegnen.
Der Prolog führt unmittelbar in die Welt der Allegorien. Der Tenor, begleitet vom Chor, ruft die Festgemeinde zur Betrachtung der „Fortitudo“, der durch göttliche Kraft verliehenen Stärke. Die Erde selbst wird angesprochen, denn in Böhmen soll sich heute etwas ereignen, das die Geschichte heiligt. Es folgen ein Loblied auf die himmlische Ordnung und ein staunender Dialog über ein außergewöhnliches Zeichen am Himmel. Die Sopran- und Altstimmen deuten dieses Zeichen als Hinweis auf die Tugend, Heiligkeit und das Opfer des hl. Wenzel. Wenzel erscheint nicht als Figur, sondern als Idee, als geistliche Präsenz, deren Beispiel die Handlung leitet. Die ersten Nummern schildern seine Selbsthingabe, seine Gerechtigkeit und sein Martyrium, das als Fundament der böhmischen Staatsidentität dargestellt wird. Die Tugend triumphiert über die Gewalt, die Sanftmut über die Feinde: Zelenkas Musik steigert diese Gegensätze mit energischen Bässen, virtuoser Koloratur und feierlichen Bläserakkorden.
Der erste Akt entfaltet das Leben des hl. Wenzel in dramatisch verdichteter allegorischer Form. Der Mond wird angerufen, er möge die Schatten zerstreuen – ein Bild für das Ende heidnischer Finsternis. Der Tenor besingt die emsige Tätigkeit der Tugend, die selbst im kleinsten Detail Wenzels Charakter prägt. Zwischendurch stürmt ein Chor auf: er verjagt die „Täuschungen“ und „Götzenbilder“, denn wahre Herrschaft ruht nicht auf Aberglauben, sondern auf göttlicher Wahrheit. Die Sopran- und Altstimmen entwickeln im Anschluss eine zarte, kontemplative Atmosphäre, in der Wenzels Weg als innerer Pilgerweg erscheint: die Reinheit der Absicht, die Klarheit des Glaubens und die Bereitschaft, das Schwere zu tragen.
Ein wiederkehrendes Motiv dieses Aktes ist das Bild des Weges und der Ernte. Die Figuren sprechen von Halmen und Ähren, die gesammelt werden, als Symbol für Wenzels Wirken: er vereint, was zerstreut ist, er ordnet, was ungeordnet war, und er bringt die „Früchte“ seines Glaubens dem Volk. Die allegorische Sprache bleibt dabei bewusst offen, doch stets wird deutlich, dass Wenzel als Idealbild eines christlichen Fürsten vorgestellt wird. Der erste Akt endet nicht mit einem dramatischen Höhepunkt, sondern mit einem ruhigen, geordneten Zustand: die Tugenden haben ihre Positionen eingenommen, die Bühne ist bereit für die Übertragung dieses Heiligenbildes auf die Gegenwart.
Der zweite Akt setzt mit einer gewichtigen theologischen Aussage ein: „Wer mich verherrlicht, den werde ich verherrlichen.“ Der Tenorsolist führt diese Gottesbotschaft aus, die anschließend von Engelchören aufgenommen wird. Die Engel erscheinen als himmlische Zeugen der böhmischen Geschichte und als Mittler zwischen Wenzel und den Habsburgern. Die Sopransolistin ruft Gott an als den „Verborgenen“, dessen Vorsehung die Geschichte lenkt. Die folgende Tenorarie führt ein dramatisches Element ein: Stürme, Winde und atmosphärische Bedrohungen stehen für die Krisen, durch die Böhmen und sein Patron gegangen sind.
Ein besonders kunstvoller Teil ist die Nummer „Veni, Auster, lux perennis“. Hier wird der Südwind angerufen, Symbol für Inspiration, Wärme und göttliches Leuchten. Die Musik kombiniert zwei Blockflöten mit Traversflöten und schafft damit einen hellen, schwebenden Klangraum, der das Wirken des Heiligen als anhaltende Lichtquelle darstellt. Anschließend führt ein Dialog zwischen Sopran und Bass das zentrale ideologische Element des gesamten Melodrams ein: „Per me reges regnant.“ Durch mich herrschen die Könige. Der hl. Wenzel ist somit nicht nur moralisches Vorbild, sondern Garant politischer Legitimität, ein Bindeglied zwischen Religion und dynastischem Anspruch. Der Bass ruft die göttliche Vorsehung auf, sie möge die Krone in die Hand dessen legen, den Gott erwählt hat, während die Sopranistin die Krone selbst als Geschenk des Himmels besingt.
In den letzten Nummern des zweiten Aktes wird die Krone ausdrücklich als göttliches Instrument bezeichnet: „Corona gloriae in manu Domini.“ Das Böhmen, das durch Wenzel geeint wurde, soll nun in neuer Blüte erscheinen. Ein besonders innovatives Moment ist die große Celloszene, die Zelenka als Soloinstrument ungewöhnlich prominent einsetzt. Die Sopranistin besingt mit diesem warmen, menschlichen Klang die Fürsten des Himmels, die sich herabneigen, um der Krönung beizuwohnen. Der zweite Akt endet mit der Vision eines Landes, das unter göttlichem Schutz steht und dessen Zukunft durch die Verbindung von Vergangenheit (Wenzel) und Gegenwart (Karl VI.) gesichert ist.
Der dritte Akt führt diese Gedanken zu einem offenen, festlichen Abschluss. Der Countertenor besingt das Wiedererstarken des Ölbaums des Friedens, ein Bild für die Stabilität und Fruchtbarkeit des Landes nach der Krönung. Der Tenor ruft zur Vorbereitung der Trommeln und Instrumente auf, denn nun beginnt der feierliche Teil der Huldigung. Die Musik wird zunehmend festlicher, die Trompeten und Pauken treten wieder in den Vordergrund. In der großen Tenor- und Chorszene „Vive, regna, Ferdinande“ erscheint erstmals die gegenwärtige Dynastie direkt auf der Bühne des Allegorischen: nicht Karl VI. selbst, sondern sein Sohn, der junge Erzherzog Ferdinand (1708–1739), wird angerufen. Seine Zukunft steht exemplarisch für die dauerhafte Stabilität des Hauses Habsburg. Die folgenden Szenen entfalten ein Panorama von Freude, Jubel und dynastischer Hoffnung. Die Bassarie ruft zu „neuen Freuden“ auf, und die Sopranistin beschreibt Böhmen, das im Licht „zweier Sonnen“ erstrahlt: dem himmlischen Licht des Heiligen Wenzel und dem politischen Licht der Habsburger.
Der Epilog vereint alle Stimmen zu einer dichten Abfolge von Huldigungen und Proklamationen. Der Tenor ruft zu allgemeinem Beifall auf; die Musik nimmt jetzt bewusst den Charakter einer feierlichen Schlusszeremonie an. Zelenka kombiniert strenge Fugenführung mit reich besetzten Orchesterschichten, was dem Werk einen triumphalen Abschluss verleiht. Die Engelchöre rufen die Weltgegenden auf, den neuen König zu verehren, und die „Oriens“-Anrufung – der Osten, Sitz des aufgehenden Lichts – bildet das strahlende Ende. Der finale Chor besingt Böhmen als ein Land, dessen Frieden und Tugend unter der Herrschaft des Hauses Habsburg neu aufleuchten. Damit ist die ideologische Botschaft vollkommen: die Heiligkeit des Landespatrons legitimiert die Herrschaft des neuen Königs, und die Krönung selbst erscheint als Erfüllung göttlicher Vorsehung.
Zelenkas Werk ist in seiner strukturellen Vielfalt und musikalischen Kühnheit einzigartig. Die Mischung aus brillanten Trompetenklängen, innigen Soloszenen, virtuosen Instrumentalnummern und enggeführten Chören verleiht dem Melodrama eine dramatische Kraft, die weit über die Aufgaben einer bloßen Festmusik hinausgeht. In seiner Gesamtgestalt steht Sub olea pacis an der Grenze zwischen Oratorium, Huldigungsoper und politischem Theater – ein Werk, das theologisch durchdrungen, musikalisch erfinderisch und politisch hochwirksam war. Die jesuitische Dramaturgie und Zelenkas unverwechselbare Handschrift verschmolzen zu einem Kunstwerk, das 1723 als Glanzpunkt der Prager Krönungsfeier empfunden wurde und bis heute eines der spektakulärsten Kompositionsprojekte seines Schaffens darstellt.
CD-Vorschlag
Jan Dismas Zelenka, Sub olea pacis et palma virtutis, Musica Florea, Ensemble Philidor, Leitung Marek Štryncl (* 1974), SUPRAPHON a.s., 2001, released 2012:
https://www.youtube.com/watch?v=vJZf_RhhHJw&list=OLAK5uy_kBjBRaBYF78RE120tq9kbztE89xBoSSA8&index=2
Il Diamante, ZWV 177, Serenata per nozze, Dresden 1737
Mit Il Diamante schuf Jan Dismas Zelenka im Jahr 1737 eines der außergewöhnlichsten weltlichen Werke seines Spätwerks. Die Dresdner Hofgesellschaft feierte die Vermählung des polnischen Prinzen Georg Ignatius Lubomirski (1687–1753) mit der sächsischen Baroness Joanna von Stein (1723–1783), und Zelenka erhielt – ausnahmsweise anstelle von Johann Adolf Hasse (1699–1783) – den Auftrag, eine abendliche Fest-Serenata zu komponieren. Hasse war zu diesem Zeitpunkt mit seiner Oper Senocrita beschäftigt, wodurch Zelenka die seltene Möglichkeit erhielt, seine Meisterschaft im italienischen vokal-instrumentalen Festgenre zu entfalten.
Die Entdeckung eines gedruckten Librettos des Dichters Giovanni Claudio Pasquini, genannt Pallavicini (um 1695–1770) in den 2000er Jahren bestätigte den Titel Il Diamante: ein höfisches Symbolspiel, das sowohl auf den Namen der Braut als auch auf ein kostbares Juwel anspielt, das ihr die Kurfürstin als Hochzeitsgabe überreichte. Il Diamante ist damit eines der ganz wenigen großformatigen weltlichen Werke Zelenkas – neben dem Melodrama de Sancto Wenceslao (ZWV 175) das einzige, das die Dimension einer abendfüllenden Serenata erreicht.
Handlung und Dramaturgie
Das Werk folgt der allegorischen Tradition höfischer Festserenaten, wie sie im Dresden der 1730er Jahre üblich waren: Götter und personifizierte Naturkräfte treten auf, um die Tugenden des Brautpaares zu feiern. Zelenka nutzt dieses Schemata jedoch, um ein dramaturgisch reiches, fast opernhaftes Tableau zu schaffen.
https://www.youtube.com/watch?v=jbuXnMseYwU
Prolog: Die Erde bringt das Juwel
Die personifizierte Terra – die Erde – präsentiert einen außergewöhnlichen Diamanten, ein Geschenk an die Göttin Juno, die als Hüterin der Ehe für das göttliche Wohl und den Bestand des neuen Bundes steht. Juno erkennt in dem Stein ein Symbol der Reinheit und Dauerhaftigkeit des zukünftigen Eheglücks und beschließt, ihn dem Brautpaar zu überreichen.
Juno ruft Hymen, den Schutzgott der Ehe
Die Göttin ruft Hymen, den patronus matrimonii, und beauftragt ihn, den Diamanten dem Bräutigam zu übergeben. Die Musik lässt deutlich spüren, dass Zelenka die Gestalt Hymens zwischen Festlichkeit und feierlicher Würde ausbalanciert – ein musikalisches Porträt, das an frühere Hasse-Figuren erinnert, aber durch Zelenkas unverwechselbare harmonische Handschrift eigenständig bleibt.
