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Musik der Tudorzeit

 

Anfänge und Klangwelt zwischen Spätgotik und Renaissance

 

Als Heinrich VII. Tudor (1457–1509) im Jahr 1485 nach dem Sieg über Richard III. (1452–1485) in der Schlacht von Bosworth Field die englische Krone eroberte, fiel der Vorhang über eine der blutigsten Phasen der englischen Geschichte. Drei Jahrzehnte lang hatten sich zwei Linien des Hauses Plantagenet – Lancaster und York – in den sogenannten Rosenkriegen (1455–1485) bekämpft: hier die rote Rose der Lancastrianer, dort die weiße Rose der Yorkisten. Unter Heinrich VI. (1421–1471) zerfiel die königliche Autorität; mit Edward IV. (1442–1483) und später Richard III. (1452–1485) versuchte das Haus York, die Macht zu konsolidieren – doch Loyalitäten wechselten, Bündnisse zerbrachen, und ganze Adelsgeschlechter wurden ausgelöscht.

 

Heinrich Tudor, ein Lancastrianer mit walisischen Wurzeln, kehrte nach Jahren des Exils zurück, sammelte seine Anhänger in Wales und im Westen Englands und setzte in Bosworth dem letzten York-König ein Ende. Um seine schwache dynastische Legitimation zu stärken, heiratete er 1486 Elizabeth of York (1466–1503), die älteste Tochter Edwards IV. Die Verbindung von roter und weißer Rose zur neuen Tudor-Rose war mehr als höfische Symbolik: Sie stand für den Versuch, ein traumatisiertes Königreich zu befrieden. Auf Heinrich VII. folgten:

 

Heinrich VIII. (1491–1547, reg. 1509–1547),

Edward VI. (1537–1553, reg. 1547–1553),

Maria I. Tudor (1516–1558, reg. 1553–1558),

und Elisabeth I. (1533–1603, reg. 1558–1603)

 

– eine Reihe von Herrschern, in deren Regierungszeiten sich die englische Kirchenmusik vom spätmittelalterlichen Glanz über die Reformation bis zur elisabethanischen Blüte tiefgreifend wandelte.

 

Für die Musik der frühen Tudorzeit war zunächst weniger Revolution als Kontinuität entscheidend. Heinrich VII. war kein charismatischer Kunstfürst, aber ein vorsichtiger Sanierer des Staatswesens: Er stabilisierte die Finanzen, disziplinierte den Adel und stellte die Handlungsfähigkeit der Krone wieder her. Davon profitierten gerade jene Institutionen, die für die Pflege der Kirchenmusik zentral waren – Kathedralen, Kollegiatstifte und die neueren Colleges in Eton, Oxford und Cambridge. Sie konnten ihre Chöre erhalten, Knaben ausbilden, Stipendien vergeben und kostbare Chorbücher in Auftrag geben. In diesem Klima entstanden die großen englischen Sammelhandschriften um 1500: das Eton Choirbook, das Lambeth Choirbook und das Caius Choirbook.

 

 

 

 

Das beeindruckendste dieser Denkmäler ist das Eton Choirbook, heute als Eton College MS 178 in der Bibliothek des 1440 von Heinrich VI.  gegründeten Eton College aufbewahrt.

 

Die Handschrift ist zwischen etwa 1490 und 1505 entstanden und dokumentiert ein Repertoire, das bereits in den letzten Plantagenet-Jahren gewachsen war und nun unter den frühen Tudors zu voller Entfaltung gelangte. Ursprünglich enthielt sie 93 Kompositionen; 64 Werke – 54 großangelegte Motetten und Marienantiphonen, 9 Magnificat-Vertonungen und eine Passion – sind ganz oder fragmentarisch erhalten. Die Stücke sind meist fünf- bis achtstimmig und auf die feierliche Abend-Andacht zu Ehren der Gottesmutter Maria zugeschnitten, wie sie in den großen Chorfoundations Englands alltäglich war.

 

An der Spitze dieses Repertoires steht John Browne (* um 1453, tätig um 1490–1500), über dessen Leben wir trotz intensiver Forschung nur Bruchstücke kennen. Als Vierzehnjähriger ist er 1467 als scholar in Eton bezeugt; später dürfte er in einer adligen Hauskapelle – wahrscheinlich beim Earl of Oxford – gewirkt haben. Seine Musik im Eton Choirbook ist überwältigend: Antiphonen wie O Maria Salvatoris mater oder O regina mundi clarissima entfalten einen Klangraum von außergewöhnlicher Spannweite, mit ungewöhnlichen Stimmbesetzungen (etwa vier Tenöre und zwei Bässe in Stabat iuxta Christi crucem), extrem langen Melodielinien und kühnen Reibungen. Browne ist kein „Vorläufer“ späterer Meister, sondern eine singuläre Gestalt zwischen Spätgotik und Frührenaissance.

 

Um Browne gruppieren sich Komponisten, deren Namen heute fast nur dank dieser Handschrift überliefert sind, die aber am Anfang der Tudorzeit eine zentrale Rolle spielten. Richard Davy (* um 1465–1507) war Organist und Chorleiter am Magdalen College in Oxford und später Vikar-Chorist an der Kathedrale von Exeter; seine Stabat-Mater-Vertonung und mehrere Salve-Regina-Sätze zeigen ein feines Gespür für großräumige Form und expressive Textdeutung.

 

Walter Lambe (* um 1450, † um 1504) entstammte Salisbury, wurde wie Browne King’s Scholar in Eton und wirkte später unter anderem an St George’s Chapel in Windsor; seine Werke – etwa Nesciens mater virgo virum oder O Maria plena gratiae – verbinden den opulenten Eton-Stil mit einer klareren Linienführung. 

 

Noch älter ist die Generation von Richard Hygons (* um 1435 – † um 1509) und William Horwood (* um 1430 –† um 1484), deren Salve-Regina- und Magnificat-Sätze bereits vor 1470 entstanden sind und im Eton Choirbook gewissermaßen als „Fundament“ eines englischen Votivstils präsent sind. Hygons wirkte jahrzehntelang an der Kathedrale von Wells, Horwood an der Kathedrale von Lincoln; ihre Musik ist weniger imitatorisch als die kontinentale Polyphonie, dafür von einem Wechsel aus vollstimmigen Blöcken und kleineren Gruppenpassagen geprägt.

 

In die jüngste Schicht des Eton Choirbook führt Robert Wylkynson (* um1450 – † nach 1515), der zwischen 1496 und 1515 als Clerk und Informator choristarum am Eton College tätig war und möglicherweise selbst an der Anlage der Handschrift beteiligt war. Seine großformatigen Salve-Regina-Vertonungen und der berühmte 13-stimmige Credo-Satz (Jesus autem transiens / Credo in Deum) zeigen einen Ehrgeiz, der weit über das Gewöhnliche hinausgeht – architektonisch kühn, zugleich fest auf der insularen Tradition verwurzelt.

 

Ganz im Schatten der Quellen bleibt Hugh Kellyk (tätig um 1480–1490), von dem nur ein Magnificat und die Antiphon Gaude flore virginali überliefert sind; gerade diese beiden Stücke gehören aber zu den frühesten Beispielen eines fünfstimmigen Satzes, wie er für die zweite Hälfte des 15. Jahrhunderts typisch werden sollte.

 

Mit Robert Fayrfax (* 23. April 1464 – † 24. Oktober 1521) und William Cornysh dem Jüngeren (* 1465 – † Oktober 1523) tritt um 1500 eine Generation in den Vordergrund, die man bereits im eigentlichen Sinn „Tudor-Komponisten“ nennen kann. Fayrfax stand unter der Protektion von Lady Margaret Beaufort (1443–1509), der Mutter Heinrichs VII., wurde 1497 Gentleman of the Chapel Royal und erwarb als einer der ersten englischen Komponisten einen Doktorgrad in Musik. Seine Messen und Magnificat-Vertonungen markieren eine dritte Phase des Eton-Stils: das spätgotische Raffinement bleibt erhalten, wird aber durch klarere Proportionen und einen geschmeidigeren, „renascenten“ Fluss der Linien überformt.

 

Cornysh, bei dem zwischen einem älteren und einem jüngeren Träger des Namens zu unterscheiden ist, wirkte als Master of the Children of the Chapel Royal am Hof Heinrichs VII. und Heinrichs VIII. Seine lateinischen Antiphonen im Eton Choirbook scheinen eher in die Sphäre des älteren Cornysh zu gehören, während der jüngere Cornysh in den englischen Hofliedern und Masques der frühen Tudorzeit greifbar wird. Wie auch immer die Zuschreibungsfrage im Einzelnen zu lösen ist: Unter dem Namen Cornysh begegnet uns eine Musik von scharfem Profil, mit dramatischen Gesten, schillernden Dissonanzen und einer Virtuosität, die in den überhöhten Fächergewölben der Henry-VII.-Kapelle in Westminster ihr architektonisches Echo zu finden scheint.

 

Stilistisch ruht diese frühe Tudor-Musik auf einem eigenen liturgischen Fundament: dem Sarum-Ritus, der im Mittelalter von Salisbury aus weite Teile Englands prägte. Seine Melodien, Proprien und Besonderheiten weichen in vielen Details vom später dominierenden römischen Ritus ab und verlangten nach einer Musik, die weniger auf strenger vertikaler Harmonie als auf der Überlagerung von Linien beruht. Typisch ist der ausgeprägte Diskantsatz mit hohen Knabenstimmen, über denen sich Melismen und Verzierungen wie Ranken an einem steinernen Maßwerk emporziehen, während der Bass allmählich als tragende Grundlage stärker hervorsticht. Triadische Klänge erscheinen zunächst nur punktuell, fast wie flüchtige Inseln im Strom der Bewegung; die Textverständlichkeit tritt zugunsten einer intensiven, kontemplativen Klangspiritualität zurück.

 

Man kann sich diese Musik kaum ohne den Raum vorstellen, für den sie geschaffen wurde. Die Perpendicular Gothic der späten englischen Kathedralarchitektur – mit ihren Fächergewölben, filigranen Strebewerknetzen und hoch hinauf gezogenen Fensterbahnen – verwandelt Vertikalität in Ornament, Statik in Bewegung. Wer in der King’s College Chapel in Cambridge oder unter dem Gewölbe der Henry-VII.-Kapelle in Westminster singt, erlebt unmittelbar, wie Architektur und Polyphonie ineinandergreifen: Der Nachhall glättet die scharfen Konturen der Einzelstimmen und verschmilzt sie zu einem einzigen, schwebenden Klangkörper. In diesem Zusammenspiel von Raum und Musik kündigt sich bereits jener „englische Sonderweg“ an, der die Kunst der Tudors bis ins elisabethanische Zeitalter hinein prägen sollte.

 

So stehen am Beginn der Tudorzeit keine abrupten Brüche, sondern ein erstaunlich geschlossenes, insulares Klangbild: eine spätgotische Votivkunst, getragen von der Marienfrömmigkeit der Colleges und Stifte, formvollendet im Eton Choirbook und geprägt von Komponisten wie John Browne (* um 1453, tätig um 1490–1500), Richard Davy (* um 1465 – † 1507), Walter Lambe (* um 1450 – † um 1504), Richard Hygons (* um 1435 – † um 1509), William Horwood (* um 1430 – † um 1484), Robert Wylkynson (* um 1450 – † nach 1515), Hugh Kellyk (tätig um 1480–1490), Robert Fayrfax (1464–1521) und William Cornysh (* um 1468 –† 1523). Erst von dieser Basis aus konnte sich im 16. Jahrhundert die „klassische“ Tudorpolyphonie entwickeln, die mit Namen wie John Taverner (* um  1490 – † 1545), Christopher Tye (* um 1505 – † 1572), Thomas Tallis (* 30. Januar 1505 – † 23. November 1585) und William Byrd (* um 1543 – † Juli 1623) verbunden ist.

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Das Eton Choirbook

Das Eton Choirbook ist eines der kostbarsten Zeugnisse der englischen Vokalpolyphonie vor der Reformation und zugleich ein Monument der spätmittelalterlichen Marienfrömmigkeit. Unter der Signatur MS 178 wird es heute in der Bibliothek des Eton College aufbewahrt. Es handelt sich um einen großformatigen Pergamentchoralband, der um 1500–1505 für den liturgischen Gebrauch in der Stiftskirche des 1440 von Heinrich VI. (1421–1471) gegründeten Colleges zusammengestellt wurde. Auftraggeber und wichtigste Bezugsperson ist mit großer Wahrscheinlichkeit der damalige Provost Henry Bost († 1502), dessen Wappen – neben demjenigen des Colleges – in den prächtigen Initialen des Manuskripts erscheint.

 

Der Codex war ursprünglich deutlich umfangreicher als heute: Von insgesamt etwa 224 Blättern sind nur noch 126 erhalten, einschließlich der Indexseiten. Das ursprüngliche Repertoire umfasste nach den beiden Registerverzeichnissen 93 Kompositionen, von denen 64 ganz oder teilweise überliefert sind; der Rest ist verloren oder nur dem Namen nach bekannt. Damit bildet das Eton Choirbook die größte zusammenhängende Sammlung lateinischer Chormusik im England der Jahrzehnte unmittelbar vor der Reformation und ist zugleich eine Hauptquelle für den sogenannten englischen „votive style“, also die groß dimensionierten, meist an die Gottesmutter gerichteten Antiphonen und Motetten mit oft freier, nicht unmittelbar liturgiegebundener Verwendung.

 

Inhaltlich handelt es sich ausschließlich um mehrstimmige Vokalmusik in lateinischer Sprache. Die Indexe nennen vor allem groß angelegte Marienantiphonen – Salve regina, Alma redemptoris mater, O Regina caeli, Gaude flore virginali und viele andere –, dazu neun Magnificat-Vertonungen und eine Passionsvertonung. Die Mehrzahl der Stücke ist für fünf oder sechs Stimmen konzipiert; einige Werke gehen darüber hinaus und verlangen bis zu neun oder zehn Vokalpartien, was die klangliche Prachtentfaltung der Etoner Liturgie unterstreicht. Der Chor der Stiftskirche bestand aus erwachsenen Klerikern und Knaben, so dass die Kompositionen mit ihren häufig recht hohen Diskant- und Altlagen genau auf diese Besetzung zugeschnitten sind.

 

Besonders charakteristisch ist der stilistische Zuschnitt dieser Musik. Die Komponisten – unter ihnen John Browne (um 1453–nach 1500), Richard Davy (um 1465–1507), Walter Lambe († nach 1504), Robert Fayrfax (1464–1521), William Cornysh (um 1465–1523) und zahlreiche andere – arbeiten mit weit ausschwingenden Melodiebögen, dichtem Imitationsgeflecht und einer für die Zeit erstaunlichen harmonischen Kühnheit. Immer wieder finden sich lange, scheinbar improvisatorische Linien im obersten Diskant, die sich von einem festeren Gerüst der unteren Stimmen abheben und den Klang nach oben hin „aufbrechen“. Zugleich ist die Musik deutlich textbezogen: Wichtige Wörter und Wendungen – insbesondere Namen und Titel Mariens – werden durch homophone Verdichtungen, durch ausgedehnte Melismen oder durch imitatorische Ketten hervorgehoben, so dass der poetische und theologische Gehalt der Texte sich im musikalischen Verlauf spiegelt.

 

Codicologisch ist das Eton Choirbook ein ausgesprochen repräsentatives Artefakt. Das großformatige Pergament, die zweifarbige mensurale Notation (schwarz, mit roten Elementen zur Kennzeichnung bestimmter rhythmischer Funktionen), die sorgfältig gezogenen Systeme und die reiche Initialornamentik belegen, dass hier nicht nur ein praktisches Chorbuch, sondern zugleich ein Prestigeobjekt entstanden ist. Einzelne Seiten zeigen historiierte Initialen mit Wappen, Heiligendarstellungen oder symbolischen Szenen; die Lederbindung mit Tudor-Rose, Portcullis und Fleur-de-Lis stammt aus der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts und dokumentiert, dass der Band auch nach der Reformation als wertvolles Besitzstück des Colleges galt, selbst wenn sein liturgischer Gebrauch weitgehend erloschen war.

 

Die Entstehung des Choirbooks fällt in eine Phase intensiver musikalischer und liturgischer Blüte an den neu gegründeten königlichen Kollegiatstiften wie Eton und King’s College in Cambridge. Hier wurden täglich aufwendige gesungene Offizien und Messen gefeiert, in denen gerade die großformatigen Marienantiphonen – oft am Ende von Komplet oder Vesper – eine zentrale Rolle spielten. Das Repertoire des Eton Choirbook ist daher nicht bloß eine Anthologie besonders kunstvoller Kompositionen, sondern zugleich ein Spiegel des spezifischen geistlichen Lebens an diesem Ort: der Verbindung von Bildungsinstitution, Gebetsgemeinschaft und liturgischer Repräsentation des Königshauses.

 

Der historische Einschnitt der Reformation hätte dieses Repertoire fast vollständig ausgelöscht. Die meisten vergleichbaren lateinischen Chorbücher gingen verloren, wurden zerschnitten oder zweckentfremdet; die wenigen überlieferten Bände – neben Eton vor allem das Lambeth Choirbook und das Caius Choirbook – verdanken ihr Überleben einer Mischung aus Zufall und bewusster Bewahrung. Dass das Eton Choirbook als nahezu geschlossener Codex erhalten blieb, macht es heute zu einer Schlüsselquelle für die Rekonstruktion der englischen Polyphonie um 1500 und für das Verständnis der stilistischen Entwicklung hin zu Komponisten wie Robert Fayrfax (1464–1521), John Taverner (um 1490–1545) und Thomas Tallis (um 1505–1585).

 

Nicht minder bedeutend ist das Choirbook für die Überlieferung zahlreicher einzelner Werke. Viele der darin enthaltenen Antiphonen sind unica, also nur an dieser einen Stelle überliefert. Komponisten wie John Browne oder Hugh Kellyk sind nahezu ausschließlich durch ihre Beiträge zu MS 178 greifbar, und selbst bei prominenteren Namen wie Fayrfax oder Cornysh erschließt erst der Vergleich mit anderen Quellen – etwa den typographischen Drucken der 1520er- und 1530er-Jahre – die Spannweite ihres Schaffens. Für einige der im Index genannten Komponisten sind die Einträge im Eton Choirbook die einzige Spur ihres Wirkens; ihre Musik ist verloren, ihr Name bleibt als Schemen am Rand der Geschichte erhalten.

 

Seit dem 20. Jahrhundert hat das Eton Choirbook Musikforschung und Aufführungspraxis gleichermaßen inspiriert. Kritische Editionen und Faksimiles – zuletzt die großformatige Farbfaksimile-Ausgabe mit einer ausführlichen Einleitung von Magnus Williamson – haben den Codex einem breiten Kreis von Musikwissenschaftlerinnen, Chören und interessierten Laien zugänglich gemacht.

 

 In jüngerer Zeit sorgt das „Eton Choirbook Project“ an der Universität Newcastle dafür, dass möglichst viele der darin enthaltenen Werke in wissenschaftlich fundierten, aber zugleich lebendigen Einspielungen verfügbar werden. Die Kombination aus digital zugänglichem Faksimile (über DIAMM), moderner Edition und wachsenden Diskographien macht es heute möglich, dieses Repertoire nicht nur als philologisches Studienobjekt, sondern als klingende Kunst einer breiteren Öffentlichkeit zu erschließen.

 

So erscheint das Eton Choirbook in doppelter Perspektive: als historisches Dokument einer spezifisch englischen Form klanglicher Prachtentfaltung kurz vor der Zäsur der Reformation und als lebendige Quelle eines Repertoires, das in den letzten Jahrzehnten Schritt für Schritt zurück in das Bewusstsein von Chören, Forschenden und Hörern gelangt. Wenn wir seine groß dimensionierten Marienantiphonen, Magnificat-Vertonungen und Passionen heute hören, begegnen wir einer Musik, die ihrer Zeit tief verhaftet ist und zugleich mit ihren weiten Melodiebögen, ihrer schillernden Harmonik und ihrem feierlich-langsamen Atem eine erstaunliche Unmittelbarkeit besitzt.

 

Der komplette Werkinventar des Eton Choirbook

 

1. f. 1v (v = verso = Rückseite des Blattes–4): O Maria salvatoris mater – John Browne

2. f. 4v–8: Gaude flore virginali – Hugh Kellyk

3. f. 8v–9v: O Maria plena gratiae – Walter Lambe

4. f. 10–11: Gaude flore virginali – Richard Davy

5. f. 11v–14: Stabat mater dolorosa – ?John Browne

6. f. 14v: O regina caelestis gloriae – Walter Lambe

7. f. 15–17: Stabat virgo mater Christi – ?John Browne

8. f. 17v–19: Stabat juxta Christi crucem – ?John Browne

9. f. 19v–22: O regina mundi clara – ?John Browne

10. f. 22v–25: Gaude virgo mater Christi – Sturton (Edmund Sturton)

11. f. 25v: O virgo prudentissima – Robert Wilkinson [unvollständig]

12. missing: Gaude flore virginali – Robert Wilkinson (verloren, kein Folio)

13. missing: Salve regina vas mundiciae – Fawkner (John Fawkyner) (verloren)

14. f. 26: Gaude flore virginali – William Cornysh (senior) [unvollständig]

15. f. 26v–29: Salve regina mater misericordiae – Robert Wilkinson

16. f. 29v–30: Salve regina mater misericordiae – William Brygeman

17. f. 30v–32: Salve regina mater misericordiae – William Horwood

18. f. 32v–34: Salve regina mater misericordiae – Richard Davy

19. f. 34v–36: Salve regina mater misericordiae – ?William Cornysh (senior)

20. f. 36v–38: Salve regina mater misericordiae – ?John Browne

21. f. 38v–40: Salve regina mater misericordiae – Walter Lambe

22. f. 40v–42: Salve regina mater misericordiae – John Sutton

23. f. 42v–44: Salve regina mater misericordiae – Robert Hacomplaynt

24. f. 44v–46: Salve regina mater misericordiae – Nicholas Huchyn

25. f. 46v–48: Salve regina mater misericordiae – Robert Wilkinson

26. f. 48v–50: Salve regina mater misericordiae – Robert Fayrfax

27. f. 50v–52: Salve regina mater misericordiae – Richard Hygons

28. f. 52v–54: Salve regina mater misericordiae – ?John Browne

29. f. 54v–56: Salve regina mater misericordiae – John Hampton

30. f. 56v–59: O Domine caeli terraeque creator – Richard Davy

31. f. 59v–62: Salve Jesu mater vera – Richard Davy

32. f. 62v–65: Stabat mater dolorosa – Richard Davy

33. f. 65v–68: Virgo templum trinitatis – Richard Davy

34. f. 68v–71: In honore summae matris – Richard Davy

35. f. 71v–74: O Maria et Elisabeth – Gilbert Banester

36. f. 74v–76: Gaude flore virginali – William Horwood

37. f. 76v–77v: Gaude virgo mater Christi – William Horwood

38. missing: O regina caelestis gloriae – Walter Lambe (verloren)

39. missing: Gaude flore virginali – Walter Lambe (verloren)

40. missing: Virgo gaude gloriosa – Walter Lambe (verloren)

41. missing: Stabat mater dolorosa – Robert Fayrfax (verloren)

42. missing: Ave cuius conceptio – Robert Fayrfax (verloren)

43. missing: Quid cantemus innocentes – Robert Fayrfax (verloren)

44. missing: Gaude flore virginali – John Dunstaple (verloren)

45. missing: Ave lux totius mundi – ?John Browne (verloren)

46. missing: Gaude flore virginali – ?John Browne (verloren)

47. missing: Stabat mater dolorosa – ?William Cornysh (senior) (verloren)

48. f. 78–80: Stabat mater dolorosa – ?William Cornysh (senior)

49. f. 80v–82: Gaude virgo salutata – Fawkner (John Fawkyner)

50. f. 82v–85: Gaude rosa sine spina – Fawkner (John Fawkyner)

51. f. 85v–87: Gaude flore virginali – Edmund Turges

52. f. 87v–88: Nesciens mater virgo virum – Walter Lambe

53. f. 88v: Salve decus castitatis – Robert Wilkinson

54. f. 89: Ascendit Christus hodie – Nicholas Huchyn

55. f. 89v–91v: O mater venerabilis – ?John Browne

56. missing: Ad te purissima virgo – ?William Cornysh (senior) (verloren)

57. f. 92v–93v: Ave lumen gratiae – Robert Fayrfax

58. missing: O virgo virginum praeclara – Walter Lambe (verloren)

59. f. 94–95: Gaude virgo mater Christi – Robert Wilkinson

60. f. 95v–97: Stabat virgo mater Christi – ?John Browne

61. f. 97v–99: Stella caeli extirpavit quae lactavit – Walter Lambe

62. f. 99v–101: Ascendit Christus hodie – Walter Lambe

63. f. 101v–103: Gaude flore virginali – Walter Lambe

64. f. 103v–105: Gaude flore virginali – Edmund Turges

65. f. 105v–106: Ave Maria mater Dei – ?William Cornysh (senior)

66. f. 106v–108: Gaude virgo mater Christi – ?William Cornysh (senior)

67. f. 108v–110v: Gaude virgo salutata – Holynborne

68. missing: Magnificat: Et exultavit spiritus meus – John Browne  (verloren)

69. missing: Magnificat: Et exultavit spiritus meus – Richard Davy (verloren)

70. f. 111: Magnificat: Et exultavit spiritus meus – John Nesbet

71. f. 111v–113: Magnificat: Et exultavit spiritus meus – William Horwood

72. f. 113v–116: Magnificat: Et exultavit spiritus meus – Hugh Kellyk

73. f. 116v–118: Magnificat: Et exultavit spiritus meus – Walter Lambe

74. f. 118v: Magnificat: Et exultavit spiritus meus – John Browne

75. missing: Magnificat: Et exultavit spiritus meus – Robert Fayrfax (verloren)

76. missing: Magnificat: Et exultavit spiritus meus – William Brygeman (verloren)

77. missing: Magnificat: Et exultavit spiritus meus – Robert Wilkinson (verloren)

78. missing: Magnificat: Et exultavit spiritus meus – Robert Mychelson (verloren)

79. f. 119–119v: Magnificat: Et exultavit spiritus meus – Robert Wilkinson

80. missing: Magnificat: Et exultavit spiritus meus – William Cornysh (junior) (verloren)

81. missing: Magnificat: Et exultavit spiritus meus – John Browne  (verloren)

82. f. 120–120v: Magnificat: Et exultavit spiritus meus – John Sygar

83. missing: Magnificat: Et exultavit spiritus meus – John Browne (verloren)

84. missing: Magnificat: Et exultavit spiritus meus – Edmund Turges (verloren)

85. missing: Magnificat: Et exultavit spiritus meus – Edmund Turges (zweite, verloren)

86. missing: Magnificat: Et exultavit spiritus meus – John Baldwin (verloren)

87. missing: Magnificat: Et exultavit spiritus meus – John Sygar (verloren)

88. missing: Magnificat: Et exultavit spiritus meus – John Baldwin (zweite, verloren)

89. missing: Magnificat: Et exultavit spiritus meus – Edmund Turges (dritte, verloren)

90. f. 121: Magnificat: Et exultavit spiritus meus – Richard Davy

91. f. 121v–123: Magnificat: Et exultavit spiritus meus – William Stratford

92. f. 124–126: Passio Domini – Richard Davy

93. f. 126v: Jesus autem transiens – Robert Wilkinson

Das Eton Choirbook

Musik aus dem Eton Choirbook, einer der bedeutendsten englischen Chorsammlungen des späten 15. Jahrhunderts

 

CD: The Rose and The Ostrich Feather – Eton Choirbook, Volume I. The Sixteen, Leitung Harry Christophers (* 1953), Aufnahme: Mai 1990, St Bartholomew’s Church, Orford; CORO, 2004, The Sixteen Productions Ltd.

