Komponisten mit jeweils einzelne gesicherte Motette
Antoine Brumel (* um 1460 – † nach 1512)
Sicut lilium inter spinas
Fol. 32v–33 — 4 Stimmen
Lateinischer Text:
Sicut lilium inter spinas,
sic amica mea inter filias.
Quae est ista, quae ascendit sicut virgula fumi,
ex aromatibus myrrhae et thuris?
Pulchra es et decora,
dilecta mea.
Deutsche Übersetzung:
Wie eine Lilie unter den Dornen,
so ist meine Freundin unter den Töchtern.
Wer ist die, die da heraufsteigt wie eine Rauchsäule,
aus den Wohlgerüchen von Myrrhe und Weihrauch?
Schön bist du und lieblich,
meine Geliebte.
Antoine Brumel, einer der bedeutendsten franko-flämischen Komponisten der Generation nach Johannes Ockeghem (ca. 1420–1497), hat sich nicht nur mit seinen großangelegten Messen, sondern auch mit kunstvoll gearbeiteten Motetten einen festen Platz in der Musikgeschichte gesichert. Zu den besonders anmutigen Beispielen seiner geistlichen Vokalkunst gehört die Motette Sicut lilium inter spinas.
Der Text stammt aus dem alttestamentlichen Hohenlied Salomos (Cant. 2,2) und lautet:
Lateinischer Text:
Sicut lilium inter spinas, sic amica mea inter filias.
Deutsche Übersetzung:
Wie eine Lilie unter Dornen, so ist meine Freundin unter den Töchtern.
Dieser Vers, ursprünglich in einem poetisch-erotischen Kontext stehend, wurde in der christlichen Liturgie allegorisch auf die Jungfrau Maria gedeutet. In Brumels Motette entfaltet sich daher nicht nur die Schönheit der Dichtung, sondern auch ihre mariologische Dimension, die das Bild der Reinheit und Erhabenheit Marias hervorhebt.
Musikalisch zeigt Brumel seine Kunst in der Ausformung klarer imitatorischer Einsätze, die das Bild der „Lilie unter Dornen“ gleichsam musikalisch umkreisen. Die Stimmen verweben sich zu einem zarten, doch ausdrucksstarken Geflecht, das in seiner lyrischen Gestalt an die französische Chanson-Tradition erinnert, zugleich aber ganz im sakralen Rahmen verankert bleibt. Besonders eindrucksvoll ist die Balance zwischen Transparenz und dichter Polyphonie, die Brumel mit großer Meisterschaft gestaltet.
Die Motette dürfte für den marianischen Festkalender komponiert worden sein, vielleicht im Kontext einer feierlichen Messe oder einer Vesper. Ihre Kürze und Konzentration auf einen einzigen Bibelvers unterstreicht die Intensität des Ausdrucks: Brumel verdichtet die poetische Bildhaftigkeit des Textes zu einem musikalischen Kleinod, das sich durch Zartheit und Leuchtkraft auszeichnet.
Damit fügt sich Sicut lilium inter spinas in die Tradition jener Motetten ein, die Maria als unbefleckte Jungfrau preisen, und zugleich offenbart das Werk die Kunstfertigkeit Brumels, große Ausdruckskraft in verhältnismäßig knapper Form zu entfalten.
Die Motette ist für vierstimmigen Chor gesetzt (Superius, Altus, Tenor, Bassus). Diese Besetzungsweise entspricht dem typischen Motettenstil der Zeit um 1500 und verleiht dem Werk eine ausgewogene Klangfülle. Brumel war einer der ersten, die systematisch mit einem klar ausgebildeten Bassus arbeiteten, was seinem Satz eine besondere Tiefe verleiht.
Anders als viele seiner Zeitgenossen, die oft einen liturgischen Cantus firmus zugrunde legten, wählt Brumel hier eine freie Komposition. Der Bibelvers wird durchgängig in allen Stimmen polyphon durchgearbeitet, ohne dass eine gregorianische Vorlage im Tenor erkennbar wäre. Dadurch entsteht eine sehr textnahe Vertonung, die den poetischen Gehalt unmittelbar musikalisch auslegt.
Brumel eröffnet die Motette mit einem klar erkennbaren Imitationseinsatz: die Oberstimme beginnt mit einer zarten, schrittweisen Melodielinie, die dann im Altus und Tenor aufgegriffen wird, bevor der Bassus sie stützend hinzufügt. Dieses Verfahren, das sich im Verlauf mehrfach wiederholt, erzeugt eine gleichsam „wachsend-blühende“ musikalische Gestalt – passend zum Bild der Lilie, die sich aus dem Dornenfeld hervorhebt.
Das zentrale Wort lilium wird oft durch melismatische Auszierungen hervorgehoben, während spinas meist in engeren, dichter gesetzten Rhythmen erscheint, was eine subtile musikalische Wortmalerei erkennen lässt.
Brumel bewegt sich überwiegend im modalen Bereich des dorischen Modus, der durch charakteristische Halbtonschritte und einen leuchtenden Klang geprägt ist. Der Satz wirkt dabei Konsonanz betont, mit weich geführten Dissonanzen, die stets vorbereitend und auflösend integriert sind. Dies erzeugt eine ruhige, fast schwebende Klangatmosphäre, die der Reinheit des Textbildes entspricht.
Der Klangaufbau verläuft von einer transparenten Textur mit vereinzelten Stimmen zu dichteren, fast akkordischen Passagen, wenn der ganze Chor gemeinsam einsetzt. Diese Verdichtung steigert den Ausdruck und hebt die zentrale Aussage des Textes hervor.
Da der Text nur aus einem einzigen Vers besteht, gliedert Brumel die Motette nicht in klar getrennte Abschnitte, sondern entwickelt einen fortlaufenden polyphonen Fluss, der sich durch die Wiederholung einzelner Worte strukturiert. Besonders deutlich wird dies beim wiederholten Erklingen von sicut lilium – jedes Mal leicht variiert, sodass eine Variationstechnik entsteht, die das Bild der Lilie in immer neuen klanglichen Facetten beleuchtet.
