Chopins Miniaturen
Bourrée
Die Bourrée – ein ursprünglich aus der französischen Auvergne stammender Tanz im geraden Takt – entwickelte sich im Laufe des 17. Jahrhunderts vom volkstümlichen Gesellschaftstanz zu einer festen Größe im höfischen Leben. Am Hof Ludwigs XIV. (1638–1715, reg. ab 1643) erfreute sie sich besonderer Beliebtheit und fand Eingang in die barocken Orchestersuiten und Cembalowerke, unter anderem bei Johann Sebastian Bach (1685–1750) und Georg Friedrich Händel (1685–1759). Charakteristisch sind ihr schneller Bewegungsfluss (meist im 2/2- oder 4/4-Takt), der markante Auftakt – häufig eine einzelne Viertelnote – und der stetige, beinahe schreitende Rhythmus. Im Lauf ihrer Entwicklung wurde die Bourrée in der Kunstmusik des Barock zu einer stilisierten, kultivierten Form: rhythmisch prägnant, elegant und lebhaft – eine Synthese aus volkstümlicher Bodenständigkeit und höfischer Grazie.
Die beiden Bourrées gehören zu den Kompositionen Frédéric Chopins (1810–1849) ohne Opuszahl. In der wissenschaftlichen Katalogisierung werden sie im sogenannten Kobylańska-Katalog (KK) geführt – benannt nach der polnischen Chopin-Forscherin Krystyna Kobylańska (1925–2009), die in ihrem Standardwerk Frédéric Chopin – Thematisch-bibliographisches Werkverzeichnis (1977) sämtliche bekannten Kompositionen systematisch erfasst hat. Die Abkürzung „KK“ wird mit römischen Zahlen und Buchstaben kombiniert, um Werkgruppen zu kennzeichnen (z. B. IIa/IIb für frühe Klavierwerke, IVa für Polonaisen für Klavier solo, „Anh.“ für Fragmente oder zweifelhafte Zuschreibungen). Zusätzlich wird häufig die Brown-Zählung verwendet – benannt nach dem britischen Chopin-Forscher Maurice J. E. Brown (1906–1975), der 1960 eine chronologische Liste sämtlicher Werke vorlegte. In diesem System tragen die Bourrées die Nummern B.160b/1 und B.160b/2.
Beide Stücke entstanden vermutlich um 1846 und blieben zu Chopins Lebzeiten ungedruckt. Erst 1968 wurden sie in der von Jan Ekier (1913–2014) herausgegebenen Nationalausgabe veröffentlicht. Sie sind stilistisch Reminiszenzen an ältere Tanzformen, die Chopin jedoch nicht historisierend im barocken Sinn, sondern frei und subjektiv interpretiert.
Die Bourrée Nr. 1 in G-Dur (B.160b/1) besitzt eine helle, frische Klangfarbe, die dem Werk eine fast galante Leichtigkeit verleiht. Der Aufbau folgt der traditionellen Tanzform mit markantem Auftakt, klar gegliederten Phrasen und dem gleichmäßigen Schritt-Rhythmus. Die Melodik bleibt schlicht, beinahe skizzenhaft – ein kammermusikalischer, intimer Tonfall, weit entfernt von virtuoser Brillanz. Chopin entwirft hier ein feines Genrebild, das mehr auf Eleganz und Ausgewogenheit als auf technische Demonstration zielt. In der Interpretation der türkischen Pianistin İdil Biret (* 1941) entfaltet sich diese Zurückhaltung zu feiner Poesie. Ihre klare Artikulation, rhythmische Präzision und differenzierte Dynamik lassen den tänzerischen Ursprung deutlich hervortreten. So entsteht das Bild eines höfischen Tanzes, der zwischen heiterer Grazie und sanfter Verspieltheit schwebt – eine Bourrée nicht im Rokoko-Kostüm, sondern in schlichter, stilvoller Form.
Die Bourrée Nr. 2 in a-Moll (B.160b/2) kontrastiert ihre Schwester in G-Dur deutlich: Sie ist introvertierter, herb im Ausdruck, von einer leisen Melancholie durchzogen. Die Molltonart verleiht ihr eine gedämpfte, beinahe grüblerische Stimmung, die in der rhythmischen Strenge des Bourrée-Taktes eine besondere Spannung findet. Der Aufbau ist knapp, fast aphoristisch: ein markanter Auftakt, zwei kontrastierende Abschnitte, eine pointierte Schlusswendung. Die Harmonik ist nuanciert und zeigt in der Kürze des Stücks eine feine innere Tiefe. Chopin verzichtet auch hier auf virtuose Girlanden und groß angelegte Entwicklungen – die Wirkung entsteht aus rhythmischer Energie, klarer Artikulation und konzentrierter Form. İdil Birets Einspielung – das Stück erklingt ab der 53. Sekunde – zeigt diese kontrollierte Zurückhaltung in schlanker, klarer Linie. Unter
der Oberfläche pulsiert ein leiser Tanz, der seine Wurzeln nicht verleugnet, aber in nach innen gekehrte Lyrik verwandelt wird.
So gelesen sind die beiden Bourrées bewusste Reminiszenzen an ein barockes Tanzidiom – nicht museal „nachgemacht“, sondern frei stilisiert und auf das Essentielle verdichtet. Gerade diese Ökonomie der Mittel macht ihren Reiz aus: Miniaturen, die Chopins Formbewusstsein, sein rhythmisches Sensorium und seinen Klangtakt im Kleinen exemplarisch zeigen.
Trois Écossaises op. 72, Nr. 3 (B. 134)
Die drei Écossaises entstanden im Jahr 1830, kurz bevor Chopin Polen endgültig verließ. Sie wurden erst postum 1855 von Julian Fontana (1810–1869) als op. 72, Nr. 3 veröffentlicht und gehören zu jenen kleinen, in sich abgeschlossenen Miniaturen, die auf dem Konzertpodium selten zu hören sind. Gleichwohl bieten sie einen reizvollen Einblick in Chopins Fähigkeit, selbst in knapper Form Witz, Eleganz und rhythmische Vitalität zu vereinen.
Die Bezeichnung Écossaise (französisch für „Schottischer Tanz“) verweist auf eine modische Gesellschaftstanzform des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts. Über Schottland und England gelangte sie nach Frankreich und verbreitete sich rasch in ganz Europa. Charakteristisch sind das schnelle Tempo im 2/4-Takt, eine leichte, transparente Textur und ein fröhlich-volkstümlicher, teils neckischer Charakter.
Chopins Écossaises waren vermutlich Gelegenheitsstücke für den privaten Kreis oder den Unterricht. Jede dauert nur etwa 20 bis 30 Sekunden, ist aber kompositorisch prägnant, rhythmisch akzentuiert und harmonisch pointiert.
1. Écossaise in D-Dur (B. 134/1)
Ein schwungvoller Auftakt mit tänzerischem Gestus, der entfernt an höfische Contredanses erinnert. Chopin versieht ihn mit charakteristischer Eleganz, sodass das Stück eher als feiner Salontanz denn als rustikaler Volkstanz wirkt.
2. Écossaise in G-Dur (B. 134/2)
Leichtfüßig und verspielt, mit einfacher, aber wirkungsvoller Melodik. Der tänzelnde Rhythmus besitzt fast einen scherzhaften Unterton.
3. Écossaise in Des-Dur (B. 134/3)
Die originellste der drei Miniaturen. Die Tonart ist für diese Zeit eher ungewöhnlich, und Chopin nutzt plötzliche Akzentverschiebungen und kleine rhythmische Überraschungen, um den Charakter liebevoll zu ironisieren.
Trotz ihrer Kürze sind die Écossaises eine Art kompositorisches „Kabinettstück“: melodische Ökonomie, harmonische Feinheit und tänzerische Prägnanz in Miniaturform.
Vergleich ausgewählter Interpretationen:
İdil Biret (geb. 1941)
Biret findet hier die wohl ausgewogenste Lesart: Ihr Spiel ist transparent, rhythmisch klar und stets tänzerisch federnd. Sie verwendet das Pedal sparsam und gezielt, sodass die perkussive Leichtigkeit der Tanzschritte erhalten bleibt. Rubato setzt sie nur dezent ein, um Motive zu atmen, ohne den Fluss zu brechen. Sie nimmt die Miniaturen ernst, aber nie schwer – und vermeidet jede ironische Überhöhung. Dadurch wirken die Stücke wie elegante Gesellschaftstänze, die im privaten Salon erklingen könnten, ohne ihre tänzerische Unmittelbarkeit zu verlieren.
İdil Biret – Trois Écossaises op. 72, Nr. 3 (YouTube, Tracks 21–23)
Yundi Li (geb. 1982)
Yundi Li wählt ein sehr frisches, motorisch durchpulstes Tempo. Er betont den tänzerischen Charakter, allerdings mit einer stark glänzenden, homogenen Klangfläche. Das wirkt brillant und publikumswirksam, lässt jedoch die feinen Binnenabstufungen der Phrasierung in den Hintergrund treten. Dynamisch bewegt er sich meist im hellen, strahlenden Bereich, wodurch die ironisch-pointierten Akzente weniger stark hervortreten. Sein Ansatz ist makellos virtuos, aber eher auf äußeren Schwung als auf mikroskopische Charakterzeichnung ausgerichtet – was manchen Hörern den Eindruck von Oberflächlichkeit vermitteln kann.
Yundi Li – Trois Écossaises op. 72, Nr. 3 (YouTube)
Wladimir Ashkenazy (geb. 1937)
Ashkenazy spielt die Écossaises mit klarer Artikulation und rhythmischer Präzision, allerdings in einer insgesamt etwas gesetzteren Lesart. Er betont die melodische Linie und strukturelle Sauberkeit, was zu einer noblen, beinahe „klassizistischen“ Interpretation führt. Dabei tritt der leicht frivole Gesellschaftstanzcharakter zugunsten einer wohlproportionierten Klarheit in den Hintergrund. Die tänzerische Schwingung ist vorhanden, jedoch subtiler, weniger improvisatorisch und spontaner als bei Biret oder Li.
Wladimir Ashkenazy – Trois Écossaises op. 72, Nr. 3 (YouTube)
Tarantella in As-Dur, op. 43
Die Tarantella in As-Dur, op. 43 von Frédéric Chopin ist ein brillantes, virtuos aufgeladenes Klavierstück, das 1841 in Nohant entstand und im Oktober desselben Jahres veröffentlicht wurde. Obwohl Chopin selbst das Werk kritisch betrachtete – er schrieb an seinen Freund Julian Fontana (1810–1869): „Ich hoffe, ich werde so etwas Schreckliches nicht so bald wieder schreiben“ – hat die Tarantella ihren festen Platz im Konzertrepertoire gefunden.
Die Tarantella ist ein Presto perpetuum mobile im 6/8-Takt, inspiriert von Gioachino Rossinis (1792–1868) Lied "La danza". Chopin legte großen Wert darauf, den gleichen Takt wie Rossini zu verwenden, was durch einen Brief an Julian Fontana (1810–1869) belegt ist. Das Stück ist durchgehend von einem fieberhaften Rhythmus geprägt, der die Tänzer in einen tranceartigen Zustand versetzt. Robert Schumann (1810–1856) beschrieb es als Musik in Chopins „extravagantester Manier“, in der man „den Tänzer sieht, der wie besessen wirbelt, bis unsere Sinne taumeln“.