 

Track 1 – Robert Fayrfax (1464–1521): Magnificat „Regale“

 

Fayrfax’ Magnificat „Regale“ gehört zur letzten, hochentwickelten Schicht der Eton-Polyphonie: weit ausschwingende Melismen, ein strahlender Spitzen­diskant und ein dichtes, imitatorisches Stimmengeflecht prägen diesen großen Mariengesang. Die Bezeichnung „Regale“ dürfte auf einen königlichen Kontext hinweisen – entweder auf die Chapel Royal oder auf ein „Collegium Regale“ wie King’s College, Cambridge – und passt damit gut zur repräsentativen, festlichen Anlage des Stücks. Die gregorianische Magnificat-Tonweise liefert den strukturellen Rahmen, doch Fayrfax umspielt sie mit kunstvollen Linien, wechselt zwischen vollbesetzter Klangfülle und schlankeren Versgruppen und baut das Werk so wie eine langsam sich öffnende, leuchtende Klangarchitektur auf.

https://www.youtube.com/watch?v=4TvKDNK9aq4&list=OLAK5uy_nHDmVKzxGb_XDctEoWqHMj6kBXV8gBUnY&index=1 

 

Das Werk war für Eton vorgesehen / dort eingetragen, ist aber nur in anderen Quellen vollständig erhalten, nämlich im Lambeth Choirbook und im Caius Choirbook.  

 

Robert Fayrfax (1464–1521) ist in dieser frühen Tudorwelt vor allem mit seinen großdimensionierten Marien-Magnificats präsent; das berühmteste, das sogenannte Magnificat Regale, ist zwar im Umfeld der Eton-Tradition verankert, hat sich aber vollständig nur im Lambeth- und im Caius-Choirbook erhalten und gehört damit zum weiteren, nicht mehr streng auf Eton beschränkten Kreis der englischen Votivkompositionen um 1500.

Deutsche Übersetzung (Lukas 1,46–55, Vulgata):

 

Meine Seele preist den Herrn

und mein Geist jubelt über Gott, meinen Retter,

denn er hat voll Liebe auf die Niedrigkeit seiner Magd geschaut.

Siehe, von nun an werden mich alle Geschlechter selig preisen,

denn Großes hat an mir getan der Mächtige,

und heilig ist sein Name.

Sein Erbarmen bleibt von Geschlecht zu Geschlecht

bei allen, die ihn in Ehrfurcht fürchten.

Er hat mit starkem Arm machtvolle Taten vollbracht,

die Hochmütigen in den Gedanken ihres Herzens zerstreut,

die Mächtigen vom Thron gestürzt

und die Niedrigen erhöht.

Die Hungrigen hat er mit Gütern erfüllt,

die Reichen aber leer ausgehen lassen.

Er hat sich Israels, seines Knechtes, angenommen

und seines Erbarmens gedacht,

wie er es unseren Vätern verheißen hat,

Abraham und seinen Nachkommen auf ewig.

Ehre sei dem Vater und dem Sohn und dem Heiligen Geist,

wie im Anfang, so auch jetzt und allezeit

und in Ewigkeit der Ewigkeit. Amen.

 

Track 2 – Richard Hygons (* um 1435–† um 1509): Salve Regina

 

Hygons’ Salve-Regina-Vertonung gehört zur frühen Schicht des „English votive style“: eine im Grunde noch nicht imitatorische, aber hochkomplexe Polyphonie, in der der Wechsel zwischen vollen und schlankeren Besetzungen für Spannung sorgt. Im Tenor liegt als cantus firmus die berühmte „Caput“-Melodie zugrunde, die im 15. Jahrhundert mehrere große Messen inspiriert hat – ein Hinweis darauf, dass diese Marienantiphon durchaus auch mit Herrschaft und „head of state“ assoziiert werden konnte.

 

Hygons spaltet den Text in lange, atmende Abschnitte auf, in denen sich Bitten und Klage­rufe der Gläubigen zu Maria in dicht verschränkten Linien überlagern; der Caput-Tenor ist wie ein ruhiger, tragender Untergrund, über dem sich die übrigen Stimmen in immer neuen Kombinationen entfalten. So entsteht ein ernstes, inniges, stellenweise fast kontemplatives Marienbild.

 

https://www.youtube.com/watch?v=wAKW73COiGU&list=OLAK5uy_nHDmVKzxGb_XDctEoWqHMj6kBXV8gBUnY&index=2 

 

Deutsche Übersetzung:

 

Sei gegrüßt, o Königin, Mutter der Barmherzigkeit,

unser Leben, unsere Süße und unsere Hoffnung, sei gegrüßt.

Zu dir rufen wir, verbannte Kinder Evas,

zu dir seufzen wir, klagend und weinend

in diesem Tal der Tränen.

So wende denn, unsere Fürsprecherin,

deine barmherzigen Augen zu uns

und zeige uns nach diesem Exil Jesus,

die gebenedeite Frucht deines Leibes.

 

Jungfrau, Mutter der Kirche,

du ewiges Tor der Herrlichkeit,

sei uns Zuflucht

bei dem Vater und dem Sohn.

 

O gütige, o milde,

o süße Jungfrau Maria.

 

Track 3 – Edmund Turges (* um 1440–† nach 1501): „From stormy windes“

 

Dieses dreistimmige englische Lied ist eine höfische Fürbitte für Prinz Arthur (1486–1502), den älteren Bruder Heinrichs VIII. (1491–1547). Die berühmte „ostrich feather“, die Straußenfeder, ist das Wappenzeichen des Prinzen von Wales; Turges bittet in eindringlichen, aber tänzerisch bewegten Linien darum, Gott möge „from stormy windes and grievious weather“ gerade dieses Zeichen – und damit den jungen Thronfolger – bewahren. Der Satz ist erstaunlich kunstvoll für ein englisches Lied: die Stimmen führen imitierende Einsätze, bilden kleine Ketten von Sequenzen und schwingen sich zu leuchtenden, fast hymnischen Kulminationen auf. Gleichzeitig bleibt der Tonfall unmittelbar und „liedhaft“, was die Verbindung aus höfischer Repräsentation und persönlicher Bitte besonders reizvoll macht.

 

https://www.youtube.com/watch?v=uZxrJr8SlFM&list=OLAK5uy_nHDmVKzxGb_XDctEoWqHMj6kBXV8gBUnY&index=3 

 

Deutsche Übersetzung:

 

Vor stürmischen Winden und schwerem Wetter,

o guter Herr, bewahre die Straußenfeder!

Du gesegneter Herr des himmlischen Himmels,

der du in deiner besonderen Gnade

Arthur, unseren Prinzen, uns Sterblichen gegeben hast,

damit er in Ehren über uns herrsche –

gib ihm Zeit und Raum,

denn durch seine Herkunft

ist er unser liebenswürdiger Prinz,

der durch Erbe von England und Frankreich

der rechtmäßige Erbe sein soll.

Darum singen wir jetzt:

Vor stürmischen Winden und schwerem Wetter,

Herr, bewahre seine Straußenfeder!

 

Und weil, o guter Herr, durch dein Schöpferwort

dieser edle Prinz aus königlichem Blut stammt,

so sei in jeder Lage sein Bewahrer,

damit er sich seines rechtmäßigen Erbes mit Freude erfreue,

damit er sein Recht erlange

und in Ehren herrsche –

dieser Erbe von Britannien, Kastilien und Spanien,

der rechtmäßige Erbe all dieser Reiche.

Darum singen wir jetzt:

Vor stürmischen Winden und schwerem Wetter,

Herr, bewahre seine Straußenfeder!

 

Nun aber du, gute Herrin,

unter all deinen Heiligen,

bitte deinen Sohn, die zweite Person der Dreifaltigkeit,

für diesen jungen Prinzen, der ist

und stets sein will

dein Diener mit ganzem freien Herzen.

O himmlische, mütterliche Königin,

Herrin der Unterwelt (der Seelen im Jenseits), zu dir rufen wir,

dass du sein Schutz und seine Bewahrung seist.

Darum singen wir:

Vor stürmischen Winden und schwerem Wetter,

Herr, bewahre seine Straußenfeder!

 

Track 4 – John Browne (* um1453–† nach 1500): „Stabat iuxta Christi crucem“

 

Brownes sechsstimmige Antiphon gehört zu den eindrucksvollsten Stücken des gesamten Eton Choirbook: ein tief besetztes, dunkel glühendes Klangbild, das die Schmerzen Mariens am Kreuz meditativ ausleuchtet. Charakteristisch ist das allmähliche Wachsen der Textur: aus ruhigen, quasi rezitierenden Passagen entwickelt sich eine immer dichter werdende Polyphonie mit expressiven Dissonanzen und typischen englischen „cross relations“, also scharfen chromatischen Reibungen zwischen den Stimmen. Besonders spannend ist, dass Browne als strukturelle Basis Motive aus Turges’ „From stormy windes“ übernimmt; dadurch wird das Leid der Gottesmutter auf allegorische Weise mit Trauer und Hoffnungen am Tudor-Hof verknüpft, insbesondere mit dem frühen Tod von Prinz Arthur Tudor (1486–2. April 1502), den älteren Bruder Heinrichs VIII. (1491–1547).

 

https://www.youtube.com/watch?v=QOHvA8rPmiQ&list=OLAK5uy_nHDmVKzxGb_XDctEoWqHMj6kBXV8gBUnY&index=4 

 

Deutsche Übersetzung:

 

Sie stand nahe bei dem Kreuz Christi

und sah das wahre Licht leiden,

die Mutter des Königs aller Welt.

Sie sah das mit Dornen gekrönte Haupt,

die durchbohrte Seite,

sie sah den Sohn sterben.

 

Sie sah den Leib gegeißelt,

Hände und Füße durchbohren

von grausamen Henkern.

Sie sah das geneigte Haupt,

den ganzen Leib von Blut bedeckt,

den Hirten, der sein Leben für die Schafe hingibt.

 

In solcher Not warst du damals,

fromme Jungfrau, als du sahst,

dass dein Sohn sterben musste.

So groß ist dieser Schmerz,

sagen die Heiligen,

dass er tausend Marty­rien übertrifft.

 

Du milde Jungfrau, du fromme Jungfrau,

Hoffnung der Schuldigen, Weinstock des Weges,

Jungfrau, voll der Gnade,

befiehl deinem Sohn und flehe ihn an,

dass er deinen Dienern ohne Zögern

die ewige Freude schenke.

 

Track 5 – Anonymus: „This day day dawes“

 

Dieses dreistimmige englische Lied entstammt derselben höfischen Umgebung wie Turges’ Carol: ein leichtfüßiger, aber kunstvoll gearbeiteter Satz, dessen Refrain „This day day dawes, this gentill day dawes“ wie ein immer wiederkehrender Lichtschimmer wirkt. Der Text entwirft die Vision eines „glorius garden grene“, in dem eine schöne Königin zwischen farbigen Blumen sitzt; besonders hervorgehoben wird die „lily-white rose“, die in der Forschung als Anspielung auf Elizabeth of York (1466–1503), die weiß-rote Tudor-Königin, gedeutet wird.

 

 Musikalisch ist das Stück eher transparent als monumental: imitatorische Einsätze, einfache Sequenzen und ein federnder Grundpuls lassen es wie eine höfische Morgenszene erscheinen, in der Natur, Liebe und Politik nahtlos ineinander übergehen.

 

https://www.youtube.com/watch?v=Q1961sfaG_0&list=OLAK5uy_nHDmVKzxGb_XDctEoWqHMj6kBXV8gBUnY&index=5 

 

Deutsche Übersetzung:

 

Dieser Tag beginnt zu dämmern,

dieser milde Tag bricht an,

dieser milde Tag bricht an –

und ich müsste eigentlich nach Hause gehen.

 

In einem herrlichen, grünen Garten

sah ich eine anmutige Königin sitzen,

mitten unter den Blumen, die frisch und lebendig waren.

Sie nahm eine Blume und setzte sie mitten zwischen die anderen.

Die lilienweiße Rose war es, die ich zu sehen meinte,

die lilienweiße Rose, so schien es mir;

und immer wieder sang sie:

Dieser Tag beginnt zu dämmern,

dieser milde Tag bricht an.

 

In diesem Garten standen Blumen in vielen Farben:

die feine Gewürznelke, die sie gut kannte,

die Lilienblume ordnete sie in Reihen,

und sie sprach: „Die weiße Rose ist die treueste von allen,

sie soll diesen Garten nach rechtem Gesetz regieren.“

Die lilienweiße Rose war es, die ich zu sehen meinte;

und immer wieder sang sie:

Dieser Tag beginnt zu dämmern,

dieser milde Tag bricht an.

 

Track 6 – William Cornysh (* um 1468–† Oktober 1523): Salve Regina

 

Cornysh’ große Salve-Regina-Vertonung gehört zu den virtuosesten und farbigsten Stücken des Eton Choirbook und repräsentiert den spätesten, hochblühenden Stil der Tudor-Polyphonie. Die Musik wirkt wie ein einziges Crescendo an Erfindungslust: weitgespannte Melismen im Diskant, schnelle Wechsel zwischen dichten Tutti-Passagen und filigranen Trio- oder Quartettgruppen, unerwartete harmonische Wendungen und ein großer Spannungsbogen, der den Text vom ersten „Salve Regina“ bis zum letzten „O dulcis Maria“ durchzieht.

 

Wahrscheinlich entstand das Werk für die Chapel Royal, wo Cornysh als „Master of the Children“ wirkte – und es ist nicht schwer, sich vorzustellen, wie diese leuchtende, vielfarbige Musik in der königlichen Kapelle die Marienverehrung und die Vorstellung eines machtvoll-gnädigen Hofes zugleich repräsentierte.

 

https://www.youtube.com/watch?v=ZRduiin7nX4&list=OLAK5uy_nHDmVKzxGb_XDctEoWqHMj6kBXV8gBUnY&index=6 

 

Deutsche Übersetzung:

 

Sei gegrüßt, o Königin, Mutter der Barmherzigkeit,

unser Leben, unsere Süße und unsere Hoffnung, sei gegrüßt.

Zu dir rufen wir, verbannte Kinder Evas,

zu dir seufzen wir, klagend und weinend

in diesem Tal der Tränen.

 

So wende denn, unsere Fürsprecherin,

deine barmherzigen Augen zu uns

und zeige uns nach diesem Exil Jesus,

die gesegnete Frucht deines Leibes.

 

Jungfrau, Mutter der Kirche,

du ewiges Tor der Herrlichkeit,

sei uns Zuflucht beim Vater und beim Sohn,

nimm unsere Bitten an und trage sie zu ihm.

 

O gütige, o barmherzige,

o süße Jungfrau Maria,

sei uns nahe jetzt

und in der Stunde unseres Todes. Amen.

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Eton Choirbook Volume I

CD The Crown of Thorns: Eton Choirbook Volume II, The Sixteen, Leitung Harry Christophers (* 1953), Coro, 1992, Wiederveröffentlichung 2003

 

 

Track 1– Richard Davy  (* um 1465 – † 1538): Stabat mater

 

Davy gehört zu den frühesten Komponisten des Eton Choirbook und steht stilistisch noch deutlich in der Tradition der späten englischen „florid style“-Polyphonie. Seine Stabat-mater-Vertonung entfaltet sich in langen, feierlich ausschwingenden Phrasen, in denen die Stimmen wie Girlanden ineinander greifen und den Hörer in einen ruhigen, kontemplativen Strom ziehen. Über weite Strecken ist der Cantus in langen Notenwerten geführt, während die übrigen Stimmen mit melismatischer Fülle den Schmerz der Mutter Christi ausdeuten. Charakteristisch sind die häufigen Engführungen und das dichte Stimmengeflecht, das immer wieder zu machtvollen Tuttipassagen anschwillt, bevor es sich wieder in feiner Linienzeichnung auflöst. Die The Sixteen singen das Stück mit großer Ruhe und innerer Spannung, so dass der Eindruck eines beinahe zeitlosen Klagelieds entsteht, das den Hörer unmittelbar in die Spiritualität um 1500 versetzt.

https://www.youtube.com/watch?v=H6VOFskGuNw&list=OLAK5uy_mkOAQyWRGDZX0QcuxVDIpMvKBNVRJNvaU&index=1 

 

Deutsche Übersetzung des gesungenen Textes (Stabat mater)

 

Es stand die Mutter voller Schmerzen,

weinend bei dem Kreuz des Sohnes,

den sie dort am Holze hängen sah.

 

Durch ihre tiefbeklagte Seele,

von Trauer ganz und Gram erfüllt,

drang das Schwert des Leidens hin.

 

O wie traurig, wie gequält

war die hochgesegnete Mutter

jenes eingebornen Sohns.

 

Wie sie trauernd, wie sie litt,

diese fromme, treue Mutter,

als sie sah die Qual des Sohns.

 

Welcher Mensch bleibt da ohne Tränen,

sieht er Christi Mutter stehen

in so großer Qual und Not?

 

Wer vermöchte unberührt

Christi Mutter anzuschauen,

die so leidet mit dem Sohn?

 

Für die Sünden seines Volkes

sah sie Jesus in den Qualen,

unter Hieben, Schlägen beugt.

 

Sah den süßen, teuren Sohn

sterbend einsam und verlassen,

da er seinen Geist verhaucht.

 

Mutter, Quell der heil’gen Liebe,

lass mich fühlen deine Schmerzen,

dass ich mit dir trauern kann.

 

Lass mein Herz in Liebe brennen

zu dem Christus, unserm Gott,

dass ich ihm gefallen mag.

 

Heilige Mutter, mach doch dieses:

tief die Wunden des Gekreuzigten

präge mir in Herz und Sinn.

 

Deines Sohnes Wunden, die er

willig für mich auf sich nahm,

lass mich teilen seine Pein.

 

Lass mich mit dir tränenreich

für den Gekreuzigten weinen,

solang ich auf Erden bin.

 

Lass mich mit dir an dem Kreuz

stehend treu und ungeteilt

dein Gefährte im Klagsein sein.

 

Jungfrau, unter allen Jungfraun

strahlend herrlich, sei mir milde,

lass mich mit dir weinen darf.

 

Lass mich Christi Tod mittragen,

seiner Passion Gefährte sein,

seine Wunden stets betrachten.

 

Lass von seinen Wunden mich

tief verwundet, trunken werden

von dem Blut des Gottessohns.

 

Dass die Flammen mich nicht treffen,

schütz mich, Jungfrau, an dem Tag,

da das Weltgericht beginnt.

 

Christus, wenn ich scheiden muss,

lass mich durch die Mutter kommen

zu des Himmels Siegespreis.

 

Wenn mein Leib einst sterben wird,

gib der Seele dann die Gnade,

dass des Paradieses Glanz sie schaut.

 

Track 2 – John Browne (* 1453 – † nach 1500): Jesu, mercy, how may this be?

 

Brownes groß angelegte Meditation „Jesu, mercy, how may this be?“ gehört zu den eindrucksvollsten englischen Passionsbetrachtungen des späten 15. Jahrhunderts. Hier tritt an die Stelle des lateinischen Hymnus ein englischer, gereimter Andachtstext, der staunend vor dem Geheimnis der Menschwerdung und des Leidens Christi steht und in mehreren Strophen zwischen Bewunderung, Entsetzen und dankbarer Antwort des Gläubigen pendelt. Musikalisch verbindet Browne ausgedehnte imitatorische Abschnitte mit homophonen Verdichtungen auf besonders gewichtigen Worten wie „mercy“ oder „humanity“, so dass die Musik wie ein innerer Dialog und zugleich wie eine große Kollektivbitte wirkt. Die reiche Dissonanzbehandlung und die für Browne typische Weite des Ambitus verleihen dem Stück eine eindringliche, manchmal fast schmerzhaft gespannte Klanglichkeit. In der Interpretation von The Sixteen entfaltet sich diese Musik als stilles, aber glühendes Passionsdrama, in dem der Chor den staunenden, fragenden und schließlich dankbaren Menschen verkörpert.

 

https://www.youtube.com/watch?v=3_oGeCERBbE&list=OLAK5uy_mkOAQyWRGDZX0QcuxVDIpMvKBNVRJNvaU&index=2 

 

Deutsche Übersetzung des gesungenen Textes

 

Jesu, erbarme dich, wie kann das sein,

dass Gott selbst nur um der Menschen willen

unsere Menschennatur annimmt?

Mein Verstand und meine Vernunft

können das kaum begreifen:

Jesu, erbarme dich, wie kann das sein?

 

Christus, von unendlicher Macht,

dem Vater an Gottheit gleich,

unsterblich, leidensfern, das Licht der Welt –

und er wollte sterblich werden!

Jesu, erbarme dich, wie kann das sein?

 

Er, der die Welt aus dem Nichts erschuf,

der Schmerzen schuf und auch die Freude,

wollte selbst den Schmerz erleiden,

mit Weinen, Klagen, fast verzweifelnd vor Leid.

Jesu, erbarme dich, wie kann das sein?

 

Ach, Jesu, warum ließest du dir solches antun –

Schläge, Spott und freche Misshandlung,

ja Speichel mitten in dein Gesicht?

Fortgeschleppt wie ein Dieb, im Todeskampf schwitzend

Blut und Wasser, ans Kreuz geschlagen – welch schwere Last!

Jesu, erbarme dich, wie kann das sein?

 

Sieh, Mensch, für dich, der du so undankbar warst,

habe ich all dies gern erlitten.

Und warum, guter Herr?

Erkläre mir deinen Sinn!

Um dir Freude und Seligkeit zu erwerben.

Jesu, erbarme dich, wie kann das sein?

 

Track 3 – William Cornysh der Ältere (* um 1468 – † Oktober 1523): Stabat mater

 

Cornyshs Stabat-mater-Vertonung gilt als einer der Höhepunkte der gesamten Sammlung, weil sie den Eton-Stil in seiner äußersten Virtuosität zeigt. Auf der Grundlage des gleichen lateinischen Hymnus wie bei Davy und Browne steigert Cornysh die kontrapunktische Dichte und die Spannweite der Stimmen noch einmal deutlich. Lange, hoch aufstrebende Sopranlinien und weiträumige Bassgänge werden von einem Geflecht innerer Stimmen getragen, das fast ununterbrochen in Bewegung ist und so den unruhigen inneren Schmerz Marias abbildet. Zugleich blitzen immer wieder erstaunlich expressive harmonische Wendungen und kühne Dissonanzen auf, die den Text „dolorosa“, „lacrimosa“ oder „poenas“ unmittelbar hörbar machen. In der Aufnahme von The Sixteen wird diese monumental-innige Klage zu einem gewaltigen Bogen, der von leiser Trauer bis zu fast überwältigender Klangfülle reicht und die Hörer in eine intensive Passionserfahrung hineinzieht.

https://www.youtube.com/watch?v=mtOEZ8WrVeo&list=OLAK5uy_mkOAQyWRGDZX0QcuxVDIpMvKBNVRJNvaU&index=3 

 

Deutsche Übersetzung des gesungenen Textes (Stabat mater, wie oben)

 

Track 4 – Sheryngham (Wirkungszeit. um 1500): Ah, gentle Jesu

 

 

Das nur in wenigen Quellen greifbare „Ah, gentle Jesu“ ist ein Kleinod der spätmittelalterlichen englischen Andachtslyrik in Musik. Der Text – wahrscheinlich auf den Dichter John Lydgate zurückgehend – gestaltet einen dialogischen Austausch zwischen Christus und der sündigen Seele, in dem aus dem ersten erschrockenen Ruf allmählich Reue, Vertrauen und Liebe erwachsen. Sherynghams Vertonung folgt dieser inneren Dramaturgie mit wechselnden Texturen: kurze homophone Antworten wechseln mit bewegteren imitatorischen Passagen, in denen sich die Stimmen gleichsam um Barmherzigkeit drängen. Besonders eindrucksvoll sind die ruhigen, beinahe zärtlichen Momente, in denen Christus von seinen Wunden und seiner Passion spricht und der Chor in leiser, dennoch spannungsreicher Klanglichkeit verharrt. The Sixteen lassen daraus ein sehr persönliches, innerliches Gespräch werden, das in seiner Schlichtheit nicht weniger ergreifend wirkt als die großen Stabat-mater-Vertonungen der CD.

 

https://www.youtube.com/watch?v=uwG-4Fwl2k0&list=OLAK5uy_mkOAQyWRGDZX0QcuxVDIpMvKBNVRJNvaU&index=4 

 

Deutsche Übersetzung des gesungenen Textes

 

Ach, milder Jesu!

Wer ruft da wohl nach mir?

Ich, ein Sünder, der so oft fällt.

Was willst du von mir?

Erbarmen, Herr, von dir erfleh ich.

Warum, liebst du mich?

Ja, als meinen Schöpfer nenne ich dich.

Dann lass die Sünde, sonst kann ich dich nicht annehmen,

und denk an diese Lehre, die ich dir jetzt gebe.

Ach ja, ich will, o milder Jesu!

 

Am Kreuz ließ ich mich für dich annageln,

erlitt den Tod, um dein Lösegeld zu zahlen.

Verlass die Sünde, Mensch, um meiner Liebe willen,

sei reumütig und bekenne offen;

dem zerknirschten Herzen schenke ich Vergebung.

Verzweifle nicht, denn ich bin nicht rachsüchtig;

gegen die unsichtbaren Feinde bedenke mein Leiden.

Warum bist du widerspenstig, da ich doch barmherzig bin?

 

Wer ruft da wohl nach mir?

Meine blutenden Wunden, die an diesem Holz herabfließen,

schau sie genau an und hab Erbarmen;

die Dornenkrone, den Speer, die drei Nägel,

durchbohrte Hände und Füße aus roher Bosheit,

mein durchbohrtes Herz zu deiner Erlösung.

Lass uns in dieser Sache beide einig werden:

Liebe um Liebe, so ist es recht.

Warum bist du widerspenstig, da ich doch barmherzig bin?

 

Wer ruft da wohl nach mir?

Über Petrus und Maria Magdalena hatte ich Erbarmen;

darum sei du getrost in deiner Reue.

Thomas von Indien in seinem Unglauben

legte seine Hände tief in meine Seite.

Präge dir das ein, bewahre es in deinem Verstand!

Da ich so gütig bin, warum bist du so wankelmütig?

Mein Blut ist beste Arznei gegen deine Schuld;

sei nicht störrisch, da ich doch barmherzig bin!

 

Wer ruft da wohl nach mir?

Denk, o Stolz, noch einmal an meine Demut!

Komm zur Schule und merke dir diese Lehre;

gegen falschen Neid denk an meine Liebe,

an mein Blut, das ganz und gar vergossen wurde.

Warum tat ich dies? Um dich aus dem Kerker zu befreien.

Trage dies Wort wie eine kleine Tafel vor deinem Herzen,

süßer als Balsam gegen die heimliche Vergiftung:

fürchte dich nicht, da ich doch barmherzig bin.

 

Wer ruft da wohl nach mir?

Herr, über alle Sünder, hier knieend vor dir,

deinen Tod in demütiger Liebe bedenkend,

gewähre, o Jesu, aus deiner Güte,

dass deine fünf Quellen, so reich an Strömen,

die man nach der Zahl als fünf Wunden nennt,

uns alle waschen von verwerflicher Schuld.

Durch die demütige Fürsprache deiner Mutter,

sei auf ihr Bitten gegen uns barmherzig.

 

Wer ruft da wohl nach mir?

 

Track 5 – John Browne (* 1453 – † nach 1500): Stabat mater

 

Brownes lateinisches Stabat mater ist wohl sein bekanntestes Werk und ein Schlüsselstück für das Verständnis der englischen Marienpolyphonie um 1500. Der Komponist nutzt die große Textfülle des Hymnus, um einen weitgespannten musikalischen Bogen zu schlagen, der in langen Abschnitten den Schmerz der Gottesmutter ausdeutet und sich nur selten in klar abgeschlossene „Sätze“ gliedert. Immer wieder stehen ausgedehnte, nahezu ekstatische Linien der oberen Stimmen über einem ruhig schreitenden Fundament, so dass der Eindruck eines nicht abreißenden Klagens entsteht. Browne scheut sehr kühne Dissonanzen und überraschende harmonische Wendungen nicht, gerade wenn der Text von den Qualen Christi und von Marias innerem Durchbohrtsein spricht; so wird der emotionale Gehalt des Textes unmittelbar hörbar. In der Interpretation von The Sixteen wirkt dieses Stabat mater wie ein großes, meditatives Passionsoratorium, in dem sich spätmittelalterliche Frömmigkeit, kompositorische Raffinesse und klangliche Reinheit zu einer eindrucksvollen Einheit verbinden.