Cupid erscheint – Verkörperung der Liebe
Nun tritt Amor (Cupid) auf, der den Bräutigam symbolisch herbeiführt und die Schönheit sowohl der Braut als auch des Juwels preist. Die Arien dieses Abschnitts gehören zu den lyrischsten Seiten des Werkes: feinst austarierte italienische Kantabilität, eingebettet in eine Dresdner Klangpracht mit leuchtenden Traversflöten und geschmeidigen Oboenpaaren.
Ein Lob der Ehe – in Musik und Mythos
Hymen und Cupid singen im Duett von der Verbindung zweier Länder – Sachsens und Polens –, die im höfischen Zeremoniell harmonisch verklärt wird. Der Chor ruft schließlich zum Fest auf; an diesem Punkt hätte das Werk nach klassischer Serenata-Konvention enden können.
Die überraschende Wendung: Venus erscheint
Doch nun geschieht Unerwartetes: Venus, die Göttin der Liebe, tritt auf.
In einem Rezitativ und einer virtuosen Arie fragt sie:
„Bin ich vergessen, wo man die Liebe feiert?“
Sie beansprucht ihre Rolle als eigentliche Quelle jedes Glücks und erweitert die allegorische Erzählung um ein Moment göttlicher Rivalität. Dass diese Szene stilistisch und dramaturgisch wie ein Einschub wirkt, führte zu der plausiblen Hypothese, dass Venus erst spät hinzugefügt wurde. Die zeitgenössische Presse und spätere musikhistorische Kommentare vermerkten zudem, dass Hasse selbst die Aufführung leitete und seine gefeierte Gattin Faustina Bordoni (1700–1781) anwesend war – weshalb eine zusätzliche Partie für einen Star-Mezzosopran durchaus denkbar erscheint.
Gesichert ist: Zelenkas Part entstand vollständig, und er fügt sich nahtlos in den musikalischen Verlauf ein – ein seltener Moment, in dem höfische Politik, persönliche Netzwerke und musikalische Praxis unmittelbar greifbar werden.
Die Serenata endet mit einer Wiederholung des festlichen Schlusschores, der zum gemeinsamen Jubel über das Brautpaar aufruft.
Musikalische Charakteristik
Il Diamante beginnt mit einer vierteiligen Sinfonia (Allegro – Adagio – zwei Menuette), die Zelenkas orchestrale Originalität mit brillanter Festlichkeit verbindet. Danach folgt ein abwechslungsreiches Tableau von Arien, Duetten und Rezitativen, deren melodischer Einfallsreichtum und harmonische Kühnheit Zelenkas unvergleichliche Handschrift erkennen lassen.
Der Wechsel zwischen tänzerischen, fast pastoral anmutenden Arien und gewichtigen, würdevollen Nummern ist typisch für den Dresdner Hofstil, aber Zelenka erreicht hier eine besondere Klangsinnlichkeit:
– virtuose Koloraturen,
– ausdrucksstarke Binnendissonanzen,
– kontrapunktisch dichte Chorsätze,
– sorgfältige Instrumentalfarben mit Oboen, Traversflöten und Streichern.
Die beiden Schlusschöre bilden mit ihrer weiten harmonischen Anlage den festlichen Rahmen, der einer höfischen Serenata angemessen ist.
CD-Vorschlag
Jan Dismas Zelenka, Il Diamante (ZWV 177), Inegál Ensemble, Leitung Adam Viktora (* 1973), Label Nibiru, 2009:
https://www.youtube.com/watch?v=ciFb7ICY1fk&list=OLAK5uy_nVSMHl4VyirAaGYPJeegyTal5dxfDMobo&index=2
Diese Einspielung gilt heute als maßstabsetzend: historisch informiert, klanglich warm, gesanglich hervorragend besetzt und mit größtem stilistischem Feingefühl realisiert. Viktora zeigt die dramatische Spannkraft des Werkes und hebt zugleich jene feinen harmonischen Verschattungen hervor, die Zelenkas Spätstil prägen.
Die sechs Triosonaten, ZWV 181
Ein Zyklus von Kühnheit, Virtuosität und struktureller Phantasie
Im Gesamtwerk von Jan Dismas Zelenka nehmen die sechs Triosonaten ZWV 181 eine einzigartige Stellung ein. Keine andere Sammlung instrumentalpolyphoner Kammermusik des frühen 18. Jahrhunderts verbindet in vergleichbarer Radikalität technische Brillanz, harmonische Abenteuerlust und eine unverwechselbare Handschrift, die sich jedem gängigen stilgeschichtlichen Schema entzieht. Der Zyklus entstand wahrscheinlich während Zelenkas Studienzeit in Wien in den Jahren 1717–1718, in unmittelbarer Nähe zum kaiserlichen Hof und unter dem geistigen Einfluss seines Lehrers, des Hofkapellmeisters Johann Joseph Fux (1660–1741). Dass die Sonaten erst später in Dresden in vollständigen, Autograph überlieferten Fassungen vorliegen, verweist auf Zelenkas anhaltende Wertschätzung dieses Werkkomplexes, den er offensichtlich als eine Art kompositorisches Exerzitium verstand – ein Gegenstück zu seinen liturgischen Großformen, aber getragen von derselben konstruktiven Strenge und Ausdrucksintensität.
Die Besetzung – zwei Oboen, Fagott, Violine und Continuo – sprengt das klassische Rahmenmodell der Triosonate, das traditionell auf zwei Oberstimmen und einer Basslinie fußt. Zelenka löst die Hierarchie der Stimmen nahezu vollständig auf: Oboen und Violine fungieren abwechselnd als Träger des thematischen Materials, während das Fagott nicht als bloße Stütze dient, sondern mit einer für die Zeit einzigartigen Virtuosität zu einem gleichwertigen Partner wird. In manchen Sätzen erreicht dessen Linienführung eine technische Schärfe, wie sie erst im späten 19. Jahrhundert wieder selbstverständlich wurde. Die resultierende Polyphonie wirkt in ihrer Beweglichkeit und in ihrem permanenten Wechsel der Stimmrollen oft kammermusikalisch „symmetrisch“, beinahe demokratisch – ein Konzept, das weit über den traditionellen italienischen oder deutschen Sonatenbegriff hinausreicht.
https://www.youtube.com/watch?v=ZIhR1ZPszuU
Formale Vielfalt und dramaturgische Spannung
Jede der sechs Sonaten verfolgt ein eigenes dramaturgisches Konzept, doch lassen sich strukturelle Grundzüge erkennen, die den Zyklus innerlich verbinden. Meist beginnt Zelenka mit einem langsamen, expressiv ausgearbeiteten Vorspiel, das wie ein Tor zu einer Welt kontrapunktischer Beweglichkeit wirkt. Diese Eröffnungen sind geistlich grundiert, ernst, oft von chromatischen Gängen durchzogen und in einer Satztechnik gehalten, die eine hörbare Nähe zum Palestrina-Kontrapunkt aufweist, zugleich aber harmonische Regionen berührt, wie sie eher dem späten Bach vertraut erscheinen.
Die folgenden schnellen Sätze entfalten ein Labyrinth motivischer Permutationen. Zelenka bevorzugt kurze, prägnante Keimmotive, die er mit außerordentlicher Beharrlichkeit durch alle Stimmen führt. Die Engführungen, Umkehrungen und rhythmischen Dehnungen geben den Allegro-Sätzen eine fast fugal anmutende Dichte, ohne je den Charakter instrumentaler Bewegtheit zu verlieren. Hier zeigt sich der Einfluss Fuxʼ in konzentrierter Form, doch mit einer expressiven Kühnheit, die dem gelehrten Stil neue Farben verleiht.
Die langsamen Mittelsätze besitzen oft eine fast sängerische Qualität. Zelenka schreibt lange melodische Bögen, die er in unerwarteten harmonischen Wendungen verankert. Die Linien umschreiben Affekte, die zwischen klagender Innigkeit und kontemplativer Ruhe changieren. Diese meditativ-dunklen Klangräume stehen im scharfen Kontrast zu den finalen Sätzen, die häufig gleichsam eruptiv hervorbrechen: ungestüm, motorisch, rhythmisch vertrackt und von einer Vitalität geprägt, die die Forschung lange veranlasste, nach einem „böhmischen“ oder „volkstümlichen“ Hintergrund zu suchen. Moderne Quellenkritik hat jedoch gezeigt, dass die oft bemühten Vergleiche – etwa zu Polka-Rhythmen – historisch unhaltbar sind. Was hier erklingt, ist nicht Folklore, sondern Zelenkas eigene, hochartifizielle Spielart kompositorischer Energie.
Harmonik als Ausdrucksmotor
Die harmonische Sprache dieser Sonaten zählt zu den avanciertesten ihrer Zeit. Zelenka scheut nicht vor abrupten Modulationen zurück; er arbeitet mit verminderten Akkorden in dramaturgischer Scharnierfunktion, führt Sequenzen in extreme Tonlagen und schichtet dissonante Reibungen übereinander, die kurz aufblitzen und sofort wieder in klare Linearität zurückgeführt werden. Diese Harmonik ist keine Stilübung, sondern Teil eines expressiven Gesamtkonzepts: Spannung entsteht nicht allein durch kontrapunktischen Widerstreit, sondern durch plötzliche harmonische Vexierbilder, die den Hörer aus gewohnten Bahnen herausreißen.
Auffällig ist die dramatische Ökonomie: Zelenka erreicht mit geringstem thematischen Material eine erstaunliche strukturelle Komplexität. Er denkt nicht in großen Themenflächen, sondern arbeitet mit mikroskopisch kleinen Bausteinen, aus denen er großflächige Energiebögen formt. Das verleiht den Sonaten eine innere Logik, die – bei aller Oberflächenvirtuosität – streng und unverrückbar ist.
Instrumentale Virtuosität und klangliche Identität
Die Triosonaten ZWV 181 besitzen einen instrumentalen Anspruch, der weit über die Anforderungen zeitgenössischer Kammermusik hinausgeht. Besonders das Fagott erhält eine bis dahin kaum gekannte solistische Präsenz. Die Läufe, Trillerketten und weiten Intervallsprünge, die Zelenka diesem Instrument abverlangt, verraten seine genaue Kenntnis professioneller Dresdner Virtuosenpraxis – und seinen Mut, technische Grenzen auszuloten. Die Oboenstimmen zeichnen sich durch außerordentliche Beweglichkeit aus; häufig stehen sie in engmaschigem Dialog mit der Violine, deren Partien zwischen italienischem Feuer und deutscher Linienstrenge vermitteln.
Zelenkas klangliche Welt ist dabei keineswegs einheitlich. Jede Sonate erschafft einen eigenen Tonfall: von der strahlenden Festlichkeit der F-Dur-Sonaten über die dramatische Schärfe der beiden g-Moll-Stücke bis zur herb-ernsten Charakteristik der c-Moll-Sonate, die den Zyklus mit einer Art kompositorischer Gravitas abschließt. Das Zusammenspiel der vier gleichberechtigten Stimmen erzeugt immer wieder Momente, in denen das Geflecht polyphoner Linien schwebend wirkt, beinahe abstrakt – und dann plötzlich in eine eindringliche, fast vokale Expressivität übergeht.