Die Motette wirkt nicht durch monumentale Ausdehnung, sondern durch ihre Konzentriertheit und Zartheit. Sie ist ein typisches Beispiel für Brumels Fähigkeit, geistliche Miniaturen mit höchster kompositorischer Raffinesse auszugestalten. Zugleich offenbart sich hier der Übergang von der strengen, auf Cantus firmus basierenden Ockeghem-Tradition hin zu einem modernen, textorientierten Motettenstil, wie er später bei Josquin Desprez zur Vollendung gelangte.
Antoine Bruhier († um 1521)
Ecce panis angelorum
Fol. 49v–51 — 4 Stimmen
Lateinischer Text:
Ecce panis angelorum,
factus cibus viatorum:
vere panis filiorum,
non mittendus canibus.
In figuris praesignatur,
cum Isaac immolatur:
agnus Paschae deputatur,
datur manna patribus.
Deutsche Übersetzung:
Siehe, das Brot der Engel
ist zur Speise der Wanderer geworden:
wahrhaft das Brot der Kinder,
das nicht den Hunden gegeben werden darf.
Im Vorbild ist es vorausbezeichnet,
als Isaak geopfert wird;
als das Lamm des Pascha bestimmt,
wird das Manna den Vätern gegeben.
Antoine Bruhier, ein heute nur wenig bekannter franko-flämischer Komponist, wirkte im Übergang vom späten 15. zum frühen 16. Jahrhundert. Zeitlich und stilistisch gehört er zur Generation von Jean Mouton (um 1459–1522) und Antoine de Févin (um 1470–1511/12). Obwohl nur wenige seiner Werke überliefert sind, lassen diese erkennen, dass er zu den begabten Meistern der französisch-niederländischen Schule zählte. Seine Motette Ecce panis angelorum gehört zu denjenigen Stücken, die ihn – neben einigen anderen Komponisten dieser Generation – im Umkreis des päpstlichen Hofes und der französischen Hofkapelle verorten.
Der Text Ecce panis angelorum entstammt der Fronleichnamsliturgie und geht auf die Sequenz Lauda Sion Salvatorem von Thomas von Aquin (1225–1274) zurück. Er gehört zu den am häufigsten vertonten Eucharistie-Texten der Renaissance, da er die Gegenwart Christi im Sakrament des Altars in besonders poetischer Sprache bezeugt.
Der Text entfaltet die Theologie der Realpräsenz und des eucharistischen Mahles in einer Bildsprache, die zugleich mystisch wie liturgisch ist.
Die Motette ist in vier Stimmen gesetzt und folgt dem damals üblichen polyphonen Satz mit imitativer Führung.
Anfang und Imitation: Das Werk eröffnet mit einer klaren imitatorischen Figur auf dem Wort Ecce, das in den einzelnen Stimmen nacheinander einsetzt. Schon hier zeigt sich Bruhiers Fähigkeit, einen liturgischen Text rhetorisch zu deuten: das „Seht!“ wird durch die Staffelung der Stimmen fast wie ein akustisches Hervortreten gestaltet.
Das Wort panis (Brot) erhält eine ruhige, syllabische Vertonung, die die Schlichtheit und Grundsätzlichkeit des eucharistischen Symbols betont.
…angelorum wird dagegen oft melismatisch ausgeziert, wodurch die Transzendenz und himmlische Dimension hervorgehoben wird.
Im Gegensatz dazu erscheinen bei cibus viatorum (Speise der Wandernden) lebhaftere rhythmische Figuren, die Bewegung und Pilgerschaft andeuten.
Die Harmonik bewegt sich im modalen Bereich des dorischen Modus, mit charakteristischen kadenzierenden Wendungen auf d und a. Brumel und seine Zeitgenossen pflegten eine Konsonanz reiche Satzweise, und auch Bruhiers Motette ist von weich geführten Linien geprägt.
Während größere Teile imitatorisch-polyphon gearbeitet sind, finden sich immer wieder kurze homophone Abschnitte bei besonders gewichtigen Worten – ein Stilmittel, das auch Josquin Desprez charakteristisch einsetzte.
Bruhiers Ecce panis angelorum ist ein Werk von eher meditativer Kürze, das nicht auf monumentale Anlage, sondern auf Textausdeutung und klangliche Geschlossenheit zielt. Es spiegelt die Frömmigkeit seiner Zeit und zeigt, wie auch Komponisten zweiter Reihe die hohen Maßstäbe der franko-flämischen Polyphonie erfüllten.
Die Motette konnte sowohl im Rahmen des Fronleichnamsfestes als auch in eucharistischen Andachten aufgeführt werden. Durch ihre klare Faktur und den ausdrucksvollen Textbezug wirkt sie wie eine musikalische Meditation über das Geheimnis der Eucharistie.
Jean l’Héritier (* um 1480 – † nach 1551)
Te matrem Dei laudamus
Fol. 36v–38 — 4 Stimmen
Lateinischer Text:
Te, matrem Dei, laudamus,
te, virginem confitemur:
tibi, intercedenti pro nobis,
Deus Pater omnipotens
miserere nobis.
Deutsche Übersetzung:
Dich, Mutter Gottes, preisen wir,
dich, Jungfrau, bekennen wir:
dir, die du für uns Fürbitte einlegst,
erbarme dich unser, allmächtiger Gott Vater.
Jean l’Héritier (um 1480 – nach 1551) war ein franko-flämischer Komponist der Renaissance, der stilistisch zwischen Josquin Despez und Palestrina steht. Er war vermutlich Schüler von Josquin und wirkte später in Italien, insbesondere in Ferrara und Rom. Viele seiner Motetten finden sich in Handschriften und Druckquellen in ganz Europa und zeigen seinen Einfluss auf die Entwicklung des späteren, klaren Kontrapunkts.