 

https://www.youtube.com/watch?v=aBGQwJnOKsY&list=OLAK5uy_mkOAQyWRGDZX0QcuxVDIpMvKBNVRJNvaU&index=5 

 

Deutsche Übersetzung des gesungenen Textes (Stabat mater, wie oben)

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Eton Choirbook Volume II

CD The Pillars of Eternity – Eton Choirbook Volume III, The Sixteen, Leitung Harry Christophers, Aufnahme  Mai 1992, The Sixteen Productions Ltd., 2004

 

Mit The Pillars of Eternity – Eton Choirbook Volume III lenkt The Sixteen unter Harry Christophers (* 1953) den Blick auf die strukturellen „Tragpfeiler“ des Repertoires: Komponisten wie Richard Davy (* um 1465 – † 1538), William Cornysh (* um 1468 – † Oktober 1523), Walter Lambe (* um 1450 – † 1504) und Robert Wylkynson (* um 1450 – † nach 1515) stehen hier exemplarisch für die architektonische Seite der frühen Tudorpolyphonie. Die CD vereint besonders groß disponierte Werke, darunter mehrteilige Salve-Regina-Vertonungen und majestätische Magnificat-Sätze, in denen die Komponisten mit wechselnden Besetzungen, blockhaften Tuttieinsätzen und kammermusikalischen Binnenpassagen spielen. Der Titel „Pillars of Eternity“ ist nicht nur poetisches Bild, sondern recht treffend: diese Werke sind tragende Säulen der englischen Votivmusik um 1500. Die Aufnahme – ursprünglich Anfang der 1990er-Jahre erschienen und später auf CORO neu aufgelegt – wurde in der Fachpresse immer wieder für ihren leuchtenden, zugleich konturierten Ensembleklang gelobt: Der typische „Englische Chorklang“ mit hellen Trebles, schlanken Altus-Stimmen und kernigen Männerstimmen wird hier zu einem raumgreifenden, aber niemals verschwommenen Gesamtbild verschmolzen, das die konstruktive Logik der Stücke hörbar macht.

 

Track 1 –  Richard Davy, O Domine Caeli Terraeque Creator

 

O Domine caeli terraeque creator gehört zu den markantesten und eigenständigsten Beiträgen Richard Davys (* um 1465 – † 1538) im Eton-Umfeld. Das Werk steht an der Schwelle zwischen spätgotischer Linearität und einer bereits deutlich ausgeprägten Tudor-Polyphonie. Davy, der als Organist und Magister choristarum am Magdalen College in Oxford wirkte, bevorzugt hier eine ausgesprochen plastische Stimmführung: lange, kantable Oberstimmen, getragen von einer äußerst stabilen Mittelstimmendichte, die die Textur fast wie ein schweres Gewölbe trägt.

 

Charakteristisch ist die klare Zweiteiligkeit des Stücks. Der erste Abschnitt entwickelt sich aus einem ruhigen, beinahe silbrigen Anruf Gottes, in dem die Stimmen zunächst engen imitatorischen Mustern folgen und den Text feierlich ausleuchten. Der zweite Teil wird zunehmend expressiver: Die Polyphonie weitet sich, die Intervalle werden kühner, und Davys Satz gewinnt eine fast drängende Intensität. Dies wirkt keineswegs opernhaft, sondern bleibt vollkommen im Rahmen der englischen Marien- und Votivtradition des späten 15. Jahrhunderts – eine Musik, die ihre Erhabenheit aus klanglicher Fülle, nicht aus dramatischen Gesten bezieht.

 

Die Harmonik ist typisch englisch: reich an klanglichen Reibungen, aber weich im Verlauf, durchzogen von jenen charakteristischen „englischen Süßklängen“, die später Continentale bewundern sollten. Textlich ist das Werk eine demütige Anrufung des Schöpfers, musikalisch jedoch eine Demonstration jener souveränen Stimmarchitektur, die Davy zu einem der bedeutendsten Meister des Eton-Kontextes macht.

 

https://www.youtube.com/watch?v=fxzxJf7tczk&list=OLAK5uy_ldVr6WkkKOizYt-p8A49ZT_95ic82uy_c&index=2 

 

Deutsche Übersetzung

 

O Herr, Schöpfer des Himmels und der Erde,

erbarme dich unser, die wir dich inständig bitten.

O wahres Licht und ewige Weisheit des Vaters,

erleuchte unsere Herzen mit deinem Glanz.

O Gott, unsichtbar und unergründlich,

höre das Flehen derer, die zu dir rufen.

Schone unsere Schwachheit

und leite unsere Schritte auf den Weg des Friedens.

Gib uns die Hilfe deiner Gnade,

damit wir würdig werden, vor dir zur Herrlichkeit zu gelangen.

 

Track 2 – William Cornysh: Ave Maria, Mater Dei 

 

Das kurze, aber klanglich dichte Ave Maria, Mater Dei gehört zu den eindrucksvollsten kleinformatigen Werken, die unter dem Namen William Cornysh überliefert sind. Ob es sich um den älteren oder den jüngeren Cornysh handelt – also um den Komponisten des späten 15. Jahrhunderts oder den Hofkünstler Heinrichs VIII. – ist nicht abschließend geklärt. Doch stilistisch steht die Komposition spürbar im Umkreis des Eton- und frühen Lambeth-Stils: klar konturierte Linien, sanft schwebende Harmonien und eine subtile Gewichtung der Textabschnitte.

 

Im Mittelpunkt steht eine musikalische Haltung, die weniger auf Monumentalität als auf Reinheit, Licht und kantable Führung bedacht ist. Die Stimmen öffnen den Satz mit einer ruhigen, fast gläsernen Intonation des „Ave Maria“: keine überbordenden Melismen, sondern elegant geformte Linien, die sich organisch übereinanderlegen. Auffällig ist die Disziplin der Polyphonie: Cornysh vermeidet die extreme Ambitusweite und die nahezu „skulpturale“ Textur mancher Eton-Stücke zugunsten eines transparenten Klangbildes, das die Worte verständlich und die Andacht unmittelbar macht.

 

Besonders typisch ist der zarte, beinahe bittende Tonfall im mittleren Teil („miserere mei“). Die Musik zieht sich hier bewusst zurück, die Stimmführung wird enger, die Harmonik weicher – ein eindringlicher Moment spiritueller Sammlung. Erst in der Schlusswendung weitet sich der Satz wieder und endet in einer warmen, ruhigen Kadenz, die den Text wie einen stillen, andächtigen Atemzug ausklingen lässt.

 

Damit gehört Ave Maria, Mater Dei zu jener Art englischer Marienminiaturen, die nicht auf klangliche Pracht, sondern auf innere Leuchtkraft setzen – eine idealtypische Tudor-Andacht, schlicht in der äußeren Form, reich im geistigen Ausdruck.

 

https://www.youtube.com/watch?v=dNBT2KkL8Rk&list=OLAK5uy_ldVr6WkkKOizYt-p8A49ZT_95ic82uy_c&index=2 

 

Deutsche Übersetzung

 

Ave Maria, Mutter Gottes,

bitte für mich,

dass ich der Herrlichkeit würdig werde,

und dass Christus mich erretten möge

vor aller Sünde und vor jeglichem Übel.

Miserere mei

und höre mein Gebet.

Amen.

 

Track 3 – Richard Davy, Ah, mine heart, remember thee well

 

Dieses kurze geistlich-weltliche Lied gehört zu jenen englischen early Tudor carols, die eine Mischform aus meditativem Andachtslied, persönlicher Klage und musikalischer Miniatur bilden. Richard Davy, der als Organist und magister choristarum des Magdalen College in Oxford wirkte, zeigt hier eine andere Seite seines Schaffens: nicht die großformatige Votivpolyphonie des Eton-Stils, sondern eine schlichte, innige, beinahe kammermusikalische Ausdrucksweise.

 

Der Satz ist meist dreistimmig geführt, die Stimmen unterhalten sich gleichsam auf Augenhöhe. Charakteristisch ist die typisch englische Mischung aus süßer Modalharmonik, sanften Vorhalten und einer gewissen klagenden Melancholie. Die Oberstimme trägt den Text mit einer schlichten, beinahe volksliedhaften Melodie, während die unteren Stimmen eine warme, stetige harmonische Grundlage bilden.

 

Der Text — eine innere Selbstmahnung des Herzens — ist typisch für spätmittelalterliche englische Andachtsdichtung: keine dramatische Passionserzählung, sondern ein persönlicher, emotionaler Blick auf das Leiden Christi. Die Musik verstärkt diesen intimen Charakter: leichte synkopische Bewegungen, weiche Kadenzbildungen und ein ruhiger Fluss, der das Stück wie ein stilles Gebet wirken lässt.

 

Damit ist Ah, mine heart, remember thee well ein idealtypisches Beispiel jener englischen „devotional songs“, die an der Schwelle zur Tudorzeit die Brücke zwischen liturgischer Hochkunst und persönlicher Frömmigkeit schlagen — zart, introspektiv und klanglich vollkommen eigenständig.

 

https://www.youtube.com/watch?v=eXJ4bbJvit8&list=OLAK5uy_ldVr6WkkKOizYt-p8A49ZT_95ic82uy_c&index=3 

 

Deutsche Übersetzung

 

Ah, mein Herz, gedenke wohl,

wie bitter Christus litt für dich.

Er trug die Last, er blutete sehr,

und alles nahm er dir zulieb.

 

Ach, mein Herz, vergiss es nie:

für deine Schuld nahm er das Leid,

sein Tod macht dich von Sünden frei.

Gedenke seiner Tag für Tag.

 

Track 4 – Walter Lambe, Stella caeli

 

Stella caeli zählt zu den glänzendsten und zugleich am feinsten gearbeiteten Werken Walter Lambes, der in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts zunächst als King’s Scholar in Eton und später als Sänger und Kleriker an St George’s Chapel in Windsor und am All Souls College in Oxford tätig war. Obwohl Lambe im Eton Choirbook mit mehreren groß besetzten Marienantiphonen vertreten ist, zeigt Stella caeli eine andere Seite seines Stils: nicht die monumentale Votivpolyphonie, sondern jene stille, innige Marienfrömmigkeit, die im spätmittelalterlichen England weit verbreitet war.

 

Musikalisch verbindet das Werk die charakteristische englische Linearität – lange, kantable Phrasen in den oberen Stimmen – mit einer äußerst sorgfältigen Stimmverflechtung. Die Textur bleibt während des ganzen Stücks transparent; statt massiver Tutti-Blöcke entfaltet Lambe ein polyphones Gewebe, in dem die Stimmen einander imitatorisch aufnehmen und in sanften Wellen weiterführen. Die Harmonik ist typisch für die Eton-Zeit: reich an süßen Vorhalten, weichen Reibungen und klanglichen „Blüten“, die wie helle Lichtpunkte in der Polyphonie aufscheinen.

 

Der Text ist eine der ältesten und wirkmächtigsten marianischen Antiphonen gegen Pest und Seuchen. Lambes Vertonung zeichnet sich dabei durch eine Mischung aus Bitte und Zuversicht aus: Das Werk beginnt in ruhiger, bittender Haltung („Stella caeli“ – „Stern des Himmels“), steigert sich im Mittelteil zu einer drängenden, fast beschwörenden Bitte um Befreiung von der „Pest des Alten Gesetzes“ und findet schließlich zu einem ruhig gefassten Schluss zurück.

 

So steht Stella caeli paradigmatich für Lambes Fähigkeit, selbst schlichte Texte in eine polyphone Architektur von überraschender emotionaler Tiefe zu verwandeln — eine Kunst, die ihn zu einem der markantesten Meister der frühen Tudorzeit macht.

 

https://www.youtube.com/watch?v=OsAfzBwCDDc&list=OLAK5uy_ldVr6WkkKOizYt-p8A49ZT_95ic82uy_c&index=4 

 

Deutsche Übersetzung

 

Der Himmelsstern hat ausgerissen,

den sie selbst genährt hat, den Herrn:

die Pest des Todes, die pflanzte

der erste Vater des Menschengeschlechts.

 

Möge nun dieser Stern sich würdigen,

die Gestirne zu zähmen,

deren Streit das Volk erschlägt

mit grausamem Todesmal.

 

O mildeste Meeresstern,

rette uns vor der Pest.

Höre uns: denn dein Sohn

ehrt dich und versagt dir nichts.

 

Rette uns, Jesus Christus,

für die dich die jungfräuliche Mutter nährte.nahm er dir zulieb.

 

Track 5 – Richard Dawy, Ah, Blessed Jesu, How Fortuned This?

 

Dieses kleine Passionslied zeigt Richard Davy von seiner introspektiven, beinahe lyrischen Seite. Anders als seine großdimensionierten Votivkompositionen im Eton-Umfeld ist Ah, blessed Jesu, how fortuned this? ein englischsprachiges Andachtsstück, das aus der Tradition spätmittelalterlicher Passionserzählungen hervorgeht. Diese kurzen, klagenden Texte dienten häufig der privaten Meditation und wurden in Klöstern wie auch in Colleges als stille Betrachtung Christi am Kreuz gesungen.

 

Musikalisch steht das Werk zwischen Carollied und geistlicher Miniatur. Die Stimmführung ist klar, relativ schlicht und auf Textverständlichkeit ausgelegt; die Polyphonie bleibt enggeführt, mit kurzen imitatorischen Einsätzen und jenen sanften, modalen Wendungen, die Davys Handschrift kennzeichnen. Der Charakter ist zurückhaltend und innig: Die Oberstimme führt eine klagende Melodie, während die Begleitstimmen eine warme, sanft pulsierende Klangfläche bilden.

 

Das Besondere an Davys Vertonung ist die emotionale Direktheit. Der Text stellt eine persönliche Frage an Christus – „Wie konnte es dazu kommen?“ – und die Musik verstärkt diesen Ton: die Linien sinken, die Intervalle öffnen sich klagend, und die Satzbewegung bleibt weich, fast tastend. Dieser kontemplative Charakter macht das Stück zu einem der berührendsten kleinen Werke Davys und zu einem typischen Beispiel spätmittelalterlicher englischer Passionsfrömmigkeit.

 

https://www.youtube.com/watch?v=pCAnWsIhf0g&list=OLAK5uy_ldVr6WkkKOizYt-p8A49ZT_95ic82uy_c&index=5 

 

Deutsche Übersetzung

 

Ach seliger Jesus, wie konnte es geschehen,

dass du um meiner Vergehen willen leiden musstest?

So viel Qual und so große Pein

hast du ertragen aus Liebe zu mir.

 

Ach süßer Jesus, gedenke meiner

und lass mich niemals von dir weichen.

Schenke mir, Herr, in aller Not

deine Gnade, dir wahrhaft zu folgen.

 

Track 6 – Robert Wylkynson, Jesus autem transiens / Credo in Deum

 

Robert Wylkynson, der als Clerk und später als Informator choristarum am Eton College tätig war, gehört zu den eigenwilligsten und visionärsten Meistern im Umfeld des Eton Choirbook. Sein Werk Jesus autem transiens / Credo in Deum ist ein Paradebeispiel dafür: eine Architektur von seltenem Format, ein 13-stimmiges Stück, das zugleich Mysterium, Demonstration kontrapunktischer Virtuosität und klangliche Ikone der späten englischen Gotik ist.

 

Das Werk kombiniert zwei Ebenen:

 

Eine schlichte, syllabische Antiphon („Jesus autem transiens…“), die im Tenor in langen, stabilen Notenwerten geführt wird und ein großformatiges Credo, das sich darüber und darum herum ausbreitet – in insgesamt 13 Stimmen.

 

Wylkynson arbeitet hier nicht mit traditioneller Imitation, sondern mit einem modalen Klangraum, der sich durch die Vielzahl der Stimmen wie ein schimmernder Teppich entfaltet. Die Stimmen treten in Gruppen auf – Soprancluster, Mittelstimmen sowie ein tiefes Fundament –, und die Musik wirkt weniger linear motivisch als architektonisch geschichtet.

 

Besonders bemerkenswert ist die Art, wie Wylkynson die Textaussagen des Credo vertont:

– „Et incarnatus est“ erhält eine überraschende Weichheit;

– „Crucifixus etiam pro nobis“ führt zu spannungsreichen Reibungen;

– „Et resurrexit“ klärt den Satz und lässt Licht in die dichte Textur fallen.

 

Die 13-stimmige Dichte wurde über Jahrhunderte als nahezu „unaufführbar“ betrachtet – erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts gelang eine überzeugende Wiederbelebung. Klanglich gehört das Werk zu den monumentalsten Schöpfungen der englischen Frühpolyphonie, vergleichbar in Ambition und geistiger Geste mit den großen isorhythmischen Motetten des 14. Jahrhunderts oder den Triumpharchitekturen der franko-flämischen Schule.

 

Jesus autem transiens / Credo in Deum zeigt Wylkynson als Komponisten, der nicht nur in die Tradition schreibt, sondern sie transzendiert – eine der ganz großen musikalischen Visionen Englands um 1500.

 

https://www.youtube.com/watch?v=k5YnQk-EZO8&list=OLAK5uy_ldVr6WkkKOizYt-p8A49ZT_95ic82uy_c&index=6 

 

Deutsche Übersetzung

 

Antiphon

Jesus aber schritt mitten durch sie hindurch und ging weiter.

Und niemand konnte Hand an ihn legen,

denn seine Stunde war noch nicht gekommen.

 

Credo

Ich glaube an Gott, den allmächtigen Vater,

den Schöpfer des Himmels und der Erde,

aller sichtbaren und unsichtbaren Dinge.

 

Und an den einen Herrn Jesus Christus,

den eingeborenen Sohn Gottes,

aus dem Vater geboren vor aller Zeit.

 

Gott von Gott, Licht vom Licht,

wahrer Gott vom wahren Gott,

gezeugt, nicht geschaffen,

wesensgleich dem Vater;

durch ihn ist alles geworden.

 

Für uns Menschen

und zu unserem Heil

ist er vom Himmel herabgestiegen.

 

Und er hat Fleisch angenommen

durch den Heiligen Geist

aus Maria, der Jungfrau,

und ist Mensch geworden.

 

Er wurde für uns gekreuzigt

unter Pontius Pilatus,

hat gelitten und wurde begraben.

 

Am dritten Tage ist er auferstanden

nach der Schrift.

 

Er ist in den Himmel aufgefahren

und sitzt zur Rechten des Vaters.

 

Er wird wiederkommen in Herrlichkeit,

zu richten die Lebenden und die Toten;

seiner Herrschaft wird kein Ende sein.

 

Ich glaube an den Heiligen Geist,

den Herrn und Lebensspender,

der aus dem Vater und dem Sohn hervorgeht.

 

Er wird mit dem Vater und dem Sohn

zugleich angebetet und verherrlicht;

er hat gesprochen durch die Propheten.

 

Ich glaube an die eine, heilige, katholische

und apostolische Kirche.

 

Ich bekenne die eine Taufe

zur Vergebung der Sünden.

 

Ich erwarte die Auferstehung der Toten

und das Leben der kommenden Welt.

Amen.

 

Track 7 – Robert Wylkynson, Salve Regina

 

Robert Wylkynson, der über viele Jahre hinweg als Clerk und schließlich als Informator choristarum am Eton College wirkte, gehört zu den kreativsten und gleichzeitig eigenwilligsten Meistern der englischen Frühpolyphonie. Seine Beiträge im Eton Choirbook zeigen eine erstaunliche Spannweite: von komplexen Klangmonumenten wie dem 13-stimmigen Credo bis zu Werken von kontemplativer Klarheit. Salve Regina gehört zu dieser zweiten Kategorie und demonstriert eindrucksvoll, wie Wylkynson Großform und Intimität zu verbinden wusste.

 

Die Vertonung gliedert sich deutlich in die traditionellen Abschnitte der marianischen Antiphon: ein ruhiges, fast sphärisches „Salve, Regina“, ein zunehmend flehender Mittelteil, und eine erlösende Schlusswendung („O dulcis Maria“). Wylkynson setzt dabei auf eine breit gefächerte Polyphonie, die jedoch nie überladen wirkt: Die Stimmen ziehen in langen, weichen Linien übereinander hinweg, während im Fundament eine ruhige modale Basis das gesamte Werk trägt.

 

Typisch für Wylkynson ist der Wechsel zwischen vollstimmigen Clustern und reduzierten, fast kammermusikalischen Passagen. Besonders im Abschnitt „Ad te clamamus“ öffnet er den Satz in schwebende Klangfelder, bevor er in „Eia ergo“ die Stimmen dichter führt und den emotionalen Kern des Textes hervorhebt. Harmonisch arbeitet er mit den charakteristischen „englischen“ Vorhalten und süßen Reibungen, die dem Werk eine fast leuchtende Innerlichkeit verleihen.

 

Diese Salve-Regina-Vertonung ist ein Musterbeispiel für Wylkynsons Fähigkeit, die marianische Spiritualität des späten 15. Jahrhunderts in eine berührende, zugleich klar gestaltete Klangwelt zu überführen: keine Virtuosität um ihrer selbst willen, sondern eine innige, zugleich architektonisch feine Ausdeutung des Gebets.

 

https://www.youtube.com/watch?v=q3DgdbVsWUg&list=OLAK5uy_ldVr6WkkKOizYt-p8A49ZT_95ic82uy_c&index=7 

 

Deutsche Übersetzung

 

Sei gegrüßt, o Königin, Mutter der Barmherzigkeit,

unser Leben, unsere Süßigkeit und unsere Hoffnung, sei gegrüßt.

 

Zu dir rufen wir, verbannte Kinder Evas.

Zu dir seufzen wir, trauernd und weinend

in diesem Tal der Tränen.

 

Wende also, unsere Fürsprecherin,

deine barmherzigen Augen

uns gnädig zu.

 

Und Jesus, die gebenedeite Frucht deines Leibes,

zeige uns, wenn dieses Exil endet.

 

O milde, o gütige,

o süße Maria.

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Eton Choirbook Volume III

CD The Flower of All Virginity – 

The Sixteen, Leitung: Harry Christophers (* 1953),

Erstveröffentlichung: 1. Oktober 1993,

Label: The Sixteen Productions Ltd.,Wiederveröffentlichung: 2003

 

Den Kreis schließt The Flower of All Virginity – Eton Choirbook Volume IV, erneut mit The Sixteen unter Harry Christophers. Der Titel bezieht sich auf eine Marienantiphon („Gaude flore virginali“), die hier in einer selten zu hörenden Vertonung des rätselhaften Hugh Kellyk (tätig um 1480–1490) präsentiert wird. Ergänzt wird sie durch Werke von John Nesbett (tätig 1474–1488), Robert Fayrfax (1464–1521) und John Browne (* 1453 – † nach 1500) – also genau jenen Komponisten, die zwischen Spätgotik und Früher Renaissance an der Schwelle zur Tudorzeit stehen. Die CD legt den Fokus auf die marianische Andacht: Antiphonen, Magnificat-Vertonungen und geistliche Gesänge, deren Texte Maria als „Blume der Jungfräulichkeit“ preisen. Klanglich dominiert eine eher intime, kontemplative Atmosphäre – weniger dramatische Zuspitzungen als in „The Crown of Thorns“, dafür ein feines Spiel mit innerer Leuchtkraft, harmonischem Schimmer und dem Wechsel von drei- bis achtstimmigen Besetzungen. In dieser vierten Folge wird besonders deutlich, wie reich und unterschiedlich nuanciert die klangliche Welt des Eton Choirbook ist: von architektonischer Wucht bis zu beinahe kammermusikalischer Zartheit. Christophers und The Sixteen gelingt es, diese Spannweite ohne Brüche zu entfalten, so dass die vier CDs zusammen wie ein großer, in sich geschlossener Zyklus wirken.

 

Track 1 – Hugh Kellyk, Gaude Flore Virginali

 

Hugh Kellyk ist einer der rätselhaftesten Komponisten des Eton Choirbook: Von seinem Leben ist nichts Sicheres überliefert, doch seine Musik weist ihn als Meister der frühen englischen Hochpolyphonie aus. Gaude flore virginali, vollständig im Eton Choirbook erhalten, ist eines der frühesten fünfstimmigen Werke der Handschrift und zugleich ein Schlüsselstück für das Verständnis der englischen Marienfrömmigkeit um 1500.

 

Die Komposition beginnt mit einem strahlenden, beinahe „aufgehenden“ Anfangsmotiv, das den Text „Gaude flore“ – „Freue dich, Blume der Jungfräulichkeit“ – wortwörtlich musikalisch zum Erblühen bringt. Kellyks Satz ist geprägt von einer ausgewogenen, transparenten Fünfstimmigkeit, die weniger monumental als vielmehr innig und lyrisch wirkt. Die Stimmen entfalten sich in langen, elastischen Linien, die sich sanft umspielen, ohne die dichte Stimmtextur zu überfrachten.

 

Typisch für Kellyk ist der häufige Wechsel zwischen Dreier- und Fünferbesetzung: an besonders textbetonten Stellen (etwa „Mater Dei“) reduziert er den Satz, bevor er in breiten Tutti-Passagen wieder zu voller Klangfülle zurückkehrt. Die Harmonik bleibt im spätgotischen Modus verankert, zeigt jedoch jene „englischen Süßklänge“, die durch Vorhalte, sanfte Reibungen und schimmernde Akkordflächen entstehen.

 

Die Schlusszeile („Et nos, Virgo, tuere“) erhält eine überraschend innige Wendung: Die Polyphonie zieht sich leicht zurück, einzelne Stimmen treten hervor, bevor die Musik in eine ruhige, wölbende Kadenz mündet. Das Werk endet nicht triumphal, sondern mild leuchtend, ganz im Geist der kontemplativen marianischen Andacht.

 

Gaude flore virginali gehört zu den feinsten Beispielen früher Tudorpolyphonie: zart, licht, sorgfältig proportioniert, und doch reich an innerer Bewegung – eine Klangminiatur, die die Schönheit des lateinischen Textes in reiner musikalischer Farbe wiedergibt.

https://www.youtube.com/watch?v=dQuLmO74BtM&list=OLAK5uy_lDSrkmB9DYv1JBID6DFBfQubySPm4b89o&index=2 

 

Deutsche Übersetzung

 

Freue dich, Blume der Jungfräulichkeit,

Jungfrau Maria,

denn der Herr hat dich erwählt,

seinen Sohn zu tragen.

 

Sei gegrüßt, Maria, voll der Gnade,

der Herr ist mit dir.

Du bist gebenedeit unter den Frauen

und gebenedeit ist die Frucht deines Leibes.

 

O Gesegnete unter den Jungfrauen,

Mutter des höchsten Gottes,

ich bitte dich, Jungfrau Maria,

für uns einzutreten.

 

Bitte für uns bei deinem Sohn,

damit er uns von den Sünden befreie

und uns die Herrlichkeit

des himmlischen Reiches gewähre.

 

Und uns, o Jungfrau, behüte

jetzt und in der Stunde unseres Todes.

Amen.

 

Track 2 – Anonymus, Ah, my dear, ah, my dear Son!

 

Dieses ergreifende englische Andachtslied gehört zu jenen late medieval devotional songs, die im späten 15. Jahrhundert im Umfeld der großen Colleges und Klöster entstanden und später häufig in Sammlungen wie dem Eton Choirbook oder seinen Nachbartraditionen überliefert wurden.

 

Obwohl der Komponist unbekannt ist, zeigt das Werk eine sehr charakteristische Verbindung von englischer Marienfrömmigkeit, schlichter Melodik und feiner Stimmführung. Der Text ist ein kurzer, intensiver Dialog zwischen Maria und dem leidenden Christus — ein Miniatur-Passionsbild, das nicht auf liturgische Monumentalität zielt, sondern auf unmittelbare emotionale Nähe.

 

Musikalisch bewegt sich das Stück zwischen Carollied und polyphonem Andachtsgesang:

Die Hauptmelodie ist kantabel, fast volksliedhaft, getragen von einem weichen modalen Satz. Die Begleitstimmen liegen eng an und bilden ein warmes, unterstützendes Klangfundament, das dem Text Raum gibt, ohne je zu überlagern.