Trotz seiner Kürze von etwa drei Minuten verlangt die Tarantella dem Pianisten höchste technische Fertigkeiten ab. Die schnellen Läufe, abrupten Akzente und chromatischen Passagen erfordern Präzision und Ausdauer. Das Stück besteht aus mehreren Themen, die in einem atemlosen Tempo präsentiert und miteinander verwoben werden, was dem Werk eine mosaikartige Struktur verleiht.
Mein Favorit: Artur Rubinstein (1887–1982):
https://www.youtube.com/watch?v=79c-zVuOrDM
Die polnischen Lieder op. 74 – eine oft übersehene Seite seines Schaffens
https://www.youtube.com/watch?v=dBv0WVs51RA&list=OLAK5uy_kA-KZtx2dQIUVlZDfdobXkQ2qYAC3Lb_E
Frédéric Chopin ist nahezu ausschließlich als Komponist für das Klavier bekannt. Doch neben seinen Etüden, Nocturnes und Mazurken existiert ein kleines, aber bedeutsames Vokalwerk: 19 Lieder auf polnische Texte, von denen 17 unter der Opuszahl 74 zusammengefasst sind. Diese Sammlung stellt eine intime, persönlich geprägte Ergänzung zu seinem Klavierschaffen dar – fern von Virtuosenprunk, aber reich an Gefühl, Sprachklang und Volksnähe.
Die Lieder entstanden über einen Zeitraum von mehr als 15 Jahren und wurden zunächst nicht als Zyklus konzipiert. Lediglich zwei von ihnen – "Życzenie" (Der Wunsch) und "Wojak" (Der Kriegsmann) – erschienen noch zu Chopins Lebzeiten. Die übrigen veröffentlichte sein enger Freund Julian Fontana (1810–1869) erst 1857 postum in Paris, unter der gemeinsamen Opusnummer 74. Zwei weitere Lieder wurden 1910 hinzugefügt, als man bislang unbekannte Handschriften entdeckte.
Die Texte stammen fast ausschließlich von zeitgenössischen polnischen Dichtern, darunter Stefan Witwicki (1801–1847), Bohdan Zaleski (1802–1886), Wincenty Pol (1807–1872) und Adam Mickiewicz (1798–1855). Eine Ausnahme bildet das Lied „Piosnka litewska“ (Litauisches Lied), das auf einer litauischen Volksweise basiert und von Ludwik Osiński (1775–1838) ins Polnische übertragen wurde. Inhaltlich spiegeln die Lieder Themen wie Liebessehnsucht, patriotische Erinnerung, Naturverbundenheit und Abschied – allesamt in einfacher, liedhafter Form, aber stets mit Chopins unverkennbarem Ausdrucksgeist durchdrungen.
Trotz ihrer Schlichtheit weisen viele dieser Stücke eine feine harmonische Gestaltung und eine starke Verbindung zwischen Text und Musik auf. Die Klavierbegleitungen sind bewusst zurückhaltend, wirken aber niemals bloß illustrativ, sondern tragen das seelische Geschehen mit.
Besonders hervorzuheben ist die historisch informierte Gesamtaufnahme des Fryderyk-Chopin-Instituts in Warschau, die auf Originalinstrumenten realisiert wurde und in ihrer Schlichtheit wie auch klanglichen Authentizität neue Maßstäbe setzt. Ebenso verdienen moderne Aufnahmen – etwa mit Aleksandra Kurzak, Mariusz Kwiecień und Nelson Goerner – Beachtung, da sie die Gesangssprache respektieren und Chopins Lyrik sensibel gestalten.
Die Lieder op. 74 eröffnen eine poetische, oft melancholisch gefärbte Welt, die weit über den rein musikalischen Wert hinausweist. Sie bieten dem aufmerksamen Hörer – und insbesondere jenen mit polnischem Sprach- oder Kulturbewusstsein – einen berührenden Zugang zu Chopins innerem Exil, zu seiner sprachlichen und seelischen Heimat, die ihm im Pariser Exil stets gegenwärtig blieb.
Frédéric Chopin – 17 Lieder op. 74 (nach Fontanas Ausgabe von 1857)
Nr. 1. "Życzenie" – Der Wunsch
Nr. 2. "Wiosna" – Der Frühling
Nr. 3. "Smutna rzeka" – Der traurige Fluss
Nr. 4. "Hulanka" – Der Schwank / Die Lustbarkeit
Nr. 5. "Gdzie lubi" – Wo es ihr gefällt
Nr. 6. "Precz z moich oczu!"– Aus meinen Augen!
Nr. 7. "Śliczny chłopiec" – Der schöne Jüngling
Nr. 8. "Piosnka litewska" – Litauisches Lied
Nr. 9. "Pierścień" – Der Ring
Nr. 10. "Dwojaki koniec" – Zweierlei Ende
Nr. 11. "Moja pieszczotka" – Mein Geliebtes
Nr. 12. "Narzeczony" – Der Bräutigam
Nr. 13. "Z gór, gdzie dźwigal"i – Aus den Bergen, wo sie schleppten
Nr. 14. "Dumka" – Die Klage
Nr. 15. "Czary" – Der Zauber
Nr. 16. "Miód maliny" – Himbeerhonig
Nr. 17. "Wojak" – Der Kriegsmann
Die beiden später veröffentlichten Lieder:
"Śpiew z mogiłki" – Lied vom Grabstein und "Nie ma czego trzeba" – Es fehlt, was man braucht (oft als 18. gezählt, manchmal auch „ohne Opus“) haben keine offizielle Opusnummer, werden aber oft als Nr. 18 und 19 in Gesamtausgaben geführt.
Übersetzung ins Deutsche:
Nr. 1. "Życzenie" (Der Wunsch)
Text: Stefan Witwicki
"Wenn ich ein Sonnenschein am Himmel wär,
Dann strahlte ich nur für dich so sehr.
Nicht über Wasser, nicht über Wald,
Sondern für alle Zeit
Vor deinem Fenster nur für dich allein,
Wenn ich ein Sonnenschein könnt’ sein.
Wenn ich ein Vöglein aus diesem Hain,
Dann säng’ ich nicht in fremdem Land allein.
Nicht über Wasser, nicht über Wald,
Sondern für alle Zeit
Vor deinem Fenster nur für dich allein,
Warum kann ich kein Vöglein sein?"
Nr. 2: "Wiosna" (Der Frühling)
Text: Stefan Witwicki
"Der Mond ist aufgegangen, die Hunde ruh’n,
Nur leise klingt der Schlitten in der Nacht.
Im Garten blühen noch die Bäume sacht –
Doch Frühling naht in warmer Morgensglut.
Die Nachtigall singt schon im grünen Hain,
Ihr Lied erhebt sich durch die stille Nacht.
Und ich – ich warte, traurig, ohne Macht,
Auf deinen Blick, dein Wort, dein holdes Sein."
Nr. 3. "Smutna rzeka" (Der traurige Fluss)
Text: Bohdan Zaleski
"Du trauriger Fluss, wohin eilst du so schnell,
Was drängt dich, so ruhelos fortzustreben?
Warum rauscht dein Wasser so dunkel und grell,
Als gäb’ es im Lauf weder Rast noch Leben?
Weshalb dieser Lärm, dieses wütende Drängen?
Wirst du vom Schicksal zur Eile gezwungen?
Oder fliehst du vor Tränen, vor bitterem Bangen,
Die auf deinen Wellen einst leise gesungen?
Ach Fluss, o Gefährte so mancher Tränen,
In deinem Strom spiegelt sich unser Weinen.
Du trägst all das Leid, das wir kaum benennen,
Und schweigst doch beständig mit dunklem Scheinen."
Nr. 4. "Hulanka" (Der Schwank / Die Lustbarkeit)
Text: Stefan Witwicki
"Freunde, herbei! Lasst uns fröhlich sein,
Singt und tanzt bei Mondenschein!
Lachen soll das Feld, soll der Hain,
Und der Wein im Glase rein!
Wer liebt, wer singt, der lebt voll Glut,
Was soll uns Kummer, was Not und Wut?
Heut gehört dem Glück die Stund’,
Heut ist das Leben hell und bunt!
Und morgen? – Was schert uns das Morgenlicht?
Heut zählt, was singt, was tanzt, was spricht!
Kommt, reicht die Becher! Noch einmal Wein!
Fröhlich soll das Leben sein!"
Nr. 5. "Gdzie lubi" (Wo es ihr gefällt)
Text: Stefan Witwicki
"Wo es ihr gefällt, dort bleibt sie steh’n,
Ob in dunklen Wäldern oder auf Höh’n.
Ob der Weg steinig, der Himmel trüb –
Sie folgt nur dem, was das Herz ihr gibt.
Sie wandelt barfuß durchs dornige Land,
Sie fürchtet weder Sturm noch Brand.
Und wo sie ruht, ob auf Fels, ob auf Moos,
Ist’s ihr ein Königsschloss so groß.
Sie fragt nicht: „Ist dieser Ort mir fein?“
Ihr Blick spricht: „Hier mag ich gerne sein.“
Denn wo sie liebt, ist ihr daheim –
Ob unter Rosen oder unter Stein."
Nr. 6. "Precz z moich oczu!" (Aus meinen Augen!)
Text: Adam Mickiewicz
"Aus meinen Augen – geh!
Ich will dein Antlitz nicht mehr sehn,
Dein Blick verwirrt mein Herz – o weh!
Dein Lächeln raubt mir das Verstehn.
Warum nur hast du mich berührt,
Mit deiner Stimme, sanft und klar?
Ich war so frei, so ungeführt –
Nun quält mich, was einst Freude war.
Dein Schatten folgt mir durch die Zeit,
Ich kann nicht ruh’n bei Tag, bei Nacht.
Was du mir gabst, war Zärtlichkeit –
Doch in mir lebt nun Angst und Macht.
So geh – und schau nicht mehr zurück!
Nimm deinen Zauber mit ins Weite.
Denn was ich fühlte, war kein Glück –
Es war ein Spiel mit dunkler Seite."
Nr. 7. "Śliczny chłopiec" (Der schöne Jüngling)
Text: Bogdan Zaleski
"Ein schöner Jüngling ritt durch den Wald,
Die Augen wie Feuer, das Haar so bald
Vom Wind verwirrt, vom Glanz umflammt –
Er ritt, als ob er Träume umklammert.
Und wo er ritt, da lachte die Flur,
Die Mädchen warfen ihm Blumen nur.
Doch er – er sah nur einer nach,
Die ihm im Herzen Sehnsucht sprach.
Sie saß am Fenster, bleich vor Glück,
Und gab ihm keinen Blick zurück.
Doch als er fort war, rief sie leise:
„Komm bald zurück auf deine Weise.“"
Nr. 8. "Piosnka litewska" (Litauisches Lied)
Text: nach einem litauischen Volkslied, ins Polnische übersetzt von Ludwik Osiński
"Ein Mädchen ging im Waldesgrün,
Mit Kränzen bunt im Haar zu zieh’n.
Sie pflückte Blumen, sang ein Lied,
Da kam der Bursche, schlich im Schritt.
„Was trägst du da, du schöne Maid?“
„Nur Kräuter sind’s aus Wies’ und Heid’.“
„Und wem willst du den Kranz denn geben?“
„Dem, den ich lieb’ – für’s ganze Leben.“
Er nahm den Kranz mit starker Hand,
Und floh mit ihr ins weite Land.
Der Kranz verwelkt – die Zeit vergeht,
Doch ihre Liebe ewig steht."