Te matrem Dei laudamus von Jean l’Héritier ist ein vierstimmiges, a-cappella-Werk, das in einer eminent polyphonen und zugleich klar strukturierten Motette den Lobpreis Mariens theologisch und musikalisch vereint. Der Stil mischt imitativen Satz mit homophonen Hervorhebungen, zeigt Text nahe Gestaltung sowie ausgewogene Kontrapunktik – typisch für l’Héritiers Stil und sein Umfeld.
Lupus Hellinck (um 1494–1541)
Esto nobis Domine turris fortitudinis
Fol. 145v–146 — 4 Stimmen
Lateinischer Text:
Esto nobis, Domine, turris fortitudinis
a facie inimici.
In te, Domine, speravi,
non confundar in aeternum:
et in iustitia tua libera me.
Deutsche Übersetzung:
Sei uns, o Herr, ein Turm der Stärke
vor dem Angesicht des Feindes.
Auf dich, o Herr, habe ich gehofft,
möge ich niemals zuschanden werden:
und in deiner Gerechtigkeit befreie mich.
Der Text "Esto nobis Domine turris fortitudinis" ist die Antiphon zum Introitus des Sonntags Sexagesima sowie ein allgemein verwendeter Gebetstext, der Gott als Schutz und Zuflucht anspricht.
Lateinischer Text (Incipit):
Esto nobis, Domine, turris fortitudinis a facie inimici.
Deutsche Übersetzung:
Sei uns, o Herr, ein Turm der Stärke gegen das Angesicht des Feindes.
Dieser kurze, bittende Vers entstammt dem Psalter (vgl. Ps. 60,4) und wurde in der Liturgie oft mit weiteren Versen kombiniert. Er ist Ausdruck des Vertrauens auf den göttlichen Schutz in Zeiten der Bedrängnis.
Die Motette ist vierstimmig (Superius, Altus, Tenor, Bassus) angelegt und folgt der typischen Satztechnik der Generation um 1500.
Das Wort Esto wird mit einem markanten, ruhigen Thema vorgestellt, das nacheinander durch die Stimmen wandert. So entsteht ein musikalisches „Aufbauen“ der Bitte, das sich wie ein Turm aus den Stimmen erhebt – eine subtile Textausdeutung.
Das zentrale Wort turris (Turm) wird durch längere Notenwerte und eine breitere Klangentfaltung hervorgehoben, sodass das Bild der Stärke und Unerschütterlichkeit klanglich nachvollziehbar wird.
… fortitudinis (Stärke) erscheint mit dichter geführten Imitationen, wodurch der Klang kompakter und kraftvoller wirkt.
Bei a facie inimici (vor dem Angesicht des Feindes) werden die Stimmen rhythmisch enger, fast wie ein Drängen, das anschließend in einer Ruhe-Kadenz aufgelöst wird.
Hellinck zeigt sich hier als Vertreter eines gemäßigten, klaren Stils. Anders als bei den oft hochkomplexen kontrapunktischen Experimenten eines Antoine Brumel (um 1460–nach 1512) oder Jean Mouton (um 1459–1522) ist sein Satz von großer Textverständlichkeit geprägt. Weiche Konsonanzen und transparente Imitationen geben der Motette einen kontemplativen Charakter.
Obwohl der Text knapp ist, dehnt Hellinck ihn durch Wiederholungen und Variationen. Dadurch entsteht eine kreisende, meditative Struktur: die Bitte wird mehrfach vorgetragen, aus verschiedenen Perspektiven beleuchtet und schließlich im gemeinsamen Chorklang zusammengeführt.
Die Motette ist ein Beispiel für die liturgisch orientierte, geistlich geprägte Musik Hellincks, die zwischen strenger franko-flämischer Tradition und einem neuen, textnahen Stil steht. Sie eignet sich sowohl für den gottesdienstlichen Gebrauch als auch für repräsentative Aufführungen, wie sie im Umfeld des päpstlichen Hofes üblich waren.
Der besondere Reiz liegt in der Einfachheit des Textes und der tiefen musikalischen Durchdringung durch Hellinck: aus wenigen Worten schafft er eine feierliche, meditative Klanglandschaft, die Schutz und Geborgenheit im Glauben musikalisch erfahrbar macht.
Antonius Divitis (* um 1475 – † vor 1530)
Per lignum salvi facti sumus
Fol. 98v–100 — 4 Stimmen
Lateinischer Volltext:
Per lignum salvi facti sumus,
per lignum mors destructa est,
et per lignum vita reddita est nobis.
Alleluia.
Deutsche Übersetzung:
Durch das Holz sind wir gerettet worden,
durch das Holz ist der Tod zerstört,
und durch das Holz ist uns das Leben zurückgegeben worden.
Halleluja.
Die Motette Per lignum salvi facti sumus ist eine knappe, eindringliche Komposition, die sich auf das Kreuz Christi als Heilszeichen bezieht. Der Text ist eine Antiphon, die besonders in der Karwoche im Gebrauch war und das Paradox des Kreuzes hervorhebt: durch das Holz des Kreuzes kam Heil, der Tod wurde zerstört, und das Leben wurde den Gläubigen zurückgegeben.
Divitis vertont den Text in vier Stimmen. Charakteristisch ist sein zurückhaltender, klarer Satz, der die Worte mit ruhigen Imitationen und einer ausgewogenen Stimmführung trägt. Die Motette entfaltet ihre Wirkung weniger durch kontrapunktische Verdichtung als durch eine feierliche, fast Litanei artige Schlichtheit, die dem Inhalt – Erlösung und neues Leben – Nachdruck verleiht. Die Stimmen treten gleichberechtigt in Erscheinung, wobei kurze imitatorische Einsätze das „per lignum“ musikalisch betonen und den Text so auch klanglich verankern.