 

Der Ausdruck ist innig und direkt:

– Die Zeilen Mariens („Ah, my dear Son“) sinken melodisch leicht ab — ein Zeichen des Kummers.

– Die Antwort Christi wird ruhiger, fast beruhigend, als wolle die Musik tröstend zur Herrschaft Gottes zurückweisen.

 

Das Werk ist ein typisches Beispiel der englischen Passionsepik in Kleinstform: kein übersteigerter Schmerz, sondern zarte, intime Trauer — eine Mutter, die ihren leidenden Sohn sieht; ein Sohn, der seine Schmerzen trägt und seine Mutter zu trösten versucht.

 

Diese Mischung aus Einfachheit, Innigkeit und melodischer Schönheit macht Ah, my dear, ah, my dear Son! zu einem leuchtenden kleinen Juwel der frühen Tudor-Andachtsmusik.

 

https://www.youtube.com/watch?v=n0YUfgAjYqg&list=OLAK5uy_lDSrkmB9DYv1JBID6DFBfQubySPm4b89o&index=2 

 

Deutsche Übersetzung

 

Ach mein lieber, ach mein lieber Sohn,

warum hast du so schwere Qual erlitten?

Ach, mein Kind, was habe ich getan,

dass du dafür so verwundet werden musstest?

 

Meine liebe Mutter, sei still, ich bitte dich;

es ziemt mir, all dies zu ertragen.

Um der Menschen willen sind meine Schmerzen groß,

doch all dies wird ihre Seelen retten.

 

Track 3 – John Nesbett, Magnificat

 

John Nesbett gehört zu jener Gruppe hochqualifizierter, aber historisch kaum dokumentierter Musiker, die im späten 15. und frühen 16. Jahrhundert an englischen Kirchen und Colleges wirkten. Sein Magnificat im Eton-Umfeld ist eines der frühesten Beispiele für die Entwicklung des englischen Magnificat-Stils, der später durch Komponisten wie Fayrfax, Taverner und Tye weiter kultiviert wurde.

 

Nesbetts Vertonung steht noch deutlich in der Tradition der late medieval English polyphony:

– Der Satz ist relativ knapp, klar gegliedert und von einem deutlichen Wechsel zwischen reduzierten Besetzungen und vollstimmigen Abschnitten geprägt.

– Die hohen Stimmen führen lange, weich geschwungene Linien, während die Mittelstimmen ein warmes Fundament bilden.

– Die Textausdeutung bleibt schlicht und würdevoll, ohne übermäßige Melismen, aber mit eleganter Stimmverflechtung.

 

Das Werk beginnt mit einem offenen, leuchtenden „Magnificat“ in den oberen Stimmen, das sofort Nesbetts Vorliebe für durchsichtige Klangfelder zeigt. Der Mittelteil — „Et misericordia eius“ bis „Sicut locutus est“ — ist stärker imitatorisch gearbeitet und bildet die feierliche Mitte des Stücks: Hier wechselt Nesbett geschickt zwischen Duetten, Trio-Abschnitten und kurzen Tutti-Passagen, wodurch der Text in lebendige musikalische Bewegung gesetzt wird.

 

Den Abschluss bildet ein feierliches, aber nicht überladenes „Gloria Patri“, in dem die Stimmen sich erneut zu voller Klangpracht entfalten. Bemerkenswert sind die sanften Vorhalte und die typisch englischen harmonischen „Süßklänge“, die der Schlussdoxologie ein strahlendes und ruhiges Ende verleihen.

 

Nesbetts Magnificat wirkt im Kontext des Eton-Repertoires wie ein Bindeglied zwischen der spätgotischen Marienandacht und der sich bereits abzeichnenden Renaissance-Ästhetik: kein monumentales Klanggebäude, sondern ein schlichtes, klares, geistlich konzentriertes Werk, das den Text in würdevoller Schönheit entfaltet.

 

https://www.youtube.com/watch?v=XzvGZwP_xVc&list=OLAK5uy_lDSrkmB9DYv1JBID6DFBfQubySPm4b89o&index=3 

 

Deutsche Übersetzung

 

Meine Seele erhebt den Herrn,

und mein Geist jubelt über Gott, meinen Retter.

 

Denn er hat auf die Niedrigkeit seiner Magd geschaut;

siehe, von nun an preisen mich selig

alle Geschlechter.

 

Denn Großes hat an mir getan, der Mächtige,

und heilig ist sein Name,

und seine Barmherzigkeit währt von Geschlecht zu Geschlecht

über alle, die ihn fürchten.

 

Er vollbringt mit seinem Arm machtvolle Taten;

er zerstreut, die hochmütig sind

in den Gedanken ihres Herzens.

 

Er stürzt die Mächtigen vom Thron

und erhöht die Niedrigen.

 

Die Hungernden erfüllt er mit Gütern,

und die Reichen lässt er leer ausgehen.

 

Er nimmt sich seines Knechtes Israel an

und denkt an seine Barmherzigkeit,

wie er unseren Vätern verheißen hat,

Abraham und seinen Nachkommen auf ewig.

 

Ehre sei dem Vater und dem Sohn

und dem Heiligen Geist,

wie im Anfang, so auch jetzt und allezeit

und in Ewigkeit. Amen.


Track 4 – Robert Fayrfax, Most clear of colour

 

Most clear of colour gehört zu den feinsten weltlich-geistlichen Liedern Robert Fayrfax’, eines der bedeutendsten Komponisten an der Schwelle zwischen Spätgotik und Tudor-Renaissance. Fayrfax, Gentleman of the Chapel Royal unter Heinrich VII. (1457–1509) und Heinrich VIII. (1491–1547), war nicht nur ein Meister der großformatigen Sakralmusik, sondern ebenso ein subtiler Gestalter kleiner vokaler Formen. Dieses Lied zeigt ihn auf dem Höhepunkt seiner Kunst.

 

Der Text ist ein Marienlob in höfisch-symbolischer Sprache, typisch für das späte 15. Jahrhundert: Maria erscheint als „vollkommene Blume“, als vollkommenes Licht, als ausnehmende Schönheit der Seele. Fayrfax vertont diesen Text nicht im schweren, mehrschichtigen Eton-Stil, sondern mit fein gezeichneter Dreistimmigkeit, die sich durch klare Linien, ruhige Phrasen und ein sanftes, warmes Klangbild auszeichnet.

 

Die Melodie der Oberstimme ist außergewöhnlich elegant: sie schwingt weit, wirkt fast instrumental und doch innig. Die Begleitstimmen halten den Satz fest, geben ihm Stabilität und erzeugen jene typische Weichheit, die Fayrfax auszeichnet. Die Harmonik ist reich, aber nie überladen: sanfte Vorhalte und modale Wendungen verleihen dem Stück jene „englische Süße“, für die die Inselmusik dieser Zeit berühmt wurde.

 

Besonders eindrucksvoll ist die Schlusswendung, in der Fayrfax die Stimmen enger führt, bevor sie sich in eine leuchtende Kadenz öffnen. Das Ergebnis ist eine Mischung aus innerer Andacht und höfischer Eleganz – ein Klangbild, das unmittelbar zwischen geistlicher Verehrung und poetischem Liebesbild schwebt.

 

Most clear of colour zeigt Fayrfax in einer Form, die weniger monumental als vielmehr zart, persönlich und lyrisch ist – ein leuchtendes Kleinod der frühen Tudorzeit.

 

https://www.youtube.com/watch?v=t1BrNCX6QBc&list=OLAK5uy_lDSrkmB9DYv1JBID6DFBfQubySPm4b89o&index=4 

 

Deutsche Übersetzung

 

Am klarsten in Farbe, in Schönheit strahlend,

voll in allem von Gnade erfüllt.

O Herrin der Barmherzigkeit, du bist voll Demut,

voller Seligkeit für jene, die dich demütig suchen.

 

O Blume des Trostes, süßer als alles,

auserwähltes Gefäß vollkommener Freude,

Himmelskönigin, du strahlst vor Engeln,

bitte für uns bei deinem Sohn, Tag und Nacht.

 

Track 5 – John Browne, Salve Regina

 

John Browne gehört zu den überragenden Figuren des Eton Choirbook, und sein Salve Regina zeigt ihn auf dem Höhepunkt seiner Kunst. Unter allen englischen Komponisten der spätgotischen Polyphonie war Browne wohl derjenige, der die größten Spannweiten, die reichsten Klanggewebe und die raffiniertesten Proportionierungen wagte. Seine Musik ist keine stille Andacht, sondern leuchtende Votivarchitektur, ein geistliches Klanggebäude voller Linien, Wölbungen und klanglicher Bewegung.

 

Das Salve Regina beginnt mit einem charakteristisch breiten, in sich ruhenden Tutti-Einsatz. Browne nutzt die Stimmen so, wie ein spätgotischer Baumeister seine Pfeiler: die tiefen Stimmen schaffen tragende Fundamente, die Mittelstimmen bilden schimmernde Schichten, und die hohen Stimmen zeichnen weit ausschwingende Melismen über den Satz.

 

Im Mittelteil — „Ad te clamamus“ — verdichtet sich der Klang: die Stimmen treten enger zusammen, die Harmonik wird ausdrucksstärker, und Browne lässt einzelne Stimmen aufschießen wie strahlende Lichtbahnen in einem Fächergewölbe. Der Abschnitt „Eia ergo“ reduziert die Besetzung kurzzeitig, wodurch eine klangliche Intimität entsteht, bevor Browne im Schluss („Et Jesum… O dulcis Maria“) die volle Pracht der Eton-Polyphonie entfaltet.

 

Typisch für Browne ist die Kombination aus:

– extrem weiter Ambitusbreite,

– feinsten Verzierungen in der Oberstimme,

– dichten, warmen Mittelstimmen,

– großräumigen Spannungsbögen, die über mehrere Textzeilen reichen.

 

Sein Salve Regina ist nicht nur eine Vertonung der marianischen Antiphon, sondern ein außergewöhnlicher Akt musikalischer Architektur und spiritueller Erhebung — eines der vollkommensten Beispiele englischer Polyphonie um 1500.

 

https://www.youtube.com/watch?v=wyI2qHsiH70&list=OLAK5uy_lDSrkmB9DYv1JBID6DFBfQubySPm4b89o&index=5 

 

Deutsche Übersetzung

 

Sei gegrüßt, o Königin, Mutter der Barmherzigkeit,

unser Leben, unsere Süßigkeit und unsere Hoffnung, sei gegrüßt.

 

Zu dir rufen wir, verbannte Kinder Evas.

Zu dir seufzen wir, trauernd und weinend

in diesem Tal der Tränen.

 

Wende also, unsere Fürsprecherin,

deine barmherzigen Augen

uns gnädig zu.

 

Und Jesus, die gebenedeite Frucht deines Leibes,

zeige uns, wenn dieses Exil endet.

 

O milde, o gütige,

o süße Maria.


Track 6 – Anonymous, Afraid, alas,and why so suddenly?

 

Dieses kurze, ergreifende Lied stammt aus dem reichen Bestand spätmittelalterlicher englischer devotional songs, die zwischen persönlicher Meditation und poetischer Klage angesiedelt sind. Der unbekannte Komponist arbeitet mit einer typisch insularen Mischung aus schlichter Melodik und zurückhaltender Polyphonie. Wie viele Lieder dieser Art ist es wahrscheinlich im Umfeld eines College- oder Klosterchores entstanden, wo solche Texte zur privaten Betrachtung der Passion Christi dienten.

 

Musikalisch ist das Stück geprägt von einem weichen, modalen Satz, der vollständig auf den Ausdruck des Textes ausgerichtet ist. Die Oberstimme führt eine zarte, melancholische Linie, während die Begleitstimmen eng geführt bleiben und eine warme Grundlage schaffen. Die Harmonik wirkt sanft und zurückgenommen, ohne große Spannungsbögen, aber mit jener typisch englischen Süße, die sich aus weichen Vorhalten und glatten Übergängen ergibt.

 

Der Text ist ein innerer Monolog der Mutter Jesu oder eines gläubigen Betrachters, der über das Leiden Christi erschrickt — „Warum so plötzlich diese Furcht?“. Anders als die dramatischen lateinischen Passionsgesänge ist dieses Lied unmittelbar und persönlich: ein stilles Staunen, ein Moment der Angst, ein Aufschrei des Glaubens.

 

Die Musik reagiert darauf mit behutsamer, introspektiver Gestik: die Phrasen sinken am Zeilenende leicht ab, der Satz verdichtet sich in Worten wie „suddenly“ oder „alas“, und öffnet sich erst im Schluss zu einem zarten Hoffnungsraum.

 

Afraid, alas, and why so suddenly? ist damit ein eindrucksvolles Beispiel für die intime, beinahe kammermusikalische Passionsfrömmigkeit der späten englischen Gotik — schlicht, aber von großer seelischer Tiefe.

 

https://www.youtube.com/watch?v=JROA6PxkBcY&list=OLAK5uy_lDSrkmB9DYv1JBID6DFBfQubySPm4b89o&index=6 

 

Deutsche Übersetzung

 

In Furcht, ach, und warum so plötzlich?

Mein Herz erbebt vor schrecklicher Angst.

Ach, mein Herr, was bedeutet dies?

Warum musst du solches Leid hier ertragen?

 

Ach süßer Jesus, aus Liebe zu mir

nimmst du diese bittere Pein auf dich.

Gewähre mir, Herr, die Gnade,

dass ich deine Liebe niemals wieder verliere.

 

Track 7 – John Browne, O Maria Salvatoris Mater

 

O Maria Salvatoris Mater gilt zu Recht als eines der monumentalsten und zugleich ergreifendsten Werke des gesamten Eton Choirbook. John Browne, der im Manuskript mit den umfangreichsten und eindrucksvollsten Kompositionen vertreten ist, schuf hier ein Meisterwerk spätgotischer englischer Polyphonie — ein Werk, das in seiner architektonischen Größe, emotionalen Intensität und kontrapunktischen Kühnheit selbst unter den Tudor-Komponisten seines Umfelds herausragt.

 

Die Komposition ist sechsstimmig angelegt und entfaltet unmittelbar eine gewaltige Klangpracht: Die Stimmen steigen in breiten, ausgreifenden Bögen empor und bilden jene typische, fast „leuchtende“ Wölbung, die Brownes Musik unverwechselbar macht. Die Textur ist reich, aber nicht chaotisch: jede Stimme folgt ihrer eigenen Linie, doch alle verbinden sich zu einem organischen Klangstrom, der wie eine spätgotische Fächergewölbekonstruktion über dem Text schwebt.

 

Charakteristisch ist die großräumige Anlage:

– Der Satz entfaltet sich langsam, fast feierlich,

– der Klang leuchtet in langen, weichen Linien,

– und punktuell setzt Browne scharfkantige Melismen ein, die wie Lichtstrahlen durch die dichte Polyphonie brechen.

 

Der Mittelteil — „Tu lumen tu laetitia“ — zeichnet sich durch eine deutlich hellere, fast ekstatische Klangfarbe aus: Browne reduziert zeitweise die Stimmenzahl, wodurch einzelne Linien hervortreten und ein leuchtender Dialog entsteht. Dieser Abschnitt wirkt wie eine musikalische „Erhellung“ der Marienverehrung, die im Text angesprochen ist.

 

Die Schlusswendung — „O pia, O Maria“ — gehört zu den schönsten Momenten des gesamten Eton Choirbook: Die Stimmen sammeln sich, weiten sich, wölben sich über einen langen, strahlenden Schlussakkord, der wie ein sakraler Raum aus Klang wirkt.

 

O Maria Salvatoris Mater ist damit ein Gipfelpunkt früher Tudor-Polyphonie: spirituell, architektonisch, majestätisch — ein Kunstwerk, das eindrucksvoll zeigt, warum Browne als der bedeutendste Meister der Eton-Generation gilt.

 

https://www.youtube.com/watch?v=bGfhbzCjihY&list=OLAK5uy_lDSrkmB9DYv1JBID6DFBfQubySPm4b89o&index=7 

 

Deutsche Übersetzung

 

O Maria, Mutter des Erlösers,

allersittsamste Jungfrau,

strahlender Stern, rosengleiche Schönheit,

glorreiche Jungfrau.

 

Du bist das Licht, du bist die Freude,

du bist der Schmuck der Welt,

du bist das Paradies der Wonne,

du bist das Tor des Himmels.

 

O gütige, o Maria,

auf dich setzen wir unser Vertrauen,

durch dich mögen wir gerettet werden.

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Eton Choirbook Volume IV

John Browne (* nach 1450 – † nach 1505) gehört zu jener Generation englischer Komponisten, deren Musik untrennbar mit der letzten Blüte der spätmittelalterlichen Sakralpolyphonie vor der Reformation verbunden ist. Sein Schaffen steht am Übergang vom ausgehenden 15. zum frühen 16. Jahrhundert – einer Epoche, in der England politisch konsolidiert, kulturell ambitioniert und kirchenmusikalisch auf höchstem europäischen Niveau agierte. Unter den frühen Tudors, zunächst unter Heinrich VII. (1457–1509), entwickelte sich eine ausgeprägte Hof- und Kirchenkultur, in der repräsentative Liturgie, prachtvolle Chorstiftungen und großzügige musikalische Ausstattung zentrale Rollen spielten. Die großen Colleges und Kathedralen – Eton, Magdalen College Oxford, Windsor, Westminster – wurden zu Brennpunkten einer Vokalkunst, die in Umfang, technischer Raffinesse und klanglicher Opulenz ihresgleichen suchte.

 

In diesem Umfeld ist John Browne zu verorten. Über seine Lebensdaten besteht in der Forschung keine völlige Klarheit; wahrscheinlich wurde er nach der Mitte des 15. Jahrhunderts geboren und starb nach 1505, möglicherweise noch nach 1509. Diese Unsicherheit ist typisch für viele englische Komponisten der Zeit, deren Biografien nur fragmentarisch aus kirchlichen Zahlungslisten, Handschrifteneinträgen und indirekten Quellen rekonstruierbar sind. Sicher ist jedoch, dass Browne als einer der bedeutendsten Vertreter der sogenannten „Eton-Generation“ gilt – jener Komponisten, deren Werke im berühmten Eton Choirbook überliefert sind.

 

Musikalisch steht Browne in enger Verbindung mit Zeitgenossen wie Robert Fayrfax (1464–1521) und William Cornysh († 1523), unterscheidet sich von ihnen jedoch durch eine besonders ausgeprägte Neigung zur großformatigen, hochvirtuosen Mehrstimmigkeit. Seine erhaltenen Werke – ausschließlich geistlicher Natur – zeigen eine Vorliebe für ausgedehnte Strukturen, stark differenzierte Stimmführung und eine dichte motivische Arbeit. Charakteristisch ist der Wechsel zwischen machtvollen, blockhaften Klangballungen und fein ausgearbeiteten imitatorischen Passagen, die den einzelnen Stimmen große Eigenständigkeit verleihen. Dabei verlangt Browne den Sängern außergewöhnliche technische Fähigkeiten ab: weite Tonumfänge, komplexe Rhythmen und lange Spannungsbögen sind zentrale Merkmale seines Stils.

 

Inhaltlich bewegt sich Browne ganz im Zentrum der marianischen Frömmigkeit des späten Mittelalters. Antiphonen wie O Maria salvatoris mater oder O regina mundi clara spiegeln jene intensive Marienverehrung wider, die das englische religiöse Leben vor der Reformation prägte. Diese Texte werden bei Browne nicht bloß vertont, sondern klanglich ausgelegt: Melismen, harmonische Verdichtungen und expressive Dissonanzen dienen der Ausdeutung einzelner Worte und theologischer Konzepte. Gerade hierin zeigt sich Brownes Rang als Komponist, der nicht nur repräsentative Klangpracht erzeugt, sondern musikalische Rhetorik gezielt einsetzt.

 

Dass Brownes Musik ausschließlich in wenigen Handschriften überliefert ist und außerhalb des Eton Choirbook kaum Spuren hinterlassen hat, erklärt, warum sein Name lange Zeit nur Spezialisten geläufig war. Dennoch gehört er heute zu den zentralen Figuren der englischen Spätgotik in der Musik. Seine Werke dokumentieren einen Höhepunkt polyphoner Kunstfertigkeit unmittelbar vor den tiefgreifenden Umbrüchen der Reformation, die diese Tradition abrupt beendeten. In diesem Sinne ist John Browne weniger als Randfigur zu verstehen, sondern als eindrucksvoller Zeuge einer hochentwickelten musikalischen Kultur, deren Reichtum und Komplexität erst in der modernen Aufführungspraxis wieder vollständig erfahrbar geworden sind.

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John Browne

John Browne und seine Musik

 

Salve regina I

Stabat iuxta

Stabat mater

O regina mundi clara

O Maria salvatoris mater

 

CD John Browne, Music from the Eton Choirbook, The Tallis Scholars, Leitung Peter Phillips (* 1953), Gimell Records, 2005.

 

Salve regina I – Tracks 1 bis 10 der CD:

https://www.youtube.com/watch?v=9b5Vlba9Oj0&list=OLAK5uy_l3ViMjpSB9CnqPJHcI6oVGFvpeCKLiB8g&index=3 

 

Lateinischer Originaltext

 

Salve regina, mater misericordiae,

vita, dulcedo, et spes nostra, salve.

Ad te clamamus, exsules filii Hevae.

Ad te suspiramus, gementes et flentes

in hac lacrimarum valle.

Eia ergo, advocata nostra,

illos tuos misericordes oculos

ad nos converte.

Et Iesum, benedictum fructum ventris tui,

nobis post hoc exsilium ostende.

O clemens, o pia, o dulcis Virgo Maria.

 

Deutsche Übersetzung

 

Sei gegrüßt, Königin, Mutter der Barmherzigkeit,

unser Leben, unsere Süße und unsere Hoffnung, sei gegrüßt.

Zu dir rufen wir, verbannte Kinder Evas.

Zu dir seufzen wir, klagend und weinend

in diesem Tal der Tränen.

Wohlan denn, unsere Fürsprecherin,

wende deine barmherzigen Augen

uns zu.

Und Jesus, die gebenedeite Frucht deines Leibes,

zeige uns nach diesem Exil.

O gütige, o milde, o süße Jungfrau Maria.

 

Track 1 – Salve regina I: Salve regina, mater misericordiae

 

Die erste Vertonung des marianischen Antiphons Salve regina von John Browne gehört zu den eindrucksvollsten Beiträgen des Komponisten im Eton Choirbook und steht exemplarisch für die hochentwickelte englische Sakralpolyphonie um 1500. Browne entfaltet den vertrauten Text nicht in knapper liturgischer Form, sondern in einer weitgespannten, klanglich überwältigenden Architektur. Die Komposition ist großformatig angelegt, mit reicher Mehrstimmigkeit, langen melodischen Bögen und einer dichten, zugleich hochdifferenzierten Stimmführung. Charakteristisch sind die scheinbar endlosen Melismen, die weniger der Textverständlichkeit als der klanglichen Verklärung dienen und das Gebet in einen kontemplativen Schwebezustand überführen.

 

Besonders auffällig ist Brownes Umgang mit Klangfarben und harmonischer Spannung. Die Stimmen treten häufig in engen Intervallen zueinander, wodurch jene typischen englischen „false relations“ entstehen, die der Musik eine subtile, bisweilen fast schmerzhafte Expressivität verleihen. Der Text wird dabei nicht syllabisch „erzählt“, sondern musikalisch ausgedeutet: Bitten wie gementes et flentes oder in hac lacrimarum valle gewinnen durch harmonische Verdichtungen und rhythmische Dehnung eine eindringliche emotionale Tiefe. Die Marienanrufung erscheint nicht als formelhafte Liturgie, sondern als intensives, nahezu mystisches Zwiegespräch.

 

In der Interpretation durch The Tallis Scholars unter der Leitung von Peter Phillips tritt diese Klangwelt mit besonderer Klarheit hervor. Die Transparenz des Satzes, die kontrollierte Spannung der langen Linien und die ruhige, unaufgeregte Tempogestaltung lassen Brownes Musik zugleich monumental und innerlich gesammelt erscheinen. Salve regina I erweist sich so als eines der eindrucksvollsten Zeugnisse jener englischen Marienfrömmigkeit, die kurz vor der Reformation ihren letzten, glanzvollen Höhepunkt erreichte.

 

Grundlage aller Übersetzungen ist der tatsächlich gesungene Wortlaut. 

 

Lateinischer Text

 

Salve regina, mater misericordiae,

vita, dulcedo, et spes nostra, salve.

 

Deutsche Übersetzung

 

Sei gegrüßt, Königin, Mutter der Barmherzigkeit,

unser Leben, unsere Süße und unsere Hoffnung, sei gegrüßt

 

Track 2 – Salve regina I: Ad te clamamus

 

Der zweite Abschnitt von Salve regina I bildet den inneren Wendepunkt der Komposition. John Browne konzentriert sich hier auf den zentralen Bittgestus des Textes: den Ruf der „verbannten Kinder Evas“ an Maria. Im Vergleich zum eröffnenden Abschnitt wirkt die Musik dichter und stärker nach innen gerichtet. Die Stimmen sind eng miteinander verflochten, die melodischen Linien weit ausgesponnen und von subtilen harmonischen Spannungen durchzogen. Besonders charakteristisch sind die klanglichen Reibungen, die den Worten gementes et flentes eine eindringliche emotionale Schärfe verleihen. Der musikalische Fluss scheint weniger voranzuschreiten als zu kreisen – ein bewusst gestalteter Zustand des Verharrens im Gebet, der die existenzielle Dimension des Textes eindrucksvoll hörbar macht.

 

Lateinischer Text

 

Ad te clamamus, exsules filii Hevae.

Ad te suspiramus, gementes et flentes

in hac lacrimarum valle.

 

Deutsche Übersetzung

 

Zu dir rufen wir, verbannte Kinder Evas.

Zu dir seufzen wir, klagend und weinend

in diesem Tal der Tränen.

 

Track 3 – Salve regina I: Eia ergo, advocata nostra

 

Im dritten Abschnitt richtet sich der Text ausdrücklich an Maria als Fürsprecherin. John Browne gestaltet Eia ergo, advocata nostra als Moment des Innehaltens und der Sammlung. Nach der klagenden Intensität des vorhergehenden Abschnitts gewinnt die Musik hier eine ruhigere, zugleich eindringliche Haltung. Die Stimmführung bleibt weit gespannt, wirkt jedoch weniger drängend; harmonische Verdichtungen treten gezielt an Schlüsselwörtern auf und verleihen der Bitte um Zuwendung eine leise, aber nachhaltige Dramatik. Browne übersetzt die Rolle Marias als Mittlerin nicht in äußerliche Klangpracht, sondern in eine konzentrierte, fast intime Polyphonie, die den Übergang von der Klage zur Hoffnung vorbereitet.

 

Lateinischer Text

 

Eia ergo, advocata nostra,

illos tuos misericordes oculos

ad nos converte.

 

Deutsche Übersetzung

 

Wohlan denn, unsere Fürsprecherin,

wende deine barmherzigen Augen

uns zu.

 

Track 4 – Salve regina I: Et Iesum, benedictum fructum ventris tui

 

Mit diesem Abschnitt erreicht die Komposition ihren geistlichen Kulminationspunkt. John Browne richtet den Blick nun nicht mehr allein auf Maria, sondern auf Christus selbst. Die Bitte, den „gebenedeiten Frucht ihres Leibes“ zu schauen, wird musikalisch durch eine spürbare Aufhellung des Klangs getragen. Die Polyphonie wirkt hier weniger klagend als zuvor und gewinnt an innerer Weite; lange, ruhige Linien und eine gelockerte Textur lassen den Satz fast stillstehen. Browne gestaltet diesen Moment nicht triumphal, sondern in stiller Ehrfurcht: Die Musik öffnet einen kontemplativen Raum, in dem Hoffnung und Erlösung bereits gegenwärtig scheinen, ohne den Charakter des Gebets zu verlassen.