Nr. 9. "Pierścień" (Der Ring)
Text: Stefan Witwicki
"Ich gab ihr einst den goldenen Ring,
Als Zeichen meiner Liebe.
Sie nahm ihn still und ohne Wort,
Doch ihr Blick sprach: „Ich bliebe.“
Nun trug sie ihn so manches Jahr,
Verborgen vor der Welt,
Ein leises Band, ein stummer Schwur,
Der sie zusammenhält.
Doch eines Tags kam sie zurück
Und legte ihn in meine Hand.
„Was war, das war. Ich liebe dich –
Doch andre Kräfte führ’n mich fort ins fremde Land.“"
Nr. 10. "Dwojaki koniec" (Zweierlei Ende)
Text: Wincenty Pol
"Ein Mädchen saß am Fenster still
Und spann mit weißer Hand.
Ein Jüngling stand im Hof davor,
Sein Herz in Lieb entbrannt.
Sie sprach: „Mein Herz ist nicht mehr frei,
Ein and’rer hat’s begehrt.
Er zog hinaus mit stolzem Blick
Und kehrt wohl nimmermehr.“
Der Jüngling wandte sich vom Hof
Mit Tränen im Gesicht.
Und sie – sie spann noch lange fort,
Doch sang von Liebe nicht."
Nr. 11. "Moja pieszczotka" (Mein Geliebtes)
Text: Adam Mickiewicz
"Mein zartes Lieb, mein süßes Herz,
Warum nur scheust du meinen Schmerz?
Warum, wenn ich dein Bild betrachte,
Ein Schatten deine Stirn umnachtet?
Ich liebe dich mit stiller Glut,
Ich lebte deinetwegen gut.
Wenn ich nicht bin, vergeh’n die Tage –
Doch meines Herzens Ruf ist Klage.
Du bist mein Trost, mein Himmelslicht,
Doch fern von mir – da strahlt es nicht.
Wenn du mir nah, bin ich bei Sinn,
Wenn du mir fern, vergeht mein Inn’."
Nr. 12. "Narzeczony" (Der Bräutigam)
Text: Bohdan Zaleski
"Ein Jüngling zieht zur Ferne hin,
Sein Herz ist still und voller Sinn.
Die Mutter fragt: „Wohin, mein Sohn?“
Er schweigt – nur fliegt sein Blick davon.
Sein Mädchen fragt: „Gehst du von mir?“
Er sagt: „Ich komm zurück zu dir.“
Und als die Sonne niederfiel,
War seine Spur schon längst im Spiel.
Sie wartete – die Zeit verging,
Er kam nicht heim mit Frühlingswind.
Nur leise flüstert Feld und Flur:
„Der Bräutigam ruht in der Natur.“"
Nr. 13. "Z gór, gdzie dźwigali" (Aus den Bergen, wo sie schleppten)
Text: Wincenty Pol
"Aus den Bergen, wo sie schwer Lasten trugen,
Wo der Wind durch finstre Wälder fuhr,
Zieht der Zug von Brüdern, müd vom Pflügen,
Heimwärts durch die dunkle Flur.
Ihre Schritte klingen dumpf im Dunkeln,
Keiner spricht, doch alle sind vereint.
Wie der Abend neigt sich ihre Seele,
Wie ein Lied, das leise weint.
Und sie denken an das ferne Leben,
An das Haus, an Mütter, Weib und Kind.
Doch sie schweigen – nur das Herz schlägt leise,
Wie ein Hauch im Bergeswind."
Nr. 14. "Dumka" (Die Klage)
Text: Bohdan Zaleski
"Wo ist mein Bruder, der mit mir ging,
Als früh der Ruf nach Freiheit erklang?
Er trug die Fahne, die stolz sich schwang –
Nun schweigt die Welt, kein Widerhall, kein Klang.
Wo ist mein Bruder, der stark und still,
Mir half durchs Leben, wie ich es will?
Verweht sein Schritt im Nebelgrau,
Und kalt der Stein, wo ich einst ihn sah.
Sie haben ihn, den aufrechten Mann,
Mit harter Hand ins Dunkel getan.
Ich frage den Himmel, ich frage den Fluss –
Doch keiner weiß, wohin er muss."
Nr. 15. "Czary" (Der Zauber)
Text: Stefan Witwicki
"Ich weiß nicht, was mir geschehen ist,
Seit du mir in die Augen sahst.
War’s ein Fluch? Ein Zauberbiss?
Dass du mich so nicht gehen ließst?
Dein Lächeln – es brannte wie ein Licht,
Dein Wort – es hallt in mir wie Pflicht.
Seit jener Stunde bin ich nicht frei,
Und deine Nähe zieht mich herbei.
Du hast mich nicht um mein Herz gebeten,
Und doch gehört es dir allein.
War’s Zauberkunst, ein Spiel mit Ketten?
Oder Liebe – soll es das gewesen sein?"
Nr. 16. "Miód maliny" (Himbeerhonig)
Text: Bohdan Zaleski
"Himbeerhonig süß und fein,
Könnt’ nicht süßer sein als dein
Lächeln, wenn du mit dem Blick
Fängst mein Herz und gibst’s nicht zurück.
Dein Wort ist wie frisches Quellwasser klar,
Wie Tau am Morgen, so wunderbar.
Wenn du sprichst, wird alles still –
Nur mein Herz, das schlagen will.
Ich ging durch Wald, durch Flur, durch Hag,
Doch nie war mir ein solcher Tag,
Wie als ich dich zum ersten Mal sah –
Und wusst’: Das Glück ist endlich da."
Nr. 17. "Wojak" (Der Kriegsmann)
Text: Bohdan Zaleski
"Über die Felder reitet er fort,
Der Kriegsmann, stolz und ohne Wort.
Die Kugel pfeift, die Trommel schlägt –
Doch er reitet, wo das Feuer trägt.
Er trägt kein Band, kein buntes Kleid,
Sein Auge kalt, sein Herz bereit.
Denn was ihm blieb, war nur das Schwert,
Seit Liebe floh und nichts mehr wehrt.
Und fällt er dort auf blut’ger Bahn,
So fragt kein Mensch: Wer war der Mann?
Nur eine weiß, was er verlor –
Und schweigt für immer – und weint nicht mehr."
Die beiden später veröffentlichten Lieder:
"Śpiew z mogiłki" (Lied vom Grabstein)
Text: Wincenty Pol
"Leg dich zur Ruh’, du müder Held,
Die Erde birgt dich sanft und still.
Kein Feind mehr naht, kein Ruf erschallt,
Die Nacht ist tief, wie du es willst.
Kein Klang von Waffen, keine Schlacht –
Nur Sterne stehn in stiller Wacht.
Und über deinem jungen Grab
Weint still der Wind, was keiner sagt.
Du warst ein Sohn der Heimat treu,
Im Tod so rein, im Leben frei.
Jetzt schläfst du dort, wo Mohn blüht rot –
Und schweigst – wie nur ein Held im Tod."
"Poseł" (Der Bote)
Text: Stefan Witwicki
"Sag ihr, du Wind, der durch Felder zieht,
Dass fern mein Herz für sie noch glüht.
Flüstre ihr leise, was ich empfand,
Als sie verschwand aus meinem Land.
Sag ihr, du Vogel, der Wolken streift,
Dass jede Stunde mein Herz nach ihr greift.
Dass ich bei Tag wie in dunkler Nacht
Nur an sie denke – in Liebe erwacht.
Sag ihr, du Stern, der am Himmel wacht,
Dass meine Seele zu ihr erwacht.
Dass in der Ferne, im weiten Raum,
Sie mir erscheint – wie ein schöner Traum."
Boléro op. 19
Frédéric Chopins Boléro op. 19 ist ein einzigartiges Klavierstück, das 1833 komponiert und 1834 veröffentlicht wurde. Obwohl der Titel auf spanische Tanztraditionen verweist, handelt es sich um eine originelle Synthese aus spanischen, französischen und polnischen Elementen.
Das Stück beginnt mit einer brillanten Einleitung in C-Dur, die durch kraftvolle Oktaven und eine festliche Atmosphäre gekennzeichnet ist. Anschließend folgt der Hauptteil in a-Moll, der die rhythmischen Merkmale eines Boléros aufgreift, jedoch mit Chopins charakteristischer Harmonik und Melodik angereichert ist. Im Verlauf des Stücks moduliert die Musik durch verschiedene Tonarten, darunter A-Dur, As-Dur und B-Dur, bevor sie triumphal in A-Dur endet.
Obwohl der Titel „Boléro“ auf einen spanischen Tanz hindeutet, weist das Stück starke Einflüsse polnischer Musik auf, insbesondere in der Rhythmik und Phrasierung, was zu der Bezeichnung „Boléro à la polonaise“ geführt hat. Die Kombination aus spanischem Flair und polnischer Ausdruckskraft macht dieses Werk zu einem besonderen Beispiel für Chopins kreative Synthese verschiedener musikalischer Traditione.
Es gibt mehrere bemerkenswerte Aufnahmen von Chopins Boléro op. 19, die unterschiedliche Interpretationsansätze bieten. Ich mag zwei Einspielungen:
1. Claire Huangci (* 22. März 1990 in Rochester, New York) ist eine US-amerikanische Pianistin. Sie lebt in Frankfurt am Main.
In ihrer Live-Aufnahme bringt sie eine klare Struktur und rhythmische Präzision zum Ausdruck, was dem Stück eine lebendige Dynamik verleiht.
2. György Cziffra (1921 - 1994) war ein ungarisch-französischer Pianist. Bekannt für seine virtuose Technik, bietet Cziffra eine kraftvolle und leidenschaftliche Interpretation, die die tänzerischen Elemente des Boléros betont.
Rondo in c-Moll op. 1 (1825)
Chopins erstes veröffentlichtes Werk, komponiert im Alter von 15 Jahren, zeigt bereits seine außergewöhnliche Musikalität. Das Rondo in c-Moll op. 1 ist geprägt von einer unorthodoxen, aber logisch aufgebauten Tonalität. Es beginnt in c-Moll, moduliert nach E-Dur und As-Dur und kehrt schließlich nach c-Moll zurück. Das Stück enthält sowohl brillante Passagen als auch lyrische Momente, die Chopins spätere Stilistik vorwegnehmen.
Widmung: Mademoiselle Caroline Hartmann (1807–1834)
Caroline Hartmann war die Tochter eines deutschen Beamten, der am preußischen Gesandtschaftshof in Warschau tätig war. Chopin kannte die Familie Hartmann aus dem Freundeskreis seiner Eltern. Sie war eine deutsche Pianistin und Schülerin von Frédéric Chopin.
Die Widmung ist Ausdruck höflicher Dankbarkeit, nicht romantischer Zuneigung.
Mein musikalischer Vorschlag:
Wladimir Aschkenasi (* 1937) – Seine Interpretation betont die jugendliche Energie und die strukturelle Klarheit des Stücks.
2. Rondo à la Mazur in F-Dur op. 5 (1826–28)
Das Rondo à la Mazur op. 5, komponiert im Alter von 16 Jahren, verbindet die Rondoform mit dem Rhythmus der polnischen Mazurka. Das Hauptthema in F-Dur ist lebhaft und tänzerisch, während ein zweites Thema in B-Dur, markiert als „Tranquillamente e cantabile“, eine lyrische Qualität aufweist. Das Stück zeigt Chopins frühe Originalität und seine Fähigkeit, nationale Elemente in klassische Formen zu integrieren.