Diese Motette zeigt Divitis als Meister einer schlichten, geistlich durchdrungenen Polyphonie, die ohne große Virtuosität auskommt, aber eine tiefe spirituelle Wirkung entfaltet.
Boyleau (Wirkungszeit um 1518)
In principio erat verbum (2 pars); Joh 1,1–3a.14, in der Fassung des Codex:
Fol. 4v–10 — 4 Stimmen
Lateinischer Text:
In principio erat Verbum,
et Verbum erat apud Deum,
et Deus erat Verbum.
Hoc erat in principio apud Deum.
Omnia per ipsum facta sunt:
et sine ipso factum est nihil,
quod factum est:
in ipso vita erat,
et vita erat lux hominum:
et lux in tenebris lucet,
et tenebrae eam non comprehenderunt.
Deutsche Übersetzung:
Im Anfang war das Wort,
und das Wort war bei Gott,
und Gott war das Wort.
Dieses war im Anfang bei Gott.
Alles ist durch dasselbe gemacht,
und ohne dasselbe ist nichts gemacht,
was gemacht ist.
In ihm war das Leben,
und das Leben war das Licht der Menschen.
Und das Licht leuchtet in der Finsternis,
und die Finsternis hat es nicht erfasst.
Diese Motette steht ganz am Anfang des Medici-Codex ( Nr. 2) und wirkt wie ein programmatischer Auftakt. Sie vertont den Anfang des Johannesevangeliums, der in der Liturgie traditionell als feierlicher Prolog gelesen wird. Boyleau behandelt diesen gewichtigen Text in zwei Abschnitten (pars I und II), die klar voneinander abgegrenzt sind und die verschiedenen Sinnschichten des Evangelien Prologs musikalisch hervorheben.
Sein Stil zeigt eine ausgeglichene, homophone Grundstruktur, die durch kurze Imitationen belebt wird. Die Textausdeutung ist feierlich, ohne überladen zu wirken, und betont die zentrale theologische Botschaft: Christus als das präexistente Wort Gottes, das „im Anfang“ war. Das Werk entfaltet eine majestätische Würde und setzt so einen bewusst gewichtigen Akzent am Beginn der Handschrift.
Diese Motette ist Boyleaüs einziges sicher bezeugtes Werk im Medici Codex. Sie rahmt den Codex mit einem theologischen Grundsatz ein und verleiht ihm von Beginn an eine sakrale Grundausrichtung.
Maistre Jhan (um 1485 – 1538)
Lauda Jerusalem Dominum (2 pars)
Folio: 10v–14 — 4 Stimmen
Lateinischer Text:
Lauda, Jerusalem, Dominum;
lauda Deum tuum, Sion.
Quoniam confortavit seras portarum tuarum,
benedixit filiis tuis in te.
Qui posuit fines tuos pacem,
et adipe frumenti satiat te.
Qui emittit eloquium suum terrae:
velociter currit verbum eius.
Deutsche Übersetzung:
Lobe, Jerusalem, den Herrn;
lobe deinen Gott, Zion.
Denn er hat die Riegel deiner Tore befestigt,
er hat deine Kinder in dir gesegnet.
Er hat in deinen Grenzen Frieden gesetzt
und dich mit dem besten Weizen gesättigt.
Er sendet sein Wort zur Erde,
rasch eilt sein Befehl.
Die Motette Lauda Jerusalem Dominum von Maistre Jhan (um 1485–1538) gehört zu den eindrucksvollsten Beispielen seiner geistlichen Musik und ist im berühmten Medici Codex von 1518 überliefert. Der Text stammt aus dem Psalm 147 (Vulgata) und ruft Jerusalem symbolisch zur Lobpreisung Gottes auf. In der liturgischen Tradition ist dieser Vers Ausdruck der Freude über den Schutz und die Nähe des Herrn zu seinem auserwählten Volk, zugleich aber auch Allegorie auf die Kirche als neues Jerusalem.
Musikalisch zeigt sich hier Maistre Jhans Meisterschaft, die den franko-flämischen Stil seiner Zeit prägt. Die Motette ist in einem vierstimmigen Satz gestaltet, der auf der Technik der Imitation beruht: die Stimmen setzen nacheinander ein und verweben sich zu einem dichten, aber klar durchhörbaren Gewebe. Gerade im Eröffnungsteil wird der Lobpreis durch das Aufeinanderfolgen der Stimmen wie ein wachsender Klangkörper hörbar.
Besonders charakteristisch ist der Wechsel zwischen kunstvoller Polyphonie und homophonen Passagen. Wo der Text größere Nachdrücklichkeit verlangt, führt Jhan die Stimmen zusammen, sodass die Worte fast deklamatorisch hervortreten. Diese kontrastreiche Gestaltung verleiht der Motette nicht nur Abwechslung, sondern auch eine gesteigerte Ausdruckskraft, die den geistlichen Gehalt des Psalms unmittelbar erfahrbar macht.
Im Ganzen wirkt das Werk weniger monumental als vielmehr feierlich und licht. Es zeugt von der Kunstfertigkeit eines Komponisten, der den Weg vom spätmittelalterlichen Kontrapunkt zu einer neuen, textbezogeneren Musiksprache mitgeprägt hat. Dass die Motette in einem so repräsentativen Manuskript wie dem Medici-Codex Aufnahme fand, unterstreicht ihre Bedeutung im zeitgenössischen Repertoire. Moderne Ensembles wie das Rutgers Collegium Musicum unter Andrew Kirkman (* 1961) haben dieses Stück wieder aufgeführt und zeigen, wie lebendig und eindrucksvoll die Musik Maistre Jhans auch heute noch wirkt.
Jacques Jacotin (* um 1490; † nach 1555)
Rogamus te virgo Maria
Fol. 66v–67 — 4 Stimmen
Lateinischer Text:
Rogamus te, Virgo Maria,
ut ores pro nobis Dominum Jesum Christum,
ut nos salvet ab hoste maligno
et perducat ad regnum caelorum. Amen.