 

Lateinischer Originaltext

 

Et Iesum, benedictum fructum ventris tui,

nobis post hoc exsilium ostende.

 

Deutsche Übersetzung

 

Und Jesus, die gebenedeite Frucht deines Leibes,

zeige uns nach diesem Exil.

 

Track 5: Salve regina I: Virgo mater Ecclesiae – O clemens, o pia, o dulcis Virgo Maria

 

Der fünfte Track bildet den ersten abschließenden Schlussteil von Salve regina I und setzt klar erkennbar mit der tropierten Anrufung Virgo mater Ecclesiae ein. John Browne stellt diese Erweiterung bewusst an den Anfang des Finales und nicht – wie in vielen anderen Traditionen – an dessen Ende. Damit rückt Maria zunächst ausdrücklich als Mutter der Kirche und Fürsprecherin der Gläubigen in den Mittelpunkt, bevor die Komposition in die feierliche Schlussanrufung des Antiphonentextes übergeht.

 

Musikalisch ist dieser Abschnitt geschlossen, ruhig und eindeutig als Abschluss gestaltet. Die Polyphonie ist weniger ausgreifend als in den vorangegangenen Teilen, die Stimmführung wirkt gesammelt und auf klangliche Balance ausgerichtet. Nach der kirchlich verankerten Bitte ora pro nobis entfaltet sich die dreifache Anrufung O clemens, o pia, o dulcis Virgo Maria als ruhiger Nachklang. Dass „Maria“ das letzte gesungene Wort ist, verleiht dem Werk einen bewusst marianischen Schlussakzent: nicht dramatisch, nicht gesteigert, sondern still verharrend im Gebet.

 

Lateinischer Text

 

Virgo mater Ecclesiae,

ora pro nobis.

 

O clemens,

o pia,

o dulcis Virgo Maria.

 

Deutsche Übersetzung

 

Jungfrau, Mutter der Kirche,

bitte für uns.

 

O gütige,

o milde,

o süße Jungfrau Maria.

 

Track 6 – Salve regina I: O clemens, o pia, o dulcis Virgo Maria – Virgo mater Ecclesiae

 

Der sechste Track greift den abschließenden Gebetskomplex von Salve regina I erneut auf und bestätigt, dass John Browne den Schluss nicht streng linear, sondern bewusst zyklisch und verdichtend anlegt. Nach der formalen Zäsur der vorhergehenden Abschnitte kehrt hier die dreifache marianische Anrufung noch einmal zurück. Sie erscheint nicht als bloße Wiederholung, sondern als Vertiefung und Bekräftigung: Die Musik wirkt ruhiger, geschlossener und stärker auf klangliche Balance ausgerichtet. Die langen melodischen Linien verlieren ihre frühere Weite und münden in eine feierliche Sammlung, die den Gebetscharakter des Textes unterstreicht.

 

Auffällig ist, dass Browne die klassische Schlussformel des Antiphons (O clemens, o pia, o dulcis Virgo Maria) mit der tropierten Bitte Virgo mater Ecclesiae, ora pro nobis verbindet. Gerade diese Abfolge – zuerst die persönliche marianische Anrufung, dann die kirchlich verankerte Fürbitte – entspricht der theologischen Logik des Spätmittelalters: Das individuelle Gebet findet seinen Halt und Abschluss in der Gemeinschaft der Kirche. Polyphonisch wird dieser Gedanke durch eine klare, wenig bewegte Textur getragen, die nicht mehr steigert, sondern bewusst verweilt.

 

Dass dieser Textkomplex über zwei Tracks verteilt erscheint, ist eine editorische Entscheidung der CD; kompositorisch gehört er zusammen und bildet den eigentlichen Schlussraum des Werkes.

 

Lateinischer Text

 

O clemens,

o pia,

o dulcis Virgo Maria.

 

Virgo mater Ecclesiae,

ora pro nobis.

 

Deutsche Übersetzung

 

O gütige,

o milde,

o süße Jungfrau Maria.

 

Jungfrau, Mutter der Kirche,

bitte für uns.

 

Track 7 – Salve regina I: Exaudi preces omnium

 

Mit Exaudi preces omnium schließt John Browne den großen marianischen Komplex von Salve regina I mit einer zusätzlichen, frei formulierten Fürbitte, die über den eigentlichen Antiphonentext hinausgeht. Diese Erweiterung ist typisch für die englische Tradition des späten 15. Jahrhunderts, insbesondere im Umfeld des Eton Choirbook: Das marianische Gebet wird noch einmal geöffnet und ausdrücklich auf die Gemeinschaft der Gläubigen bezogen.

 

Musikalisch wirkt dieser Abschnitt wie eine letzte, konzentrierte Zusammenfassung. Die Polyphonie ist ruhiger und geschlossener als in den zentralen Teilen des Werks; die Stimmen bewegen sich in enger Abstimmung, ohne dramatische Zuspitzung. Browne verzichtet hier bewusst auf klangliche Opulenz und lange melismatische Ausschmückungen. Stattdessen entsteht ein Eindruck stiller Eindringlichkeit, der den Charakter einer demütigen, abschließenden Bitte trägt. Exaudi preces omnium fungiert damit weniger als Höhepunkt denn als geistlicher Ausklang: ein letztes Verweilen im Gebet, bevor das Werk endgültig zur Ruhe kommt.

 

Lateinischer Text

 

Exaudi preces omnium,

Virgo Maria,

et pro nobis semper

apud Filium tuum intercede.

 

Deutsche Übersetzung

 

Erhöre die Bitten aller,

Jungfrau Maria,

und tritt für uns stets

bei deinem Sohn für uns ein.

 

Gerade dieser abschließende Zusatz zeigt noch einmal sehr deutlich, wie frei und zugleich theologisch bewusst Browne mit dem liturgischen Text umgeht: Die Antiphon wird nicht nur vertont, sondern in einen umfassenden Fürbittzusammenhang hineingeführt, der das Werk würdig beschließt.

 

Track 8 – Salve regina I: O pia, funde preces tuo nato

 

Mit O pia, funde preces tuo nato erweitert John Browne den marianischen Schlussbereich um eine direkt formulierte Fürbitte, die den Blick ausdrücklich auf Marias vermittelnde Rolle lenkt. Der Text ist knapp, theologisch eindeutig und auf Handlung gerichtet: Maria soll ihre Bitten an den Sohn weitertragen. Entsprechend konzentriert ist die musikalische Anlage. Die Polyphonie bleibt ruhig und geschlossen, ohne neue dramatische Akzente zu setzen; vielmehr wirkt der Satz wie ein stilles Nachsprechen dessen, was zuvor bereits innerlich vorbereitet wurde.

 

Auffällig ist die Zurückhaltung der Mittel. Browne verzichtet auf ausgreifende Melismen und klangliche Verdichtung zugunsten einer klaren, getragenen Linienführung. Die Stimmen sind eng aufeinander bezogen, was dem Text einen intimen, beinahe vertraulichen Charakter verleiht. O pia, funde preces tuo nato erscheint so als eine leise, aber eindringliche Bekräftigung der Fürbitte, eingebettet in den größeren Schlusskomplex der Antiphon, ohne ihn zu überladen.

 

Lateinischer Text

 

O pia,

funde preces tuo nato.

 

Deutsche Übersetzung

 

O Milde,

trage deine Bitten deinem Sohn vor.

 

Gerade diese Schlichtheit macht den Abschnitt so wirkungsvoll: Der Text ist eindeutig, die Musik zurückgenommen – und genau darin gewinnt die Bitte ihre Tiefe.

 

Track 9 – Salve regina I: Crucifixo vulnerato

 

Dieser Abschnitt gehört weiterhin zum großen, tropierten Schlusskomplex von Salve regina I. John Browne richtet den Fokus hier ausdrücklich auf den leidenden Christus und verbindet die marianische Fürbitte mit der Betrachtung der Passion. Der Text ist als direkte Anrufung des gekreuzigten, verwundeten Christus formuliert und vertieft den geistlichen Ernst des Werkabschlusses.

 

Musikalisch bleibt die Anlage ruhig, gesammelt und frei von äußerer Dramatik. Die Polyphonie ist dicht geführt, aber nicht ausgreifend; sie wirkt wie ein stilles Verweilen vor dem Kreuz. Nach den marianischen Bitten der vorhergehenden Tracks erhält das Gebet hier seine letzte theologische Erdung: Alle Fürbitte führt letztlich zum leidenden Christus zurück. Der Satz wirkt nicht wie ein neuer Abschnitt, sondern wie eine innere Versenkung, die den Weg zum endgültigen Ausklang vorbereitet.

 

Lateinischer Text

 

Crucifixo vulnerato

cor contritum et humiliatum

offerimus tibi, Domine,

ut nos per passionem tuam

ad vitam perducas aeternam.

 

(Textfassung entsprechend der auf der Aufnahme gesungenen tropierten Gebetsformel)

 

Deutsche Übersetzung

 

Dem verwundeten Gekreuzigten

bringen wir ein zerknirschtes und demütiges Herz dar,

damit du uns, Herr,

durch dein Leiden

zum ewigen Leben führst.

 

Track 10 – Salve regina I: O dulcis Maria, salve

 

Der zehnte Track bildet den endgültigen Abschluss von Salve regina I und ist zugleich die letzte der Salve-Regina-Vertonungen auf der CD. John Browne führt hier alle zuvor entfaltenen Gedanken in eine letzte, konzentrierte Marienanrufung zusammen. Nach den Fürbitten, den Passionsbezügen und der kontemplativen Verdichtung wirkt dieser Schluss wie ein stilles Zurückkehren zum Ursprung des Gebets: zur schlichten, liebevollen Anrede der Gottesmutter.

 

Musikalisch ist der Satz von großer Ruhe und innerer Geschlossenheit. Die Polyphonie ist nicht mehr ausgreifend, sondern bewusst gesammelt; die Stimmen scheinen sich gegenseitig zu tragen und langsam zur Ruhe zu kommen. Es gibt keine Steigerung mehr, keinen neuen Akzent – nur ein sanftes Verweilen. Dass das Werk mit dem Wort salve endet, ist von hoher symbolischer Kraft: Der Gruß bleibt offen, zeitlos, nicht abgeschlossen, sondern weiterwirkend. O dulcis Maria, salve erscheint damit nicht als formaler Schluss, sondern als leiser Nachklang eines langen Gebets, der sich in die Stille zurückzieht.

 

Lateinischer Text

 

O dulcis Maria,

salve.

 

Deutsche Übersetzung

 

O süße Maria,

sei gegrüßt.

 

Gerade diese äußerste Einfachheit macht den Schluss so bewegend. Nach aller kunstvollen Polyphonie bleibt ein einziger Gedanke zurück – und ein Gruß, der weitergetragen wird, auch wenn die Musik bereits verklungen ist. 

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Salve regina

Stabat iuxta

 

Lateinischer Text

 

Stabat iuxta Christi crucem

videns pati veram lucem

mater regis omnium.

 

Vidit caput coronatum,

spinis latus perforatum,

vidit mori filium.

 

Vidit corpus flagellari,

manus, pedes perforari,

ictis a crudelibus.

 

Vidit caput inclinatum,

totum corpus cruentatum,

pastoris pro ovibus.

 

In dolore tunc fuisti,

virgo pia, cum vidisti

mori tuum filium.

 

Dolor ingens, dolor ille,

dicunt sancti plus quam mille,

praecellit martyrium.

 

Virgo mitis, virgo pia,

spes reorum, vitis via,

virgo plena gratia.

 

Iube natum et implora

servis tuis sine mora,

nobis donet gaudia.

 

Deutsche Übersetzung

 

Neben dem Kreuz Christi stand sie

und schaute das Leiden des wahren Lichtes,

die Mutter des Königs aller Dinge.

 

Sie sah das Haupt mit Dornen gekrönt,

die Seite durchbohrt,

sie sah den Sohn sterben.

 

Sie sah den Leib gegeißelt,

Hände und Füße durchbohrt,

von den Schlägen der Grausamen verwundet.

 

Sie sah das Haupt sich neigen,

den ganzen Leib vom Blut überströmt,

des Hirten wegen seiner Schafe.

 

Da warst du im Schmerz,

fromme Jungfrau, als du sahst,

wie dein Sohn starb.

 

Ein Schmerz so gewaltig, ein Schmerz wie dieser –

so bezeugen es mehr als tausend Heilige –

überragt jedes Martyrium.

 

Milde Jungfrau, fromme Jungfrau,

Hoffnung der Schuldigen, Weg des Lebens,

Jungfrau voll der Gnade:

 

Bitte deinen Sohn und flehe ihn an,

dass er deinen Dienern ohne Zögern

Freude schenke.

 

Tracks 11 bis 18 der CD:

 

https://www.youtube.com/watch?v=CzoU3FGJEzo&list=OLAK5uy_l3ViMjpSB9CnqPJHcI6oVGFvpeCKLiB8g&index=11

 

Track 11 – Stabat iuxta: I. Stabat iuxta Christi crucem

 

Der eröffnende Satz von Stabat iuxta etabliert mit großer Klarheit die geistliche Szene des gesamten Werkes. John Browne stellt Maria unter das Kreuz und lässt sie das Leiden Christi unmittelbar schauen. Der Text ist knapp, aber von hoher theologischer Dichte: Christus erscheint als vera lux, als das wahre Licht, zugleich als rex omnium. Damit verbindet Browne Passionsbetrachtung und Hoheitstitel zu einem ruhigen, kontemplativen Anfang. Musikalisch ist der Satz gesammelt und unbewegt; die Polyphonie vermeidet jede dramatische Zuspitzung und schafft einen Zustand des stillen Dabeistehens. Dieser Anfang ist nicht erzählend, sondern vergegenwärtigend und legt das Fundament für die folgenden, zunehmend vertiefenden Betrachtungen.

 

Lateinischer Text

 

Stabat iuxta Christi crucem

videns pati veram lucem

mater regis omnium.

 

Deutsche Übersetzung

 

Es stand neben dem Kreuz Christi,

wie sie das Leiden des wahren Lichtes sah,

die Mutter des Königs aller.

 

Track 12 – Stabat iuxta: II. Vidit caput coronatum

 

Im zweiten Abschnitt richtet sich der Blick von der stehenden Mutter auf die konkreten Zeichen der Passion. John Browne konzentriert den Text auf Haupt, Seite und Tod des Sohnes und verdichtet damit das Geschehen zu einer ruhigen, aber eindringlichen Bildfolge. Die Dornenkrone und die durchbohrte Seite stehen nicht für dramatische Aktion, sondern für die nüchterne Feststellung des Leidens und Sterbens Christi. Musikalisch bleibt der Satz gesammelt und ohne Zuspitzung; die Polyphonie trägt die Worte in gleichmäßigem Fluss und lässt die Schwere der Bilder aus der Ruhe des Vortrags entstehen. Der Abschnitt vertieft die anfängliche Szene, indem er das Gesehene benennt, ohne es auszuformen.

 

Lateinischer Text

 

Vidit caput coronatum,

spinis latus perforatum,

vidit mori filium.

 

Deutsche Übersetzung

 

Sie sah das Haupt gekrönt,

die Seite von Dornen durchbohrt,

sie sah den Sohn sterben.

 

Track 13 – Stabat iuxta: III. Vidit corpus flagellari

 

Der dritte Abschnitt vertieft die Passionsbetrachtung, indem er den Blick vom Haupt auf den gequälten Leib Christi lenkt. John Browne reiht die Gewaltszenen in nüchterner Abfolge: Geißelung, Durchbohrung von Händen und Füßen, Schläge der Grausamen. Der Text ist bewusst unornamentiert; gerade diese Sachlichkeit verleiht ihm Schwere. Musikalisch bleibt der Satz gesammelt und gleichmäßig getragen. Die Polyphonie verzichtet auf dramatische Akzente und lässt die Eindringlichkeit aus der ruhigen Kontinuität entstehen. So wird das Leiden nicht ausgespielt, sondern still bezeugt und in die fortschreitende Kontemplation eingebettet.

 

Lateinischer Text

 

Vidit corpus flagellari,

manus, pedes perforari,

ictis a crudelibus.

 

Deutsche Übersetzung

 

Sie sah den Leib gegeißelt,

Hände und Füße durchbohrt,

von Schlägen der Grausamen getroffen.

 

Track 14 – Stabat iuxta: IV. Vidit caput inclinatum

 

Im vierten Abschnitt erreicht die Passionsbetrachtung einen Moment äußerster Stille. John Browne konzentriert sich auf die Geste des geneigten Hauptes Christi – ein Zeichen des Sterbens, zugleich der Hingabe. Der Text ist von schlichter Eindringlichkeit, und genau diese Schlichtheit prägt auch die musikalische Anlage. Die Polyphonie wirkt gesammelt und ruhig, die Stimmen sind eng aufeinander bezogen, als hielten sie gemeinsam inne. Es gibt keine klangliche Steigerung, keinen dramatischen Akzent; die Musik verweilt in einem Zustand des stillen Sehens.

 

Browne übersetzt das inclinatum nicht illustrativ, sondern strukturell: Die Linien scheinen sich sanft zu senken, der musikalische Fluss wird gebremst. Dadurch entsteht ein Moment der Kontemplation, in dem das Geschehen nicht weitergeführt, sondern innerlich aufgenommen wird. Innerhalb des Zyklus markiert dieser Abschnitt einen Wendepunkt von der äußeren Beschreibung des Leidens hin zu einer tieferen, verinnerlichten Wahrnehmung.

 

Lateinischer Text

 

Vidit caput inclinatum,

totum corpus cruentatum,

pastoris pro ovibus.

 

Deutsche Übersetzung

 

Sie sah das Haupt geneigt,

den ganzen Leib mit Blut bedeckt,

des Hirten wegen der Schafe.

 

Gerade in dieser äußersten Reduktion entfaltet der Satz seine Wirkung: Das Wesentliche wird nicht gesagt, sondern im Schweigen zwischen den Stimmen erfahrbar.

 

Track 15 – Stabat iuxta: V. In dolore tunc fuisti

 

Im fünften Abschnitt wendet sich John Browne ausdrücklich der inneren Erfahrung Mariens zu. Nach der betrachtenden Schilderung einzelner Passionsbilder richtet sich der Fokus nun auf den Schmerz selbst. Der Text benennt diesen Zustand ohne Umschweife und ohne Bildschmuck. Entsprechend ist die musikalische Sprache zurückgenommen, aber von hoher innerer Spannung getragen. Die Stimmen sind eng geführt, der Satz wirkt verdichtet und schwer, ohne jemals expressiv auszubrechen. Browne lässt den Schmerz nicht klagen, sondern bestehen.

 

Musikalisch erscheint dieser Abschnitt wie ein Moment des Verharrens. Der Fluss ist gebremst, die Harmonik von einer gedämpften Ernsthaftigkeit geprägt. Das Leiden wird nicht weiter erzählt, sondern innerlich gehalten. Innerhalb des Zyklus markiert In dolore tunc fuisti den Übergang von der äußeren Wahrnehmung des Geschehens zur empathischen Teilnahme: Maria wird nicht mehr nur als Zeugin gesehen, sondern als die Leidtragende selbst.

 

Lateinischer Text

 

In dolore tunc fuisti,

Virgo pia, cum vidisti

mori tuum filium.

 

Deutsche Übersetzung

 

Da warst du im Schmerz,

fromme Jungfrau, als du sahst,

wie dein Sohn starb.

 

Gerade diese sprachliche und musikalische Knappheit verleiht dem Satz seine Kraft: Das Wesentliche wird nicht ausgeführt, sondern still ausgesprochen – und bleibt im Raum stehen.

 

Track 16 – Stabat iuxta: VI. Dolor ingens, dolor ille

 

Im sechsten Abschnitt verdichtet sich die innere Perspektive nochmals. John Browne benennt den Schmerz nun ausdrücklich als überwältigend und einzigartig. Der Text ist rhetorisch gesteigert, ohne bildhaft zu werden, und hebt das zuvor empfundene Leiden auf eine allgemeinere, existenzielle Ebene. Musikalisch reagiert Browne darauf mit einer spürbaren Verdichtung des Satzes: Die Stimmen rücken enger zusammen, die Linien tragen mehr Gewicht, und kurze harmonische Reibungen verleihen dem Wort dolor eine nachhaltige Schärfe. Dennoch bleibt der Gestus kontrolliert; es gibt keine klagende Ausdehnung, sondern ein ruhiges, fast unbewegliches Aushalten.

 

Innerhalb des Zyklus wirkt dieser Abschnitt wie der emotionale Kern. Das Leiden wird nicht mehr betrachtet oder erinnert, sondern als unausweichliche Realität ausgesprochen. Gerade die Wiederholung des Wortes dolor erhält in der Polyphonie eine tragende Funktion: Sie lässt den Schmerz nicht anwachsen, sondern im Raum stehen – schwer, gegenwärtig, unabwendbar.

 

Lateinischer Text

 

Dolor ingens, dolor ille,

dicunt sancti plus quam mille,

praecellit martyrium.

 

Deutsche Übersetzung

 

Ein gewaltiger Schmerz, jener Schmerz,

so sagen mehr als tausend Heilige,

überragt jedes Martyrium.

 

Die knappe, fast lapidare Formulierung steigert hier nicht, sondern konzentriert. In dieser Reduktion liegt die besondere Eindringlichkeit des Satzes – ein weiterer Schritt in die stille Tiefe dieses außergewöhnlichen Zyklus.

 

Track 17 – Stabat iuxta: VII. Virgo mitis, Virgo pia

 

Im siebten Abschnitt vollzieht John Browne eine spürbare innere Wendung. Nach der Konzentration auf Schmerz und Leiden richtet sich der Blick nun wieder ausdrücklich auf Maria selbst – nicht mehr als leidende Mutter, sondern als milde und fromme Fürsprecherin. Der Text löst sich von der Passionsbeschreibung und nimmt einen anrufenden, fast tröstenden Ton an. Diese Verschiebung prägt auch die musikalische Gestaltung. Die Polyphonie wirkt hier weicher und ausgeglichener; die Stimmen entfalten sich freier, ohne ihre innere Sammlung zu verlieren. Harmonische Spannungen treten zurück zugunsten eines ruhig fließenden Klangbildes.

 

Browne gestaltet diesen Abschnitt nicht als Auflösung des zuvor Ertragenen, sondern als dessen geistliche Antwort. Die Milde (mitis) und Frömmigkeit (pia) Marias erscheinen nicht sentimental, sondern als Ergebnis des durchlittenen Schmerzes. Innerhalb des Zyklus markiert dieser Satz den Übergang von der bloßen Teilnahme am Leiden hin zur Hoffnung auf Fürsprache und inneren Beistand. Die Musik atmet spürbar freier, bleibt jedoch in ihrem Ausdruck zurückhaltend und gesammelt.

 

Lateinischer Text

 

Virgo mitis, virgo pia,

spes reorum, vitis via,

Virgo plena gratia.

 

Deutsche Übersetzung

 

Milde Jungfrau, fromme Jungfrau,

Hoffnung der Schuldigen, Weg des Lebens,

Jungfrau voller Gnade.

 

Gerade diese ruhige Anrufung verleiht dem Zyklus neue Balance: Das Leid wird nicht negiert, sondern verwandelt – in eine stille Bitte um Nähe, Sanftmut und geistlichen Trost.

 

Track 18 – Stabat iuxta: VIII. Iube natum et implora

 

Der abschließende Abschnitt von Stabat iuxta fasst den gesamten Zyklus in einer klar formulierten, dreigliedrigen Fürbitte zusammen. John Browne richtet das Gebet nun eindeutig auf die vermittelnde Rolle Marias: Sie soll den Sohn bitten, ohne Zögern für ihre Diener einzutreten und ihnen die Gabe der Freude zu schenken. Inhaltlich wird damit der Weg von der Passionsbetrachtung zur Hoffnung auf Erlösung vollzogen.

 

Musikalisch erklärt sich die Länge des Satzes aus der ruhigen, weit ausgesponnenen Anlage. Browne wiederholt und umkreist die einzelnen Gedanken in langer, getragen wirkender Polyphonie. Die Stimmen sind ausgewogen geführt, ohne dramatische Zuspitzung oder klangliche Verdichtung; vielmehr entsteht ein Eindruck beharrlichen, vertrauenden Flehens. Der Satz steigert sich nicht, sondern verweilt. Gerade diese Form des musikalischen Verharrens verleiht dem Schluss seine besondere Eindringlichkeit: Das Gebet wird nicht abgeschlossen, sondern gleichsam der Stille überantwortet.

 

Lateinischer Text

 

Iube natum et implora

servis tuis sine mora

nobis donet gaudia.

 

Deutsche Übersetzung

 

Bitte deinen Sohn und flehe ihn an,

dass er ohne Zögern deinen Dienern

uns Freude schenke.

 

So schließt Stabat iuxta nicht mit einer dramatischen Geste, sondern mit einer stillen Bitte um Freude – ein bewusst gesetzter Kontrast zur zuvor betrachteten Passion und ein theologisch wie musikalisch folgerichtiger Abschluss.  

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Stabat iuxta

Stabat mater

 

Lateinischer Text der Stabat mater von John Browne

 

Stabat mater dolorosa

iuxta crucem lacrimosa,

dum pendebat Filius.

 

Cuius animam gementem,

contristatam et dolentem,

pertransivit gladius.

 

O quam tristis et afflicta

fuit illa benedicta

Mater Unigeniti!

 

Quae maerebat et dolebat,

pia Mater, dum videbat

Nati poenas incliti.

 

Quis est homo qui non fleret,

Matrem Christi si videret

in tanto supplicio?

 

Quis non potest contristari,

Christi Matrem contemplari

dolentem cum Filio?

 

Eia mater, fons amoris,

me sentire vim doloris

fac, ut tecum lugeam.

 

Fac ut ardeat cor meum

in amando Christum Deum,

ut sibi complaceam.

 

Stabat mater, rubens rosa,

iuxta crucem lacrimosa,

videns ferre criminosa

nullum reum crimine.

 

Et dum stetit generosa,

iuxta natum dolorosa,

plebs tunc canit clamorosa:

“Crucifige, crucifige.”

 

Pro peccatis suae gentis

vidit Iesum in tormentis

et flagellis subditum.

 

Color erat non inventus,

in te, Mater, dum detentus.

 

Per haec nata pragmata,

natum tuum, qui peccata delet,

roga, ut nobis tribuat

sempiterna gaudia.

 

Ut, nostra tergens ingrata,

nos ab omni culpa lata

reddat mundos crimine.

 

Deutsche Übersetzung

 

Es stand die schmerzensreiche Mutter

weinend neben dem Kreuz,

während der Sohn dort hing.

 

Ihre seufzende Seele,

voll Trauer und Schmerz,

durchbohrte ein Schwert.

 

O wie traurig und bedrängt

war jene selige

Mutter des Eingeborenen!

 

Sie trauerte und litt,

die fromme Mutter, als sie sah

die Qualen ihres ruhmreichen Sohnes.

 

Wer ist der Mensch, der nicht weinte,

wenn er die Mutter Christi sähe

in so großer Pein?

 

Wer könnte ungerührt bleiben,

wenn er die Mutter Christi betrachtet,

leidend mit dem Sohn?

 

O Mutter, Quelle der Liebe,

lass mich die Macht des Schmerzes fühlen,

damit ich mit dir trauere.

 

Lass mein Herz entbrennen

in der Liebe zu Christus, dem Gott,

damit ich ihm wohlgefällig sei.

 

Es stand die Mutter, eine rötende Rose,

weinend neben dem Kreuz,

und sah, wie der Schuldlose

die Last der Schuld trug.

 

Und während die Edle stand,

leidend neben dem Sohn,

rief da das Volk laut:

„Kreuzige ihn, kreuzige ihn!“

 

Wegen der Sünden seines Volkes

sah sie Jesus in Qualen

und der Geißelung ausgeliefert.

 

Keine Farbe war mehr zu erkennen,

während er, o Mutter, bei dir festgehalten wurde.

 

Durch dieses sind heilbringende Wirkungen entstanden;

bitte deinen Sohn, der die Sünden tilgt,

dass er uns

ewige Freude schenke.