Ein Werkkomplex jenseits aller Schulen
Die sechs Triosonaten gehören zu jenen seltenen Werken, die sich der stilistischen Einordnung entziehen. Sie stehen nicht in der Tradition Corellis, obgleich sie formale Parallelen aufweisen; sie folgen nicht der galanten Klarheit, die in den 1720er Jahren bereits den europäischen Musikgeschmack prägte; sie sind auch kein Produkt barocker Tanzbodenrhetorik. Vielmehr bilden sie eine hochintellektuelle, zugleich unmittelbar sinnliche Kunst der kammermusikalischen Verdichtung, in der Zelenka seine ganze technische Meisterschaft und seine ästhetische Unabhängigkeit formuliert.
Dass die Sonaten erst im 20. Jahrhundert ihren Rang als Meisterwerke des barocken Instrumentalschaffens erlangten, verweist weniger auf ihre angebliche „Schwierigkeit“, als vielmehr auf die Notwendigkeit einer interpretatorischen Kultur, die ihre Extreme – strukturelle Strenge, rhythmische Attacke, instrumentale Brillanz – zugleich auszubalancieren vermag. In dieser Hinsicht sind sie nicht nur ein Prüfstein technischer Fähigkeiten, sondern auch ein Zeugnis tiefer künstlerischer Persönlichkeit: der unbeirrbaren Eigenständigkeit eines Komponisten, der sich mit keinem seiner berühmten Zeitgenossen vergleichen lässt.
CD-Vorschlag
Jan Dismas Zelenka, Sonatas, ZWV 181, Collegium 1704, Leitung Václav Luks (* 1970), Accent, 2017:
https://www.youtube.com/watch?v=Wgk-8IfsvQw&list=OLAK5uy_muRyUuHWQuzP8prktSbTPoji0kvkpdoCA
I. Sonata in F-Dur (ZWV 181/1)
Die erste Sonate eröffnet den Zyklus mit einer Mischung aus feierlicher Ruhe und energiegeladener Bewegtheit. Das einleitende Adagio ma non troppo entfaltet eine ernsthafte Klangatmosphäre, in der die Oboen und die Violine wie abtastende Stimmen auftreten, die sich tastend in einem harmonischen Feld bewegen, das von sanft gleitenden chromatischen Wendungen geprägt ist. Nichts in diesem Satz ist bloßes Vorspiel; vielmehr scheint Zelenka hier ein inneres Gleichgewicht zu suchen, eine Art klanglichen Standort, der sich durch die fein ausgehörte Balance der vier Stimmen definiert.
Das anschließende Allegro wirkt wie die plötzliche Entfaltung eines innerlich bereits vorbereiteten Energiestroms. Die motivische Arbeit basiert auf einem kurzen, rhythmisch markanten Baustein, den Zelenka mit fast unerschütterlicher Beharrlichkeit durch die Stimmen wandern lässt. Der kontrapunktische Umgang ist streng, aber von einer spielerischen Vitalität getragen, die dem Satz eine mitreißende Beweglichkeit verleiht. Im Larghetto kehrt die Musik in einen Raum zurück, der von weit gespannten Linien und weicher Harmonik geprägt ist; dieser Satz besitzt eine fast vokale Qualität, als würde Zelenka nach dem rhetorischen Glanz des Allegros nun die innere Stimme der Musik freilegen. Das abschließende Allegro assai verbindet motorische Kraft und virtuos verschachtelte Stimmen zu einem Finale, das den energetischen Kern dieser Sonate freilegt: Zelenkas Fähigkeit, kontrapunktische Strenge in pure musikalische Vitalität zu verwandeln.
II. Sonata in g-Moll (ZWV 181/2)
Die zweite Sonate entfaltet eine deutlich dramatischere Klangwelt. Das eröffnende Andante ist von einer melancholischen Dunkelheit durchzogen, die nicht schwer, sondern von noblessem Ernst ist. Die Themen wandern in ruhiger Bewegung durch die Stimmen, als wollte Zelenka die emotionalen Register des g-Moll-Raums ausloten. Die Linienführung ist klar, doch durchsetzt von jenen charakteristischen harmonischen Wendungen, die den Hörer immer wieder auf unerwartete Weise berühren.
Im Allegro tritt dann eine gänzlich andere Energie hervor. Der Satz ist von einer fast stürmischen Beweglichkeit geprägt, die in engmaschiger Stimmführung einen geradezu drängenden Charakter erhält. Es ist einer jener Sätze, in denen Zelenkas kontrapunktische Meisterschaft unmittelbar spürbar wird, ohne je akademisch zu wirken. Das zweite Andante wirkt wie ein Atemholen, doch nicht im Sinne einer satztechnischen Entlastung; vielmehr wird hier eine differenzierte Innigkeit entfaltet, die durch die kantable Führung der Oboen und der Violine entsteht. Das Allegro assai beschließt die Sonate mit impulsiver Rhythmisierung und spieltechnischer Virtuosität – ein Finale, das trotz seiner Attacke von struktureller Klarheit getragen ist.
III. Sonata in B-Dur (ZWV 181/3)
Die B-Dur-Sonate gehört zu den lyrischsten und zugleich klanglich ausgewogensten Stücken des Zyklus. Das Adagio zu Beginn entfaltet einen warmen, fast milden Klang, der sich in langen melodischen Linien öffnet. Diese Ruhe wirkt jedoch nicht wie ein Stillstand; vielmehr schafft Zelenka einen fließenden Raum, in dem die Stimmen sich organisch miteinander verbinden. Das folgende Allegro stellt dazu den Kontrast einer hellen, lebhaften Bewegtheit her. Der Satz besitzt eine spielerische Eleganz, die sich aus der symmetrischen Polyphonie der drei Oberstimmen ergibt; die motivische Verdichtung bleibt straff, doch im Ausdruck überwiegt eine fast tänzerische Leichtigkeit.
Der dritte Satz, Largo, ist einer der innigsten Momente des gesamten Zyklus. Mit seinen gedehnten, fast schwebenden Linien erreicht Zelenka eine Ruhe, die den glanzvollen Außenrahmen des Werks für einen Augenblick auflöst. Die Musik gewinnt hier einen beinahe kontemplativen Charakter. Das abschließende Tempo giusto führt schließlich Spannung und Ordnung zusammen: Eine rhythmisch klar gefasste, präzise artikulierte Satzstruktur, die gleichsam die architektonische Idee der Sonate vollendet und ihr einen gekrönten Abschluss verleiht.
IV. Sonata in g-Moll (ZWV 181/4)
Die vierte Sonate führt die dunklen Ausdrucksbereiche des g-Moll-Raums weiter aus, gestaltet sie aber mit einer neuen, dramatisch zugespitzten Konsequenz. Gleich im ersten Andante zeigt sich eine dichte, fast sprechende Linienführung. Die Themen wirken rhetorisch, beinahe wie musikalische Fragen und Antworten. Im Allegro wird dieser Dialog nun zu einem energischen Streitgespräch: Die Stimmen greifen einander an, fordern sich heraus, treiben das motivische Material bis an seine strukturellen Grenzen. Dieser Satz gehört zu den kontrapunktisch anspruchsvollsten des Zyklus.
Das Adagio der Sonate ist eines der emotional tiefsten in Zelenkas Kammermusik. Die Harmonik ist hier besonders expressiv geführt, mit chromatischen Linien, die die innere Spannung des Satzes tragen und ihm etwas beinahe Elegisches verleihen. Das abschließende Allegro ma non troppo wirkt wie eine Auflösung dieser gespannten Atmosphäre. Der Satz besitzt eine bewegte, aber nicht ungestüme Dynamik; er bewahrt Ernsthaftigkeit, die jedoch durch eine zunehmend klare Architektur in eine Art versöhnende Ordnung überführt wird.
V. Sonata in F-Dur (ZWV 181/5)
Die fünfte Sonate in F-Dur gehört zu den brillantesten Stücken des Zyklus, zugleich aber zu den strukturell am klarsten geformten. Das eröffnende Allegro ist ein Ausbruch von Energie: pointierte Rhythmen, souveräne motivische Arbeit und eine überraschend kräftige Beteiligung des Fagotts verleihen dem Satz einen beinahe konzertanten Charakter. Die Stimmführung ist eng verwoben, das Material konzentriert; dennoch bleibt die Musik in ihrer Helligkeit und Klarheit auffällig unbeschwert.
Das Adagio führt in eine klanglich völlig andere Welt. Es ist einer jener Sätze, in denen Zelenka eine lyrische, beinahe empfindsame Seite zeigt: weite melodische Bögen, eine harmonische Sprache, die sich stets an der Grenze melancholischer Färbung bewegt, und ein Gleichgewicht der Stimmen, das die Musik in einen ruhenden, auf inneren Ausdruck gerichteten Zustand versetzt. Das abschließende Allegro kehrt zur Vitalität des Beginns zurück, nun jedoch mit einer bewussteren Strukturierung des Materials. Die Musik wirkt nicht entfesselt, sondern zielstrebig; sie bündelt die Energie zu einem Finale von großem klanglichen Glanz.
VI. Sonata in c-Moll (ZWV 181/6)
Die letzte Sonate bildet den gravitätischen Abschluss des Zyklus. Bereits das eröffnende Andante ist von einer tiefen, beinahe feierlichen Ernsthaftigkeit geprägt. Die Linien wirken wie in eine strenge architektonische Form eingeschrieben, und die Harmonik zeigt jene charakteristische Schärfe, die Zelenka in seinen ernsten Sätzen so eindrucksvoll beherrscht. Das folgende Allegro entfaltet eine dichte motivische Arbeit, deren Energie jedoch nie ins Ungebärdige umschlägt; die Musik ist konzentriert, fordernd und klar in ihrer Zielgerichtetheit.
Das Adagio zählt zu den ausdrucksstärksten langsamen Sätzen des Zyklus. Es ist ein Raum von beinahe meditativem Ernst und empfindsamer Innigkeit, getragen von den großen melodischen Spannungsbögen der Oberstimmen. Harmonische Verschiebungen, subtile chromatische Durchgänge und die sensible Klangbalance verleihen diesem Satz eine besondere emotionale Tiefe. Das abschließende Allegro bringt schließlich eine straffe, kraftvoll strukturierte Bewegung, die den Zyklus mit einer Mischung aus Energie, Präzision und innerer Geschlossenheit beschließt. Diese c-Moll-Sonate wirkt wie ein bewusst gesetzter Endpunkt, als hätte Zelenka die Summe seiner kontrapunktischen und expressiven Mittel in einem Finalwort gebündelt.
Capriccio Nr. 1 in D-Dur, ZWV 182
Das Capriccio ist im musikalischen Sprachgebrauch des 17. und 18. Jahrhunderts ein Sammelbegriff für ein frei gestaltetes, oft auch humorvoll oder charakteristisch überzeichnetes Instrumentalstück. Es handelt sich um eine Gattung, die dem Komponisten große Freiheit lässt, aber gleichzeitig viel Erfindungskraft verlangt, denn der Reiz des Capriccios entsteht aus der Verbindung von formaler Lockerheit und präziser musikalischer Gestaltung. Jan Dismas Zelenka, dessen Fantasie und kontrapunktischer Geist ohnehin ungewöhnlich ausgeprägt waren, fand in dieser offenen Form einen idealen Rahmen, um orchestrale Farben, virtuose Bläserbehandlungen und charaktervolle Tanzformen miteinander zu verbinden.