Deutsche Übersetzung:
Wir bitten dich, Jungfrau Maria,
dass du für uns den Herrn Jesus Christus anrufst,
damit er uns vor dem bösen Feind rette
und uns zum Himmelreich führe. Amen.
Die Motette Rogamus te, virgo Maria von Jacotin Le Bel (um 1490–nach 1555) ist im berühmten Medici-Codex von 1518 überliefert und wurde bereits 1519 im Druck Motetti de la corona veröffentlicht. Ihre Aufnahme in solch repräsentative Sammlungen zeigt, welche Wertschätzung sie schon früh genoss.
Der Text ist eine innige Marienanrufung: „Rogamus te, virgo Maria, dignissima sponsa aeterni regis … ut pro nobis intercedas ad Filium“ – „Wir bitten dich, Jungfrau Maria, würdige Braut des ewigen Königs … dass du als Fürsprecherin für uns beim Sohn eintrittst.“ Maria erscheint hier zugleich als Braut Christi, Königin der Welt und Mittlerin zwischen Menschheit und Gott.
Musikalisch ist die Motette vierstimmig angelegt und folgt dem franko-flämischen Stil, der von imitatorischen Einsätzen geprägt ist, jedoch immer wieder von homophonen Momenten durchbrochen wird, um die wichtigsten Worte hervorzuheben. Titel wie regina oder ianua Christi erhalten besondere klangliche Betonung, während die wiederholte Anrufung Rogamus te den Charakter des inständigen Gebets strukturell prägt. So verbindet Jacotin polyphone Kunstfertigkeit mit einer klaren, textnahen Deutung.
Insgesamt entfaltet das Werk einen schlichten, aber eindringlichen Klang, der zwischen meditativer Bitte und feierlicher Marienfrömmigkeit steht. Gerade in dieser Balance von kunstvoller Polyphonie und klarer Wortausdeutung liegt seine Schönheit – ein Charakterzug, der Jacotin als Vertreter der Generation nach Josquin auszeichnet.
Hotinet Barra (Wirkunkszeit 1510–1523) — unsichere Zuschreibung; Tendenz Barra
Nuptiae factae sunt in Chana Galilaeae
Fol. 72v–74 — 4 Stimmen
Zuschreibung uneinheitlich — in manchen Quellen Hotinet Barra, in anderen ein gewisser Elimon oder Elimot; im Codex anonym.
Lateinischer Text:
Nuptiae factae sunt in Chana Galilaeae,
et erat mater Jesu ibi.
Vocatus est autem et Jesus et discipuli eius ad nuptias.
Et deficiente vino dicit mater Jesu ad eum:
Vinum non habent.
Dicit ei Jesus: Quid mihi et tibi est, mulier?
Nondum venit hora mea.
Deutsche Übersetzung:
Eine Hochzeit fand statt in Kana in Galiläa,
und die Mutter Jesu war dort.
Auch Jesus und seine Jünger waren zu der Hochzeit eingeladen.
Als der Wein ausging, sagte die Mutter Jesu zu ihm:
Sie haben keinen Wein.
Jesus antwortete ihr: Was habe ich mit dir zu schaffen, Frau?
Meine Stunde ist noch nicht gekommen.
Die Textbasis führt in das Hochzeitswunder von Kana (Joh 2): „Nuptiae factae sunt in Cana/Chana Galilaeae…“ – in liturgischer Tradition ein Epiphanie-Thema (3. Sonntag nach Epiphanie), das Christus als Bräutigam der Kirche zeigt. Orthographie und Lesarten schwanken in den Quellen („Cana/Chana“, „Galilaeae/Gallileae“), was die italienisch-nordalpinen Überlieferungswege spiegelt.
Musikalisch begegnet eine kompakte, vierstimmige Motette (in den meisten Quellen 4vv), die den Eingangssatz imitatorisch entfaltet: Die Stimmen treten nacheinander mit einer ruhigen, syllabennahen Gestalt ein, wodurch der feierliche Charakter eines Prozessions- oder Einzugsbildes entsteht. An gewichtigen Worten – etwa dem Eintritt Christi und der Erwähnung der Mutter – bündelt sich der Satz kurz homophon, bevor der Fluss wieder polyphon fortspinnt. Die Harmonik bleibt modal-konsonant, Dissonanzen sind sorgfältig vorbereitet und aufgelöst; insgesamt entsteht ein helles, würdiges Klangbild zwischen kontemplativer Bitte und repräsentativer Festlichkeit – ideal für den höfisch-sakralen Kontext des Medici-Codex.
Zur Überlieferung: Der Medici-Codex nennt „Elimot“; mehrere Handschriften (u. a. St. Gallen, Leipzig, Florenz, Cremona) führen das Stück, teils ohne Komponistenangabe. Ein früher Druck in Andrea Anticos Motetti libro primo (Venedig, 1520/21) weist die Motette Hotinet Barra zu – ein starkes Argument für seine Autorschaft. Die Schreibvarianten in den Quellen („Chana/Cana“) sind dabei ausdrücklich belegt.
Johannes Brunet (Wirkunkszeit um 1510-1530)
Ite in orbem universum et praedicate
Folio: 74v–77 — 4 Stimmen
Lateinischer Text:
Ite in orbem universum et praedicate Evangelium omni creaturae.
Qui crediderit et baptizatus fuerit, salvus erit;
qui vero non crediderit, condemnabitur.
Deutsche Übersetzung:
Geht hinaus in die ganze Welt und predigt das Evangelium aller Kreatur.
Wer glaubt und getauft ist, wird gerettet werden;
wer aber nicht glaubt, wird verurteilt werden.