Der Titel – „Abschied von Warschau“ (polnisch: Pożegnanie z Warszawą) – stammt nicht von Chopin selbst, sondern wurde nachträglich von polnischen Musikkritikern und Herausgebern vergeben. Der Name spielt auf die Tatsache an, dass Chopin dieses Werk um 1826–1828 komponierte, also kurz vor seiner endgültigen Abreise aus Polen im Jahr 1830.
Widmung: Alexandre Frey (1808–1878)
Alexandre Frey (auch Aleksander Frye) war ein Schweizer Jurist, Politiker und Mäzen.
Chopin widmete ihm das Stück wohl als Zeichen der Anerkennung für frühzeitige Unterstützung.
Mein musikalischer Vorschlag:
Kyohei Sorita (* 1994) – Seine Darbietung beim 18. Chopin-Wettbewerb zeichnet sich durch technische Brillanz und musikalische Ausdruckskraft aus.
3. Rondo in Es-Dur op. 16 (1832)
Das Rondo in Es-Dur op. 16, auch bekannt als „Introduction et Rondo“, wurde 1833 komponiert und ist Chopins einziges Rondo, das während seiner Pariser Zeit entstand. Es beginnt mit einer leidenschaftlichen Einleitung in c-Moll, gefolgt von einem freudigen Hauptthema in Es-Dur. Das Stück kombiniert brillante Passagen mit lyrischen Abschnitten und stellt hohe Anforderungen an die Technik und Ausdrucksfähigkeit des Pianisten.
Widmung: Madame la Comtesse Delphine Potocka
Gräfin Delphine Potocka (1807–1877) war eine enge Freundin und eine der berühmtesten weiblichen Musen Chopins.
Sie war eine gebildete und kunstsinnige Aristokratin, mit der Chopin in den 1830er Jahren in Paris freundschaftlich verbunden war. Gräfin Potocka erhielt auch später die Widmung seiner Nocturne op. 55 Nr. 2.
Mein musikalischer Vorschlag:
Fei-Fei Dong (* 1990) – Ihre Interpretation beim Chopin-Wettbewerb 2010 besticht durch technische Präzision und musikalische Sensibilität.
Fantaisie-Impromptu in cis-Moll, op. posth. 66
Komponiert 1834, veröffentlicht posthum 1855
Die Fantaisie-Impromptu in cis-Moll zählt zu den beliebtesten und zugleich meistgespielten Werken Frédéric Chopins – und das, obwohl (oder gerade weil) sie nicht zu seinen Lebzeiten veröffentlicht wurde. Erst nach seinem Tod erschien sie 1855 im Druck, ediert von seinem Freund und Nachlassverwalter Julian Fontana (1810–1869). Chopin selbst hatte die Veröffentlichung ausdrücklich untersagt – mutmaßlich, weil das Stück in Teilen stark an Beethoven erinnert, insbesondere an dessen Mondscheinsonate.
Chopins Fantaisie-Impromptu in cis-Moll op. posth. 66 trägt keine Widmung.
Das Werk ist in der typischen ABA'-Form angelegt – also dreiteilig mit Rückkehr des Anfangsmaterials:
A-Teil (Allegro agitato):
Der eröffnende Abschnitt stürmt mit tremolierenden Sechzehnteln und schroffen Akzenten los. Die rechte Hand läuft in rasenden Läufen, während die linke synkopisch begleitet. Rhythmisch besonders auffällig ist das 2:3-Verhältnis (Triolen gegen Zweiergruppen), das eine ständige innere Spannung erzeugt. Trotz virtuoser Oberfläche liegt eine klare formale Struktur zugrunde.
B-Teil (Moderato cantabile):
Plötzlich tritt eine Lyrik von seltener Zartheit ein. In Des-Dur gehalten, präsentiert sich eine der bekanntesten Chopin-Melodien – gesanglich, einfach, fast volkstümlich. Dieser Mittelteil ist reich an Wärme, Ausdruck und rubato-typischer Freiheit.
A'-Teil und Coda:
Der dramatische Eingang kehrt in leicht veränderter Form zurück, mündet jedoch in eine brillante, abschließende Coda, die das Werk mit einem Feuerwerk an Läufen und Akzenten beschließt.
Die Fantaisie-Impromptu ist technisch anspruchsvoll, aber durch ihre Eingängigkeit besonders beliebt bei Publikum und Pianisten.
Musikalisch steht sie an der Schnittstelle zwischen romantischer Ekstase und klassischer Formstrenge.
Das Stück ist ein hervorragendes Beispiel für Chopins Spiel mit Klangfarben, rhythmischer Überlagerung und poetischer Melodik.
Der Titel „Fantaisie-Impromptu“ stammt nicht von Chopin selbst, sondern wurde von Fontana eingefügt. Dennoch ist der Name treffend – das Werk verbindet freie Fantasie mit impulsivem Impromptu-Charakter.
Impromptu (frz. „aus dem Stegreif“) ist ein kurzer, frei gestalteter Klaviercharakterstück, meist im romantischen Stil, das den Eindruck einer spontanen Eingebung oder Improvisation erwecken soll. Typisch sind lyrisch-melancholische Melodien, oft mit virtuosen Passagen, meist in dreiteiliger Form (ABA).
Mein musikalischer Vorschlag:
Ich habe mich für Paul Bartons (* 1961) Interpretation von Chopins Fantaisie-Impromptu entschieden. Seine Darbietung dieses Werkes zeichnet sich durch eine bemerkenswerte Balance zwischen technischer Präzision und emotionaler Tiefe aus.
In seiner Aufnahme gelingt es Barton, die komplexe Polyrhythmik des Stücks – die Überlagerung von Sechzehnteln in der rechten Hand mit Triolen in der linken – mit beeindruckender Klarheit und Leichtigkeit zu präsentieren. Besonders hervorzuheben ist sein sensibler Umgang mit dem lyrischen Mittelteil in Des-Dur, den er mit einer warmen Klangfarbe und feinem Rubato gestaltet.
Bartons Interpretation ist nicht nur musikalisch überzeugend, sondern auch lehrreich. In einem separaten Video bietet er eine detaillierte Analyse der Fantaisie-Impromptu, in der er auf mögliche Gründe eingeht, warum Chopin die Veröffentlichung des Stücks zu Lebzeiten ablehnte, und erläutert die strukturellen und interpretatorischen Feinheiten des Werkes.
Für alle, die eine tiefere Verbindung zu diesem Meisterwerk suchen, bietet Paul Bartons Interpretation eine inspirierende und bereichernde Erfahrung.
Vier Mazurken op. 67
(Komponiert 1835–1849, veröffentlicht posthum 1855 durch Julian Fontana)
Die vier Mazurken op. 67 gehören zu den späten und weniger bekannten Beispielen dieser Gattung im Werk Chopins. Die Stücke wurden nicht als zusammenhängender Zyklus komponiert, sondern entstanden unabhängig voneinander über einen Zeitraum von etwa 14 Jahren. Erst posthum erhielten sie die Opusnummer 67. In ihnen lässt sich die Entwicklung vom charmanten Nationaltanz zur introspektiven, musikalisch sublimierten Form erkennen, die bei Chopin oft Träger tiefster persönlicher Empfindung ist.
Nr. 1 – Mazurka in G-Dur (1835)
Tempo: Vivace
Dauer: ca. 1½ Minuten
Diese Mazurka wirkt auf den ersten Blick wie ein heiteres Salonstück, doch unter der Oberfläche liegt bereits jene subtile rhythmische Raffinesse, die für Chopins Mazurken charakteristisch ist. Die Melodie ist volkstümlich geprägt, mit markanten Akzenten auf unbetonten Taktteilen – typisch für den Mazurka-Rhythmus.
In ihrer Schlichtheit erinnert sie an frühere Werke (z. B. op. 6), doch sie besitzt einen reizvollen Dialog zwischen den Händen: Die linke erzeugt mit ihren Oktav- und Terzbewegungen eine fast tänzerische Basis, während die rechte Hand darüber mit Leichtigkeit agiert.
Das Klangbild ist tänzerisch, hell, folkloristisch mit einer Prise Ironie.
Mein musikalischer Vorschlag:
Alexej Gorlatch (* 1988)
Nr. 2 – Mazurka in g-Moll (1849)
Tempo: Moderato
Dauer: ca. 2 Minuten
Komponiert im letzten Lebensjahr Chopins – eines seiner allerletzten Werke.
Diese Mazurka ist von tiefer Melancholie durchzogen. Der Einstieg ist schlicht, aber klanglich ausdrucksvoll – fast wie ein Abschied. Im Mittelteil hellt sich die Musik kurz auf (B-Dur), bevor das Hauptthema mit verhaltener Bitterkeit zurückkehrt. Harmonisch wagt Chopin subtile Modulationen, melodisch bleibt das Stück zurückhaltend – eine Verdichtung des Ausdrucks auf engstem Raum.
Die Musik wirkt innerlich sprechend, kaum tänzerisch – vielmehr wie ein gebrochener Erinnerungsruf.
Das Klangbild ist schwermütig, resignativ, kammermusikalisch introvertiert.
Meine musikalische Vorschläge:
Halina Czerny-Stefańska (1922–2001) – historisch geprägt, sehr würdevoll und schlicht. Die Einspielung spiegelt den Abschied von Chopins Leben wieder...
Eine bearbeitete Version aus dem Jahr 1951
Zweite Einspielung als Vorschlag:
Alexej Gorlatch
In dieser Mazurka zeigt Gorlatch eine tiefgründige emotionale Tiefe. Sein Spiel ist introspektiv und nuanciert, wobei er die melancholischen Elemente des Stücks hervorhebt. Die dynamische Gestaltung ist fein abgestimmt, was zu einer bewegenden Darbietung führt.
Nr. 3 – Mazurka in C-Dur (1835)
Tempo: Allegretto
Dauer: ca. 1 Minute
Diese Miniatur ist schlicht, lebendig und unmittelbar, fast wie ein tänzerisches Skizzenblatt. Sie zeigt Chopin als Feinzeichner kleiner Formen. Die Struktur ist klar zweitaktig gegliedert, mit einem reizvollen Wechselspiel aus Bewegung und kurzer Verharrung. Die Coda zitiert nochmals das Hauptmotiv und schließt mit einem Augenzwinkern.
Trotz ihres einfachen Tonsatzes verlangt die Mazurka einen sinnvollen agogischen Umgang und rhythmische Eleganz, um nicht belanglos zu wirken.
Das Klangbild ist leicht, verspielt, volkstümlich – mit humorvollem Unterton.
Mein musikalischer Vorschlag:
Artur Rubinstein (1887–1982), Aufnahme 1967
Rubinstein spielt diese kurze Mazurka mit unaufdringlicher Leichtigkeit und einem meisterhaften Gespür für die Form, ohne sie zu verkleinern oder zu übertreiben. Der Mazurka-Rhythmus – mit seiner charakteristischen Betonung der zweiten oder dritten Zählzeit – wirkt bei ihm fließend und tänzerisch, nicht mechanisch.
Die rechte Hand phrasiert klar, fast gesanglich, während die linke stützende Akzente setzt, ohne zu dominieren. Rubinstein findet die Balance zwischen Volkstanz und feiner Kunstform, ganz so, wie Chopin es gemeint haben dürfte. Keine Sentimentalität, kein Überdruck – aber viel inneres Lächeln und Charme.
Rubinstein spielt nie „gegen“ die Musik, sondern aus ihr heraus.