Das Capriccio Nr. 1 in D-Dur, ZWV 182, entstand sehr wahrscheinlich in einem frühen Abschnitt seiner Karriere, vermutlich in den Jahren 1717–1718, also noch vor Zelenkas prägenden Prager Instrumentalwerken von 1723. Die Komposition gehört zu einer kleinen Gruppe von fünf Capriccios (ZWV 182–185, 190), die stilistisch und in ihrer Besetzung eine besondere Stellung innerhalb seines Instrumentalschaffens einnehmen. Während fast alle übrigen Orchesterwerke Zelenkas die Signatur „à Praga 1723“ tragen und eindeutig mit seinem Aufenthalt anlässlich der Feierlichkeiten zur Krönung Kaiser Karls VI. (1685–1740) verbunden sind, scheinen die Capriccios auf eine andere, weniger dokumentierte Phase zu verweisen, möglicherweise auf eine Reise nach Wien. Nach einer verbreiteten Hypothese wurden sie im Umfeld des sächsischen Hofes als repräsentative Musik konzipiert, um die Ankunft des Kurprinzen Friedrich August II. (1696–1763) in Wien zu begleiten – ein Hinweis darauf, dass Zelenka schon vor 1719, also vor seiner Ernennung zum „Kirchen-Compositeur“ in Dresden, für höfische Repräsentationsaufgaben geschätzt wurde.
https://www.youtube.com/watch?v=crqaUx36P7c
Das Capriccio in D-Dur fällt durch seine elegante, zugleich reich kolorierte Orchesterbesetzung auf: zwei Hörner in D, zwei Oboen, Fagott, zwei Violinen, Viola und Basso continuo. Diese Instrumentierung verrät Zelenkas genaue Kenntnis der klanglichen Möglichkeiten des Dresdner Hoforchesters, insbesondere der berühmten Hornvirtuosen, die seit der Zeit Augusts des Starken europaweit Aufmerksamkeit erregten. Obwohl sich keine direkte Widmung erhalten hat und keine expliziten Hinweise auf den ursprünglichen Aufführungsort existieren, spricht die souveräne Beherrschung der Bläserfarben dafür, dass das Werk für einen außerordentlichen Anlass entstanden ist, nicht für eine alltägliche kirchliche oder kammermusikalische Verwendung.
Der Aufbau des Capriccios ist ungewöhnlich vielfältig und zeigt Zelenkas Freude an kontrastreichem Formdenken und charakterbetonten Einzelsätzen. Der eröffnende Andante-Satz entfaltet eine ruhige, beinahe pastorale Klangfläche, in der Hörner und Oboen in feiner Balance miteinander agieren. Ihm folgt ein Allegro, das in Wahrheit eine Fuge ist und Zelenkas kontrapunktisches Können bereits vor den großen Prager Instrumentalwerken eindrucksvoll vorführt. Die thematische Arbeit ist klar, energisch und von einem Vorwärtsdrang getragen, der aus Zelenkas Handschrift eine unverwechselbare Signatur macht.
Im dritten Satz, dem Paysan, zeigt sich eine andere Facette: ein ländlich-volkstümlicher Charakter, mit rhythmischen Reibungen und bewusst „naiv“ gesetzten melodischen Gesten. Solche „Bauernstücke“ begegnen auch in späteren Werken Zelenkas und verweisen auf seine Fähigkeit, stilisierte Volkstöne in höfische Kunstmusik zu integrieren, ohne je ins Derbe oder Grobe abzugleiten.
Den poetischen Mittelpunkt des gesamten Werkes bildet jedoch die Aria, die vom Autor des Videotextes zu Recht als „intensely beautiful“ hervorgehoben wurde. Hier erreicht Zelenka eine lyrische Wärme, wie man sie in seinen Instrumentalkompositionen nicht häufig findet. Die Aria entfaltet eine kantable Melodik, deren Ausdruckskraft an die innigsten Momente seiner sakralen Musik erinnert. Gleichwohl bleibt der Satz streng instrumental gedacht: keine vokale Imitation, sondern eine Klangrede, die aus dem Dialog der Oboen und den sanft wiegenden Streichern lebt.
Im weiteren Verlauf reiht Zelenka eine Folge von Tanzsätzen aneinander, wie man sie aus der französisch geprägten Suite kennt: Bourrée, Menuett I, Menuett II und die Schlussreprise. Diese Tänze sind jedoch keine höfische Etikette, sondern eigenwillige Charakterstücke, durchsetzt mit metrischen Verschiebungen, überraschenden Harmoniewechseln und jener berühmten „Zelenka-Spannung“, die sich aus unerwarteten harmonischen Färbungen speist. Die Bourrée besitzt eine fast neobarocke Schärfe im Rhythmus, während die Menuette zwischen Eleganz und bewusster Stilisierung changieren. Dass Zelenka das erste Menuett am Schluss zurückkehren lässt, schafft eine innere Klammer und einen runden dramaturgischen Abschluss.
Insgesamt zeigt das Capriccio Nr. 1 eine erstaunliche Reife und Experimentierfreude. Es steht an der Schwelle zwischen frühem barocken Repräsentationsstil und jener künstlerischen Tiefe, die Zelenkas spätere Instrumentalwerke definieren. Auch wenn die Entstehungsumstände ungewiss bleiben und kein sicherer Aufführungszusammenhang dokumentiert ist, erweist sich ZWV 182 als ein Werk, das Zelenkas Fähigkeit zur Synthese verschiedener Stile – italienische Kantabilität, französische Suiteformen, deutsche kontrapunktische Strenge – eindrucksvoll vorführt. Es ist eine Komposition, in der sich höfische Eleganz, orchestrale Virtuosität und persönliche Handschrift auf selten erreichte Weise verbinden, und vielleicht gerade deshalb ist sie von Kennern immer wieder als eines der schönsten Instrumentalwerke Zelenkas hervorgehoben worden.
CD-Vorschlag
Zan Dismas Zelenka, Concerto in Sol a otto concertanti und Capricci, Suk Chamber Orchestra, Leitung František Vajnar (1930–2012). SUPRAPHON a.s., 1994, Tracks 4 bis 8:
https://www.youtube.com/watch?v=Y2l_QR18Iis&list=OLAK5uy_l5SZyA6UhlQjbirmIhBKtRwJeChfDSBH4&index=4
Capriccio Nr. 2 in G-Dur, ZWV 183
Das Capriccio Nr. 2 in G-Dur entstand wie die übrigen frühen Capriccios wahrscheinlich während eines Aufenthalts in Wien in den Jahren 1717–1718 . Diese Stücke bilden die einzige zusammenhängende Gruppe von Instrumentalwerken, die nicht in das Jahr 1723 datiert werden können, als Zelenka in Prag anlässlich der Krönungsfeierlichkeiten für Kaiser Karl VI. (1685–1740) eine große Zahl orchestraler Werke komponierte. Der frühe Stil der Capriccios, verbunden mit ihrer repräsentativen Orchesterbesetzung – zwei Hörner in G, zwei Oboen, Fagott, zwei Violinen, Viola und Basso continuo – lässt vermuten, dass sie für eine höfische Ankunftszeremonie vorbereitet wurden, möglicherweise zur Begleitung des jungen Kurprinzen Friedrich August II. (1696–1763), dessen Reise von Venedig nach Wien von viel diplomatischer Bedeutung war. Auch wenn keine direkte Widmung überliefert ist, zeigt das Werk eine Souveränität im Umgang mit den Bläsern, die nur in einem technisch exzellenten Hoforchester realisierbar war.
https://www.youtube.com/watch?v=grUD-YM1xnE
Zelenkas Capriccio in G-Dur beginnt mit einem lebhaften Allegro, das sofort jene Energie entfaltet, die für seine Instrumentalwerke charakteristisch ist. Die Hörner setzen strahlende Akzente, während die Oboen mit eleganten Figurationen antworten. Die motivische Arbeit ist prägnant, aber nicht streng; sie wirkt mehr wie ein lebendiger Dialog zwischen den Instrumentengruppen, der durch unerwartete harmonische Wendungen und rhythmische Verschiebungen zusätzliche Spannung gewinnt. Dieser eröffnende Satz zeigt Zelenkas Fähigkeit, orchestralen Glanz und tänzerische Motorik zu verbinden – ein Stil, der später in seinen Prager Werken noch reifer ausgearbeitet wird.
Der zweite Abschnitt trägt die Bezeichnung Canarie, Alternativement avec l’Air, ein Hinweis auf die aus dem 17. Jahrhundert stammende Kanarien-Tanzform, deren charakteristisches punktiertes Rhythmusmodell ursprünglich aus der volkstümlichen Musik der Kanarischen Inseln abgeleitet wurde. Zelenka spielt hier virtuos mit dem Wechsel zwischen einem markanten Tanz und einem lyrischen Zwischensatz, dem „Air“. Das Ergebnis ist ein Wechselspiel von Energie und Ruhe, von rhythmischer Schärfe und melodischer Weichheit. Die elegante Integration beider Charaktere lässt erkennen, dass Zelenka die französische Suitentradition ebenso beherrschte wie die italienisch geprägte Kantabilität.
Der folgende Aria-Satz bildet den inneren Ruhepunkt und zugleich das poetische Zentrum des Werkes. Die Melodik entfaltet sich in langen, gesanglichen Linien, die häufig von Oboen oder Violinen getragen werden. Zelenka erlaubt sich hier einen Moment inniger Klangrede, die jedoch nie sentimental wirkt, sondern stets im Gleichgewicht zwischen Ausdruck und Struktur bleibt. Die Aria erinnert daran, wie sehr Zelenka – selbst in seinen Instrumentalwerken – ein Meister des Affektausdrucks war, der innere Bewegtheit in subtilen harmonischen Färbungen und weitgespannten Melodiebögen festhielt.
Nach dieser emotionalen Mitte kehrt Zelenka mit einer Canarie da capo zur energischen Tanzform des zweiten Satzes zurück, wodurch der Werkbogen geschlossen wird. Die Wiederkehr wirkt nicht wie eine bloße Wiederholung, sondern wie eine bekräftigende Antwort auf die zuvor erkundeten lyrischen Regionen. Daran schließen sich Gavotte, Rondeau, Menuett und schließlich ein Trio und das abschließende Menuett da capo an. Diese Folge von Tänzen ist alles andere als eine routinierte Ergänzung: jeder Satz besitzt einen ausgeprägten Charakter. Die Gavotte besticht durch ihre federnde Motorik, das Rondeau durch sein kunstvolles Spiel mit wiederkehrenden Themen, während das Menuett von einer feinen Balance zwischen höfischer Eleganz und subtiler Ironie geprägt ist. Das Trio greift eine mildere, pastorale Klangfarbe auf, bevor das Menuett in seiner ursprünglichen Form zurückkehrt und das Werk in einer geordneten, aber keineswegs konventionellen Klammer beschließt.
Das Capriccio II in G-Dur zeigt Zelenka in einer Phase künstlerischer Entfaltung, in der er noch nicht durch die liturgischen Anforderungen des Dresdner Hofes geprägt war und in der seine Fantasie besonders frei wirkt. Die Mischung aus tänzerischem Gestus, ausgeprägten Bläserfarben, elegantem Melos und kontrapunktischer Präzision macht dieses Werk zu einem herausragenden Beispiel für den barocken Capriccio-Typus und zu einem faszinierenden Dokument von Zelenkas orchestraler Sprache vor den großen Prager Instrumentalzyklen.