Über Johannes Brunet wissen wir nur sehr wenig – er zählt zu den heute fast vergessenen franko-flämischen Komponisten der frühen 16. Jahrhunderts. Dass er im Medici Codex (1518) vertreten ist, zeigt aber, dass er im Umfeld der großen Namen seiner Generation – Jean Mouton, Adrian Willaert oder Jacotin – als ebenbürtig wahrgenommen wurde. Seine Motette Ite in orbem universum et praedicate steht in thematischer Nähe zu den Missionsbefehlen des auferstandenen Christus und verweist damit auf zentrale Inhalte der Oster- und Pfingstzeit.
Der Text basiert auf dem Missionsauftrag Jesu, wie er am Ende des Markus- und Matthäusevangeliums formuliert ist.
„Geht hinaus in die ganze Welt und verkündet das Evangelium allen Geschöpfen. Halleluja.“
Dieser Vers wurde liturgisch besonders an Apostel- und Missionsfesten verwendet, zugleich aber auch im Osterkreis als Ausdruck der Verkündigung des Evangeliums.
Die Motette ist in vier Stimmen angelegt und zeigt typische Merkmale der franko-flämischen Polyphonie um 1510–1520:
Der Befehl Ite wird durch einen markanten Einsatz der Oberstimme vorgestellt, die dann imitiert von den übrigen Stimmen aufgenommen wird. Das verleiht der Aufforderung einen feierlich-proklamierenden Charakter, fast wie ein Ruf, der sich durch die Welt ausbreitet.
Die Worte orbem universum („die ganze Welt“) werden mit ausgreifenden Melodielinien gestaltet, die den musikalischen Raum weiten.
Bei praedicate („verkündet“) setzt Brunet oft schnellere rhythmische Bewegungen ein, sodass die Dringlichkeit der Predigt spürbar wird.
Das abschließende alleluia wird ausgedehnt und melismatisch verziert – es bildet den jubelnden Höhepunkt und verleiht der Motette eine strahlende Schlusspassage.
Der Satz ist von einer lichten Konsonanz geprägt; die Stimmen bewegen sich geschmeidig und vermeiden übermäßige Komplexität. Dies lässt die Musik leicht verständlich erscheinen und rückt den Text in den Mittelpunkt – eine Tendenz, die schon auf den späteren „klassischen“ Motetten Stil eines Palestrina vorausweist.
Brunets Ite in orbem universum et praedicate ist ein Werk, das durch seine Text nähe, seine klare Satzweise und seine symbolische Bildkraft besticht. Der Klang der Motette vermittelt die Universalität des Evangeliums: der Ruf „Geht hinaus“ wird im musikalischen Raum polyphon entfaltet, als klangliches Abbild der weltweiten Verkündigung.
Dass diese Motette im Medici Codex enthalten ist, zeigt, dass Brunet als geschätzter Meister galt, dessen Werke sich für repräsentative wie liturgische Anlässe eigneten. Sie ist ein eindrucksvolles Zeugnis dafür, wie auch weniger bekannte Komponisten dieser Generation das Niveau und die Ausdruckskraft der franko-flämischen Schule erreichten.
Lesantier (Wirkunkszeit frühes 16. Jahrhundert)
Alma redemptoris mater (2 pars)
Fol. 100–103 — 4 Stimmen
Lateinischer Text:
Alma redemptoris mater,
quae pervia caeli porta manes,
et stella maris,
succurre cadenti,
surgere qui curat, populo:
tu quae genuisti,
natura mirante,
tuum sanctum Genitorem:
Virgo prius ac posterius,
Gabrielis ab ore
sumens illud Ave,
peccatorum miserere.
Deutsche Übersetzung:
Holdselige Mutter des Erlösers,
du bleibst das offene Tor des Himmels
und der Stern des Meeres.
Hilf dem gefallenen Volk,
das sich zu erheben bemüht:
du, die du – zur Verwunderung der Natur –
deinen heiligen Schöpfer geboren hast.
Jungfrau zuvor und auch danach,
die du jenes „Sei gegrüßt“
aus Gabriels Mund vernommen hast:
erbarme dich der Sünder.
Diese Motette ist das einzige bekannte Werk des Komponisten Lesantier im Medici-Codex. Der Name taucht in keiner der großen Musiklexika (MGG, Grove, RISM) mit weiterem biographischen Material auf – Vorname, Lebensdaten oder Todesjahr sind nicht überliefert. Es ist bislang völlig unklar, ob Lesantier Franzose oder Niederländer war, oder ob sich hinter dem Namen eine Variante eines bekannteren Meisters verbirgt. Der Codex selbst nennt nur „Lesantier“ als Zuschreibung.
Die Motette vertont die bekannte marianische Antiphon Alma redemptoris mater, die im Advent und in der Weihnachtszeit gesungen wurde. Der Text wird in zwei Abschnitte gegliedert (Alma redemptoris mater… und Tu quae genuisti…). Musikalisch zeigt Lesantier eine feierlich-kontemplative Polyphonie: ausgeglichene Vierstimmigkeit, ruhige imitatorische Einsätze und eine klare Textverständlichkeit. Der Stil erinnert an die franko-flämische Tradition, ohne die kompositorische Dichte eines Mouton oder Willaert zu erreichen.
Eloy d’Amerval (Wirkungszeit spätes 15. Jh.) — gesichert
Vincenti dabo manna absconditum
Fol.146v–148 — 4 Stimmen
Lateinischer Text:
Vincenti dabo manna absconditum,
et nomen novum,
quod nemo scit, nisi qui accipit.
Alleluia.
Deutsche Übersetzung:
Dem Überwindenden werde ich das verborgene Manna geben
und einen neuen Namen,
den niemand kennt außer dem, der ihn empfängt.
Halleluja.
Eloy d’Amerval gehört zu den franko-flämischen Komponisten am Ende des 15. Jahrhunderts, die an der Schwelle zur Hochrenaissance wirkten. Er war nicht nur Musiker, sondern auch Dichter – sein umfangreiches allegorisches Gedicht Le livre de la deablerie (1508) ist bis heute erhalten. Von seiner Musik ist nur ein kleiner Teil überliefert, darunter die Motette Vincenti dabo manna absconditum, die in Handschriften des späten 15. und frühen 16. Jahrhunderts erscheint und gesichert ihm zugeschrieben wird.