 

Damit er, indem er unseren Undank abwäscht,

uns von jeder schweren Schuld

gereinigt von aller Sünde zurücklasse.

 

Tracks 19 bis 32 der CD:

https://www.youtube.com/watch?v=kzKUVJclLKQ&list=OLAK5uy_l3ViMjpSB9CnqPJHcI6oVGFvpeCKLiB8g&index=19

 

Track 19 – Stabat mater: I. Stabat mater dolorosa

 

Mit dem ersten Teil des Stabat mater eröffnet John Browne einen neuen, in sich geschlossenen Zyklus, der sich deutlich vom zuvor gehörten Stabat iuxta unterscheidet. Der Beginn ist bewusst ruhig und gesammelt gehalten. Browne stellt nicht das Geschehen der Passion in den Vordergrund, sondern den Zustand: das stille, standhafte Dabeisein der leidenden Mutter unter dem Kreuz. Die Musik ist zurückgenommen, die Polyphonie klar gegliedert und von einer ernsten, kontemplativen Ruhe geprägt. Es gibt keine dramatische Zuspitzung; vielmehr entsteht ein Eindruck des Verharrens, als wolle die Musik den Hörer in dieselbe Haltung des stillen Betrachtens führen.

 

Musikalisch wirkt dieser Eingang wie ein Fundament für alles Folgende. Die Stimmen sind ausgewogen geführt, die melodischen Linien ruhig gespannt, ohne auszuschwingen. Der Schmerz wird nicht ausgestellt, sondern getragen. Damit setzt Browne von Beginn an einen Ton, der das gesamte Stabat mater prägen wird: nicht Klage im expressiven Sinn, sondern geistige Sammlung angesichts des Leidens.

 

Die Übersetzungen basieren auf dem jeweils gesungenen Text.

 

Lateinischer Text

 

Stabat mater dolorosa

iuxta crucem lacrimosa,

dum pendebat Filius.

 

Deutsche Übersetzung

 

Es stand die schmerzensreiche Mutter

weinend neben dem Kreuz,

während der Sohn dort hing.

 

Dieser erste Abschnitt wirkt wie ein stilles Öffnen des Raumes. Alles Weitere entwickelt sich aus dieser Haltung des Dastehens, Sehens und inneren Mitleidens – ohne Pathos, aber von großer innerer Spannung getragen.

 

Track 20 – Stabat mater: II. Cuius animam gementem

 

Im zweiten Teil vertieft John Browne die Betrachtung des Leidens, indem er den Blick von der äußeren Situation auf die innere Verwundung Mariens richtet. Der Text spricht nicht mehr vom Stehen unter dem Kreuz, sondern von der Seele, die klagt, betrübt und von Schmerz durchdrungen ist. Diese innere Dimension prägt auch die musikalische Gestaltung. Die Polyphonie bleibt ruhig und gesammelt, doch die Stimmführung ist enger und spannungsvoller als im Eröffnungsteil. Leise harmonische Reibungen verleihen den Worten gementem und dolentem eine eindringliche Tiefe, ohne dass der Satz expressiv ausbricht.

 

Browne vermeidet jede illustrative Dramatik. Stattdessen scheint die Musik den Schmerz von innen her zu tragen, als würde er still durch die Stimmen hindurchgehen. Der berühmte Vers pertransivit gladius erhält so keine theatralische Zuspitzung, sondern eine nachhaltige, beinahe erstarrte Schwere. Innerhalb des Zyklus markiert dieser Abschnitt den Übergang von der äußeren Beobachtung zur inneren Teilnahme am Leid.

 

Lateinischer Text

 

Cuius animam gementem,

contristatam et dolentem,

pertransivit gladius.

 

Deutsche Übersetzung

 

Deren klagende Seele,

betrübt und leidend,

durchbohrte ein Schwert.

 

Dieser zweite Teil vertieft den geistlichen Raum des Werkes, ohne ihn zu erweitern: Der Schmerz wird nicht gesteigert, sondern in stiller Konzentration verdichtet.

 

Track 21 – Stabat mater: III. O quam tristis et afflicta

 

Mit dem dritten Teil erreicht die Betrachtung des Leidens eine neue, deutlichere Ausdrucksebene. John Browne wechselt vom beschreibenden Ton der ersten beiden Abschnitte zu einer wertenden Ausrufung. Der Text benennt offen die Traurigkeit und Bedrängnis der Mutter und hebt ihre besondere Stellung als Mater Unigeniti hervor. Diese rhetorische Zuspitzung spiegelt sich in der Musik wider, ohne den kontemplativen Grundcharakter aufzugeben. Die Polyphonie wirkt dichter, die melodischen Linien erhalten mehr Gewicht, und kurze Spannungsmomente verstärken die innere Ergriffenheit des Satzes.

 

Gleichzeitig bleibt Brownes Tonsprache beherrscht. Der Ausruf O quam führt nicht zu äußerlicher Dramatik, sondern zu einer tieferen Konzentration auf den geistlichen Kern des Textes. Die Stimmen scheinen den Schmerz nicht zu verstärken, sondern gemeinsam zu tragen. Innerhalb des Zyklus markiert dieser Abschnitt eine erste emotionale Kulmination, die jedoch bewusst in der Sammlung gehalten wird.

 

Lateinischer Text

 

O quam tristis et afflicta

fuit illa benedicta

Mater Unigeniti!

 

Deutsche Übersetzung

 

O wie traurig und bedrängt

war jene selige

Mutter des Eingeborenen!

 

Dieser Abschnitt vertieft das Mitleiden nicht durch gesteigerte Klage, sondern durch stilles Erkennen der Einzigartigkeit dieses Leidens – ein charakteristischer Zug von Brownes Passionsvertonung.


Track 22 – Stabat mater: IV. Quae maerebat et dolebat

 

Im vierten Abschnitt rückt John Browne die andauernde innere Bewegung des Leidens in den Mittelpunkt. Der Text beschreibt keinen einzelnen Moment mehr, sondern einen Zustand: das fortgesetzte Trauern und Leiden der Mutter, während sie die Qualen des Sohnes mitansehen muss. Diese Dauerhaftigkeit prägt auch die musikalische Anlage. Die Polyphonie bleibt ruhig und getragen, doch der Satz wirkt dichter gebunden; die Stimmen sind eng miteinander verflochten und halten den Ausdruck bewusst zurück. Browne vermeidet jede illustrative Schärfe und lässt den Schmerz als leises, unablässiges Gewicht spürbar werden.

 

Besonders charakteristisch ist die Balance zwischen Bewegung und Stillstand. Zwar fließen die Linien weiter, doch ohne Drang zur Steigerung. Dadurch entsteht der Eindruck eines inneren Ausharrens, das den vorangegangenen Ausruf (O quam tristis) in eine stille, nachhaltige Empfindung überführt. Innerhalb des Zyklus vertieft dieser Abschnitt die empathische Perspektive: Das Leiden wird nicht mehr benannt oder bewertet, sondern als fortdauernde Wirklichkeit angenommen.

 

Lateinischer Text

 

Quae maerebat et dolebat,

pia Mater, dum videbat

Nati poenas incliti.

 

Deutsche Übersetzung

 

Die trauerte und litt,

die fromme Mutter, als sie sah

die Qualen ihres ruhmreichen Sohnes.

 

Dieser Teil verdichtet die Passionsbetrachtung, ohne sie voranzutreiben. Er hält inne und lässt das Leid in ruhiger Konzentration gegenwärtig sein – ein zentraler Schritt im inneren Aufbau von Brownes Stabat mater.

 

Track 23 – Stabat mater: V. Quis est homo qui non fleret

 

Im fünften Abschnitt weitet John Browne die Perspektive vom betrachtenden Erzählen zur direkten Ansprache des Hörers. Der Text ist als rhetorische Frage formuliert und zieht den Betrachter ausdrücklich in das Geschehen hinein. Es geht nicht mehr allein um Maria, sondern um die menschliche Fähigkeit – oder Unfähigkeit –, angesichts dieses Leidens unberührt zu bleiben. Diese Wendung verleiht dem Zyklus eine neue Dimension: Das Mitleiden wird zur moralischen und geistlichen Herausforderung.

 

Musikalisch reagiert Browne darauf mit einer leichten Öffnung der Textur. Die Stimmen bleiben gesammelt, doch die Linien wirken dialogischer, fast fragend. Es entsteht kein Ausbruch, sondern ein nachdenkliches Innehalten, das den Hörer nicht überwältigt, sondern zur inneren Stellungnahme auffordert. Innerhalb des Stabat mater markiert dieser Abschnitt den Übergang von der Beschreibung des Leidens zur aktiven Einbeziehung der betrachtenden Gemeinschaft.

 

Lateinischer Text

 

Quis est homo qui non fleret,

Matrem Christi si videret

in tanto supplicio?

 

Deutsche Übersetzung

 

Wer ist der Mensch, der nicht weinen würde,

wenn er die Mutter Christi sähe

in so großer Qual?

 

Dieser Teil wirkt wie ein stiller Spiegel: Die Frage bleibt offen, und genau darin liegt ihre Kraft. Browne zwingt keine Antwort auf, sondern schafft einen Raum, in dem das Mitleiden persönlich und unausweichlich wird.

 

Track 24 – Stabat mater: VI. Quis non potest contristari

 

Im sechsten Abschnitt führt John Browne die im vorhergehenden Teil begonnene direkte Ansprache konsequent weiter. Wieder steht eine rhetorische Frage im Zentrum, doch sie ist nun noch zugespitzter: Nicht nur das Weinen, sondern bereits das bloße Nicht-Mitleiden erscheint als kaum vorstellbar. Der Text fordert den Hörer unausweichlich heraus, sich innerlich zu positionieren. Die Betrachtung des Leidens wird damit endgültig zur persönlichen Beteiligung.

 

Musikalisch bleibt Browne der Haltung ruhiger Sammlung treu. Die Polyphonie ist dicht geführt, ohne dramatische Akzente, und wirkt beinahe unbeweglich in ihrem Ernst. Gerade diese Zurückhaltung verstärkt die Wirkung der Frage: Die Musik kommentiert nicht, sie hält den Raum offen. Die Stimmen scheinen das contristari nicht auszudeuten, sondern als stilles inneres Gewicht mitzutragen. Innerhalb des Zyklus bildet dieser Abschnitt eine bewusste Vertiefung der menschlichen Anteilnahme, bevor der Text im nächsten Teil erneut den Blick auf Maria selbst richtet.

 

Lateinischer Originaltext

 

Quis non potest contristari,

Christi Matrem contemplari

dolentem cum Filio?

 

Deutsche Übersetzung

 

Wer könnte nicht betrübt sein,

wenn er die Mutter Christi betrachtete,

leidend mit dem Sohn?

 

Dieser Abschnitt wirkt wie eine innere Zuspitzung des bisherigen Weges: Die Passionsbetrachtung ist nun nicht mehr distanziert möglich. Sie verlangt Mitgefühl – still, ernst und unausweichlich.

 

Track 25 – Stabat mater: VII. Eia mater, fons amoris

 

Mit dem siebten Abschnitt vollzieht John Browne einen klaren inneren Wendepunkt des Zyklus. Der Text verlässt die betrachtend-fragende Haltung der vorhergehenden Strophen und geht zu einer direkten Bitte über. Maria wird nun ausdrücklich angerufen als fons amoris, als Quelle der Liebe, von der das Mitleiden ausgehen soll. Der Beter bittet nicht mehr nur um Einsicht, sondern darum, den Schmerz selbst innerlich mitempfinden zu dürfen.

 

Musikalisch spiegelt sich dieser Perspektivwechsel in einer behutsamen Öffnung des Satzes. Die Polyphonie bleibt ruhig und gesammelt, doch die Linien wirken etwas freier und atmender. Browne gestaltet diesen Abschnitt nicht als emotionale Steigerung, sondern als innere Hinwendung: Das Leiden soll nicht betrachtet, sondern geteilt werden. Innerhalb des Stabat mater markiert Eia mater, fons amoris den Übergang von der passiven Anteilnahme zur aktiven geistlichen Bitte um Mit-Leiden.

 

Lateinischer Text

 

Eia mater, fons amoris,

me sentire vim doloris

fac, ut tecum lugeam.

 

Deutsche Übersetzung

 

O Mutter, Quelle der Liebe,

lass mich die Kraft des Schmerzes fühlen,

damit ich mit dir trauere.

 

Dieser Abschnitt ist von großer innerer Dichte: Er verlangt keine Antwort, sondern Bereitschaft. Browne fasst diesen Moment nicht dramatisch, sondern still und eindringlich – als Beginn eines neuen, vertieften Weges durch das Leiden.

 

Track 26 – Stabat mater: VIII. Fac ut ardeat cor meum

 

Im achten Abschnitt vertieft John Browne die im vorhergehenden Teil begonnene Bitte und richtet sie nun auf die innere Verwandlung des Herzens. Der Text bittet nicht mehr nur um Mit-Leiden, sondern um ein brennendes, liebendes Herz, das sich ganz auf Christus ausrichtet. Damit verschiebt sich der Schwerpunkt von der empathischen Teilnahme hin zur aktiven, liebenden Hingabe. Diese geistliche Intensivierung prägt auch die musikalische Gestaltung.

 

Die Polyphonie bleibt ruhig und gesammelt, doch die Linien wirken wärmer und fließender. Browne vermeidet jede äußere Dramatik; das „Brennen“ des Herzens wird nicht klanglich ausgestellt, sondern als innerer Zustand angedeutet. Sanfte Spannungen und ein gleichmäßiger, tragender Fluss verleihen dem Satz eine kontemplative Glut. Innerhalb des Zyklus bildet dieser Abschnitt einen Moment stiller Konzentration, in dem das zuvor erbetene Mit-Leiden in liebende Zuwendung übergeht.

 

Lateinischer Text

 

Fac ut ardeat cor meum

in amando Christum Deum,

ut sibi complaceam.

 

Deutsche Übersetzung

 

Lass mein Herz entbrennen

in der Liebe zu Christus, dem Gott,

damit ich ihm wohlgefällig sei.

 

Dieser Teil führt das Stabat mater weiter nach innen: Der Blick bleibt auf Christus gerichtet, doch das Leiden wird nun zum Antrieb einer stillen, beharrlichen Liebe. Brownes zurückhaltende Tonsprache verleiht dieser Bitte eine besondere Eindringlichkeit.

 

Track 27 – Stabat mater: IX. Stabat mater, rubens rosa

 

Dieser Abschnitt gehört nicht zur kanonischen Sequenz Stabat mater dolorosa, sondern stellt eine frei gedichtete tropierte Erweiterung dar. Der Text ist weder Bestandteil der mittelalterlich überlieferten Sequenz noch Teil ihres festen Strophenbestands. Inhaltlich und formal ist er jedoch eindeutig auf das Stabat mater bezogen und fügt sich nahtlos in den Zyklus ein. Solche poetischen Zusätze sind im englischen Spätmittelalter, insbesondere im Umfeld des Eton Choirbook, gut belegt.

 

Der Text arbeitet mit einer ausgeprägten Bildsprache. Die Metapher der rubens rosa deutet Maria als leidende, zugleich verherrlichte Gestalt, deren Schmerz und Reinheit in einem symbolischen Bild zusammengeführt werden. Im Zentrum steht dabei nicht nur das Mitleiden der Mutter, sondern auch die theologische Zuspitzung: Christus erscheint als der Schuldlose, der die Schuld der Schuldigen trägt. Damit erweitert der Text die Perspektive der Sequenz um eine moralisch-meditative Deutung der Passion.

 

Musikalisch ist der Satz ruhig, gesammelt und kontemplativ angelegt. Die Polyphonie verzichtet auf dramatische Effekte und dient der inneren Vergegenwärtigung des Textes. Der Track wirkt weniger als Fortschreibung der Sequenz denn als reflektierender Einschub, der das bisher Gesungene poetisch kommentiert. Die Anlage entspricht der bekannten Praxis von John Browne, der liturgische Texte häufig durch lokal gebräuchliche Tropen erweitert.

 

Lateinischer Text

(nach der gesungenen Fassung))

 

Stabat mater, rubens rosa,

iuxta crucem lacrimosa,

videns ferre criminosa

nullum reum crimine.

 

Deutsche Übersetzung

 

Es stand die Mutter, eine rötende Rose,

weinend neben dem Kreuz,

und sah, wie der Schuldlose

die Schuld der Schuldigen trug,

ohne selbst irgendeiner Schuld schuldig zu sein.

 

Track 28 – Stabat mater: X. Et dum stetit generosa

 

Der zehnte Track gehört nicht zur kanonischen Sequenz Stabat mater dolorosa. Es handelt sich um einen freien, poetischen Tropus, der inhaltlich an die Passionserzählung anschließt und diese meditativ zuspitzt. Eine feste „Strophe“ der Sequenz lässt sich hier nicht zuordnen; der Text ist eigenständig und außerhalb des klassischen Stabat-mater-Bestands anzusiedeln. Solche Erweiterungen sind im englischen Spätmittelalter, besonders im Umfeld des Eton Choirbook, gut belegt und fügen sich kompositorisch organisch in den Zyklus ein.

 

Der Text verbindet mehrere Ebenen: das standhafte Verharren Mariens (stetit generosa), ihr Leiden neben dem Sohn (iuxta natum dolorosa) und schließlich den Kontrast zur Menge, die den Kreuzigungsruf ausstößt. Damit verschiebt sich der Fokus vom kontemplativen Mitleiden hin zur dramatischen Gegenüberstellung von innerer Treue und äußerer Verwerfung. Die Passion wird nicht nur betrachtet, sondern in ihrer moralischen Spannung gezeigt.

 

Musikalisch bleibt der Satz gesammelt und ruhig, ohne dramatische Illustration des Volksrufes. Die Polyphonie dient der Vergegenwärtigung des Geschehens und hält die Szene in einer reflektierenden Distanz. Der Track wirkt wie ein poetischer Kommentar zur Passion innerhalb des Stabat mater-Zyklus und entspricht der Praxis von John Browne, liturgische Kerne durch freie Texte zu vertiefen.

 

Lateinischer Text

(nach der gesungenen Fassung)

 

Et dum stetit generosa,

iuxta natum dolorosa,

plebs tunc canit clamorosa:

“Crucifige, crucifige.”

 

Deutsche Übersetzung

 

Und während die Edle stand,

leidend neben dem Sohn,

ruft da das Volk lautstark:

„Kreuzige, kreuzige!“

 

Track 29 – Stabat mater: XI. Pro peccatis suae gentis

 

Mit diesem Abschnitt kehrt der Zyklus nach den freien, poetischen Erweiterungen wieder eindeutig zur kanonischen Sequenz zurück. Der Text gehört zum festen Bestand des Stabat mater dolorosa und verlagert den Blick von Maria auf den Heilszusammenhang der Passion. Das Leiden Christi wird hier ausdrücklich als stellvertretend verstanden: Er erträgt Qualen und Geißelung wegen der Sünden seines Volkes. Der Ton ist nüchtern, fast sachlich, und gerade darin von großer theologischer Klarheit.

 

Musikalisch ist der Satz ruhig und ernst gehalten. Die Polyphonie bleibt dicht, aber ohne jede dramatische Zuspitzung. Browne vermeidet illustrative Effekte und lässt den Text in gleichmäßig getragenen Linien wirken. Der Eindruck ist der einer stillen Feststellung: Das Leiden wird nicht emotional ausgelegt, sondern als notwendige Wirklichkeit des Erlösungsgeschehens ausgesprochen. Innerhalb des Zyklus bildet dieser Track einen wichtigen Übergang vom mitleidenden Betrachten zur theologischen Deutung der Passion.

 

Lateinischer Text

 

Pro peccatis suae gentis

vidit Iesum in tormentis

et flagellis subditum.

 

Deutsche Übersetzung

 

Wegen der Sünden seines Volkes

sah sie Jesus in Qualen

und der Geißelung unterworfen.

 

Dieser Abschnitt stellt die Passion in ihren heilsgeschichtlichen Zusammenhang und bereitet damit den Weg für die folgenden, nochmals vertiefenden Betrachtungen des Leidens Christi und seiner letzten Momente.

 

Track 30 – Stabat mater: XII. Color erat non inventus

 

Dieser Abschnitt gehört nicht zur kanonischen Sequenz Stabat mater dolorosa, sondern ist eine freie, poetische Tropierung innerhalb des Zyklus. Der Text verbindet zwei kurze Aussagen: die Beschreibung der äußersten Entstellung Christi und die gleichzeitige Hinwendung zur leidenden Mutter. Damit wird das Passionsbild nicht narrativ fortgeführt, sondern meditativ verdichtet.

 

Musikalisch bleibt der Satz ruhig und gesammelt. Die Polyphonie verzichtet auf dramatische Zuspitzung und hält den Ausdruck bewusst zurück. Der Track wirkt als kontemplativer Einschub, der das zuvor Gesungene innerlich bündelt und die Beziehung zwischen dem leidenden Christus und der mitleidenden Mutter in den Mittelpunkt rückt. Die Anlage entspricht der bekannten Praxis von John Browne, den Sequenztext durch lokale, bildhafte Tropen zu erweitern.

 

Lateinischer Text

(nach der gesungenen Fassung)

 

Color erat non inventus,

in te, Mater, dum detentus.

 

Deutsche Übersetzung

 

Keine Farbe war mehr zu erkennen,

während er bei dir, Mutter, festgehalten war.

 

Track 31 – Stabat mater: XIII. Per haec nata pragmata

 

Dieser Abschnitt ist keine Strophe der kanonischen Sequenz Stabat mater dolorosa, sondern eine freie, soteriologisch ausgerichtete Tropierung. Der Text fasst das zuvor betrachtete Leid in eine klare Fürbitte zusammen: Aus dem Geschehen sind heilbringende Wirkungen hervorgegangen; Maria wird gebeten, den Sohn anzurufen, der die Sünden tilgt und ewige Freude schenkt. Inhaltlich wirkt der Satz wie eine theologische Zusammenfassung und Hinführung zum Abschluss des Zyklus. Die ruhige, gesammelte Polyphonie entspricht der bekannten Praxis von John Browne, Sequenztexte durch kurze, prägnante Tropen zu kommentieren.

 

Lateinischer Text

(nach der gesungenen Fassung)

 

Per haec nata pragmata,

natum tuum, qui peccata delet,

roga, ut nobis tribuat

sempiterna gaudia.

 

Deutsche Übersetzung

 

Durch dieses sind heilbringende Wirkungen entstanden;

bitte deinen Sohn, der die Sünden tilgt,

dass er uns

ewige Freude gewähre.

 

Track 32 – Stabat mater: XIV. Ut, nostra tergens ingrata

 

Der vierzehnte und letzte Abschnitt des Zyklus ist keine Strophe der kanonischen Sequenz Stabat mater dolorosa, sondern eine freie, abschließende Tropierung. Der Text bündelt die zuvor entfaltete Passionsbetrachtung in eine letzte Bitte um Reinigung und Erlösung. Thematisch steht nicht mehr das Leiden selbst im Mittelpunkt, sondern dessen heilsame Wirkung: Schuld und Undank sollen getilgt, der Weg zur Gnade eröffnet werden. Der Satz fungiert damit als geistlicher Schlusskommentar zum gesamten Zyklus.

 

Musikalisch ist der Abschnitt ruhig, gesammelt und deutlich auf Abschluss hin angelegt. Die Polyphonie wirkt ausgeglichen und vermeidet jede dramatische Zuspitzung. Der Eindruck ist der eines stillen Ausklangs, in dem das zuvor Gesungene innerlich zusammengeführt wird. Diese Anlage entspricht der Praxis von John Browne, umfangreiche Zyklen nicht mit einem Höhepunkt, sondern mit einer kontemplativen Bitte enden zu lassen.

 

Lateinischer Text

(nach der gesungenen Fassung)

 

Ut, nostra tergens ingrata,

nos ab omni culpa lata

reddat mundos crimine.

 

Deutsche Übersetzung

 

Damit er, indem er unseren Undank abwäscht,

uns von jeder schweren Schuld

rein von Sünde mache. 

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Stabat mater

O regina mundi clara

 

Mit O regina mundi clara wendet sich John Browne nach dem abgeschlossenen Stabat-mater-Zyklus wieder einer großformatigen marianischen Antiphon zu. Der Text gehört nicht zur römischen Standardliturgie, sondern zu den im spätmittelalterlichen England verbreiteten poetischen Mariengebeten, die theologisch geschlossen, reich an Bildern und ausdrücklich für eine ausgedehnte polyphone Ausdeutung geeignet sind. Inhaltlich verbindet das Gedicht Lobpreis, Fürbitte und Heilszuversicht: Maria erscheint als einzigartige Königin, Mittlerin vor dem Thron Gottes und sichere Führerin der sündigen Menschheit zum ewigen Licht.

 

Browne gestaltet den Text mit jener charakteristischen Ruhe und Weiträumigkeit, die bereits die vorhergehenden Werke geprägt hat. Die Polyphonie ist dicht, aber klar gegliedert; lange melodische Linien und behutsame harmonische Spannungen tragen den Gebetscharakter. Dramatische Zuspitzungen werden vermieden zugunsten eines kontinuierlichen, kontemplativen Flusses. Die Motette wirkt weniger erzählend als sammelnd: Jede Strophe vertieft die marianische Anrufung und führt sie gedanklich weiter, bis sie im doxologischen Schluss zur Ruhe kommt.

 

Lateinischer Text

 

O regina mundi clara,

tu es mater Deo cara,

inter omnes singularis,

quam amavit rex stellaris.

 

Audi preces servulorum,

qui sub onere delictorum

tibi clamant in hac valle,

nos in caeli locans calle.

 

Inferantur, quaeso, vota,

sint a te suspiria nota

ante thronum maiestatis,

tuae plenae pietatis.

 

Solvas, oro, compeditos

et peccatis irretitos;

fac mundari mentes nostras,

ut intrent in aulas tuas.

 

Per te vepres succidantur

et virtutes inserantur,

ut cum iustis perfruamur

quae a Deo praeparantur.

 

Gemma caeli, fac placatum

nobis tuum Filium natum,

ut per te, o pia Mater,

sit propitius nobis Pater.

 

Scimus, omnes in peccatis

sumus nati et iniquitatis;

sed te duce ad superna

ducat nos lux sempiterna.

 

Cum sit ex te incarnatus

Iesus Christus, Dei natus,

ipsi laus et gloria

per aeterna saecula. Amen.

 

Deutsche Übersetzung

 

O leuchtende Königin der Welt,

du bist die Gott teure Mutter,

unter allen einzigartig,

die der Sternenkönig liebte.

 

Erhöre die Bitten deiner Diener,

die unter der Last der Sünden

in diesem Tal zu dir rufen;

führe uns auf den Pfad des Himmels.

 

Mögen, so bitten wir, unsere Gelübde

vor den Thron der Majestät gelangen,

mögen unsere Seufzer dir bekannt sein,

voll deiner barmherzigen Güte.

 

Löse, so flehen wir, die Gefesselten

und die in Sünden Verstrickten;

reinige unsere Herzen,

damit sie in deine Hallen eingehen.

 

Durch dich mögen Dornen ausgerissen

und Tugenden eingepflanzt werden,

damit wir mit den Gerechten

die von Gott bereiteten Güter genießen.

 

Du Edelstein des Himmels,

stimme uns deinen geborenen Sohn gnädig,

damit durch dich, o fromme Mutter,

der Vater uns gewogen sei.

 

Wir wissen: Alle sind wir in Sünden

und in Ungerechtigkeit geboren;

doch wenn du uns führst zu den Höhen,

geleite uns das ewige Licht.

 

Da aus dir Fleisch geworden ist

Jesus Christus, der Sohn Gottes,

sei ihm Lob und Ehre

in alle Ewigkeit. Amen.

 

Tracks 33 bis 42 der CD:

https://www.youtube.com/watch?v=zg_g0vHf_LY&list=OLAK5uy_l3ViMjpSB9CnqPJHcI6oVGFvpeCKLiB8g&index=33 

 

Track 33 – O regina mundi clara: I. O regina mundi clara

 

Mit dem ersten Teil von O regina mundi clara eröffnet John Browne eine groß angelegte marianische Motette, die in ihrer Struktur deutlich strophisch gegliedert ist und auf der CD in mehrere Tracks aufgeteilt erscheint. Der Beginn ist als feierlicher Lobpreis angelegt. Maria wird als leuchtende Königin der Welt und als von Gott besonders erwählte Mutter angesprochen. Der Text ist poetisch verdichtet und verbindet kosmische Bildsprache mit persönlicher Anrufung.