CD-Vorschlag
Zan Dismas Zelenka, Concerto in Sol a otto concertanti und Capricci, Suk Chamber Orchestra, Leitung František Vajnar (1930–2012). SUPRAPHON a.s., 1994, Tracks 9 bis 13:
https://www.youtube.com/watch?v=QMHv00LgpRU&list=OLAK5uy_l5SZyA6UhlQjbirmIhBKtRwJeChfDSBH4&index=9
Capriccio Nr. 3 in F-Dur, ZWV 184
Das Capriccio in F-Dur, ZWV 184, gehört zu jener kleinen, in sich geschlossenen Werkgruppe von fünf Capriccios, die vermutlich während eines Aufenthalts in Wien um 1717–1718 entstanden sind. Während Zelenka seine späteren Instrumentalwerke fast ausnahmslos mit der Signatur „à Praga 1723“ versah und damit eindeutig auf die Krönungsfeierlichkeiten für Kaiser Karl VI. (1685–1740) bezog, stehen die Capriccios außerhalb dieses Rahmens. Sie zeigen einen jüngeren Zelenka, der noch freier, experimentierfreudiger und weniger an liturgische oder repräsentative Strukturen des Dresdner Hofes gebunden war. Häufig wird vermutet, dass die Capriccios – darunter ZWV 184 – als musikalische Begleitung für die feierliche Ankunft des sächsischen Kurprinzen Friedrich August II. (1696–1763) in Wien gedacht waren. Auch wenn eine offizielle Widmung fehlt, spricht die virtuos gesetzte, geradezu heroisch gedachte Bläserbesetzung dafür, dass das Werk für ein erstklassiges Hoforchester konzipiert wurde.
Zelenka setzt im Capriccio in F-Dur auf dieselbe großzügige Orchesterbesetzung wie in den übrigen frühen Capriccios: zwei Hörner in F, zwei Oboen, Fagott, zwei Violinen, Viola und Basso continuo. Doch gerade die Hörner spielen hier eine herausragende Rolle. Die Stimmen verlangen eine technische Brillanz und Sicherheit, die selbst für die berühmten Hornisten in den Orchestern Sachsens und Wiens eine außergewöhnliche Herausforderung dargestellt haben muss. Der Hinweis des Videotextes auf die „insane horn parts“ ist durchaus zutreffend: Zelenka testet in diesem Capriccio die Grenzen des Naturhorns aus und verleiht dem Werk damit eine Strahlkraft, die weit über die übliche höfische Repräsentationsmusik hinausgeht.
https://www.youtube.com/watch?v=jGS7wcqy-rE
Der erste Satz, Staccato e Forte, setzt mit markanten, scharf konturierten Tutti-Schlägen ein. Er wirkt wie eine klangliche Fanfare, deren Energie sofort Aufmerksamkeit erzwingt. Zelenka entfaltet hier keine thematische Arbeit im Sinne einer Sonatenexposition, sondern ein charakterisches Spiel mit kurzen Figuren, die in verschiedensten Instrumentenkombinationen erscheinen. Die Mischung aus staccatohafter Strenge, majestätischen Bläsereinwürfen und rhythmischem Impuls macht den Satz zu einem unkonventionellen, aber wirkungsvollen Auftakt.
Der folgende Allegro-Satz, als Fuge gestaltet, führt in Zelenkas zentrale Domäne: den kontrapunktischen Erfindungsreichtum. Das Fugenthema ist schlank und energisch, und Zelenka lässt es durch sämtliche Orchestergruppen wandern, wobei die Hörner gelegentlich überraschend in das polyphone Gefüge eingreifen. Der Satz zeigt deutlich, dass Zelenka nicht nur ein Meister der harmonischen Kühnheit war, sondern auch ein glänzender Architekt musikalischer Strukturen, der seine Themen mit höchster Disziplin und zugleich mit spielerischer Freiheit entwickelte.
Mit der Allemande betritt das Werk eine neue Charakterebene. Der Satz erinnert an die französische Tanzsuite, doch bei Zelenka wird die höfische Grazie stets durch eine subtile rhythmische Unruhe unterlaufen. Die Linien sind geschmeidig, zugleich aber immer durchzogen von kleinen Verschiebungen und Zäsuren, die die Musik lebendig halten und ihren Fluss beleben. Die Oboen erhalten hier besonders reizvolle melodische Aufgaben, während die Streicher das Fundament mit einer eleganten, doch nicht starren Begleitung bilden.
Das Menuet und die darauffolgenden Trios gehören zu den am feinsten gearbeiteten Abschnitten des Capriccios. Das erste Menuet besitzt einen beinahe pastellfarbenen Klang, leicht, ausgewogen, nobel. Das erste Trio stellt dazu einen reizvollen Kontrast her: Die Textur wird transparenter, die Farben heller, und die Musik erhält einen pastoralen, beinahe gelösten Tonfall. Die Rückkehr zum Menuett wirkt wie eine höfische Geste, ein ritualisierter Rahmen, der nun ein zweites Mal durchbrochen wird, wenn Zelenka ein zweites Trio präsentiert – dieses deutlich pointierter, markanter und mit schärferem rhythmischen Profil. Die abermalige Wiederholung des Menuetts schafft schließlich die große architektonische Klammer dieses mehrteiligen Mittelteils.
Der Schlusssatz, ein brillant gesetztes Presto, treibt das Werk mit ungestümer Energie voran. Hier verschmilzt Zelenka tänzerische Motorik mit virtuosen Bläsersignalen und kontrapunktischen Verdichtungen. Der Satz wirkt wie eine orchestrale Entfesselung nach der höfischen Eleganz der Mittelsätze: ein Triumph der Bewegung, voller Glanz, Witz und feiner Ironie. Es ist jene Art von Finale, das nur ein Komponist mit tiefem Verständnis für klangliche Dramaturgie und orchestrales Feuerwerk schreiben kann.
Insgesamt erscheint das Capriccio in F-Dur als ein kleines orchestrales Meisterwerk, das zugleich frech, virtuos und kunstvoll ist. Zelenkas unverwechselbare Handschrift zeigt sich in jedem Detail: in der harmonischen Kühnheit, in der kontrapunktischen Klarheit, in der hochspezifischen Behandlung der Naturhörner und in der Fähigkeit, zwischen höfischer Stilisierung und kunstvoller Ironisierung zu wechseln. In den frühen Capriccios findet Zelenka eine freie Form, die seiner Fantasie keinerlei Grenzen setzt – und genau hierin liegt ihr besonderer Reiz.
Am Ende steht das F-Dur-Capriccio als eines der mutigsten und zugleich mest raffiniert gestalteten Stücke seiner frühen Instrumentalmusik: ein klingendes Dokument seiner Suche nach einem eigenen, schillernden orchestralen Profil.
CD-Vorschlag
Jan Dismas Zelenka: Complete Orchestral Works, Vol. 1, Das Neu-Eroffnete Orchestre, Leitung Jürgen Sonnentheil (* 1961), CPO, 2000, Tracks 13 bis 17:
https://www.youtube.com/watch?v=Rutp6N1TtVg&list=OLAK5uy_nzDzQ2LFAf_sBDLnFJCwCXCBEvOYZAql4&index=13
Capriccio Nr. 4 in A-Dur, ZWV 185
Das Capriccio in A-Dur, ZWV 185, gehört zu jener kleinen Werkgruppe von fünf Capriccios, die stilistisch und zeitlich außerhalb seines Prager Instrumentalschaffens von 1723 stehen. Während Zelenka die späteren Orchesterwerke fast durchgehend mit der Signatur „à Praga 1723“ versah und damit eindeutig auf die Krönungsfeierlichkeiten für Kaiser Karl VI. (1685–1740) bezog, ist das A-Dur-Capriccio eine Komposition früheren Datums. Die Forschung geht übereinstimmend davon aus, dass ZWV 185 um 1717–1718 entstand, wahrscheinlich in Wien, wo Zelenka sich zu dieser Zeit im Umfeld diplomatischer und höfischer Aktivitäten aufhielt. Wie bei den übrigen Capriccios wird vermutet, dass die Stücke als repräsentative Musik im Rahmen des Aufenthalts oder der feierlichen Ankunft des sächsischen Kurprinzen Friedrich August II. (1696–1763) in Wien entstanden. Zwar existiert keine Widmung und keine sichere Quelle zu einer konkreten Aufführung, doch die meisterhafte Behandlung der Bläser – insbesondere der Hörner in A, die hier erneut hohe technische Anforderungen stellen – deutet auf ein Ensemble von außergewöhnlicher Qualität hin, wie es sowohl in Wien als auch am Dresdner Hof zur Verfügung stand.
Die Überlieferung des Werkes ist fragmentarisch: Vom Originalautograph hat sich lediglich die Titelseite in Zelenkas Handschrift erhalten, während der eigentliche Notentext nur durch eine vollständige Stimmenabschrift eines unbekannten Dresdner Kopisten überliefert ist. Diese Situation ist einzigartig innerhalb der Capriccio-Gruppe und gibt dem Werk eine besondere Stellung in der Quellenlage. Dass Zelenka das Werk zu einem Zeitpunkt komponierte, als er selbst noch nicht offiziell die Position des Kirchenkomponisten in Dresden innehatte, zeigt, wie früh sein orchestrales Denken entwickelt war.
Eine Version für Violine:
https://www.youtube.com/watch?v=zVCcTDcCnSs
Der eröffnende Satz, ein Allegro assai, tritt mit unmittelbarer Energie auf und zeigt Zelenkas Fähigkeit, ein Orchester zu einem pulsierenden, drängenden Bewegungsfluss zu formen. Die Hörner setzen strahlende Akzente, während die Oboen und Streicher ein dichtes thematisches Netz aus Figuren und Sequenzen bilden. Das gesamte Allegro besitzt eine klare, aber ständig variierte Motorik, die den Satz zu einem idealen Auftakt für ein Capriccio macht, dessen Grundidee ja gerade in der Verbindung von formaler Freiheit und kräftig gezeichnetem musikalischem Charakter liegt.
Der zweite Satz, ein Adagio, kehrt in eine ganz andere Sphäre ein. Zelenka entfaltet hier einen Raum des Innehaltens, der von inniger Kantabilität und feiner harmonischer Spannung geprägt ist. Die Oboen führen häufig die melodische Linie, während die Streicher einen atmenden, weich konturierten Untergrund schaffen. Dieses Adagio ist nicht als bloßer Ruhepunkt gedacht, sondern als eigener affektiver Kern, der den kommenden musikalischen Reichtum vorbereitet.
Es folgt eine Abfolge mehrerer Arien – ein für ein Instrumentalwerk außergewöhnlicher Aufbau. Der dritte Satz kombiniert Aria (I) mit einem alternierenden, erneut energischen Allegro assai. Dieser Wechsel erzeugt eine dramaturgisch entwickelte Form, die zwischen lyrischem Ausdruck und virtuosem Impuls pendelt. Die Aria entfaltet lange melodische Bögen, während das Allegro die Klangfläche sofort mit strahlendem Schwung aufbricht.
Die darauf folgende Aria (II) vertieft den kantablen Charakter und zeigt Zelenkas selten wahrgenommene Fähigkeit, instrumentale Linien wie vokale Gebilde zu gestalten. Die melodische Sprache besitzt eine Ruhe und Geschmeidigkeit, die gleichsam aus der italienischen Opernwelt stammt und doch unverkennbar in Zelenkas eigener, harmonisch dichter Weise geformt ist. Die Wiederkehr der Aria I da capo schafft eine innere symmetrische Ordnung und schließt diesen ungewöhnlichen Komplex von Arien.