Er romantisiert nicht künstlich, sondern lässt die poetische Einfachheit wirken.
Auch in dieser kurzen Mazurka zeigt sich seine Fähigkeit, aus wenigen Takten ein stimmiges Ganzes zu formen.
Nr. 4 – Mazurka in a-Moll (1846)
Tempo: Andantino
Dauer: ca. 2½ Minuten
Dies ist das reifste und poetischste Stück der Sammlung – und zugleich eines der schönsten Beispiele für die späte Mazurka bei Chopin. Der Rhythmus wirkt weniger tänzerisch, mehr nach innen gewendet. Der melancholische Hauptgedanke wird mehrfach durchbrochen von klanglich entrückten Einschüben (F-Dur, D-Dur), die fast wie Erinnerungsfetzen erscheinen.
Chopin entfaltet hier eine vollendete Klangminiatur, deren Ausdruckskraft durch bewusst eingesetzte Pausen, harmonische Feinheiten und farbige Übergänge getragen wird.
Das Klangbild ist zart, verträumt, elegisch – mit tiefer innerer Bewegung.
Meinmusikalischer Vorschlag:
Artur Rubinstein
Rubinstein spielt diese Mazurka mit jener typischen Schlichtheit und inneren Würde, die seine späten Chopin-Aufnahmen auszeichnen. Der Klang ist warm, voll, aber nie schwer – der Anschlag bleibt immer geschmeidig und natürlich, ohne falsches Pathos. Schon in den ersten Takten fällt auf, wie gesanglich und ruhig er die Hauptmelodie phrasiert, ohne sie je sentimental zu überformen.
Der Rhythmus wirkt bei ihm wie selbstverständlich atmend – das Rubato ist nicht gezwungen oder „effektvoll“, sondern folgt dem inneren Atem der Musik. Besonders in dieser Mazurka, deren Melodie so schlicht und volksliedhaft beginnt, verleiht Rubinstein dem Stück eine unaufdringliche Tiefe. Seine Agogik ist subtil, fast unmerklich – und gerade deshalb wirkungsvoll.
Rubinstein modelliert die Form ohne Brüche. Die Episode in F-Dur, die als lyrischer Seitensatz erscheint, erhält bei ihm eine verhaltene Aufhellung, ohne dass der Grundton der Melancholie verloren geht. Auch die Rückkehr zur a-Moll-Thematik geschieht organisch – als sei alles aus einem inneren Gesang geflossen.
Die harmonischen Schattierungen, die Chopin im Hintergrund dieses kurzen Werkes anlegt, bringt Rubinstein nicht analytisch, sondern instinktiv zur Geltung. Es ist ein Spiel der inneren Farben, nicht der Effekte.
Die vier Mazurken op. 67 wirken auf den ersten Blick wie unscheinbare Miniaturen – doch sie offenbaren, bei feinfühliger Interpretation, eine immense stilistische Spannweite zwischen früher Volkstümlichkeit und spätromantischer Innerlichkeit. Besonders die Mazurken Nr. 2 und 4 gehören zu Chopins intimsten und lyrischsten Werken.
Vier Mazurken op. 68
Komponiert zwischen 1827 und 1849, posthum veröffentlicht 1855 durch Julian Fontana (1810–1869)
Diese vier Mazurken entstanden über einen Zeitraum von mehr als zwei Jahrzehnten und spiegeln die stilistische Entwicklung Chopins von seinen frühen Jahren bis kurz vor seinem Tod wider. Sie wurden nicht als zusammenhängender Zyklus konzipiert, sondern erst nach seinem Tod zusammengefasst.
Nr. 1 – Mazurka in C-Dur (1827)
Tempo: Vivace
Dauer: ca. 1½ Minuten
Dieses frühe Werk zeigt Chopins jugendliche Frische und seine Affinität zur polnischen Volksmusik. Die Melodie ist lebhaft und tänzerisch, mit einer klaren Struktur und einfachen Harmonien. Die rhythmische Betonung auf der zweiten Zählzeit verleiht dem Stück den charakteristischen Mazurka-Rhythmus.
Diese frühe Mazurka entstand, als Chopin gerade einmal 17 Jahre alt war. Sie trägt noch deutlich die Züge eines stilisierten Gesellschaftstanzes – leicht, unbeschwert, mit klarer Periodik. Das C-Dur verleiht der Musik eine helle, unverfälschte Klangfarbe. Harmonisch einfach gehalten, besticht das Stück durch rhythmische Vitalität und eine gewisse burschikose Frische.
Musikalischer Vorschlag:
Alexej Gorlatch (* 1988) – Eine moderne Aufnahme mit klarem Klang und stilistischer Authentizität.
Nr. 2 – Mazurka in a-Moll (1827)
Tempo: Lento
Dauer: ca. 2 Minuten
Diese Mazurka zeigt eine introspektive Seite Chopins. Die melancholische Melodie und die subtilen harmonischen Verschiebungen verleihen dem Stück eine tiefe emotionale Resonanz. Die Verwendung von Rubato und die expressive Dynamik erfordern ein sensibles Interpretationsvermögen.
Musikalischer Vorschlag:
Marjan Kiepura (* 1950) – Eine Interpretation mit besonderem Augenmerk auf die lyrischen Qualitäten des Stücks.
Nr. 3 – Mazurka in F-Dur (1830)
Tempo: Allegro ma non troppo
Dauer: ca. 1½ Minuten
Diese Mazurka kombiniert volkstümliche Elemente mit raffinierter Harmonik. Die lebhafte Melodie und die rhythmischen Akzente verleihen dem Stück einen tänzerischen Charakter, während die harmonischen Modulationen Chopins kompositorische Reife zeigen.
Musikalischer Vorschlag:
Alexej Gorlatch – Seine Aufnahme bietet eine klare Struktur und rhythmische Präzision.
Nr. 4 – Mazurka in f-Moll (1849)
Tempo: Andantino
Dauer: ca. 2½ Minuten
Diese letzte Mazurka, die kurz vor Chopins Tod entstand, ist von tiefer Melancholie geprägt. Die chromatischen Harmonien und die expressive Melodie verleihen dem Stück eine besondere emotionale Intensität. Es gilt als eines seiner persönlichsten Werke. Es ist ein intimes, nach innen gewandtes Meisterstück. Die f-Moll-Tonart verleiht dem Stück eine düstere Klangfärbung; die harmonischen Wendungen sind subtil und überraschend. Die Melodie scheint nicht zu tanzen, sondern zu flüstern.
Das Klangbild ist eine Reduktion auf das Wesentliche. Fast schattenhaft, mit einer Aura des Rückzugs. Kein Prunk, sondern Erinnerung und Resignation.
Musikalischer Vorschlag:
Arthur Rubinstein – Eine Aufnahme, die durch ihre Klarheit und Ausdruckskraft überzeugt.
Die unter der Opusnummer 68 zusammengefassten vier Mazurken bieten einen faszinierenden Bogen durch Chopins gesamtes kompositorisches Leben. Sie markieren Stationen seiner Entwicklung – von der frühen Annäherung an volkstümliche Tanzformen bis hin zu einer reifen, hochpoetischen Tonsprache, in der sich nationale Identität und persönliche Ausdruckswelt untrennbar miteinander verbinden. Dass alle vier Stücke erst posthum veröffentlicht wurden, ist dabei keineswegs zufällig: Chopin betrachtete diese Werke offenbar nicht als für den Konzertsaal bestimmte Kompositionen, sondern eher als musikalische Notate des Privaten – geschrieben nicht für die Öffentlichkeit, sondern für sich selbst oder einen kleinen, eingeweihten Kreis von Freunden. Gerade in dieser Intimität entfalten sie ihre eigentliche Kraft.
Zwei Walzer op. 69
Walzer in As-Dur op. 69 Nr. 1 – „Abschiedswalzer“ (1835)
Widmung: Élise-Thérèse Gavard
Dieser Walzer, 1835 komponiert, gehört zu den beliebtesten Stücken Chopins – nicht zuletzt wegen seines zart-melancholischen Tons und der romantischen Legende, die sich um seine Entstehung rankt. Der Beiname „Abschiedswalzer“ entstammt einer oft wiederholten, wenn auch historisch schwer zu belegenden Anekdote: Chopin habe das Stück in einem Moment des Abschieds improvisiert – angeblich auf einem Klavierdeckel – als Zeichen flüchtiger Zuneigung gegenüber Élise Gavard, einer seiner Pariser Klavierschülerinnen.
Gavard war eine wohlhabende junge Frau, die in Chopins Pariser Umkreis Klavierunterricht erhielt. In seinem Briefwechsel wird sie mit lobenden Worten erwähnt; Chopin bescheinigte ihr ein „ausgezeichnetes musikalisches Talent“. Die Widmung dieses Walzers ist zwar privat, aber nicht zufällig – sie unterstreicht den Charakter des Werkes als „intimen musikalischen Brief“.
Aus heutiger Sicht ist jedoch zu beachten, dass die Widmung an Élise Gavard nicht zeitgleich mit der Komposition des Walzers entstand. Das Werk wurde bereits 1835 geschrieben – also noch bevor Élise Gavard in Chopins Umfeld trat, was erst Mitte der 1840er Jahre dokumentiert ist. Die überlieferte Widmung stammt nicht aus einer Erstausgabe, sondern aus späteren handschriftlichen Quellen. Es ist daher möglich – und durchaus im 19. Jahrhundert üblich –, dass Chopin ein früheres Werk nachträglich einer anderen Person zuordnete. Die oft zitierte Erzählung vom improvisierten Abschied bleibt eine Legende und kann nicht durch authentische Quellen belegt werden.
Manche Autoren haben auch versucht, eine Verbindung zur polnischen Malerin und Musikerin Maria Wodzińska (1819–1896) herzustellen, mit der sich Chopin mutmaßlich 1836 verlobte. Da der Walzer im Jahr 1835 entstand – im gleichen Jahr, in dem Chopin Maria in Dresden kennenlernte, liegt ein zeitlicher Zusammenhang nahe. Doch auch hier fehlen direkte Hinweise in Chopins Briefen oder Werkniederschriften. Die Liebesgeschichte mit Maria Wodzińska, die tragikomische „Pantoffel-Episode“ und die geplante Verlobung gehören zur bekannten Biographie Chopins, stehen aber nicht in nachweisbarer Beziehung zu diesem Walzer.
Der Walzer beginnt mit einem sanft schwebenden Thema in As-Dur – elegant, leichtfüßig und fast träumerisch, geprägt von der typischen tänzerischen Bewegung im 3/4-Takt, jedoch nicht zum Tanzen bestimmt. Die Melodie scheint sich über die Harmonie zu erheben, wie ein bittersüßes Lächeln über einer traurigen Erinnerung. Auffällig sind die harmonischen Modulationen – ein Übergang ins lyrischere Des-Dur und ein Zwischenspiel in f-Moll –, die den inneren Ausdruck von Wehmut und Sehnsucht verstärken.
In den Takten 33 bis 48 erreicht das Stück einen emotionalen Höhepunkt – ein Abschnitt in Des-Dur mit weit ausschwingender Melodie über einer schimmernden Begleitung. Diese Passage verlangt vom Interpreten eine differenzierte Klangbalance zwischen rechter und linker Hand – der Gesangslinie muss durch atmende Phrasierung Raum gegeben werden.