Der Titel zitiert die Offenbarung des Johannes (Apk 2,17): „Vincenti dabo manna absconditum“ – „Dem, der siegt, werde ich das verborgene Manna geben.“ Der Text gehört in den eschatologischen Kontext der Verheißungen an die sieben Gemeinden der Apokalypse. In der christlichen Tradition wurde das „verborgene Manna“ als Bild für die himmlische Speise, die Eucharistie oder das ewige Leben verstanden.
Die Motette ist vierstimmig komponiert und zeigt typische Merkmale der franko-flämischen Polyphonie um 1500:
Der Satz beginnt mit einer ernsten, feierlichen Imitation auf Vincenti dabo, die das Bild des göttlichen Zuspruchs musikalisch ausbreitet. Der Klang schreitet ruhig voran, als wolle er die Unausweichlichkeit und Gewissheit der Verheißung unterstreichen.
Das Wort manna wird oft in schwebenden, ausgedehnten Notenwerten vertont, als Hinweis auf die himmlische Speise.
Bei calculum candidum („weißer Stein“) sind kontrastierende hellere Klangfarben zu hören: die Stimmen treten enger zusammen, der Klang wirkt klar und kristallin.
Der geheimnisvolle Schlusssatz nomen novum scriptum quod nemo scit erhält eine besonders kunstvolle Polyphonie, die gleichsam das Unaussprechliche musikalisch andeutet.
D’Amerval verbindet die für seine Zeit typische dichte Imitation mit homophonen Akzenten. Die Textur bleibt ausgewogen und klar, weniger streng als bei Ockeghem, dafür mit einem Hang zu lyrischer Expressivität.
Die Motette Vincenti dabo manna absconditum ist ein eindrucksvolles Zeugnis für die Verbindung von apokalyptischer Bildsprache und musikalischer Symbolik in der franko-flämischen Vokalkunst. Sie gehört zu den wenigen sicher identifizierten Werken von Eloy d’Amerval und zeigt seine Kunst, biblische Visionen in klangliche Ausdrucksformen zu übersetzen.
Innerhalb der Motetten Überlieferung der Zeit nimmt das Stück einen besonderen Platz ein, da es nicht nur einen liturgischen, sondern auch einen stark mystisch-symbolischen Charakter besitzt. Seine Aufnahme in renommierte Handschriften belegt zudem, dass es als kunstvolles und zugleich spirituell bedeutungsvolles Werk geschätzt wurde.
Unsichere Zuschreibung
Erasmus Lapicida (um 1440–1547) — unsichere Zuschreibung
Gloriosi principes terrae quomodo / Petrus apostolus
Fol. 140v–141 — 4 Stimmen
Zuschreibung: uneinheitlich — teils Erasmus Lapicida, teils Jean Mouton; im Codex anonym.
Lateinischer Text:
Gloriosi principes terrae, quomodo ceciderunt,
et interiit arma bellica,
et perierunt viri fortes.
Petrus apostolus et Paulus doctor gentium
intercedant pro nobis ad Dominum.
Deutsche Übersetzung:
Ruhmreiche Fürsten der Erde, wie sind sie gefallen,
und die Kriegswaffen sind zugrunde gegangen,
und die tapferen Männer sind umgekommen.
Der Apostel Petrus und Paulus, der Lehrer der Völker,
mögen für uns beim Herrn Fürsprache einlegen.
Die Motette Gloriosi principes terrae quomodo / Petrus apostolus ist im Medici-Codex von 1518 überliefert. In den Quellen erscheint das Werk anonym oder mit wechselnder Zuschreibung – unter anderem an Erasmus Lapicida, teils auch an Jean Mouton. Die Zuschreibung bleibt daher bis heute unsicher. Dass die Motette in einem so prestigeträchtigen Codex enthalten ist, unterstreicht jedoch ihre hohe Wertschätzung im musikalischen Leben der Zeit.
Der Text ist ein Responsorium, das in der Liturgie am Festtag der Apostelfürsten Petrus und Paulus Verwendung fand. Er preist die „glorreichen Fürsten der Erde“ und stellt ihnen Petrus als Apostel und Fels der Kirche gegenüber.
Lateinischer Text (incipit):
Gloriosi principes terrae quomodo? Petrus apostolus et Paulus doctor gentium.
Deutsche Übersetzung:
„Die glorreichen Fürsten der Erde – wer sind sie? Petrus, der Apostel, und Paulus, der Lehrer der Völker.“
Der Text ist dialogisch angelegt: die Frage quomodo? (wer sind sie?) wird durch die Nennung von Petrus und Paulus beantwortet. Diese rhetorische Struktur prädestiniert ihn für eine musikalische Gestaltung, die mit Kontrasten arbeitet.
Die Motette ist vier- bis fünfstimmig angelegt (je nach Quelle) und zeichnet sich durch eine klare rhetorische Struktur aus.
Der erste Teil – Gloriosi principes terrae quomodo – erscheint imitativ geführt, fast wie ein fragendes Rufen. Auf die rhetorische Frage folgt die Antwort Petrus apostolus et Paulus doctor gentium, die homophon gebündelt wird, sodass die Nennung der beiden Apostel mit größter Klarheit und Nachdrücklichkeit erklingt.
Die Stimmen entfalten sich in engmaschiger Polyphonie, doch Lapicida (oder der unbekannte Meister) wahrt stets die Textverständlichkeit. Wichtige Schlüsselworte wie apostolus und doctor gentium sind durch längere Notenwerte oder betonte Kadenzierungen hervorgehoben.
Der Modus bewegt sich im dorisch-äolischen Bereich; der Satz ist von hellen Konsonanzen geprägt, in denen nur kurze Dissonanzen als rhetorische Akzente wirken. Besonders im Schluss entfaltet sich eine feierliche Kadenz, die den apostolischen Lobpreis verklärt.