Mit dem Tempo di Canarie wendet sich das Werk erneut der Tanzmusik zu. Zelenka nutzt die charakteristische Motorik der Canarie – jene punktierten, leicht unruhigen Rhythmen – mit spielerischer Eleganz und feinem Humor. Der Satz ist zugleich eine Reminiszenz an die französisch geprägte Suite und eine Art ironisches Spiel mit dem Erwartungshorizont höfischer Tanzmusik.
Die anschließenden Menuette zeigen Zelenka in perfekter Balance zwischen höfischer Form und eigenwilliger Individualisierung. Das erste Menuett klingt nobel und ruhig, das zweite wirkt stärker profiliert und farbiger, und die Rückkehr des ersten Menuetts schafft einen zyklischen Rahmen, ohne den Tanzfluss je zu erstarren zu lassen. Der Klang wird hier besonders von den Oboen geprägt, deren Linien über den federnden Streichern leuchten.
Die folgenden Paysansätze gehören zu den charakteristischsten Momenten des gesamten Capriccios. Zelenka greift hier den Stil eines stilisierten Ländertanzes auf und verwandelt ihn in ein orchestrales Charakterstück. Der erste Paysan-Satz besitzt eine herbe, fast rustikale Frische, während der zweite eine leichtere, tänzerischere Note aufnimmt. Die Wiederholung von Paysan I als da capo rahmt diesen Abschnitt, der fast wie eine humorvolle Intermezzo-Szene wirkt. Es ist jene Mischung aus Ernst und Spiellust, die Zelenkas Instrumentalmusik so einzigartig macht.
Der Satzkomplex wird schließlich durch ein elegantes Andante und die strukturelle Klammer der Paysans vollendet, wodurch das Capriccio sowohl Vielfalt als auch Geschlossenheit zeigt. ZWV 185 ist vielleicht das vielseitigste der früh entstandenen Capriccios – ein Werk, das orchestralen Glanz, kontrapunktische Kunstfertigkeit, lyrische Innigkeit und tänzerische Ironie verbindet.
Am Ende steht das A-Dur-Capriccio als ein farbenreiches, ausdrucksstarkes und dramaturgisch kunstvolles Beispiel jener Freiheit, die die Gattung Capriccio Zelenka bot. Es ist ein Werk, in dem er sein orchestrales Denken weit öffnet und zugleich jene feine stilistische Ironie entwickelt, die zu seinen unverwechselbaren Markenzeichen gehört.
CD-Vorschlag:
Musik am Dresdner Hof, Disc 4. Virtuosi Saxoniae, Leitung Ludwig Güttler (* 1943), Edel Records GmbH, 2009, Tracks 9 bis 15 (eine Version für Trompete):
https://www.youtube.com/watch?v=IDkAK_Td6mY
Lamentationes, ZWV 203
ZWV 203 ist ein anderer, problematischer / verlorener Lamentations-Eintrag, deshalb heute eher ein „Karteileichen-Nummer“. In der Literatur ist nur von „zehn kleinen Chorsätzen zu den Lamentationes ZWV 203“ die Rede. (Siehe: https://www.uni-regensburg.de/assets/philosophie-kunst-geschichte-gesellschaft/musikwissenschaft/edm/katalog-2007.pdf?utm_source=chatgpt.com )
Concerto à 8 concertanti in G-Dur, ZWV 186
Das Concerto à 8 concertanti in G-Dur ist eines jener Werke, die Zelenkas Reise nach Prag im Jahr 1723 ihren besonderen Rang geben. Während seines Aufenthalts in der böhmischen Hauptstadt, wohin er im Gefolge des sächsischen Hofes zur Krönung Karls VI. als König von Böhmen (5. September 1723 in der St.-Veits-Kathedrale auf der Prager Burg) entsandt worden war, komponierte er eine Gruppe von Instrumentalwerken, die sich durch ungewöhnliche farbliche Experimente und eine für die Dresdner Hofkapelle typische Virtuosität auszeichnen. Zelenka signierte diese Kompositionen häufig mit dem Zusatz “à Praga 1723”, was ihre zeitliche Einordnung eindeutig bestätigt. Zu diesem Prager Zyklus gehören unter anderem das Concerto in G-Dur, ZWV 186, die Hipocondrie in A-Dur, ZWV 187, die Ouvertüre in F-Dur, ZWV 188, sowie die Simphonie in a-Moll, ZWV 189.
https://www.youtube.com/watch?v=E_qktPiJ5TQ
Das Besondere des Concerto à 8 concertanti ist die Anlage als Werk für acht konzertierende Instrumente – ein Typus, der sich in Zelenkas Œuvre nur hier nachweisen lässt. Die Konzeption erinnert an die Extravaganzen der Brandenburgischen Konzerte (1721), allerdings ohne direkte Abhängigkeit: Was Bach zu einem kunstvollen, oft kontrapunktischen Spiel der Klangfarben führt, transformiert Zelenka in eine von dramatischem Kontrast, instrumentaler Wendigkeit und böhmischer Vitalität geprägte Experimentierform. Aufgrund der Beschädigung des einzigen erhaltenen Partensatzes – das Autograph ist bis auf die Titelseite verloren – zählt das Werk zu den editorisch schwierigsten Stücken des Komponisten; mehrere Takte müssen heute anhand des Stimmverlaufs logisch rekonstruiert werden, was erklärt, warum bisher keine moderne Urtextausgabe existiert.
I. Allegro
Der eröffnende Satz entfaltet sofort jenes für Zelenka charakteristische Spiel zwischen Tutti-Energie und solistischer Freiheit. Die beiden Oboen – traditionell Träger des konzertierenden Elements – treten früh aus dem Tuttogefüge hervor, allerdings nicht im Sinne eines herkömmlichen Oboenkonzerts. Vielmehr verschiebt Zelenka die Balance permanent: Kaum hat sich der Hörer auf die Oboe eingestellt, übernimmt die Violine die Führung, und auch die übrigen Stimmen beteiligen sich an der texturalen Differenzierung. Diese wechselnde Hierarchie erzeugt einen fortlaufenden Dialog, der eher dem kompositorischen Denken einer concertante suite als dem streng konzipierten Vivaldi-Concerto entspricht. Die virtuosen Passagen sind stets in den Gesamtklang eingebettet; Zelenka geht es um die Durchleuchtung des Ensembles, nicht um ein Hervorheben einzelner Stars.
Stilistisch steht das Allegro eindeutig auf dem Boden des italienischen Spätbarocks, doch bereits in der motivischen Arbeit und den dynamischen Zuspitzungen spürt man jenes spezifisch böhmisch-sächsische Temperament, das Zelenkas Instrumentalwerke so unverwechselbar macht.
II. Largo
Das zentrale Largo in e-Moll ist der dramaturgische Kern des Konzerts. In seiner Schwere und ernsten Expressivität steht es näher an Bach als an Vivaldi – eine Beobachtung, die die Forschung mehrfach hervorgehoben hat. In die Rolle gleichberechtigter Solisten treten hier Oboe, Violine, Fagott und Violoncello, wodurch ein zartes, kammermusikalisches Geflecht entsteht, das dem Werk eine beinahe elegische Tiefe verleiht.
Zelenka setzt stark auf chromatische Linien, lange, atmende Phrasen und harmonische Verdichtungen, die den Satz zu einem der eindrucksvollsten langsamen Instrumentalsätze seines gesamten Schaffens machen. Das Ensemble, im ersten Satz noch aktiv und kontrastreich, zieht sich hier weitgehend zurück und schafft einen transparenten Hintergrund, vor dem sich die vier Solostimmen mit größtmöglicher Klarheit abzeichnen. Zum Höhepunkt hin verdichtet sich die Harmonik zu einer expressiven Entladung, bevor der Satz in kontrollierter Ruhe ausklingt.
III. Allegro
Der Finalsatz in G-Dur ist ein Paradebeispiel für den „international-cosmopolitan style“ der 1720er Jahre, jene Mischung aus italienischer Brillanz, französischer Eleganz und deutscher kontrapunktischer Präzision, die man auch am Dresdner Hof schätzte. Rhythmische Vitalität und motivische Schlagkraft verbinden sich hier mit leichter Tanzbewegung; selbst im dichten Tutti-Abschnitt bleibt die Textur durchsichtig.
Die Soloinstrumente treten nun weniger in Konkurrenz zueinander als in ein lebendiges Miteinander, das sich oft in kurzen, aufmerksamkeitsstarken Einwürfen äußert. Der Satz entfaltet einen optimistischen, beinahe festlichen Charakter, der das gesamte Konzert zu einer Art musikalischem Festspiel werden lässt – einer klingenden Erinnerung an die prunkvollen Feierlichkeiten in Prag, die Zelenka 1723 mitgestaltete.
CD-Vorschlag
Jan Dismas Zelenka, Complete Orchestral Works, Vol. 1, Das Neu-Eroffnete Orchestre, Leitung Jürgen Sonnentheil (* 1961), CPO, 2000, Tracks 10 bis 12:
https://www.youtube.com/watch?v=9S__mYn8HBk&list=OLAK5uy_nzDzQ2LFAf_sBDLnFJCwCXCBEvOYZAql4&index=10
Hipocondrie à 7 Concertanti in A-Dur, ZWV 187
Unter den wenigen rein instrumentalen Werken, die Jan Dismas Zelenka hinterließ, nimmt die Hipocondrie à 7 Concertanti eine Sonderstellung ein: Sie wirkt wie eine konzentrierte Studie über den Affekt des Melancholisch-Verschatteten, zugleich aber wie ein Versuch, die Konzertsprache der Zeit in ungewöhnlich kühne harmonische und rhythmische Bereiche vorzutreiben. Im barocken Verständnis bezeichnete ‚Hipocondrie‘ eine Form der melancholischen Verstimmung, die Zelenka hier in ein eindringliches musikalisches Affektbild übersetzt.
Entstanden ist das Werk mit höchster Wahrscheinlichkeit im Jahr 1723 während Zelenkas Aufenthalt in Prag, wo er im Auftrag des sächsischen Hofes die Musik zur Huldigung Kaiser Karls VI. komponierte und selbst aufführte. Auf den meisten erhaltenen Autographen der Instrumentalwerke aus dieser Zeit vermerkte Zelenka die Formel à Praga 1723 – so auch im Umfeld der vier Werke ZWV 186–189, die gemeinsam ein zusammenhängendes Prager Konvolut bilden: das Concerto in G-Dur, die vorliegende Hipocondrie, die Ouvertüre in F-Dur und die Simphonie in a-Moll. Alle vier zeigen einen Komponisten, der abseits seiner liturgischen Tätigkeit mit bemerkenswerter Freiheit experimentiert und sich in einer Phase persönlicher und künstlerischer Emanzipation befindet.