Musikalischer Vorschlag:
Dinu Lipatti (1917–1950), Aufnahme Juli 1950
Die Genfer Aufnahmen vom Juli 1950, eingespielt von Dinu Lipatti (1917–1950), gehören zu den bewegendsten Zeugnissen pianistischer Kunst des 20. Jahrhunderts – nicht nur aufgrund ihres musikalischen Niveaus, sondern auch durch den tragischen biographischen Hintergrund.
Dinu Lipatti – Die Genfer Walzer-Aufnahme als Vermächtnis
Im Juli 1950, geschwächt durch eine fortschreitende Krebserkrankung (Hodgkin-Lymphom), begab sich Dinu Lipatti nach Genf, wo er in mehreren Aufnahmesitzungen (3., 6., 8., 9., 11. und 12. Juli) eine Reihe von Werken aufnahm, darunter 14 Walzer von Frédéric Chopin. Es sollte seine letzte Studioaufnahme sein, wenige Monate vor seinem Tod am 2. Dezember 1950 im Alter von nur 33 Jahren.
Trotz seiner schweren Krankheit – er spielte oft unter Morphineinfluss und mit stark geschwächter Physis – zeigen diese Aufnahmen eine beispiellose Klarheit, innere Ruhe und poetische Durchdringung. Lipatti spielt Chopins Walzer nicht als brillante Tanzstücke, sondern als intime Reflexionen. Besonders op. 69 Nr. 1 (As-Dur) gewinnt unter seinen Händen einen fast elegischen, entrückten Charakter. Der sogenannte „Abschiedswalzer“ klingt bei ihm tatsächlich wie ein musikalisches Lebewohl.
Walzer in h-Moll op. 69 Nr. 2 (1829)
Dieser Walzer entstand bereits 1829 in Wien, als Chopin kaum 20 Jahre alt war, wurde aber erst posthum veröffentlicht. Im Gegensatz zur Anmut der As-Dur-Version wirkt diese Komposition reifer und introspektiver, mit einem dunkleren Klangbild und einem deutlichen Ausdruck innerer Zerrissenheit. Es ist kein galanter Salonwalzer, sondern ein nachdenkliches, fast elegisches Charakterstück.
Der Beginn in h-Moll ist von gedämpfter Melancholie durchzogen. Die Hauptmelodie ist schlicht, beinahe resignativ, doch sie entfaltet in der Wiederholung eine klangliche Intensität, die sich subtil steigert. Chopin verwendet hier eine sparsamere Textur und spielt mit rhythmischer Flexibilität – das Rubato wird zur Sprache der Emotion. Die Mittelstimmen sind oft ebenso bedeutungsvoll wie die Oberstimme und verlangen höchste Sorgfalt im Klangaufbau.
Der Mittelteil in H-Dur (eine Aufhellung der Grundtonart, Takt 49–60) bringt einen Moment des Trostes – fast wie ein inneres Aufatmen. Doch diese Lichtung bleibt nicht lange bestehen; das Hauptthema kehrt zurück, gedämpfter denn je, als ob sich der Melancholie nun auch eine gewisse Müdigkeit zugesellt.
Die beiden Walzer op. 69 zeigen Chopin als Lyriker des Klaviers – als Komponist, der persönliche Emotionen in Miniaturen von großer Tiefe und klanglicher Eleganz zu verwandeln vermag. Während der „Abschiedswalzer“ das Bild einer flüchtigen Zärtlichkeit zeichnet, offenbart der h-Moll-Walzer die Tiefe einer Seele, die bereits früh mit Abschied, Sehnsucht und Einsamkeit vertraut war.
Für den Interpreten stellen beide Stücke keine technischen Herausforderungen im engeren Sinne dar – wohl aber interpretatorische. Es geht um Klangvorstellung, Atmung, feines Rubato und vor allem: um das Sprechenlassen des inneren Tons.
Die beiden Walzer op. 69 wurden posthum im Jahr 1855 von Julian Fontana (1810–1869) veröffentlicht.
Musikalischer Vorschlag:
Wladimir Aschkenasi (* 1937), Aufnahme 1981
Wladimir Aschkenasi ist bekannt für seine klaren, strukturierten und dennoch emotional ausdrucksstarken Interpretationen. In seiner Darbietung des Walzers h-Moll op. 69 Nr. 2 von Frédéric Chopin gelingt es ihm, diese Eigenschaften in eindrucksvoller Weise zu vereinen. Besonders auffällig ist seine klangliche Klarheit – jede Stimme bleibt transparent, jede Nuance wird durchhörbar gestaltet, wodurch sich die feine Struktur des Stücks in voller Tiefe entfaltet.
Er wählt ein gemäßigtes, fast zurückhaltendes Tempo, das dem melancholischen Grundcharakter des Walzers ideal entspricht und dem Werk Raum für atmende Phrasierung und Ausdruck verleiht. Das Rubato wird von Ashkenasi äußerst feinfühlig eingesetzt: Es wirkt nie aufgesetzt oder manieriert, sondern verleiht dem musikalischen Verlauf organische Beweglichkeit und innere Spannung.
Trotz aller formalen Strenge fehlt es dieser Interpretation keineswegs an emotionaler Tiefe. Vielmehr gelingt es Ashkenas, die introspektive Dimension dieses Walzers in schlichter, berührender Klarheit hörbar zu machen – als leisen inneren Monolog, der nichts beweisen will, sondern aus sich selbst heraus spricht.
Seine Einspielung bietet somit eine ausgewogene Verbindung aus technischer Präzision und poetischer Empfindung – ein Ansatz, der sowohl analytisch hörende Zuhörer anspricht als auch jene, die in Chopins Musik vor allem eine seelische Klangsprache erkennen.
Drei Walzer op. 70
Erstveröffentlichung: postum 1855 durch Julian Fontana (1810–1869)
1. Walzer in Ges-Dur (1835)
Der Walzer in Ges-Dur ist ein Inbegriff von tänzerischer Noblesse. Das Stück entfaltet seine Wirkung durch das Wechselspiel zwischen tänzerischer Leichtigkeit, melodischem Charme und harmonischer Raffinesse. Bereits der Eröffnungstakt mit seiner unverkennbaren rhythmischen Geste – Auftaktfigur, dann ein graziler Schwung – lässt die für Chopin so typische Verbindung von tänzerischem Elan und lyrischer Poesie erkennen.
Die klare Periodenstruktur, das Spiel mit motivischer Verknappung sowie überraschende Modulationen – etwa in den B-Teil – verleihen dem Walzer eine klassische Balance zwischen Spielfreude und Noblesse. Besonders auffällig ist die durchweg diskrete, niemals aufdringliche Virtuosität, etwa in den gebrochenen Akkorden und der polierten linken Hand.
Musikalischer Vorschlag:
Dinu Lipatti (1917–1950), Aufnahme 1947, EMI – Unnachahmliche Noblesse, samtener Ton, unendliche Phrasierung. Legendär. (ab der Minute 35:52)
2. Walzer in f-Moll (1841)
Ein Walzer von dunklerem Charakter, getragen von wehmütiger Melancholie. Schon das erste Thema erinnert an einen innigen Gesang – beinahe einem Nocturne verwandt. Die Harmonik weicht mehrfach vom Erwartbaren ab und verstärkt so die eindringliche Expressivität des Stückes.
Der Mittelteil in As-Dur bringt einen kurzen, fast tröstlichen Lichtblick, wird aber bald von der Rückkehr des ernsten Hauptthemas verdrängt. Die letzten Takte enden resignativ – ohne große Geste, ohne brillanten Abschluss. Stattdessen wirkt der Schluss fast wie ein Verlöschen im Schatten.
Musikalisch bemerkenswert: die expressive Chromatik und das feine Rubato-Spiel, das bei guter Interpretation wie ein klanglicher Seufzer durch die Takte schwebt.
Musikalischer Vorschlag:
Artur Rubinstein, Aufnahme 1963
Seine Interpretation besticht durch Eleganz, rhythmischen Witz und tänzerische Präsenz.
3. Walzer in Des-Dur (1835)
Ein schwungvoller, fast brillanter Gesellschaftswalzer, der mit tänzerischer Leichtigkeit und glänzender Oberfläche auftritt. Chopin spielt hier mit repetitiven Strukturen, synkopierten Akzenten und überraschenden harmonischen Rückungen.
Das Hauptthema erinnert an einen Salon voller Lichter und drehender Paare, während die Mittelabschnitte mehr motivische Entwicklung und klangliche Tiefe bieten. Besonders die linke Hand sorgt mit ihren gleichmäßig pulsierenden Begleitfiguren für eine stabile rhythmische Grundlage, auf der die rechte Hand freie Melodiebögen webt.
Die Coda bringt eine Steigerung bis zu einem eleganten, leicht virtuosen Schluss – nicht pompös, sondern stilvoll zurückgenommen.
Musikalischer Vorschlag:
Wladimir Aschkenasi – Viel Spielwitz, große pianistische Souveränität.
Trois Polonaises, op. 71 (postum)
Die drei Polonaisen op. 71, die erst nach Chopins Tod im Jahr 1855 von Julian Fontana (1810 - 1869) veröffentlicht wurden, gehören zu den weniger bekannten, doch reizvollen Beispielen für Chopins lebenslange Auseinandersetzung mit der polnischen Nationaltanzform. Während ihre Popularität im Schatten der großen Polonaisen in As-Dur op. 53 oder A-Dur op. 40 Nr. 1 steht, offenbaren sie dem aufmerksamen Hörer viel von Chopins künstlerischer Entwicklung – von der jugendlichen Experimentierfreude bis zur reifen Ausdruckstiefe.
Polonaise in d-Mollm op. 71 (1827)
Diese früheste der drei Polonaisen entstand, als Chopin erst 17 Jahre alt war. Sie ist noch stark von den formalen Konventionen der klassischen Polonaise geprägt, doch bereits durchdrungen von einer persönlichen Handschrift. Die Einleitung wirkt feierlich, fast martialisch, mit markanten Oktaven und einer energischen Rhythmik. Im Hauptteil entfaltet sich eine Melodie, die zwischen heroischer Gebärde und melancholischer Lyrik changiert – ein typischer Ausdruck jenes polnischen Nationalstolzes, den Chopin mit diesem Genre stets verband.
Musikalische Beispiele:
1. Garrick Ohlsson (* 1948), Gewinner des Internationalen Chopin-Wettbewerbs 1970, hat eine vollständige Aufnahme von Chopins Werken für Klavier veröffentlicht, darunter auch die Polonaisen op. 71. Seine Interpretationen werden für ihre kraftvolle und engagierte Spielweise gelobt. Laut "The Mail on Sunday" bietet Ohlsson eine Darbietung, die dem Stil der Chopin-Zeit nahekommt. "International Record Review" bezeichnet seine Aufnahme als herausragende Leistung, die jeder Chopin-Liebhaber besitzen sollte.
2. Halina Czerny-Stefańska (1922 - 2001), eine renommierte polnische Pianistin, ist bekannt für ihre authentischen und einfühlsamen Interpretationen von Chopins Werken. Ihre Aufnahmen zeichnen sich durch technische Präzision und musikalische Sensibilität aus. Ihre Eunspielung von Chopins op. 71 wird hoch geschätzt. (Aufnahme: 1959)
Polonaise in B-Dur (1838)
Diese mittlere Polonaise op. 71 zeigt einen Chopin, der sich bereits mitten in seiner künstlerischen Reife befindet. Sie wirkt eleganter, beinahe tänzerischer als die anderen beiden Stücke, wobei der typisch synkopierte Rhythmus der Polonaise mit melodischer Leichtigkeit verbunden wird. Besonders reizvoll ist die harmonische Farbenvielfalt, die Chopin dem scheinbar einfachen Formmodell abgewinnt. Auch das Trio, ein lyrischer Mittelteil, lässt einen Hauch von Walzeridylle durchscheinen, ohne je in Banalität zu verfallen.