Die Motette verbindet theologischen Gehalt mit politischer Dimension: Petrus und Paulus erscheinen nicht nur als geistliche „Fürsten“, sondern auch als Sinnbilder von Autorität und Sendung. Im Medici-Codex, einem Hochzeitsgeschenk von Papst Leo X., konnte dies doppelt gelesen werden – als Ausdruck der Treue zur Kirche und als Allegorie auf die Einheit geistlicher und weltlicher Macht.
In musikalischer Hinsicht ist das Werk ein Beispiel für den Übergang vom streng kontrapunktischen Satz der älteren Generation zur stärker textbezogenen Gestaltung der Motette um 1520. Die rhetorische Klarheit und die sorgfältige Textausdeutung lassen es als ein Werk gelten, das den Geist der römisch-französischen Kapellenmusik in der Zeit Leos X. besonders eindringlich verkörpert.
Antoine de Févin (um 1470 – 1512) oder Pierrequin de Thérache (um 1470-1528) — unsichere Zuschreibung
Verbum bonum et suave
Folio: 40v–41 — 4 Stimmen
Zuschreibung: uneinheitlich — in manchen Quellen Antoine de Févin, in anderen Pierrequin de Thérache; im Codex anonym.
Lateinischer Text:
Verbum bonum et suave,
magis desiderabile super aurum et lapidem pretiosum,
super mel et favum.
Maria, Maria, Maria,
ora pro nobis Filium tuum Jesum Christum.
Deutsche Übersetzung:
Ein gutes und süßes Wort,
mehr zu begehren als Gold und Edelstein,
mehr als Honig und Honigseim.
Maria, Maria, Maria,
bitte für uns deinen Sohn Jesus Christus.
Die Motette Verbum bonum et suave ist eines der bekanntesten Marienstücke des frühen 16. Jahrhunderts. Der Text preist die Jungfrau Maria mit poetischen Bildern: „Ein gutes und süßes Wort, süßer als Honig und Honigseim, fließe über deine Lippen. Maria, Mutter Gottes, bitte für uns.“ Er wurde im marianischen Offizium verwendet und passte zu Festen zu Ehren der Gottesmutter.
Musikalisch ist die Motette fünfstimmig angelegt. Sie beginnt mit imitatorischen Einsätzen auf Verbum bonum, die ein fließendes Klanggewebe entstehen lassen. Bilder wie super mel et favum sind mit weichen, melismatischen Linien vertont. Im zweiten Teil tritt ein stärker homophoner Stil auf, wenn Maria direkt angerufen wird. Den Abschluss bildet ein jubelndes Alleluia.
Zur Autorschaft ist die Forschung uneins. In verschiedenen Quellen wird das Werk Jacques Arcadelt (um 1507–1568), Johannes Martini (um 1440–1497) oder Jean Mouton (um 1459–1522) zugeschrieben, in vielen Fällen bleibt es anonym. Stilistisch lässt sich das Stück keiner dieser Stimmen eindeutig zuordnen. Heute gilt die Zuschreibung als unsicher, was seine breite Wirkung aber nicht schmälert.
Verbum bonum et suave war weit verbreitet und wurde in ganz Europa gesungen. Es gehört bis heute zum Repertoire vieler Ensembles und überzeugt durch seine schlichte, süße Klangsprache, die den Text unmittelbar erfahrbar macht.
Jean Mouton oder Adrian Willaert oder Josquin Despez — unsichere Zuschreibung
Salva nos Domine vigilantes
Fol. 87v–88 — 4 Stimmen
Zuschreibung: uneinheitlich — im Codex anonym.
Lateinischer Text:
Salva nos, Domine, vigilantes;
custodi nos dormientes,
ut vigilemus cum Christo
et requiescamus in pace.
Deutsche Übersetzung:
Errette uns, o Herr, wenn wir wachen;
behüte uns, wenn wir schlafen,
damit wir mit Christus wachen
und in Frieden ruhen.
Die Motette Salva nos Domine vigilantes gehört zu den innigen Nachtgebeten der Renaissance. Ihr Text entstammt der Komplet, dem letzten Stundengebet des Tages, wo die Gläubigen Gott um Schutz in der Nacht bitten.
Lateinischer Text (Incipit):
Salva nos, Domine, vigilantes, custodi nos dormientes, ut vigilemus cum Christo et requiescamus in pace. Amen.
Deutsche Übersetzung:
„Bewahre uns, Herr, wenn wir wachen, beschütze uns, wenn wir schlafen, damit wir mit Christus wachen und in Frieden ruhen. Amen“.
Der kurze, eindringliche Text verbindet die Bitte um nächtliche Bewahrung mit der Hoffnung auf den endgültigen Frieden im Tod – ein Gebet, das liturgische Schlichtheit und spirituelle Tiefe in sich vereint.
Musikalisch ist die Motette in einem vierstimmigen, syllabisch geprägten Satz gestaltet. Sie beginnt meist mit ruhigen, imitatorischen Einsätzen, die den Eindruck des Wachens und Betens vermitteln. Auf das Wort custodi („behüte“) folgt oft eine engere, fast wiegende Bewegung, die den Schutzgedanken musikalisch verdeutlicht. Der Schluss Vers requiescamus in pace erscheint in feierlich-homophoner Bündelung der Stimmen, sodass die Musik in einem ruhigen, kontemplativen Akkordklang ausklingt – ganz im Einklang mit dem Frieden, den der Text verheißt.
Die Motette verkörpert damit einen Typus, der in der Renaissance besonders beliebt war: kurze, meditative Stücke für das Stundengebet, die nicht auf kunstvolle Komplexität, sondern auf klare Textausdeutung und innere Sammlung zielen. Sie wirkt wie eine musikalische „Abendandacht“: schlicht, geborgen, lichtdurchdrungen.