 

Musikalisch ist der Satz ruhig und weit gespannt. Die Polyphonie entfaltet sich ohne Eile, mit langen melodischen Linien und ausgewogener Stimmführung. Browne vermeidet jede dramatische Geste; stattdessen entsteht ein Eindruck von Würde und innerer Sammlung. Der eröffnende Track legt damit das geistliche Fundament für die folgenden Teile der Motette, die den Lobpreis schrittweise in Fürbitte und Heilszuversicht überführen.

 

Lateinischer Text

 

O regina mundi clara,

tu es mater Deo cara,

inter omnes singularis,

quam amavit rex stellaris.

 

Deutsche Übersetzung

 

O leuchtende Königin der Welt,

du bist die Gott teure Mutter,

unter allen einzigartig,

die der Sternenkönig geliebt hat.

 

Dieser erste Abschnitt fungiert als programmatischer Auftakt: Er etabliert die marianische Würde und den kontemplativen Grundton der gesamten Motette, ohne bereits in die bittende Haltung der späteren Teile überzugehen.

 

Track 34 – O regina mundi clara: II. Audi preces servulorum

 

Im zweiten Teil wendet sich John Browne vom reinen Lobpreis zur bittenden Anrufung. Der Text richtet sich nun ausdrücklich an Maria als Adressatin der Gebete der Gläubigen, die unter der Last ihrer Verfehlungen leiden. Die Perspektive wird gemeinschaftlich: Nicht der Einzelne spricht, sondern eine Gemeinschaft von Bittenden, die in der irdischen „Tal“-Existenz um Führung auf den Weg des Himmels fleht.

 

Musikalisch bleibt der Satz ruhig und gesammelt, doch die Polyphonie wirkt leicht verdichtet. Die Stimmen sind enger miteinander verbunden, wodurch der Charakter des gemeinsamen Rufes verstärkt wird. Browne gestaltet diesen Abschnitt nicht dramatisch, sondern eindringlich und beharrlich: Die Bitte wird getragen, nicht ausgerufen. Innerhalb der Motette markiert dieser Track den Übergang vom eröffnenden Lobpreis zur fortschreitenden Fürbitte, die den weiteren Verlauf bestimmen wird.

 

Lateinischer Text

 

Audi preces servulorum,

qui sub onere delictorum

tibi clamant in hac valle,

nos in caeli locans calle.

 

Deutsche Übersetzung

 

Höre die Bitten deiner Diener,

die unter der Last der Sünden

in diesem Tal zu dir rufen;

führe uns auf den Pfad des Himmels.

 

Dieser Abschnitt vertieft den geistlichen Gehalt der Motette, indem er den Blick von der erhabenen Würde Mariens auf ihre Rolle als hörende und leitende Fürsprecherin richtet.

 

Track 35 – O regina mundi clara: III. Inferantur, quaeso, vota

 

Im dritten Teil vertieft John Browne die Fürbitte, indem der Blick nun ausdrücklich auf die Vermittlung Mariens vor Gott gerichtet wird. Der Text bittet darum, dass die Gelübde und Seufzer der Gläubigen vor den Thron der göttlichen Majestät getragen werden. Maria erscheint hier nicht nur als Adressatin des Gebets, sondern als aktive Mittlerin, deren Erbarmen und Nähe zu Gott die Bitten wirksam machen.

 

Musikalisch bleibt der Satz ruhig und klar gegliedert. Die Polyphonie ist ausgewogen, mit langen, ruhig geführten Linien, die den Charakter des beharrlichen Bittens unterstreichen. Browne vermeidet jede Zuspitzung; stattdessen entsteht ein Eindruck stiller Zuversicht. Innerhalb der Motette fungiert dieser Track als Vertiefung der zuvor ausgesprochenen Bitte und bereitet den Übergang zu den stärker moralisch und soteriologisch ausgerichteten Abschnitten vor.

 

Lateinischer Text

 

Inferantur, quaeso, vota,

sint a te suspiria nota

ante thronum maiestatis,

tuae plenae pietatis.

 

Deutsche Übersetzung

 

Mögen, so bitten wir, unsere Gelübde dargebracht werden,

mögen dir unsere Seufzer bekannt sein

vor dem Thron der Majestät,

voll deiner Barmherzigkeit.

 

Dieser Abschnitt stärkt das Bild Mariens als barmherzige Fürsprecherin und verankert die Motette fest im kontemplativen Gebetscharakter, der ihren weiteren Verlauf bestimmt.

 

Track 36 – O regina mundi clara: IV. Solvas, oro, compeditos

 

Im vierten Teil richtet sich die Bitte ausdrücklich auf Befreiung und innere Reinigung. John Browne formuliert den Text als eindringliche Fürsprache: Die Gebundenen sollen gelöst, die in Sünden Verstrickten befreit werden, damit Geist und Herz gereinigt den Zugang zum himmlischen Bereich finden. Der Akzent liegt weniger auf individueller Schuld als auf dem Zustand des Gebundenseins, der durch göttliche Gnade überwunden werden soll.

 

Musikalisch bleibt der Satz ruhig und konzentriert. Die Polyphonie ist dicht geführt, ohne dramatische Akzente; lange Linien und behutsame Spannungen tragen den bittenden Charakter. Innerhalb der Motette markiert dieser Track eine inhaltliche Zuspitzung: Aus der allgemeinen Fürbitte wird eine konkrete Bitte um Erlösung und Verwandlung.

 

Lateinischer Text

 

Solvas, oro, compeditos,

et peccatis irretitos;

fac mundari mentes nostras,

ut intrent in aulas tuas.

 

Deutsche Übersetzung

 

Löse, so bitte ich, die Gefesselten

und die in Sünden Verstrickten;

reinige unsere Herzen,

damit sie in deine Hallen eintreten.

 

Dieser Abschnitt vertieft die soteriologische Dimension der Motette und bereitet die folgenden Teile vor, in denen die Bitte um Tugend, Führung und himmlische Gemeinschaft weiter entfaltet wird.

 

Track 37 – O regina mundi clara: V. Per te vepres succidantur

 

Im fünften Teil gewinnt die Fürbitte eine moralisch-asketische Zuspitzung. John Browne greift hier eine stark bildhafte Sprache auf: Dornen und Gestrüpp stehen für Laster und Hindernisse, Tugenden für das neu zu Pflanzende im inneren Leben. Der Text bittet Maria darum, durch ihre Fürsprache das Böse zu entfernen und das Gute wachsen zu lassen, damit die Gläubigen am Ende Anteil an den von Gott bereiteten Gütern haben. Inhaltlich verschiebt sich der Akzent von der Befreiung von Schuld hin zur positiven Umgestaltung des Menschen.

 

Musikalisch bleibt der Satz ruhig und gesammelt. Die Polyphonie ist ausgewogen und ohne scharfe Kontraste; sie trägt den Text in gleichmäßigem Fluss und unterstreicht dessen meditativen Charakter. Innerhalb der Motette bildet dieser Track einen wichtigen Schritt von der Reinigung zur Erneuerung und bereitet die stärker christologisch ausgerichteten Bitten der folgenden Teile vor.

 

Lateinischer Text

 

Per te vepres succidantur

et virtutes inserantur,

ut cum iustis perfruamur

quae a Deo praeparantur.

 

Deutsche Übersetzung

 

Durch dich mögen die Dornen ausgehauen

und die Tugenden eingepflanzt werden,

damit wir mit den Gerechten genießen,

was von Gott bereitet ist.

 

Dieser Abschnitt verbindet asketische Bildsprache mit eschatologischer Hoffnung und vertieft den geistlichen Weg der Motette von der Läuterung hin zur Teilhabe am göttlichen Heil.

 

Track 38 – O regina mundi clara: VI. Gemma caeli, fac placatum

 

Im sechsten Teil richtet sich die Fürbitte ausdrücklich christologisch aus. Maria wird als gemma caeli, als „Edelstein des Himmels“, angerufen und gebeten, den Sohn gnädig zu stimmen. Die marianische Mittlerschaft wird hier klar benannt: Durch Maria soll der Zugang zur göttlichen Barmherzigkeit eröffnet werden. Inhaltlich verbindet der Text Lobpreis mit konkreter Bitte um göttliche Gnade und Wohlwollen.

 

Musikalisch bleibt der Satz ruhig, ausgewogen und kontemplativ. Die Polyphonie ist dicht, aber transparent geführt; sie vermeidet dramatische Zuspitzungen und trägt den Text in gleichmäßigem Fluss. Innerhalb der Motette markiert dieser Abschnitt einen Übergang von der moralischen Erneuerung zur direkten Bitte um göttliche Gnade durch den Sohn, wie sie für die marianische Frömmigkeit um 1500 charakteristisch ist. Die Anlage entspricht der kompositorischen Praxis von John Browne.

 

Lateinischer Text

 

Gemma caeli, fac placatum

nobis tuum Filium natum,

ut per te, o pia Mater,

sit propitius nobis Pater.

 

Deutsche Übersetzung

 

Edelstein des Himmels,

stimme uns deinen geborenen Sohn gnädig,

damit durch dich, o fromme Mutter,

der Vater uns gewogen sei.

 

Dieser Teil bündelt die bisherige Fürbitte auf das zentrale Ziel hin: die Erlangung göttlicher Gnade durch die vermittelnde Rolle Mariens.

 

Track 39 – O regina mundi clara: VII. Scimus, omnes in peccatis

 

Im siebten Teil tritt die Fürbitte in eine bewusst demütige Selbstvergewisserung ein. John Browne lässt den Text offen bekennen, dass alle Menschen in Sünde und Ungerechtigkeit geboren sind. Diese Einsicht ist jedoch nicht resignativ, sondern auf Hoffnung hin formuliert: Maria erscheint als Führerin, die den Weg vom Irdischen zum Himmlischen weist. Der Akzent liegt damit auf Führung und Erleuchtung, nicht auf Schuldverhaftung.

 

Musikalisch bleibt der Satz ruhig und gesammelt. Die Polyphonie ist gleichmäßig geführt, ohne dramatische Akzente; sie trägt den Text in einem ruhigen, nach innen gerichteten Fluss. Innerhalb der Motette bildet dieser Track eine Art inneres Bekenntnis, das die vorausgehenden Bitten bündelt und zugleich auf den doxologischen Schluss vorbereitet.

 

Lateinischer Text

 

Scimus, omnes in peccatis

sumus nati et iniquitatis;

sed te duce ad superna

ducat nos lux sempiterna.

 

Deutsche Übersetzung

 

Wir wissen: Alle sind wir in Sünden

und in Ungerechtigkeit geboren;

doch wenn du uns zu den Höhen führst,

geleite uns das ewige Licht.

 

Dieser Abschnitt verleiht der Motette eine nüchterne, theologisch klare Mitte: Erkenntnis der eigenen Unzulänglichkeit verbunden mit Vertrauen auf Führung und Erlösung.

 

Track 40 – O regina mundi clara: VIII. Cum sit ex te incarnatus

 

Im achten Teil erreicht die Motette ihre christologische Begründung. John Browne führt die zuvor entfaltete marianische Fürbitte nun auf ihren letzten theologischen Grund zurück: Die besondere Stellung Mariens beruht darauf, dass Christus aus ihr Fleisch angenommen hat. Der Text ist klar doxologisch ausgerichtet und verbindet Inkarnation, Gottessohnschaft und Lobpreis. Maria tritt hier nicht mehr als bittende Mittlerin hervor, sondern als Ursprung des Heilsgeschehens, aus dem sich alles Vorangegangene ableitet.

 

Musikalisch wirkt der Satz ruhig und geschlossen. Die Polyphonie ist ausgewogen, ohne Steigerung oder dramatischen Akzent, und trägt den Text mit feierlicher Schlichtheit. Innerhalb der Motette bildet dieser Abschnitt den Übergang vom bittenden Gebet zum abschließenden Lobpreis. Die Sammlung und Klarheit des Satzes entsprechen der kompositorischen Handschrift von John Browne, der theologische Höhepunkte häufig nicht durch Klangfülle, sondern durch Ruhe markiert.

 

Lateinischer Text

 

Cum sit ex te incarnatus

Iesus Christus, Dei natus,

ipsi laus et gloria

per aeterna saecula. Amen.

 

Deutsche Übersetzung

 

Da aus dir Fleisch geworden ist

Jesus Christus, der Sohn Gottes,

ihm sei Lob und Ehre

in alle Ewigkeit. Amen.

 

Dieser Abschnitt schließt den inhaltlichen Bogen der Motette: Aus der Anrufung Mariens erwächst der Lobpreis Christi, der als fleischgewordener Sohn Gottes das eigentliche Zentrum des Gebets bildet.

 

Track 41 – O regina mundi clara: IX. Nunquam cessa, sed exora

 

Im neunten Teil kehrt die Motette noch einmal ausdrücklich zur inständigen Fürbitte zurück. John Browne lässt den Text Maria direkt ansprechen und sie auffordern, in ihrer vermittelnden Rolle nicht nachzulassen. Nach der christologischen Begründung des vorangegangenen Abschnitts (Cum sit ex te incarnatus) erhält die marianische Fürsprache hier ihre praktische Konsequenz: Maria soll fortwährend bitten, damit den Gläubigen göttliche Gnade zuteilwird. Der Ton ist dringlich, aber nicht aufgeregt; es handelt sich um beharrliches, vertrauendes Flehen.

 

Musikalisch bleibt der Satz ruhig und gesammelt. Die Polyphonie ist dicht geführt, ohne dramatische Zuspitzung, und unterstreicht den Charakter der Ausdauer (nunquam cessa). Die Stimmen tragen den Text gleichmäßig und verleihen der Bitte einen Eindruck von Beständigkeit und innerer Ruhe. Innerhalb der Motette wirkt dieser Track wie eine bewusste Rückbindung der vorangegangenen Theologie an das konkrete Gebet der Gläubigen.

 

Lateinischer Text

 

Nunquam cessa, sed exora

pro nobis apud Deum.

 

Deutsche Übersetzung

 

Höre niemals auf, sondern bitte

für uns bei Gott.

 

Dieser Abschnitt verstärkt noch einmal die Rolle Mariens als dauerhafte Fürsprecherin und bereitet den Weg für den abschließenden Teil der Motette, in dem Bitte und Lobpreis endgültig zusammengeführt werden.

 

Track 42 – O regina mundi clara: X. Ne sinat in exsilium

 

Der zehnte und letzte Teil der Motette bildet den abschließenden Bitt- und Ausklangssatz. John Browne bündelt hier die zuvor entwickelten Gedanken in eine letzte, eindringliche Bitte: Die Gläubigen sollen nicht dem geistlichen Exil überlassen bleiben, sondern unter dem Schutz Mariens bewahrt und zur endgültigen Gemeinschaft mit Gott geführt werden. Der Text greift das Motiv des Exils auf, das im marianischen Gebet des Spätmittelalters häufig die irdische Fremde gegenüber der himmlischen Heimat bezeichnet.

 

Musikalisch ist der Satz ruhig, geschlossen und klar auf Abschluss hin angelegt. Die Polyphonie wirkt gesammelt und vermeidet jede Steigerung; stattdessen entsteht ein Eindruck stiller Bitte und vertrauender Hingabe. Der Track fungiert als ruhiger Nachklang der gesamten Motette, in dem Fürbitte und Hoffnung ohne dramatische Zuspitzung in die Stille zurückgeführt werden.

 

Lateinischer Text

 

Ne sinat in exsilium

nos deduci post hunc diem.

 

Deutsche Übersetzung

 

Lass nicht zu,

dass wir nach diesem Tag

ins Exil geführt werden.

 

Dieser Schluss fasst die Motette in einem einzigen Gedanken zusammen: die Bitte um Bewahrung und endgültige Heimführung. Damit endet O regina mundi clara nicht mit äußerem Glanz, sondern mit einer leisen, konzentrierten Hoffnung.

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O regina mundi clara

O Maria salvatoris mater

 

Lateinischer Text

 

O Maria salvatoris Mater,

fragrans flos pudoris,

superans nascentia.

 

Parit illa mater fructum

qui iam nostrum tulit luctum

cunctaque peccamina.

 

Parit Christum virgo manens;

quisnam negat? Numquid parens

virga Aaron legitur frondes,

flores produxisse?

Deum ita potuisse

Filium adseritur.

 

Ex hac matre sic intacta

gignit eum, quo est facta

cunctaque viventia.

 

Illam ergo recolamus,

cuius fructum sic amamus;

colant et caelestia.

 

Quisnam vivit hoc in mundo,

cum sit captus iniucundo

morbo vel tristitia,

 

quin, si oret istam matrem,

intercedat ut ad Patrem

caelesti in patria?

 

Exstat mater tum parata

nos iuvare; en! quam grata

adest semper Maria.

 

Rogamus et Frideswidam,

Magdalenam, Catharinam

doctam philosophia;

 

theologia disputans,

gentes cunctas superans,

cum sit haec Catharina.

 

His iam sanctis iubilemus,

voce, corde decantemus

hac nostra melodia.

 

Deutsche Übersetzung

 

O Maria, Mutter des Erlösers,

du duftende Blume der Reinheit,

alle irdische Geburt überragend.

 

Jene Mutter bringt die Frucht hervor,

die schon unser Leid getragen

und alle Sünden auf sich genommen hat.

 

Sie gebiert Christus und bleibt Jungfrau;

wer wollte das leugnen?

Wird nicht vom Stab Aarons gelesen,

dass er Blätter

und Blüten hervorgebracht hat?

So wird bezeugt,

dass Gott seinen Sohn auf diese Weise hervorbringen konnte.

 

Aus dieser so unversehrten Mutter

geht der hervor,

durch den alles Lebendige geschaffen wurde.

 

Ihr lasst uns also gedenken,

deren Frucht wir so sehr lieben;

auch die Himmlischen verehren sie.

 

Wer lebt wohl in dieser Welt,

ohne von schwerer, bitterer

Krankheit oder Traurigkeit erfasst zu sein,

 

ohne – wenn er diese Mutter anruft –,

dass sie beim Vater für ihn eintritt

in der himmlischen Heimat?

 

Da steht die Mutter bereit,

uns zu helfen;

siehe, wie gütig Maria

uns immer gegenwärtig ist.

 

Wir bitten auch Frideswida,

Magdalena und Katharina,

die in der Weisheit der Philosophie gelehrte;

 

die im theologischen Streit

alle Völker überragt,

diese Katharina.

 

Lasst uns nun diesen Heiligen jubelnd singen,

mit Stimme und Herz sie preisen

in dieser unserer Melodie.

 

Tracks 43 bis 54 der CD:

 

https://www.youtube.com/watch?v=lgsBsOglHss&list=OLAK5uy_l3ViMjpSB9CnqPJHcI6oVGFvpeCKLiB8g&index=43 

 

Track 43 – O Maria salvatoris mater: I. O Maria salvatoris mater

 

Mit O Maria salvatoris mater beginnt eine weitere groß angelegte marianische Motette von John Browne, die sich deutlich von den zuvor gehörten Stabat-Kompositionen unterscheidet. Der Text gehört nicht zur römischen Liturgie, sondern zu den im spätmittelalterlichen England verbreiteten poetischen Marienlobgesängen, die Lobpreis, Theologie und Fürbitte miteinander verbinden. Inhaltlich steht nicht das Leiden, sondern das Heilsgeheimnis der Menschwerdung Christi im Zentrum.

 

Der eröffnende Abschnitt preist Maria als „Mutter des Erlösers“, als reinen, duftenden „Blütenkelch der Keuschheit“, der alles Irdische überragt. Bereits hier wird die Grundlinie der Motette festgelegt: Maria erscheint als einzigartige Trägerin des Heils, aus der Christus hervorgeht, der Leid und Sünde der Welt auf sich genommen hat. Die Bildsprache ist reich, aber klar strukturiert, und verbindet marianische Symbolik mit christologischer Aussage.

 

Musikalisch ist der Beginn ruhig, weit gespannt und feierlich gesammelt. Die Polyphonie entfaltet sich ohne Drang zur Steigerung; lange Linien und ausgewogene Stimmführung verleihen dem Satz eine kontemplative Würde. Wie bei Browne typisch, dient die Musik nicht der Illustration einzelner Worte, sondern dem getragenen Aussprechen des Lobes. Dieser erste Track fungiert als programmatischer Auftakt für eine Motette, die in den folgenden Abschnitten theologisch, biblisch und hagiographisch weiter ausgreifen wird.

 

Lateinischer Text

 

O Maria salvatoris mater,

fragrans flos pudoris,

superans nascentia.

 

Deutsche Übersetzung

 

O Maria, Mutter des Erlösers,

du duftende Blume der Reinheit,

alle Geburten überragend.

 

Dieser Eingang legt den geistlichen Rahmen der gesamten Motette fest: Lobpreis der Gottesmutter als Ursprung des Heils, in ruhiger, feierlicher und hochkonzentrierter polyphoner Sprache.

 

Track 44 – O Maria salvatoris: II. Parit illa mater fructum

 

Im zweiten Teil wird der Lobpreis Mariens christologisch zugespitzt. John Browne richtet den Fokus nun ausdrücklich auf die Geburt Christi und deren heilsgeschichtliche Bedeutung. Maria wird als die Mutter benannt, die den „Fruchttragenden“ hervorbringt – jenen, der bereits das Leid der Menschheit getragen und die Sünden der Welt auf sich genommen hat. Damit verbindet der Text Inkarnation und Erlösung in einem einzigen Gedanken: Geburt und Passion sind untrennbar miteinander verknüpft.

 

Musikalisch bleibt der Satz ruhig und getragen. Die Polyphonie ist dicht, aber klar strukturiert; sie vermeidet jede dramatische Zuspitzung und lässt den Text in gleichmäßigem Fluss wirken. Browne gestaltet diesen Abschnitt als kontemplative Vertiefung des Eingangs, nicht als Kontrast. Innerhalb der Motette markiert der Track den Übergang vom poetischen Marienlob zur expliziten Aussage über Christi erlösendes Wirken.

 

Lateinischer Text

 

Parit illa mater fructum

qui iam nostrum tulit luctum

cunctaque peccamina.

 

Deutsche Übersetzung

 

Jene Mutter bringt die Frucht hervor,

der bereits unser Leid getragen

und alle Sünden auf sich genommen hat.

 

Dieser Abschnitt verankert die Motette fest im Zentrum der christlichen Heilslehre. Maria erscheint nicht nur als Ideal der Reinheit, sondern als reale Mutter dessen, durch den Leid und Schuld der Welt überwunden werden.

 

Track 45 – O Maria salvatoris: III. Parit Christum virgo manens

 

Im dritten Teil wird das Paradox der jungfräulichen Mutterschaft ausdrücklich thematisiert. John Browne stellt die Geburt Christi als Wunder dar, das allen Einwänden standhält: Maria gebiert und bleibt Jungfrau. Der Text greift dafür bewusst biblische Typologie auf, insbesondere das alttestamentliche Bild vom Stab Aarons, der ohne menschliches Zutun Blüten und Früchte treibt. So wird die Inkarnation nicht poetisch umspielt, sondern theologisch begründet.

 

Musikalisch bleibt der Satz ruhig und argumentativ gesammelt. Die Polyphonie ist klar geführt, mit ausgewogener Stimmverteilung; sie trägt den gedanklichen Aufbau des Textes, ohne dramatische Akzente zu setzen. Innerhalb der Motette fungiert dieser Abschnitt als lehrhafte Vertiefung: Das zuvor verkündete Heilsgeheimnis wird nun ausdrücklich verteidigt und gedeutet.

 

Lateinischer Text

 

Parit Christum virgo manens;

quisnam negat? Numquid parens

virga Aaron legitur frondes,

flores produxisse?

Deum ita potuisse

Filium adseritur.

 

Deutsche Übersetzung

 

Sie gebiert Christus und bleibt Jungfrau;

wer wollte das leugnen?

Wird nicht vom Stab Aarons gelesen,

dass er Blätter

und Blüten hervorgebracht hat?

So wird bezeugt, dass Gott

auf diese Weise seinen Sohn hervorbringen konnte.

 

Dieser Abschnitt verleiht der Motette eine klare dogmatische Kontur. Das Wunder der Inkarnation wird nicht nur gefeiert, sondern mit Schriftbezug bekräftigt und in ruhiger, überzeugender Polyphonie ausgelegt.

 

Track 46 – O Maria salvatoris: IV. Deum ita potuisse

 

Der vierte Teil knüpft unmittelbar an die typologische Argumentation des vorhergehenden Abschnitts an und führt sie theologisch bündelnd zu Ende. John Browne lässt den Text nun ausdrücklich festhalten, was zuvor bildhaft begründet wurde: Gott selbst war imstande, auf diese Weise seinen Sohn hervorzubringen. Der Akzent liegt nicht mehr auf dem Wunderzeichen (Aaronstab), sondern auf der göttlichen Allmacht, die die jungfräuliche Geburt ermöglicht.

 

Musikalisch ist der Satz ruhig, geschlossen und von erklärender Klarheit geprägt. Die Polyphonie wirkt weniger erzählend als bestätigend; sie trägt den Text mit feierlicher Ruhe und vermeidet jede Steigerung. Innerhalb der Motette fungiert dieser Abschnitt als dogmatischer Ruhepunkt, der das Inkarnationsgeheimnis abschließt, bevor der Text im weiteren Verlauf wieder stärker lobpreisend und betrachtend wird.

 

Lateinischer Text

 

Deum ita potuisse

Filium adseritur.

 

Deutsche Übersetzung

 

So wird bezeugt,

dass Gott auf diese Weise

seinen Sohn hervorbringen konnte.

 

Dieser kurze Abschnitt wirkt wie ein gedanklicher Abschluss der theologischen Argumentation. In seiner Schlichtheit unterstreicht er die Selbstverständlichkeit des Bekenntnisses und fügt sich nahtlos in Brownes ruhige, kontemplative Tonsprache ein.

 

Track 47 – O Maria salvatoris: V. Ex hac matre sic intacta

 

Im fünften Teil richtet sich der Blick erneut auf das Geheimnis der unversehrten Mutterschaft Mariens, nun jedoch mit stärker kosmischer Perspektive. John Browne verbindet die jungfräuliche Geburt Christi unmittelbar mit der Schöpfung selbst. Der Text betont, dass aus eben dieser unberührten Mutter derjenige hervorgegangen ist, durch den alles Lebendige geschaffen wurde. Inkarnation und Schöpfung werden so theologisch zusammengeführt: Der Erlöser ist zugleich der Schöpfer.

 

Musikalisch bleibt der Satz ruhig, weit gespannt und von innerer Geschlossenheit geprägt. Die Polyphonie entfaltet sich ohne dramatische Kontraste und trägt den Text mit gleichmäßigem, kontemplativem Fluss. Innerhalb der Motette markiert dieser Abschnitt eine Erweiterung des zuvor behandelten Inkarnationsgedankens hin zu einer umfassenderen heilsgeschichtlichen Perspektive.

 

Lateinischer Text

 

Ex hac matre sic intacta

gignit eum, quo est facta

cunctaque viventia.

 

Deutsche Übersetzung

 

Aus dieser so unversehrten Mutter

gebiert sie den,

durch den alles Lebendige geschaffen wurde.

 

Dieser Teil vertieft den Lobpreis, indem er Maria nicht nur als Mutter des Erlösers, sondern als Mutter dessen zeigt, durch den die gesamte Schöpfung ins Dasein gerufen wurde.

 

Track 48 – O Maria salvatoris: VI. Illam ergo recolamus

 

Im sechsten Teil wendet sich der Text vom theologischen Bekenntnis zur gemeinschaftlichen Aufforderung. John Browne lässt das zuvor entfaltete Lob und die Lehre in eine kollektive Haltung übergehen: Maria soll bewusst erinnert und verehrt werden, weil ihr Sohn – der „Fruchttragende“ – Gegenstand der Liebe und Hoffnung der Gläubigen ist. Der Akzent liegt nun weniger auf Erklärung als auf praktischer Frömmigkeit und liturgischer Erinnerung.