Musikalische Beispiele:
1. Garrick Ohlsson – Die Interpretation der Polonaise in B-Dur, op. 71 Nr. 2 zeichnet sich durch ein rundes, klares Klangbild aus, das in jeder Phase durch eine subtile Agogik und fein modellierte Phrasierung getragen wird. Ohne den Charakter der Polonaise zu überzeichnen, entfaltet sich hier ein vornehm zurückhaltender Ausdruck, der sowohl die rhythmische Eleganz als auch die melodische Linienführung eindrucksvoll zur Geltung bringt.
Besonders hervorzuheben ist die Verbindung klassischer Noblesse mit einem feinen, stets natürlich wirkenden inneren Puls. Die tänzerischen Elemente verlieren nie ihre Würde, und selbst die harmonischen Feinheiten werden mit ruhiger Hand gezeichnet – nichts wirkt überbetont, nichts zufällig. Gerade diese interpretatorische Ausgewogenheit lässt das Werk in seiner strukturellen Klarheit wie auch in seinem poetischen Gehalt erstrahlen.
Insgesamt bietet diese Einspielung eine ausgesprochen stilvolle und geschmackssichere Lesart – ideal geeignet für ein repräsentatives Hören, das sowohl Kenner als auch sensible Ersthörer anspricht. (Track 9 auf der CD)
2. Die türkische Pianistin Idil Biret (* 1941) bietet in ihrer Einspielung der Polonaise in B-Dur, op. 71 Nr. 2 eine sachlich-klare Lesart, die sich wohltuend von interpretatorischer Überfrachtung fernhält. Ihr Klangbild ist direkt und transparent, beinahe kammermusikalisch in der Anlage – ein Zugang, der dem Stück eine strukturierende Klarheit verleiht und den architektonischen Aufbau besonders deutlich hervortreten lässt.
Was bei anderen Interpreten in Rubato und affektgeladener Phrasierung schwelgt, bleibt bei Biret kontrolliert, metrisch sauber und unaufgeregt. Dabei wahrt sie durchgehend eine gewisse klangliche Distanz, die das Werk weniger als romantisches Bekenntnisstück denn als stilisierte Tanzform erscheinen lässt. Gerade dadurch eignet sich diese Aufnahme hervorragend für Hörer, die sich einen analytischen Zugang zur Komposition wünschen oder deren formale Anlage und harmonische Fügung in aller Ruhe nachvollziehen möchten.
So mag Birets Interpretation für manche Hörer vielleicht etwas nüchtern erscheinen – doch gerade in dieser Zurückhaltung liegt ihre Stärke: Sie lässt das Werk für sich selbst sprechen, frei von interpretatorischem Pathos. Eine Empfehlung für Kenner, die auf der Suche nach struktureller Transparenz und einem klaren Blick auf Chopins kompositorisches Handwerk sind.
Polonaise in f-Moll (1846)
Die späteste der drei Polonaisen ist zugleich die reifste und persönlichste. Sie entstand in einer Phase zunehmender gesundheitlicher und seelischer Erschöpfung Chopins, was sich auch im dunkleren, introspektiven Charakter des Werkes widerspiegelt. Die Hauptthemen sind von schroffer Düsternis, oft unterbrochen von eruptiven Akzenten und harmonischen Verwerfungen. Das Mittelteil-Thema in As-Dur ist von schwermütiger Noblesse, bevor das Hauptthema wieder in seinen klagenden Gestus zurückkehrt. Diese Polonaise kann als ein spätes musikalisches Bekenntnis zur verlorenen Heimat verstanden werden – voller Würde, aber auch von Schmerz durchzogen.
Musikalische Beispiele:
1. Garrick Ohlssons Interpretation der Polonaise Nr. 3 in f-Moll, op. 71 Nr. 3 von Frédéric Chopin wird von der Fachwelt hoch geschätzt und gilt als herausragendes Beispiel für eine stilistisch ausgewogene und tiefgründige Lesart dieses spätromantischen Werkes.
Ohlsson, der 1970 als erster US-Amerikaner den Internationalen Chopin-Wettbewerb in Warschau gewann, bringt in dieser Aufnahme seine umfassende Erfahrung und sein tiefes Verständnis für Chopins Musik zum Ausdruck. Sein Spiel zeichnet sich durch eine kraftvolle und engagierte Darbietung aus, die von der Kritik als besonders authentisch und stilistisch überzeugend beschrieben wird. Die Aufnahme profitiert zudem von einer hervorragenden Klangqualität, die es ermöglicht, die feinen Nuancen und die strukturelle Klarheit des Stückes voll zur Geltung zu bringen. (Track 10)
2. In der Interpretation von Wladimir Aschkenasi (* 1937) gewinnt Chopins späte Polonaise in f-Moll, op. 71 Nr. 3 eine eigentümliche Klarheit und innere Geschlossenheit. Die Aufnahme offenbart eine klangliche Sprache, die fern von Effekthascherei die Essenz des Werkes in den Vordergrund rückt.
Aschkenasis Spiel besticht durch eine präzise Artikulation und ausgewogene Dynamik, die das dramatische Relief der Polonaise zwar deutlich modellieren, dabei jedoch nie ins Deklamatorische abgleiten. Die rhythmisch markanten Passagen behalten ihre Strenge und Kraft, während der lyrische Mittelteil in As-Dur mit nobler Zurückhaltung gestaltet wird – wie ein flüchtiger Traum, den der Ernst der Rahmenpartien bald wieder verdrängt.
Besonders eindrucksvoll ist die emotionale Tiefenschärfe, mit der Aschkenasi die melancholischen Schatten dieser Komposition hörbar macht. Ohne zu dramatisieren, lässt er die innere Spannung des Werkes allmählich wachsen, getragen von einer klugen Tempowahl und feinsinniger Phrasierung. Hier spricht ein Musiker, der Chopins Werk nicht mit romantisierender Weichzeichnung überhöht, sondern mit Ernsthaftigkeit und innerer Würde durchdringt.
Diese Interpretation bietet eine bemerkenswerte Balance zwischen struktureller Klarheit und seelischer Ausdruckskraft – sie ist analytisch im besten Sinne und doch voller leiser, wirklicher Emotion. Für Hörerinnen und Hörer, die Chopins Spätstil in seiner verhaltenen Größe verstehen möchten, stellt Aschkenasis Deutung eine wertvolle, geradezu vorbildliche Ergänzung zu etwa Ohlssons großformatiger Lesart dar. Eine Aufnahme, die man immer wieder hören kann – und jedes Mal ein wenig tiefer versteht.
Drei Etüden ohne Opuszahl – Trois Nouvelles Études
"Composées pour la Méthode des Méthodes", Paris 1840 – postum nicht in die offiziellen Opusreihen aufgenommen
Diese drei kurzen Etüden entstanden zu einem besonderen Anlass: Chopin wurde eingeladen, zur "Méthode des Méthodes", einer pädagogisch-virtuosen Anthologie für Klavierunterricht, eigene Beiträge beizusteuern. Anders als seine monumentalen Etüdensammlungen op. 10 und op. 25 sind diese drei Stücke kurz, prägnant und auf spezifische technische Fertigkeiten ausgerichtet, ohne jedoch auf künstlerischen Ausdruck zu verzichten.
1. Etüde in f-Moll – Andantino
Diese Etüde beschäftigt sich mit dem Konflikt zwischen Triolen (rechte Hand) und geraden Achteln (linke Hand). Die melodische Linie verläuft elegant gebogen und wird durch eine fließende Bewegung gehalten. Der Pedalgebrauch muss subtil sein, um den rhythmischen Kontrast nicht zu verwischen.
Stilistisch wirkt das Stück wie ein lyrisches Mini-Nocturne mit etüdenhaftem Charakter – zurückhaltend, aber raffiniert.
2. Etüde in As-Dur – Allegretto
Auch hier steht das Spiel gegenläufiger rhythmischer Ebenen im Vordergrund. Die rechte Hand spielt Triolen, die linke durchgehend Achtel – ein beliebtes polyrhythmisches Motiv bei Chopin. Der Ton ist freundlicher, fast tänzerisch, mit einem Hauch von salonhafter Eleganz. Die Etüde wirkt trotz ihrer Kürze charmant und lebendig.
3. Etüde in Des-Dur – Allegretto
Diese Etüde ist die technisch anspruchsvollste der drei. Die rechte Hand muss zwei Ebenen voneinander absetzen: die Mittelstimme wird staccato gespielt, die Oberstimme gleichzeitig legato – ein Paradebeispiel für Unabhängigkeit der Finger und Stimmführung.
Die Melodie liegt im oberen Register, während das rhythmisch präzise staccatierte Spiel darunter eine Art Begleitung simuliert. Trotz der technischen Herausforderung darf der Ausdruck nicht verloren gehen: das Stück soll singen, nicht mechanisch wirken.
Diese drei Etüden sind zwar didaktisch motiviert, doch weit entfernt von bloßer Fingerübung. Sie zeigen Chopin als poetischen Pädagogen, der selbst kleinste Formen mit Ausdruckstiefe füllt. Ihre Herausforderung liegt nicht in donnernder Brillanz, sondern in rhythmischer Unabhängigkeit, klanglicher Differenzierung und feinem Stimmenbewusstsein – allesamt zentrale Elemente des Chopin-Stils.
Musikalische Vorschläge:
1. Artur Rubinstein (1887–1982):
Arthur Rubinsteins Interpretation der Trois Nouvelles Études (Aufnahme 1958) gehört zu den ausgewogensten und musikalisch reifsten Darstellungen dieser Werke. Seine Spielweise verbindet natürliche Eleganz mit feiner Phrasierungskunst, wobei er die technischen Herausforderungen scheinbar mühelos überwindet, um den poetischen Kern der Musik freizulegen.
In der Etüde in f-Moll (Andantino) gelingt es ihm, den fließenden Charakter der Triolenbewegung mit einer subtilen inneren Spannung aufzuladen. Die Gesangslinie bleibt stets präsent, getragen von einem warmen, kultivierten Ton, der sich aus seiner tiefen Erfahrung mit Chopins Lyrik speist.
Die Etüde in As-Dur (Allegretto) wird bei Rubinstein nicht zur reinen Fingerübung – vielmehr betont er den tänzerischen, fast scherzhaften Charakter, ohne je ins Mechanische zu verfallen. Die rhythmische Balance zwischen den Händen ist makellos, seine Artikulation transparent und souverän.
Besonders hervorzuheben ist die Etüde in Des-Dur, wo Rubinstein das stimmliche Geflecht der rechten Hand meisterlich differenziert: Die Oberstimme singt, während die Mittelstimme fein nuanciert staccato geführt wird. Hier zeigt sich Rubinsteins außergewöhnliches Gespür für Polyphonie und Klangfarben – er lässt die Stimmen nicht nur koexistieren, sondern zueinander sprechen.
Seine Interpretation ist ein leuchtendes Beispiel für Chopin-Spiel, das nicht auf bloße Virtuosität zielt, sondern auf Ausdruck, Poesie und natürliche Noblesse. Kritik und Fachwelt loben Rubinstein seit Jahrzehnten für genau diese Synthese aus technischer Meisterschaft und menschlicher Wärme, die er besonders in diesen kürzeren, oft unterschätzten Etüden eindrucksvoll entfaltet.