Der Anlass der Reise nach Prag war Zelenkas monumentales Melodrama Sub olea pacis (ZWV 175), das anlässlich der Krönungsfeierlichkeiten Karls VI. zum römisch-deutschen Kaiser uraufgeführt wurde. Dass Zelenka während derselben Zeit ein kleines, aber hochkomplexes Ensemblewerk wie die Hipocondrie konzipierte, zeigt, wie eng für ihn musikalische Repräsentation, kompositorische Gelehrsamkeit und affektgeladene Experimente miteinander verbunden waren. Die übrigen Instrumentalwerke Zelenkas stammen nur selten nachweislich aus dieser Zeit; die fünf Capricci ZWV 182–185 und 190 bilden eine Ausnahme und gehören wahrscheinlich in seine Wiener Jahre 1717–1718, als er Musik zur Ankunft des Kurprinzen Friedrich August III. bereitstellen sollte. Das Capriccio ZWV 190 in G-Dur scheint zudem ein selbständiges Einzelstück gewesen zu sein, möglicherweise als Ergänzung zu den „Wiener“ Capricci gedacht. Ob Zelenka seine Instrumentalwerke für ein bestimmtes Ensemble oder eine Institution komponierte – etwa die Academia musica in Prag oder das Orchester seines früheren Gönners, Baron Johann Hubert von Hartig (1663–1746) – lässt sich nicht mehr klären. Nichts in den Quellen erlaubt eine sichere Zuweisung.
https://www.youtube.com/watch?v=_y5PSLvuUhM
Die Hipocondrie ist dreisätzig angelegt und beginnt mit einem düster gefärbten Grave, das fast wie eine instrumentale Meditation über instabile Zustände wirkt. Die Harmonik verschiebt sich in chromatischen Schüben, die Stimmen bewegen sich in schwereloser Langsamkeit, und die Struktur scheint eher frei assoziativ als periodisch gedacht. Diese Klangwelt ist es wohl, die der rätselhaften Gattungsbezeichnung ihren Namen gab: „Hypochondrie“ war im barocken Verständnis kein pathologischer Begriff im modernen Sinn, sondern bezeichnete ein Unruhe-, Schwermut- oder Verstimmungsaffekt, der geistig wie körperlich auf den Hörer wirken konnte. Zelenka entfaltet diesen Affekt jedoch nicht programmatisch, sondern als Klangexperiment: Die harmonischen Schattierungen wirken wie tastende Annäherungen an ein Thema, das sich erst im zweiten Satz energisch materialisiert.
Das anschließende Allegro ist eine strenge Fuge, deren Thema aus einem markanten Quartsprung und einer abwärts gleitenden Antwortbewegung besteht. Hier zeigt Zelenka sein kontrapunktisches Können in voller Schärfe. Die Stimmführung ist dicht, die motivischen Verarbeitungen folgen schnellen Verwandlungen, und die Rhythmik treibt das Geschehen mit einer Dringlichkeit voran, die den ersten Satz in einen dramatischen Gegensatz setzt. Die Fuge ist nicht nur ein gelehrtes Stück barocker Kunst, sondern ein strukturell notwendiger Gegenpol zur introvertierten Klangwelt des Grave: Die langsame Selbstbeobachtung schlägt in aktive Auseinandersetzung um, als wolle Zelenka zeigen, wie ein musikalischer „Affekt“ sich rational durch kontrapunktische Kunst ordnen lässt.
Der Schlussatz, Lentement, führt beide Sphären wieder zusammen. Der Satz besitzt eine stille Noblesse, die zugleich an französische Eleganz und an Zelenkas eigene, stets leicht verschattete Tonsprache erinnert. Harmonisch kehren die ambivalenten Wendungen des ersten Satzes zurück, doch in verfeinerter, beruhigter Form. Das Lentement wird so zu einer Art Epilog, der die extreme Gegensätzlichkeit der beiden vorhergehenden Sätze vermittelt und das Werk in einer leisen, aber unvergesslichen Nachwirkung ausklingen lässt.
Die Hipocondrie à 7 Concertanti gehört heute zu den eindrucksvollsten Zeugnissen von Zelenkas Instrumentalkunst. Sie vereint experimentelle Harmonik, strengen Kontrapunkt und empfindsame Affektgestaltung zu einem Stück, das sowohl die Komplexität als auch die seelische Tiefe dieses außergewöhnlichen Komponisten erkennen lässt.
CD-Vorschlag
Jan Dismas Zelenka, Complete Orchestral Works, Vol. 1, Das Neu-Eroffnete Orchestre, Leitung Jürgen Sonnentheil (* 1961), CPO, 2000, Tracks 8 und 9:
https://www.youtube.com/watch?v=3yrI_hW0HZw&list=OLAK5uy_nzDzQ2LFAf_sBDLnFJCwCXCBEvOYZAql4&index=8
Ouverture-Suite in F-Dur, ZWV 188
Die Ouverture-Suite in F-Dur, ZWV 188, gehört zu jener kleinen Gruppe instrumentaler Werke, die Zelenka im Jahr 1723 während seines Aufenthalts in Prag komponierte. Diese Werke bilden ein geschlossenes Konvolut (ZWV 186–189), das ein Concerto in G-Dur, die Hipocondrie in A-Dur, die vorliegende Ouvertüre und die Simphonie in a-Moll umfasst. Auf den Autographen findet sich mehrfach die Signatur à Praga 1723, ein Hinweis auf die unmittelbare Entstehung im Umfeld der kaiserlichen Krönungsfeierlichkeiten für Karl VI., an denen Zelenka mit seinem monumentalen Melodrama Sub olea pacis (ZWV 175) beteiligt war. Dass der Komponist inmitten dieses repräsentativen Großprojekts eine so reichhaltige Instrumentalmusik schuf, zeigt seine erstaunliche kreative Spannweite: Neben kirchenmusikalischer Monumentalität findet sich hier eine suiteartige Welt von Eleganz, Experimentierfreude und kontrapunktischer Finesse.
Der Kontext dieser Instrumentalwerke bleibt aber rätselhaft. Anders als bei seinen geistlichen Kompositionen ist nicht bekannt, für welches Ensemble Zelenka die Stücke schrieb oder ob sie an eine bestimmte Institution gebunden waren. Weder die Prager Academia musica noch das Orchester seines früheren Gönners Johann Hubert von Hartig (1663–1746) lassen sich sicher nachweisen. Auch im Vergleich mit den fünf Capricci ZWV 182–185 und 190, die vermutlich während Zelenkas Wiener Aufenthalt 1717–1718 entstanden und repräsentative Musik zur Ankunft des sächsischen Kurprinzen Friedrich August III. bildeten, ist unklar, ob die Prager Werke ebenfalls für einen festlichen Rahmen gedacht waren. Was die Quellen jedoch eindeutig zeigen: Zelenka nutzt diese Werke, um seine ganz eigene Sprache innerhalb der europäischen Instrumentalgattungen zu entwickeln.
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Die Ouverture-Suite in F-Dur eröffnet mit einem ausgedehnten Ouverture a 4, das in klarer Nähe zur französischen Lully-Tradition steht, zugleich aber mit jenen harmonischen und rhythmischen Schattierungen arbeitet, die Zelenka unverwechselbar machen. Das majestätisch schreitende Anfangsritornell besitzt Gewicht und Gravität; doch bereits die ersten chromatischen Färbungen und die etwas asymmetrisch gesetzten Rhythmen verraten eine Handschrift, die sich von höfischer Norm absetzt. Der nachfolgende fugierte Teil ist von energischer Bewegung durchzogen: Ein markantes Thema entfaltet sich in strenger Führung, bricht aber immer wieder in unkonventionelle Wendungen aus, als wolle Zelenka die französische Form mit sächsisch-böhmischer Eigenwilligkeit neu definieren.
Das Allegro (Fuga) setzt diese kontrapunktische Haltung fort. Die Fuge ist von großer Klarheit, doch zugleich von einer Nervosität getragen, die sie deutlich von der gelehrten Ruhe eines Bach oder Fux unterscheidet. Zelenka verdichtet das Material, beschleunigt motivische Abläufe und schafft damit eine Spannung, die eher dramatisch als akademisch wirkt.
In der anschließenden Aria erscheint erstmals eine völlig andere Klangwelt: Der Satz entfaltet eine beinahe kantable, lyrische Linie, die sich weich über einer fein ausgehörten Begleitung erhebt. Diese Aria ist ein seltenes Beispiel für Zelenkas Fähigkeit zu schlichter, unmittelbarer Schönheit, ohne die kompositorische Dichte preiszugeben. Harmonische Seitensprünge und zarte Dissonanzen verleihen dem Satz jene charakteristische Melancholie, die in vielen seiner Werke mitschwingt.
Das folgende Menuett I zeigt höfische Eleganz, doch setzt Zelenka bewusst Akzente, die die metrische Symmetrie leicht ins Schwanken bringen. Menuett II ist als Kontraststück gestaltet: leichter, fast volksnah, mit einer Anmut, die an böhmische Tanztradition erinnert. Die Kombination aus höfischen und volkstümlichen Elementen ist typisch für Zelenkas Suite-Schaffen und verleiht dem Werk eine stilistische Offenheit, die weit über den üblichen Rahmen hinausgeht.
Das Siciliano gehört zu den poetischsten Momenten der Suite. Die charakteristische punktierte Bewegung, die an italienische Pastoralmusik erinnert, wird bei Zelenka durch eine sanft gebrochene Harmonik erweitert, die den Satz in eine schwebende, traumhafte Atmosphäre taucht. Die Ruhe des Siciliano wirkt wie ein kurzer Blick in eine kontemplative Welt, bevor der finale Satz die Suite in Bewegung setzt.
Die abschließende Folie ist ein Meisterstück barocker Variationstechnik. Anspielend auf die Tradition der Folia, eines der berühmtesten europäischen Ostinato-Modelle, nutzt Zelenka das Muster nicht im wörtlichen Sinn, sondern als Inspirationsquell für rhythmisch-motivische Steigerungen. Der Satz entfaltet eine mitreißende Energie, die sich kontinuierlich ausweitet, bis das Werk in einer Mischung aus Virtuosität, Ironie und struktureller Kühnheit endet. Gerade dieser letzte Satz zeigt, warum ZWV 188 als eines der markantesten Instrumentalwerke Zelenkas gilt: Er verbindet formale Strenge, harmonische Experimentierfreude und schillernde tänzerische Elemente zu einem unverwechselbaren Ganzen.
Die Ouverture-Suite in F-Dur steht damit exemplarisch für Zelenkas instrumentales Denken: reich an Affekten, unerschöpflich in der Erfindung und geprägt von einem kompositorischen Mut, der damals wie heute überrascht. Gerade weil unklar ist, ob das Werk für einen bestimmten Anlass oder ein konkretes Ensemble entstand, wirkt es heute wie ein autonomes Kunstwerk – frei, kühn und von einer Ausdruckskraft, die in der Musik des frühen 18. Jahrhunderts einzigartig bleibt.
CD-Vorschlag
Grand Tour a Venezia, Zefiro, Alfredo Bernardini (* 1961), Outhere Music France, 2022, Jan Dismas Zelenka, Tracks 14 bis 18:
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Simphonie à 8 Concertanti in a-Moll, ZWV 189
Die Simphonie à 8 Concertanti in a-Moll ist das letzte Werk des Prager Instrumentalzyklus von 1723, jenes faszinierenden Viererblocks aus Concerto, Hipocondrie, Ouverture und Simphonie, den Zelenka mit der häufig wiederkehrenden Signatur à Praga 1723 kennzeichnete. Dieser Hinweis ist mehr als ein Datumsvermerk: Er verweist auf die außergewöhnliche Situation, in der sich Zelenka damals befand – mitten in den Vorbereitungen zur kaiserlichen Krönung Karls VI., für die er sein groß angelegtes Melodrama Sub olea pacis (ZWV 175) komponierte und selbst leitete. Dass er parallel dazu vier instrumentale Werke schuf, die in ihrer Kühnheit, Ausdruckskraft und Originalität weit aus dem Rahmen des gängigen Repertoires fallen, zeigt, wie intensiv und vielfältig sein musikalisches Denken in dieser Phase war.
