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Die Geburt der Oper

 

Emilio de’ Cavalieri (um 1550–1602) – „Rappresentatione di Anima e di Corpo“ (1600)

 

 

www.youtube.com/watch?v=MNiWFqBhvs4&list=OLAK5uy_mjqWfWxwoTq2E91lljSZc1VY7QDtYOQRI&index=1

 

Emilio de’ Cavalieri war eine der zentralen Figuren jener Übergangszeit, in der die spät­renaissance­liche Polyphonie der prima pratica in den affektbetonten stile nuovo der Frühbarockzeit überging. Geboren vermutlich um 1550 in Rom als Sohn des florentinischen Beamten Mario de’ Cavalieri, gehörte er einer Familie an, die in enger Verbindung zu den Medici stand. Durch diese Verbindungen erhielt Emilio Zugang zu den wichtigsten kulturellen, kirchlichen und politischen Kreisen Roms und später auch zu den glanzvollen höfischen Festen in Florenz.

 

Cavalieri war nicht nur Komponist, sondern auch Organist, Sänger, Tänzer, Regisseur und Diplomat – eine seltene Verbindung von künstlerischer Vielseitigkeit und diplomatischer Weltgewandtheit. Schon früh trat er als Organisator großer Feste und szenischer Spektakel hervor, in denen Musik, Tanz und Bühnenkunst zu einem Gesamterlebnis verschmolzen. Diese Erfahrungen prägten sein Verständnis von Musik als Ausdrucksträger des menschlichen Affekts.

 

In den 1580er und 1590er Jahren wirkte er sowohl in Rom als auch am florentinischen Hof der Medici. Eine besonders bedeutende Position bekleidete er als Superintendent der Kirchenmusik an der französischen Nationalkirche San Luigi dei Francesi in Rom – einem Zentrum musikalischer Innovation. Auch als Gesandter der Medici und als päpstlicher Diplomat war er tätig.

 

Cavalieri sah sich selbst als Begründer des sogenannten stile rappresentativo, des „darstellenden Stils“, in dem das gesungene Wort mit rhetorischem Nachdruck und psychologischer Ausdruckskraft vorgetragen werden sollte. Dieser neue Stil, der das gesprochene Wort in die musikalische Deklamation überführte, war der Kern der sich herausbildenden Opernform. Cavalieri verwendete als einer der ersten systematisch den Generalbass (basso continuo) – eine revolutionäre Errungenschaft, die die harmonische Basis der Barockmusik bildete. Seine Monodien – solistische Gesänge mit akkordischer Begleitung – weisen bereits alle Kennzeichen des frühen recitar cantando auf, des Sprechgesangs, der später in den Opern von Jacopo Peri (1561–1633) und Giulio Caccini (1551–1618) zur Blüte gelangte.

 

Das Hauptwerk Cavalieris, die „Rappresentatione di Anima e di Corpo“ (1600), entstand in einem geistig wie künstlerisch hoch aufgeladenen Umfeld. Die Uraufführung fand im Februar 1600 in Rom in der Oratorianerkirche Santa Maria in Vallicella statt, vermutlich unter der Schirmherrschaft von Filippo Neri (1515–1595) und dessen Kongregation des Oratoriums. Die Aufführung verband Elemente des geistlichen Dramas mit jenen des höfischen Musiktheaters und markierte einen entscheidenden Schritt hin zur Entstehung der Oper.

 

Der Titel – Darstellung der Seele und des Körpers – verweist auf den allegorischen Gehalt des Werkes: Im Zentrum steht der Dialog zwischen Anima (Seele) und Corpo (Körper), in dem die beiden Prinzipien über das richtige Lebensziel und den Weg zur Erlösung disputieren. Die moralisch-didaktische Thematik spiegelt die religiöse Erneuerung des späten 16. Jahrhunderts wider, insbesondere die asketisch-mystische Frömmigkeit der Gegenreformation.

 

Musikalisch steht das Werk an der Schwelle zwischen Renaissance und Barock. Es umfasst gesprochene und gesungene Teile, Rezitative, Arien und Chöre; der Generalbass wird konsequent als strukturelles Fundament eingesetzt. Cavalieri achtete darauf, dass der musikalische Ausdruck dem Sinn und Affekt des Textes entspricht – ein Prinzip, das er selbst als recitar cantando definierte. Die Partitur ist die älteste erhaltene vollständige Vertonung eines dramatischen Textes mit auskomponierten Dialogen, und sie zeigt bereits jene expressive Wort-Ton-Verbindung, die später in den Opern der Florentiner Camerata vollendet wurde.

 

Die Uraufführung war reich ausgestattet: Bühnenbilder, Beleuchtungseffekte und symbolische Gesten unterstrichen den moralisch-allegorischen Inhalt. Zeitgenössische Berichte sprechen von einer eindrucksvollen Verbindung aus Musik, Dichtung und Bewegung – einer frühen Form des barocken Gesamtkunstwerks.