2. Paul Barton (* 1961):
Paul Bartons Interpretation der Trois Nouvelles Études von Chopin (Aufnahme 2018) besticht durch Klarheit, musikalische Sensibilität und ein fein austariertes Klangbild. Statt bloßer technischer Demonstration legt Barton den Fokus auf die lyrische Struktur und die pädagogische Intention der Etüden. Besonders hervorzuheben ist seine Fähigkeit, die unterschiedlichen Stimmen differenziert hörbar zu machen, etwa in der Des-Dur-Etüde, wo er das Verhältnis zwischen Staccato-Mittelstimme und Legato-Oberstimme mit größter Sorgfalt gestaltet. Die f-Moll-Etüde wirkt bei ihm ruhig atmend und gesanglich, die As-Dur-Etüde leichtfüßig, aber nie oberflächlich.
Bartons Stil ist weniger virtuos als introspektiv, mit einem Hauch didaktischer Absicht – was nicht verwundert, da er seine Aufnahmen oft mit analytischem Kommentar kombiniert. Seine Chopin-Einspielungen sind besonders für Hörer geeignet, die sich für Struktur und Phrasierung interessieren, und nicht nur für vordergründige Brillanz.
3. Alfred Cortot (1877–1962):
Alfred Cortots Interpretation der Trois Nouvelles Études (Aufnahme 1947 / 1949) ist ein Dokument tief empfundener Musikalität und zugleich Ausdruck einer heute selten gewordenen pianistischer Ästhetik. Seine Aufnahme aus den späten 1940er Jahren trägt unverkennbar die Handschrift der französischen Schule: frei im Rhythmus, klangsensibel, oft von rubatoreichem Atem durchzogen – mit einer bewusst subjektiven, poetischen Lesart, die den Zuhörer nicht durch makellose Technik, sondern durch Ausdrucksintensität fesselt.
In der Etüde in f-Moll (Andantino) fließt Cortots Spiel mit melancholischer Eleganz. Die melodische Linie erscheint wie ein innerer Monolog – intim, leicht verhangen, aber nie sentimental. Der Anschlag bleibt weich, fast aquarellhaft, die Phrasen atmen natürlich.
Die Etüde in As-Dur interpretiert er mit tänzerischer Leichtigkeit und einem gewissen improvisatorischen Tonfall. Cortot spielt nicht „metrisch exakt“, sondern mit einer sprechenden, flexiblen Rhythmik, die den salonhaften Charakter des Stücks hervorhebt – charmant und kapriziös.
Besonders bemerkenswert ist seine Version der Etüde in Des-Dur, wo er den stimmlichen Kontrapunkt zwischen Mittel- und Oberstimme sehr nuanciert herausarbeitet. Dabei wird deutlich, wie Cortot auf inneren Ausdruck zielt, nicht auf technische Demonstration: Er spielt für das Ohr, nicht für das Auge.
Cortots Aufnahme ist kein Musterbeispiel pianistischen Perfektionismus, sondern ein dichter musikalischer Essay, der durch seine Intimität, Freiheit und Ausdruckskraft berührt. Wer Chopin als poetischen Seelenkomponisten versteht, wird in dieser Einspielung eine außergewöhnlich persönliche und stilistisch eigenständige Lesart finden.
4. Louis Lortie (* 1959) ist ein kanadischer Pianist, der für seine klaren, strukturierten Interpretationen bekannt ist. Seine Aufnahme der Trois Nouvelles Études zeichnet sich durch technische Präzision und musikalische Tiefe aus (Aufnahme 1986):
Sonate für Violoncello und Klavier in g-Moll, op. 65
(komponiert 1845–1846, veröffentlicht 1847)
Widmung: Auguste Franchomme (1808–1884), französischer Cellist und enger Freund Chopins
Die Cellosonate op. 65 ist Chopins einzige Kammermusikkomposition (abgesehen von Jugendwerken und Liedbegleitungen), die in seinem reifen Stil vollständig erhalten und veröffentlicht wurde. Sie ist zugleich sein letztes zu Lebzeiten publiziertes Werk.
Trotz Chopins vorrangiger Beschäftigung mit dem Klavier nimmt die Cellosonate eine herausragende Stellung in seinem Schaffen ein. Sie zeigt ihn als meisterlichen Gestalter kammermusikalischer Form, der hier seine klavierzentrierte Sprache sensibel und gleichwertig auf das Cello überträgt.
Allegro moderato – ein dramatisch-dunkler erster Satz mit dichter Thematik und klanglicher Tiefe
Scherzo. Allegro con brio – lebhaft, rhythmisch markant, mit tänzerischem Mittelteil
Largo – lyrisches, inniges Intermezzo, oft als „Herzstück“ der Sonate bezeichnet
Finale. Allegro – kontrastreich, heiter und virtuos, mit motivischer Verarbeitung des Hauptthemas
Musikalische Vorschläge:
1. Die Interpretation der Cellosonate in g-Moll, op. 65 von Truls Mørk (* 1961) und Kathryn Stott (* 1958) wurde im September 2006 in der Østre Fredrikstad Kirche in Norwegen aufgenommen und 2007 unter dem Titel "Nocturne" bei Virgin Classics veröffentlicht.
Diese Einspielung zeichnet sich durch eine bemerkenswerte Balance zwischen emotionaler Tiefe und technischer Präzision aus. Truls Mørk bringt sein Cello mit einem warmen, nuancierten Ton zum Singen, während Kathryn Stott das Klavier mit einer feinen, transparenten Klangsprache begleitet. Besonders hervorzuheben ist das exquisite Pianissimo, das beide Musiker erreichen, wodurch eine perfekte tonale Balance entsteht.
Die Fachpresse lobte die Aufnahme für ihre emotionale Ausdruckskraft und technische Raffinesse. Die BBC Music Magazine bewertete die Aufnahme mit 4 von 5 Sternen und hob hervor, dass die oft dichte Klavierpartie hier nicht dominiert, sondern durch Stotts gossamer-leichten Anschlag eine ausgewogene Partnerschaft mit dem Cello eingeht.
Diese Interpretation von Mørk und Stott bietet eine tiefgründige und ausgewogene Darstellung von Chopins Cellosonate und ist sowohl für Kenner als auch für Neueinsteiger in die Kammermusik ein empfehlenswertes Hörerlebnis.
2. Martha Argerich (* 1941) und Mstislaw Rostropowitsch (1927–2007)
Rostropowitsch und Argerich – Chopin als dramatisches Kammerspiel
Rostropowitsch und Argerich, Tracks 5 bis 8
Die gemeinsame Aufnahme von Mstislaw Rostropowitsch und Martha Argerich zählt zu den maßstabsetzenden Interpretationen von Chopins Cellosonate. Sie entstand 1999 live beim Festival „Chopin and his Europe“ in Warschau. Diese Aufführung ist eine intensive Begegnung zweier musikalischer Persönlichkeiten von größter Ausdruckskraft – sie gleicht einem dramatischen Dialog auf Augenhöhe, leidenschaftlich, schillernd, stellenweise fast eruptiv.
Rostropowitsch, einer der bedeutendsten Cellisten des 20. Jahrhunderts, formt seinen Ton hier mit vokaler Kraft und emotionaler Dichte. Er durchdringt das Werk mit einem romantisch-dramatischen Gestus, der das eher introvertierte Idiom Chopins klangsatt und spannungsgeladen modelliert. Dabei ist seine Phrasierung nie überzogen, sondern tief durchdacht und von hoher innerer Logik getragen.
Argerich, bekannt für ihre temperamentvolle, doch stets strukturklare Spielweise, bringt das Klavier zu einer faszinierenden Mischung aus brillanter Präsenz und klanglicher Durchlässigkeit. Sie bleibt nicht im Begleitmodus, sondern gestaltet die Sonate mit souveräner Eigenständigkeit – ohne den Cellopart zu dominieren. Ihre Anschlagskultur und rhythmische Präzision geben dem Werk eine pulsierende Lebendigkeit.
Die Interpretation ist von dramatischer Spannung durchzogen, dabei aber stets kammermusikalisch durchhörbar. Besonders im langsamen Satz (Largo) entfaltet sich eine tief empfundene Innigkeit, die nie ins Sentimentale abgleitet. Im Finalsatz (Allegro) wechseln sich eruptive Kraft und tänzerische Leichtigkeit mitreißend ab.
Diese Einspielung ist ein Glanzstück romantischer Kammermusik und ein eindrucksvolles Zeugnis zweier Ausnahmeinterpreten. Sie zeigt, dass Chopins Kammermusik – bei aller strukturellen Feinheit – auch eine dramatische und körperliche Dimension besitzt, wenn sie mit so viel Mut und Musikalität entfesselt wird.
Wer Chopin nicht nur als Lyriker, sondern auch als Gestalter großer musikalischer Bögen hören möchte, findet in dieser Aufnahme ein beeindruckendes Zeitdokument von außergewöhnlicher interpretatorischer Tiefe und nachhaltiger Wirkung.
3. Maisky und Argerich – Chopin in leidenschaftlicher Entfaltung
Maisky und Argerich, Tracks 6 bis 9
Die Aufnahme von Mischa Maisky (* 1948) und Martha Argerich (* 1941) besticht durch ihre hoch emotionale Dichte und den Mut zur expressiven Zuspitzung. Diese beiden Künstlerpersönlichkeiten, seit Jahrzehnten in enger musikalischer Partnerschaft verbunden, verwandeln Chopins Cellosonate in ein leidenschaftliches Gespräch voller Dramatik, Innigkeit und brillanter Virtuosität.
Maisky, der für seinen intensiven, fast vokalen Celloton bekannt ist, setzt auf einen satten, tragenden Klang, der große Bögen spannt und den lyrischen Charakter der Sonate mit romantischer Inbrunst ausschöpft. Seine Spielweise ist dabei nicht neutral oder zurückhaltend, sondern bewusst subjektiv – emotional aufgeladen, aber nie pathetisch. Jede Phrase scheint wie ein Ausruf, jedes Legato wie ein gesungener Atemzug.
Argerich, mit ihrem energischen, manchmal ungestümen Zugriff, ist nicht nur eine ebenbürtige Partnerin, sondern auch eine driving force dieser Interpretation. Sie bringt das Klavier zum Glühen, agiert rhythmisch pulsierend, mit raffiniertem Wechselspiel aus Kraft und Zartheit, stets im lebendigen Dialog mit Maisky. Ihre große Kunst ist es, auch in wild aufwallenden Passagen den inneren Fluss zu bewahren.
Besonders eindrucksvoll ist der langsamer Satz (Largo), in dem Maisky und Argerich eine atemberaubend intime Stimmung erschaffen – fast wie ein leiser, melancholischer Abschiedsbrief. Im Gegensatz dazu das Finale, das von rhythmischem Feuer durchzogen ist und mit tänzerischer Vehemenz und Brillanz zum Abschluss stürmt.
Diese Interpretation ist keine nüchterne Werkanalyse, sondern ein emotionales Statement zweier großer Künstler, die Chopin nicht glätten, sondern in seiner ganzen Ausdrucksspanne erfahrbar machen – zart und wild, schmerzlich und triumphierend zugleich. Wer Chopins Sonate als seelisches Bekenntnis versteht, wird von dieser Aufnahme tief berührt.