Während über Zweck und Aufführungsgeschichte dieser Instrumentalwerke kaum etwas bekannt ist, legt die musikalische Faktur der Simphonie nahe, dass Zelenka für ein Ensemble schrieb, das sowohl solistische Brillanz als auch kammermusikalische Feinheit bewältigen konnte. Acht konzertierende Stimmen bilden ein bewegliches Geflecht, das eher dem Prinzip einer polyphonen Concertanten-Symphonie entspricht als dem späteren orchestralen Symphoniebegriff. Anders als in den fünf Capricci ZWV 182–185 und 190, die vermutlich in Wien 1717–1718 entstanden und als repräsentative Musik für höfische Anlässe dienten, scheint die Simphonie deutlich stärker als autonomes Kunstwerk konzipiert: Sie ist frei in ihrer Form, raffiniert in ihrer Dramaturgie und getragen von einer Ausdrucksintensität, die in Zelenkas Instrumentalmusik einzigartig ist.
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Bereits das eröffnende Allegro zeigt Zelenkas souveränen Umgang mit kontrapunktischer Dichte und konzertierender Virtuosität. Ein markantes, energisch aufwärtsdrängendes Motiv setzt die Bewegung in Gang und entfaltet sich über eine Struktur, die zwischen strenger Verarbeitung und überraschenden harmonischen Wendungen pendelt. Die Stimmen agieren dabei in einer Weise, die zwischen Solo und Tutti kaum klar trennt: Jede Linie besitzt Gewicht, jede Stimme wirkt unverzichtbar, und das Ganze erhält jene charakteristische Spannung, die Zelenka oft in seine schnelleren Sätze legt.
Das Andante bildet mit seiner weit gespannten, empfindsamen Melodik einen deutlichen Kontrast. Die Harmonik ist von jener sanft verschatteten Aura durchzogen, die man aus Zelenkas geistlichen Werken kennt. Nichts ist ornamental oder höfisch: Die Musik entfaltet sich in ruhigen Perioden, tastend, nach innen gewandt, mit einer Intensität, die sich nicht laut äußert, sondern durch feine harmonische Nuancen wirkt. Dieses Andante zeigt Zelenkas Fähigkeit, emotionale Tiefe ohne pathetische Gestik zu erzeugen.
Es folgt das Capriccio, Tempo di Gavotta, ein Satz, der gleichzeitig verspielt und strukturell streng ist. Auf der Grundlage des tänzerischen Gavottenrhythmus entwickelt Zelenka ein lebhaftes Wechselspiel zwischen den konzertierenden Stimmen, das von pointierten Akzenten, metrischen Verschiebungen und überraschenden harmonischen Farbtönen getragen wird. Das Capriccio wirkt wie ein Moment der Leichtigkeit, doch die kunstvolle Verarbeitung macht deutlich, dass Zelenka auch in scheinbar unbeschwerten Sätzen eine hochentwickelte kompositorische Kontrolle ausübt.
In der Aria da Capriccio steigert sich dieser Eindruck noch: Der Satz gliedert sich in Alternationen von Andante und Allegro, die wie ein musikalischer Dialog organisiert sind. Die ruhigeren Abschnitte wirken fast elegisch, während die Allegro-Teile mit federnder Energie voranschreiten. Zelenka nutzt diese Wechsel nicht als dekorative Spielerei, sondern schafft eine dramaturgische Einheit, die den Satz wie eine kleine Szene wirken lässt – voller Affekte, voller Wendungen, voller innerer Dynamik.
Die drei Menuette, die den Abschluss bilden, gehören zu den reizvollsten Stücken der Suite-Tradition im Zelenka’schen Schaffen. Menuet I zeigt höfische Noblesse, jedoch mit jener charakteristischen, subtilen Asymmetrie, die Zelenkas Tanzsätze lebendig macht. Menuet II, im Kontrast dazu, ist leichter, beinahe volkstümlich, mit einer Anmut, die das höfische Ideal mit böhmischen Einflüssen verschmilzt. Das erneute da capo des ersten Menuetts rundet die Simphonie mit einer klaren formalen Geste ab und verleiht dem Werk eine klassische, doch von innerer Spannung geprägte Geschlossenheit.
Die Simphonie à 8 Concertanti gehört zu den eindrucksvollsten Instrumentalkompositionen Zelenkas. Sie verbindet konzertierende Virtuosität, kontrapunktische Raffinesse, melodischen Erfindungsreichtum und affektiven Tiefgang zu einer Musik, die weit über funktionale Zweckgebundenheit hinausreicht. Als Abschluss des Prager Konvoluts von 1723 bildet sie nicht nur den Höhepunkt dieser vier Werke, sondern steht zugleich exemplarisch für Zelenkas Fähigkeit, eigenständige Klangwelten zu erschaffen – mutig, facettenreich und unverwechselbar.
CD-Vorschlag
Jan Dismas Zelenka, Ouverture a 7 Concertanti F Dur, Sinfonia a 8 Concertanti a Moll, Hypocondria a 7 Concertanti A Dur, Suk Chamber Orchestra, Leitung František Vajnar (1930–2012), SUPRAPHON a.s., 1994, Tracks 6 bis 10:
https://www.youtube.com/watch?v=5D8Bqv5xEQU&list=OLAK5uy_mP0mzcj_S-KPlvqGf9f9EwkAdh68XK8Ow&index=6
Capriccio Nr. 5 in G-Dur, ZWV 190 (1729)
Das Capriccio in G-Dur gehört zu jenen seltenen Instrumentalwerken Zelenkas, die sich außerhalb seines großen Prager Konvoluts von 1723 einordnen lassen. Während fast alle übrigen Instrumentalkompositionen dieser Jahre mit der Signatur à Praga 1723 versehen sind und somit eindeutig in das Umfeld der Krönungsfeierlichkeiten Kaiser Karls VI. gehören, bildet ZWV 190 eine bemerkenswerte Ausnahme: Es ist ein späteres, autonomes Stück, das stilistisch wie formal die Tradition der sogenannten „Wiener Capricci“ (ZWV 182–185) fortsetzt, zugleich aber deutlich individuellere Konturen aufweist. Die Wiener Capricci, vermutlich in den Jahren 1717–1718 entstanden, dienten repräsentativen höfischen Anlässen, insbesondere der festlichen Begrüßung des sächsischen Kurprinzen Friedrich August III. in Wien. Ob das Capriccio ZWV 190 ursprünglich als Ergänzung zu dieser Gruppe gedacht war oder eine spätere selbständige Komposition darstellt, bleibt ungeklärt; doch seine Instrumentation – zwei Hörner in G, zwei Oboen, Fagott, zwei Violinen, Viola und Basso continuo – verrät eine enge Verwandtschaft zum höfischen Klangideal jener frühen Phase.
Wie bei allen Instrumentalwerken Zelenkas bleibt auch hier offen, für wen oder für welches Ensemble das Capriccio bestimmt war. Weder die Prager Academia musica noch das Orchester seines früheren Mäzens Johann Hubert von Hartig (1663–1746) lassen sich eindeutig mit der Werkentstehung verbinden. Doch die Virtuosität der Bläserparts und die konzertante Beweglichkeit des gesamten Ensembles weisen darauf hin, dass Zelenka ein Ensemble vor Augen hatte, das technisch hervorragend ausgestattet war und zudem eine Neigung zu charaktervollen, affektgeladener Programmatik besaß.
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Bereits der eröffnende Satz, Capriccio e Fiero, zeigt den ungewöhnlichen Tonfall des Werkes: Die Musik spricht mit entschiedener, fast ungestümer Geste, voller rhythmischer Schärfe und markanter motivischer Zuspitzung. „Fiero“ bedeutet im barocken Sprachgebrauch nicht bloß „heftig“, sondern eine Mischung aus Stolz, Wildheit und ungebändigtem Temperament. Zelenka setzt dieses Affektfeld mit einer Energie um, die das gesamte Werk grundiert und in ihrer unmittelbaren Wirkung kaum eine Parallele in seinem übrigen Œuvre hat.
Es folgen drei Menuette, die im Wechsel zwischen höfischer Eleganz und leichter stilistischer Brechung operieren. Minuetto I präsentiert ein beinahe klassisches Tanzbild, während Minuetto II – mit der Spielanweisung „Oboe piano“ – bewusst kammermusikalisch zurückgenommen erscheint, als wolle Zelenka eine intime, leicht verschattete Perspektive auf das gleiche metrische Muster eröffnen. Das anschließende da capo von Menuetto I stellt die formale Ordnung wieder her, bevor der nächste, charaktervolle Abschnitt beginnt.
Mit Il Contento tritt ein anderer Affekt in den Vordergrund: heitere Zufriedenheit, ausgelassene Unbeschwertheit, ein fast pastoraler Optimismus. Zelenka zeichnet diese Stimmung mit geschmeidigen Linien, weich gesetzten Harmonien und einem rhythmischen Puls, der eine ruhige, freundlich leuchtende Bewegung erzeugt. Die Wiederholung da capo verstärkt den Eindruck eines musikalischen Lächelns, einer Momentaufnahme des Wohlbefindens, wie man sie in der Tanz- und Bühnenmusik der Zeit häufig findet – doch selten mit einer solchen Feinheit der Binnenzeichnung.
Darauf folgt Il furibondo, mit der Charakterangabe Presto assai: ein eruptiver, wild auffahrender Satz, der das Werk in eine andere Sphäre katapultiert. Die Stimmen jagen einander in wirbelnden Gesten, das thematische Material scheint fast von innerem Zorn getrieben, und die Hörner setzen kraftvolle Akzente, die das Affektbild schärfen. Die kontrastierende Platzierung zwischen „Contento“ und der nachfolgenden Vilanilla lässt diesen Satz wie ein dramatisches Intermezzo wirken – eine kurze Konfrontation mit ungestümer Energie, bevor das Werk in volksnahe Leichtigkeit übergeht.
Die abschließende Vilanilla – ein heiterer, tänzerischer Satz mit deutlichen Anklängen an volkstümliche Melodik – bildet eine weitere charakterliche Öffnung. Vilanilla I wirkt wie ein stilisiertes bäuerliches Tanzbild, lebhaft, leicht asymmetrisch, geschmückt mit jenen kleinen Reibungen, die Zelenkas Musik so lebendig machen. Vilanilla II, ausdrücklich ohne Hörner, zeigt eine mildere, zurückgenommene Variante desselben Materials. Die Wiederkehr von Vilanilla I im abschließenden da capo fügt dem Werk eine klare architektonische Klammer hinzu und schafft ein Gleichgewicht zwischen höfischer Repräsentation und volkstümlicher Spielfreude.
Das Capriccio in G-Dur, ZWV 190, ist damit eines der farbigsten und charakterreichsten Instrumentalwerke Zelenkas. Es vereint die Vielfalt barocker Affektcharaktere – Stolz, Leichtigkeit, Zufriedenheit, Zorn, tänzerische Volksnähe – zu einer Folge von Miniaturszenen, die in ihrer kompositorischen Präzision ebenso überzeugen wie in ihrer unmittelbaren Lebendigkeit. Als spätes Pendant zu den Wiener Capricci zeigt es einen Zelenka, der sich frei zwischen Stilen und Affekten bewegt, experimentierfreudig, zugleich klar strukturiert, und stets mit jener inneren Intensität, die seine Musik unverwechselbar macht.
CD–Vorschlag
Jan Dismas Zelenka: Concerto in Sol a otto concertanti, Suk Chamber Orchestra, Leitung František Vajnar (1930–2012), SUPRAPHON a.s., 1994, Tracks 25 bis 29:
https://www.youtube.com/watch?v=HoMdgG6oUBc&list=OLAK5uy_l5SZyA6UhlQjbirmIhBKtRwJeChfDSBH4&index=25