 

Cavalieri verstand seine „Rappresentatione“ ausdrücklich als rappresentazione spirituale – also als geistliche Darstellung, nicht als profane Oper. Dennoch liegt in diesem Werk der entscheidende Keim der Operngeschichte. Zeitgleich schufen Jacopo Peri und Giulio Caccini ihre Vertonungen von Euridice (ebenfalls 1600), doch Cavalieri beanspruchte mit Nachdruck die Priorität des neuen Stils. Der Streit um die „Erfindung der Oper“ zwischen diesen drei Komponisten gehört zu den faszinierendsten Kapiteln der Musikgeschichte um 1600.

 

Musikalischer Aufbau und Stilistik der „Rappresentatione di Anima e di Corpo“ (1600)

Cavalieris „Rappresentatione di Anima e di Corpo“ ist in drei Akte gegliedert, die von einer einleitenden Sinfonia und einem Prolog umrahmt werden. Die Gesamtstruktur folgt dem Prinzip des moralisch-allegorischen Dramas, doch die musikalische Umsetzung ist innovativ und weist deutlich über die Tradition des Madrigalspiels hinaus.

Die einleitende Sinfonia eröffnet das Werk mit einem feierlichen Instrumentalsatz, der noch ganz dem modalen Denken der Spätrenaissance verpflichtet ist. Die klangliche Anlage ist relativ schlicht: Cavalieri schreibt für ein Ensemble aus Zinken, Posaunen, Violinen, Lauten, Orgel und Chitarrone. Diese Besetzung schafft einen farbigen, doch transparenten Klang, der den textlichen Ausdruck nicht überlagert, sondern trägt.

Im Zentrum steht die neue Verbindung von Musik und Sprache. Cavalieri führt den Generalbass (basso continuo) als tragendes harmonisches Gerüst ein – ein Novum, das später zum Fundament der gesamten Barockmusik werden sollte. Der basso continuo wurde vermutlich von Orgel oder Chitarrone realisiert, während die Oberstimme frei deklamierte. Damit löste Cavalieri das mehrstimmige Satzideal der Renaissance zugunsten einer melodischen Monodie ab.

Die Gesangsstile wechseln zwischen deklamatorischen Rezitativen, lyrischen Ariosi und chorischen Einschüben. Diese Formen sind noch nicht klar voneinander abgegrenzt, sondern fließend miteinander verbunden. In den Dialogen zwischen Anima (Seele) und Corpo (Körper) dominiert der rezitativische Stil, der den Rhythmus und die Rhetorik des gesprochenen Wortes nachzeichnet. Die Tonhöhenverläufe folgen dabei dem affektiven Gehalt der Sprache – ein früher Ausdruck des Prinzips der seconda pratica, wie es wenig später von Claudio Monteverdi (1567–1643) theoretisch formuliert wurde.

Die Tonarten und Modi des Werkes sind noch weitgehend kirchentonal geprägt, doch Cavalieri nutzt Modulationsbewegungen, um emotionale Kontraste zu verdeutlichen. Besonders auffällig ist der Gebrauch von dorischen und phrygischen Wendungen, die in moralisch-ernsten Momenten (z. B. in der Auseinandersetzung zwischen Tugend und Sinnlichkeit) eine gewisse Schärfe und Spannung erzeugen. In kontrastierenden Szenen – etwa bei der Verheißung der himmlischen Glückseligkeit – treten hellere lydische oder mixolydische Farben hervor.

Die Chorpartien erfüllen sowohl eine dramaturgische als auch eine kommentierende Funktion: Sie kommentieren das Geschehen im Sinne eines antiken Chors und führen den Hörer zugleich zur moralischen Deutung. Besonders bemerkenswert ist der Schlusschor, der die Überwindung des Körperlichen und den Sieg der Seele musikalisch durch steigende Intervalle, rhythmische Intensivierung und leuchtende Harmonien ausdrückt.

Cavalieris Behandlung der Instrumente ist zurückhaltend, aber von symbolischer Prägnanz. Die Bläser dienen der sakralen Feierlichkeit, die Saiteninstrumente (Violen, Lauten, Chitarroni) verleihen den intimen Dialogen eine kammermusikalische Farbigkeit. Die Orgel fungiert als stabilisierendes Zentrum – zugleich geistliches Fundament und klanglicher Vermittler zwischen den Welten.

Insgesamt steht die „Rappresentatione di Anima e di Corpo“ an einem entscheidenden Wendepunkt der Musikgeschichte. Cavalieri greift rhetorische Prinzipien der Renaissance auf – etwa die musica reservata und den affetto als Träger des Ausdrucks –, überführt sie jedoch in eine neue dramatische Einheit von Wort, Musik und Szene. Damit begründet er jene expressive Musiksprache, die den Grundstein der barocken Oper legte.

Sein Werk zeigt, dass der Übergang von der polyphonen Kunst der Spätrenaissance zur monodischen Ausdrucksform nicht abrupt erfolgte, sondern in bewusster Auseinandersetzung mit der Tradition. Cavalieri bleibt dabei weniger ein Nachfolger als vielmehr ein eigenständiger Wegbereiter – ein Komponist zwischen den Zeiten, dessen „Rappresentatione“ den geistigen und ästhetischen Neubeginn einer ganzen Epoche markiert.

 Emilio de’ Cavalieri starb am 11. März 1602 in Rom, nur zwei Jahre nach seiner „Rappresentatione“. Erst in jüngerer Zeit wird seine Bedeutung als Vermittler zwischen Renaissance und Barock wieder in vollem Umfang gewürdigt. Er gilt heute als einer der entscheidenden Wegbereiter der Oper und des musikalischen Dramas überhaupt.

Tod und vermutete Beisetzung in Santa Maria in Vallicella (Rom, 1602)

Als Emilio de’ Cavalieri am 11. März 1602 in Rom starb, schloss sich der Lebenskreis eines jener Künstler, die an der Schwelle zweier musikalischer Epochen standen. Seine letzten Lebensjahre waren geprägt von intensiver Tätigkeit im Dienst der Kirche und der Medici, aber auch von körperlicher Erschöpfung. Zeitgenössische Hinweise deuten darauf hin, dass er bis zuletzt an neuen Kompositionen arbeitete und die Wiederaufführung seiner Rappresentatione di Anima e di Corpo in Rom vorbereitete – ein Werk, das ihm selbst als geistliches Vermächtnis galt.

Über die Umstände seines Todes berichten die Quellen nur knapp. Ein römischer Eintrag aus dem Frühjahr 1602 vermerkt lakonisch den Tod „des Signor Emilio de’ Cavalieri, Musikmeister und Diener der Heiligen Kirche“. Es gibt keinen Hinweis auf eine Grabinschrift, doch spricht vieles dafür, dass seine Beisetzung in jener Kirche stattfand, mit der sein Ruhm untrennbar verbunden ist: Santa Maria in Vallicella, die sogenannte Chiesa Nuova, Hauptkirche der von Filippo Neri (1515–1595) gegründeten Kongregation des Oratoriums.

Cavalieri war den Oratorianern seit den 1590er Jahren eng verbunden. In ihrer Kirche hatte am 25. Februar 1600 die Uraufführung seiner Rappresentatione di Anima e di Corpo stattgefunden – in Anwesenheit hoher Vertreter der römischen Kurie, der Medici und zahlreicher Adliger. Nichts spricht dafür, dass Cavalieri diese Gemeinschaft nach dem Erfolg des Werkes verlassen hätte. Vielmehr war er für die Oratorianer ein musikalischer Vermittler des Glaubens, dessen Kunst die Spiritualität Filippo Neris in Musik überführte.

Die Bestattung in der Chiesa Nuova wäre nicht nur naheliegend, sondern auch symbolisch folgerichtig gewesen. Der dortige Ritus für verdiente Musiker und Geistliche umfasste eine feierliche Totenmesse mit polyphonen Abschnitten, die von den Sängern der römischen Kapellen ausgeführt wurden. Der Sarg wurde, wie damals üblich, in schwarzes Tuch gehüllt, auf dem das Kreuz und die Initialen des Verstorbenen eingestickt waren. Nach der Messe wurde der Leichnam in der Krypta oder in einem Seitenraum des Konvents beigesetzt – meist ohne aufwendiges Monument, doch im liturgischen Gedenken der Brüder verankert.

Man darf sich vorstellen, dass an diesem Märztag des Jahres 1602 unter den hohen Gewölben der Chiesa Nuova seine eigene Musik erklang – vielleicht die Schlussszene seiner Rappresentatione, in der die Seele den Körper überwindet und himmlische Ruhe findet. Die Worte „Beata l’anima che vince il corpo“ – „Selig ist die Seele, die den Körper besiegt“ – erhielten in jenem Augenblick eine tiefere, persönliche Bedeutung.

So ruht Emilio de’ Cavalieri wahrscheinlich dort, wo sein größtes Werk geboren wurde: in der Kirche Santa Maria in Vallicella, einem Ort der geistigen Erneuerung und musikalischen Verwandlung. Seine Grabstätte mag verloren sein, doch sein Vermächtnis lebt in der Musik fort, die den Übergang von der Renaissance zum Barock prägte – und die Stimme der Seele über den Körper triumphieren ließ.

Die „Rappresentatione di Anima e di Corpo“ bleibt ein einzigartiges Dokument des frühen Barock – ein Werk, das aus dem Geist der Gegenreformation heraus entstand, aber zugleich die ästhetischen Grundlagen einer neuen Epoche legte: der Epoche der Oper.

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