 

Musikalisch wirkt der Satz ruhig, gesammelt und von klarer Gliederung. Die Polyphonie trägt den Text mit gleichmäßigem Fluss; es gibt keine Zuspitzung, sondern eine ruhige Einladung zur inneren Zustimmung. Innerhalb der Motette markiert dieser Abschnitt den Übergang von der dogmatischen Darlegung zur gemeinschaftlichen Verehrung und bereitet die folgenden, stärker bittenden Teile vor.

 

Lateinischer Text

 

Illam ergo recolamus,

cuius fructum sic amamus;

colant et caelestia.

 

Deutsche Übersetzung

 

Lasst uns also ihrer gedenken,

deren Frucht wir so sehr lieben;

auch die Himmlischen verehren sie.

 

Dieser Abschnitt fasst das Vorangegangene in eine schlichte Konsequenz: Erinnerung, Verehrung und gemeinsame Ausrichtung auf Maria als Mutter des geliebten Erlösers.

 

Track 49 – O Maria salvatoris: VII. Quisnam vivat hoc in mundo

 

Im siebten Teil nimmt der Text eine rhetorisch fragende Wendung an und bezieht die menschliche Lebenswirklichkeit unmittelbar ein. John Browne lässt die Motette hier aus der Sphäre des Lobpreises und der Erinnerung in die konkrete Erfahrung von Krankheit, Mühsal und Traurigkeit treten. Die Frage ist bewusst allgemein formuliert: Wer lebt in dieser Welt, ohne von Leid oder Bedrängnis betroffen zu sein? Damit wird das zuvor besungene Heilsgeschehen unmittelbar auf die conditio humana bezogen.

 

Musikalisch bleibt der Satz ruhig und gesammelt. Die Polyphonie ist klar geführt, ohne dramatische Akzente; sie trägt den fragenden Charakter des Textes mit nachdenklicher Ruhe. Innerhalb der Motette markiert dieser Abschnitt den Übergang zur expliziten Bitte um Fürsprache: Aus der Erkenntnis des menschlichen Leidens ergibt sich folgerichtig der Ruf nach Maria als Mittlerin.

 

Lateinischer Text

 

Quisnam vivat hoc in mundo,

cum sit captus iniucundo

morbo vel tristitia,

 

Deutsche Übersetzung

 

Wer lebt wohl in dieser Welt,

ohne von einer unerquicklich schweren

Krankheit oder Traurigkeit erfasst zu sein?

 

Dieser Teil verleiht der Motette eine existenzielle Tiefe. Das Marienlob wird hier bewusst mit der Erfahrung von Leid und Begrenztheit verbunden und bereitet so den folgenden Abschnitt vor, in dem die Fürbitte ausdrücklich formuliert wird.

 

Track 50 – O Maria salvatoris: VIII. Quin, si oret istam matrem

 

Im achten Teil wird die zuvor gestellte Frage folgerichtig beantwortet. John Browne führt den Text von der allgemeinen Erfahrung von Leid zur klaren Konsequenz: Wer Maria anruft, findet in ihr eine wirksame Fürsprecherin. Der Gedanke der Vermittlung steht nun ausdrücklich im Zentrum. Maria soll beim Vater für die Bittenden eintreten und ihnen den Zugang zur himmlischen Heimat eröffnen. Inhaltlich verbindet dieser Abschnitt existenzielle Not mit eschatologischer Hoffnung.

 

Musikalisch bleibt der Satz ruhig und gesammelt. Die Polyphonie ist gleichmäßig geführt, ohne dramatische Zuspitzung, und trägt den Text in einem ruhigen, vertrauenden Fluss. Innerhalb der Motette markiert dieser Track den Übergang von der Beschreibung menschlicher Bedrängnis zur konkreten, zuversichtlichen Bitte um Fürsprache.

 

Lateinischer Text

 

Quin, si oret istam matrem,

intercedat ut ad Patrem

caelesti in patria?

 

Deutsche Übersetzung

 

Sollte er nicht, wenn er diese Mutter anruft,

erwirken, dass sie beim Vater für ihn eintritt

in der himmlischen Heimat?

 

Dieser Abschnitt verleiht der Motette eine klare innere Logik: Aus Leid erwächst Gebet, aus Gebet Hoffnung auf Fürsprache und Heimführung.

 

Track 51 – O Maria salvatoris: IX. Exstat mater tum parata

 

Im neunten Teil wird die zuvor ausgesprochene Hoffnung unmittelbar bestätigt. John Browne lässt den Text nun festhalten, dass Maria stets bereitsteht, den Menschen zu helfen. Die Fürbitte wird nicht als Möglichkeit, sondern als verlässliche Wirklichkeit dargestellt. Maria erscheint hier als immer gegenwärtige Helferin, deren Nähe nicht erst erlangt werden muss, sondern bereits gegeben ist. Der Ton ist tröstend und zuversichtlich, ohne pathetisch zu werden.

 

Musikalisch ist der Satz ruhig, offen und von freundlicher Klarheit geprägt. Die Polyphonie wirkt weniger gedrängt als in den vorhergehenden Abschnitten und vermittelt einen Eindruck von Verfügbarkeit und Nähe. Innerhalb der Motette bildet dieser Track einen Wendepunkt von der bittenden Haltung zur Gewissheit: Die Hilfe, um die gebeten wurde, ist bereits bereitgestellt.

 

Lateinischer Text

 

Exstat mater tum parata

nos iuvare; en! quam grata

adest semper Maria.

 

Deutsche Übersetzung

 

Da steht die Mutter bereit,

uns zu helfen; siehe, wie gnädig

Maria immer gegenwärtig ist.

 

Dieser Abschnitt verleiht der Motette einen tröstlichen Kern. Die marianische Fürsprache wird nicht mehr erhofft, sondern als fortwährende Realität erfahren, was den weiteren Verlauf auf eine dankbare und gemeinschaftliche Haltung vorbereitet.

 

Track 52 – O Maria salvatoris: X. Rogamus et Frideswidam

 

Im zehnten Teil erweitert John Browne den Blick von der marianischen Fürsprache auf die Gemeinschaft der Heiligen. Der Text ruft nun ausdrücklich mehrere Heilige an, beginnend mit Frideswida, gefolgt von Maria Magdalena und Katharina. Damit wird das Gebet in einen hagiographischen Rahmen gestellt: Die Bitte um Hilfe und Fürsprache wird nicht isoliert an Maria gerichtet, sondern in die größere communio sanctorum eingebettet. Besonders auffällig ist die Hervorhebung der heiligen Katharina als gelehrte Glaubenszeugin, deren Weisheit und Standhaftigkeit betont werden.

 

Musikalisch bleibt der Satz ruhig und gesammelt. Die Polyphonie trägt den aufzählenden Charakter des Textes ohne rhetorische Schärfe; sie wirkt wie eine feierliche Erinnerung und Anrufung. Innerhalb der Motette markiert dieser Abschnitt eine Erweiterung der Fürbitte von der zentralen marianischen Gestalt hin zu einem Netzwerk heiliger Fürsprecher, wie es für spätmittelalterliche Frömmigkeit typisch ist.

 

Lateinischer Text

 

Rogamus et Frideswidam,

Magdalenam, Catharinam

doctam philosophia;

 

Theologia disputans,

gentes cunctas superans,

cum sit haec Catharina.

 

Deutsche Übersetzung

 

Wir bitten auch Frideswida,

Magdalena und Katharina,

die in der Philosophie gelehrte;

 

die in der Theologie disputierend

alle Völker überragt,

da diese Katharina so ist.

 

Dieser Abschnitt verleiht der Motette eine deutlich hagiographische Dimension. Die Anrufung konkreter Heiliger verbindet marianische Frömmigkeit mit lokaler und universaler Heiligenverehrung und bereitet den abschließenden gemeinsamen Lobpreis vor.

 

Track 53 – O Maria salvatoris: XI. Theologia disputans

 

Der elfte Teil vertieft die im vorhergehenden Track begonnene Hervorhebung der heiligen Katharina und präzisiert ihr geistliches Profil. Der Text stellt sie ausdrücklich als theologisch disputierende Gestalt dar, deren Weisheit und Standhaftigkeit alle Völker überragt. Damit wird Katharina nicht nur als Märtyrin, sondern als gelehrte Glaubenszeugin präsentiert – ein Motiv, das im spätmittelalterlichen England besondere Resonanz fand. Die Anrufung erhält hier einen fast exemplarischen Charakter: Heiligkeit zeigt sich nicht allein im Leiden, sondern auch in der geistigen Durchdringung des Glaubens.

 

Musikalisch bleibt der Satz ruhig und würdevoll. Die Polyphonie ist klar gegliedert und vermeidet jede Zuspitzung; sie trägt den Text mit feierlicher Gelassenheit. Innerhalb der Motette fungiert dieser Abschnitt als Ausweitung der Heiligenanrufung und zugleich als Vorbereitung auf den abschließenden gemeinsamen Lob- und Jubelruf, in dem die angerufenen Heiligen und die betende Gemeinschaft zusammengeführt werden.

 

Lateinischer Text

 

Theologia disputans,

gentes cunctas superans,

cum sit haec Catharina.

 

Deutsche Übersetzung

 

In der Theologie disputierend,

alle Völker überragend,

so ist diese Katharina.

 

Dieser Teil schließt die hagiographische Sequenz ab und betont nochmals die geistige Autorität der angerufenen Heiligen, bevor die Motette im nächsten Abschnitt in einen gemeinsamen, feierlichen Abschluss mündet.

 

Track 54 – O Maria salvatoris: XII. His iam sanctis iubilemus

Der zwölfte und letzte Teil der Motette führt alle zuvor angerufenen Gestalten und Gedanken in einen gemeinsamen Jubel- und Lobgesang zusammen. John Browne lässt den Text nun ausdrücklich zur kollektiven Handlung werden: Stimme, Herz und Gesang vereinen sich im Lob der Heiligen und im Dank für ihre Fürsprache. Nach Lobpreis, theologischer Ausdeutung und Bitte mündet die Motette damit in eine freudige, gemeinschaftliche Bekräftigung des Glaubens.

Musikalisch ist dieser Schluss ruhig und geschlossen, nicht triumphal im äußeren Sinn, sondern von innerer Festigkeit geprägt. Die Polyphonie wirkt ausgeglichen und sammelnd; sie vermeidet jede scharfe Steigerung und lässt den Jubel aus der Einheit der Stimmen entstehen. Innerhalb der Motette bildet dieser Track den natürlichen Abschluss: Die zuvor einzeln angerufenen Gestalten werden in einer gemeinsamen geistlichen Bewegung zusammengeführt.

 

Lateinischer Text

 

His iam sanctis iubilemus,

voce, corde decantemus

hac nostra melodia.

 

Deutsche Übersetzung

 

Lasst uns nun diesen Heiligen jubelnd singen,

mit Stimme und Herz sie besingen

in dieser unserer Melodie.

 

Mit diesem Satz endet O Maria salvatoris nicht in stiller Bitte, sondern in gemeinsamem, gefasstem Jubel. Die Motette schließt als Bekenntnis gemeinschaftlicher Frömmigkeit, getragen von ruhiger, würdevoller Polyphonie. 

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O Maria salvatoris mater

William Cornysh senior (um 1430–1502)

 

William Cornysh senior war ein englischer Kirchenmusiker des späten 15. Jahrhunderts, der nach heutiger Forschung als eigenständige Person vom späteren Gentleman of the Chapel Royal gleichen Namens zu unterscheiden ist. Er wirkte überwiegend im Umfeld von Westminster und gehört zeitlich und stilistisch zur Generation vor John Browne, Robert Fayrfax und Nicholas Ludford.

 

Die früheste gesicherte Nachricht über Cornysh senior stammt aus dem Jahr 1479, als er zum Instructor of the Choristers der Lady Chapel von Westminster Abbey ernannt wurde. Wahrscheinlich war er bereits zuvor in irgendeiner Form mit der Abtei verbunden. In den 1480er Jahren bekleidete er dort das Amt des informator choristarum und war für die musikalische Ausbildung der Chorknaben verantwortlich. Parallel dazu war er Mitglied der Fraternity of St Nicholas (London Guild of Parish Clerks), der er spätestens 1480 angehörte – ein entscheidendes Indiz für seine Einordnung, da mehrere mit ihm verbundene Komponisten des Caius Choirbook ebenfalls Mitglieder dieser Bruderschaft waren.

 

Cornysh senior lebte dauerhaft im Bereich des Westminster-Sanctuary. Ab 1485 mietete er Wohnräume in unmittelbarer Nähe der Lady Chapel; 1489 ist ein dreigeschossiges Haus mit Keller belegt, das ihm zu stark ermäßigter Miete überlassen wurde – ausdrücklich als Anerkennung seiner Dienste für die Abtei. Ein Dokument von 1491 bezeichnet ihn als „Gentleman“ und erwähnt seine Ehefrau Joanna. Nach Aufgabe seines festen Amtes an der Abtei um 1491 blieb er offenbar weiterhin musikalisch tätig und ansässig in Westminster. Zwischen 1493 und 1502 wird er zudem als Gentleman of the King’s Chapel geführt, ohne dass sich daraus zwingend eine Identifikation mit dem späteren Cornysh junior ergibt.

 

1499 erhielt Cornysh senior eine lebenslange Pension von acht Mark. Im selben Jahr ist seine familiäre Einbindung in das Gemeindeleben von St Margaret’s, Westminster, belegt. Sein Tod ist für das Jahr 1502 im Register der Fraternity of St Nicholas verzeichnet; er wurde auf dem Kirchhof von St Margaret’s beigesetzt. Sein Testament ist nicht erhalten, doch Kirchenrechnungen belegen mehrere Stiftungen und Sachgeschenke an die Pfarrkirche, die teils noch nach seinem Tod von seiner Witwe übergeben wurden.

 

Cornysh senior gilt nach der heute überzeugendsten Forschung als der Komponist der lateinischen geistlichen Werke, die in Quellen wie dem Eton Choirbook und dem Caius Choirbook überliefert sind, darunter ein Magnificat sowie marianische Großformen. Diese Werke gehören stilistisch eindeutig in die spätgotische englische Votivpolyphonie der Zeit um 1480–1500. Die englischsprachigen Hoflieder und weltlichen Stücke des frühen 16. Jahrhunderts sind dagegen dem jüngeren William Cornysh († 1523) zuzuschreiben.

 

Ave Maria, mater Dei

 

Das Ave Maria, mater Dei von William Cornysh senior gehört zu den wenigen sicher greifbaren geistlichen Werken dieses Komponisten und steht stilistisch vollständig in der Tradition der spätgotischen englischen Votivpolyphonie. Das Werk ist mehrstimmig angelegt und entfaltet seine Wirkung nicht durch motivische Imitation, sondern durch das charakteristische Überlagern weit gespannter, linear geführter Stimmen. Die Oberstimmen bewegen sich in hohen Lagen mit ausgedehnten Melismen, während die unteren Stimmen ein tragendes, klanglich ruhiges Fundament bilden.

 

Typisch für den Eton-Stil ist die kontemplative Grundhaltung der Musik: Der Text wird nicht rhetorisch ausgedeutet, sondern in eine schwebende Klangfläche eingebettet, die auf spirituelle Versenkung zielt. Dissonanzen erscheinen gezielt, jedoch nie scharf zugespitzt; sie dienen der klanglichen Intensivierung, nicht der dramatischen Zuspitzung. Im Vergleich zu John Browne wirkt Cornyshs Satz weniger monumental, dafür direkter und konzentrierter, mit einer auffallenden Expressivität in den oberen Stimmen.

 

Das Ave Maria, mater Dei steht exemplarisch für die letzte Phase der spätmittelalterlichen Marienverehrung in England: eine Musik, die noch ganz im Sarum-Ritus verwurzelt ist und deren ästhetisches Ziel nicht strukturelle Klarheit, sondern klangliche Transzendenz ist. Damit bildet das Werk einen stimmigen Abschluss der Eton-Tradition und gehört eindeutig in den Kontext von Teil I der Musik der Tudorzeit.

https://www.youtube.com/watch?v=2RDeEb_nimU 

 

Lateinischer Text

 

Ave Maria, mater Dei,

ora pro nobis peccatoribus,

ut cum electis te videamus.

 

Deutsche Übersetzung

 

Gegrüßet seist du, Maria, Mutter Gottes,

bitte für uns Sünder,

damit wir dich zusammen mit den Auserwählten schauen dürfen.

 

Salve Regina

 

Das Salve Regina von William Cornysh senior gehört zu den reifsten Beispielen der spätgotischen englischen Marienpolyphonie und steht stilistisch fest im Umfeld des Eton Choirbook. Die Komposition ist großformatig angelegt und entfaltet ihre Wirkung aus der Überlagerung weit gespannter, linear geführter Stimmen. Charakteristisch ist der ausgeprägte Diskantsatz: Hohe Oberstimmen mit langen Melismen dominieren das Klangbild, während die unteren Stimmen ein ruhiges, tragendes Fundament bilden, das weniger rhythmisch als klanglich strukturiert ist.

 

Der Satz verzichtet weitgehend auf imitatorische Techniken im kontinentalen Sinn. Stattdessen entsteht eine dichte, schwebende Klangfläche, in der sich die Stimmen ornamental umeinander winden. Textgliederungen werden nicht analytisch herausgestellt, sondern durch Wechsel der Stimmenzahl, Kadenzen und klangliche Verdichtung markiert. Dissonanzen erscheinen gezielt und tragen zur inneren Spannung bei, ohne den kontemplativen Grundcharakter zu stören.

 

Im Vergleich zu den monumentalen Antiphonen John Brownes wirkt Cornyshs Salve Regina konzentrierter und unmittelbarer, zugleich aber von ausgeprägter Expressivität. Besonders die Bittrufe am Ende – O clemens, O pia, O dulcis Virgo Maria – gewinnen durch die klangliche Zuspitzung eine eindringliche Intensität, die ganz aus der musikalischen Linie heraus entsteht.

 

Das Werk steht exemplarisch für die letzte Phase der spätmittelalterlichen Marienverehrung in England. Es ist noch vollständig im Sarum-Ritus verankert und gehört eindeutig in Teil I der Musik der Tudorzeit. Mit seiner klanglichen Dichte und spirituellen Sammlung markiert es einen würdigen Abschluss der Eton-Tradition unmittelbar vor den stilistischen Verschiebungen der frühen Regierungszeit Heinrichs VIII.

https://www.youtube.com/watch?v=n0sov7LlQGc 

 

(Achtung, das YouTube Video enthält ein falsches Sterbedatum des Komponisten. Das Werk gehört dem Cornysh senior, der 1502 verstorben ist)

 

Lateinischer Text

 

Salve Regina, mater misericordiae,

vita, dulcedo et spes nostra, salve.

Ad te clamamus, exsules filii Hevae,

ad te suspiramus, gementes et flentes

in hac lacrimarum valle.

 

Eia ergo, advocata nostra,

illos tuos misericordes oculos

ad nos converte.

Et Iesum, benedictum fructum ventris tui,

nobis post hoc exsilium ostende.

 

O clemens,

O pia,

O dulcis Virgo Maria.

 

Deutsche Übersetzung

 

Sei gegrüßt, Königin, Mutter der Barmherzigkeit,

unser Leben, unsere Wonne und unsere Hoffnung, sei gegrüßt.

Zu dir rufen wir, verbannte Kinder Evas,

zu dir seufzen wir, klagend und weinend

in diesem Tal der Tränen.

 

Wohlan denn, unsere Fürsprecherin,

wende deine barmherzigen Augen

uns zu.

Und Jesus, die gebenedeite Frucht deines Leibes,

zeige uns nach diesem Exil.

 

O gütige,

o milde,

o süße Jungfrau Maria. 

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William Cornysh senior

König Heinrich VIII. als Komponist

 

Heinrich (Henry) VIII. (* 28. Juni 1491 – † 28. Januar 1547), König von England von 1509 bis zu seinem Tod, bildet den entscheidenden Schlüsselpunkt zwischen höfischer Spätmittelalter-Tradition und früher Tudor-Renaissance. Seine Regierungszeit markiert nicht nur einen tiefgreifenden politischen und konfessionellen Umbruch, sondern auch eine klar fassbare Übergangsphase innerhalb der englischen Hofmusik, die sich noch fest in der vorreformatorischen Klangwelt verankert zeigt und zugleich erste Anzeichen stilistischer Öffnung erkennen lässt.

 

Heinrich VIII. nimmt dabei eine in der englischen Musikgeschichte außergewöhnliche Doppelrolle ein. Zum einen war er der politisch bestimmende Akteur, der den königlichen Hof zu einem kulturellen Zentrum ersten Ranges ausbaute und Musiker, Komponisten sowie Instrumentalisten gezielt förderte. Zum anderen trat er selbst als praktizierender Musiker und Komponist hervor – eine Tatsache, die ihn deutlich von den meisten seiner zeitgenössischen Herrscher unterscheidet. Seine musikalische Bildung, sein aktives Musizieren und seine eigene kompositorische Tätigkeit waren integraler Bestandteil der höfischen Repräsentation und keine bloße Nebenbeschäftigung.

 

Kompositionen wie Pastime with good company sowie die überlieferten Vokal- und Instrumentalstücke aus dem Umfeld des Hofes stehen stilistisch noch klar auf dem Fundament der spätmittelalterlichen Hofmusik zur Zeit Heinrichs VII. (1457–1509). Gleichzeitig zeigen sie bereits eine größere melodische Beweglichkeit, eine leichtere Textur und eine neue Verbindung von Musik und höfischem Selbstverständnis, die den Übergang zur Tudor-Renaissance vorbereiten. Gerade in dieser Spannungszone zwischen Tradition und beginnender Erneuerung erhält Henry VIII. seine musikgeschichtliche Bedeutung – als abschließende Gestalt einer Epoche, deren Tod 1547 nicht nur eine Herrschaft, sondern auch einen musikalischen Abschnitt beendet.

 

Die CD All Goodly Sports: The Complete Music of Henry VIII („Allerlei edle Spiele: Die vollständige Musik Heinrichs VIII.“) präsentiert einen außergewöhnlich geschlossenen Einblick in das musikalische Schaffen von Henry VIII. Eingespielt wurde sie vom Ensemble Sirinu und erschien 1998 bei Chandos Records. Die Aufnahmen entstanden 1997 und 1998; die Spielzeit beträgt rund 65 Minuten.

 

https://www.youtube.com/watch?v=0lvWx-S8Fbg&list=OLAK5uy_kWrvBN_nt1faHEuyabKXOoOa2Y6iGGR1s&index=2 

 

Das Programm beansprucht mit gutem Grund Vollständigkeit: Es versammelt sämtliche Kompositionen, die Heinrich VIII. mit hoher Wahrscheinlichkeit selbst zugeschrieben werden können. Die meisten Stücke stammen aus dem sogenannten Henry-VIII-Manuskript, einer zentralen Quelle der englischen Hofmusik um 1500, in der vokale Lieder und kurze instrumentale Sätze nebeneinander überliefert sind. Es handelt sich fast durchweg um Miniaturen – keine groß angelegten Werke, sondern Musik für den unmittelbaren Gebrauch bei höfischen Festen, Banketten und privaten Musizierstunden.

 

Der Charakter dieser Musik ist bewusst weltlich und repräsentativ. Lieder wie Pastime with good company („Zeitvertreib in guter Gesellschaft“), The time of youth („Die Zeit der Jugend“), Wherto shuld I expresse („Wie sollte ich es ausdrücken“) oder Thou that men do call it dotage („Du, den man törichte Verliebtheit nennt“) verbinden eingängige Melodik mit klarer Textverständlichkeit. Sie stehen stilistisch noch deutlich auf dem Boden der spätmittelalterlichen Hofliedtradition, zeigen aber bereits eine größere Leichtigkeit, rhythmische Beweglichkeit und einen unverkrampften Umgang mit Text und Form, der auf die frühe Tudor-Renaissance vorausweist.

 

Zwischen den vokalen Nummern stehen kurze instrumentale Consortstücke – etwa Consort XXIII („Consort-Satz Nr. 23“) oder Consort XII („Consort-Satz Nr. 12“) –, die wie musikalische Zwischenspiele wirken. Diese Praxis entspricht der historischen Realität: Am englischen Hof erklangen Gesang und Instrumentalmusik nicht getrennt, sondern als Teil eines fließenden musikalischen Rahmens. Sirinu nutzt hierfür eine große Vielfalt historischer Instrumente, darunter Blockflöten, Krummhörner, Posaune, Drehleier, Laute, Gamben, gotische Harfe und Dulcimer. Dadurch entsteht ein farbiges, zugleich aber transparentes Klangbild, das weniger auf Monumentalität als auf Intimität und höfische Eleganz zielt.

 

Gesungen werden die Lieder von einem Tenor, dessen klare, unprätentiöse Stimmführung die Nähe dieser Musik zur gesprochenen Sprache wahrt. Gerade dadurch wird deutlich, dass Heinrich VIII. nicht als „Dilettant“ im abwertenden Sinn komponierte, sondern als gebildeter Hofmusiker, dessen Werke unmittelbar aus der praktischen Musizierpraxis hervorgingen.

 

In ihrer Gesamtheit zeichnet diese CD ein überzeugendes Porträt Heinrichs VIII. als Komponisten: nicht als genialen Erneuerer, wohl aber als musikalisch aktiven Monarchen an der Schwelle zweier Epochen. All Goodly Sports („Allerlei edle Spiele“) ist damit weit mehr als eine historische Kuriosität. Die Aufnahme macht hörbar, wie eng politische Macht, höfische Kultur und Musik um 1500 miteinander verflochten waren – und warum Heinrich VIII. mit Recht als musikalischer Schlusspunkt der vorreformatorischen Tudor-Zeit gelten kann.

 

Das auf YouTube gefundene Video mit dem Porträt Henry VIII (1491–1547) bietet eine geschlossene, historisch bewusst konzipierte Präsentation seiner Musik und ihres unmittelbaren höfischen Umfelds. Grundlage des Programms ist das British Museum Additional MS 31922 („Zusätzliche Handschrift Nr. 31922 des British Museum“), jenes zentrale Tudor-Manuskript, das einen Großteil der weltlichen Hofmusik um 1500 überliefert und in dem zahlreiche Kompositionen Heinrichs VIII. enthalten sind. Ergänzend werden einzelne Stücke aus dem Harmonice Musices Odhecaton („Hundertstücke-Sammlung harmonischer Musik“) herangezogen, der berühmten frühneuzeitlichen Liedsammlung Ottaviano Petruccis, was den kontinentalen Kontext dieser Musik verdeutlicht.

https://www.youtube.com/watch?v=rCvWY5ioukU 

 

Das Programm eröffnet mit Pastyme with good companye („Zeitvertreib in guter Gesellschaft“), der wohl bekanntesten Komposition Heinrichs VIII., die exemplarisch für das höfische Selbstverständnis seiner frühen Regierungsjahre steht: Musik als Ausdruck von Maß, Geselligkeit und kontrollierter Freude. Es folgen kurze instrumentale Consortstücke (Consort XII, Consort VIII u. a.; „Consort-Satz Nr. 12“, „Nr. 8“), die nicht als bloße Füllsel erscheinen, sondern den historischen Wechsel von Gesang und Instrumentalmusik widerspiegeln, wie er bei höfischen Anlässen selbstverständlich war.

 

Die vokalen Stücke – darunter Adew madam et ma mastres („Lebt wohl, meine Dame und Herrin“), Without dyscord („Ohne Zwietracht“), Whoso that wyll all feattes optayne („Wer alle Künste erlangen will“), Thow that men do call it dotage („Du, den man törichte Verliebtheit nennt“) oder The tyme of youthe („Die Zeit der Jugend“) – zeigen die stilistische Bandbreite dieser Musik: von galanter Liebesklage über moralisch-didaktische Texte bis hin zu heiterer Selbstreflexion. Die Lieder sind kurz, prägnant und textnah gesetzt; ihre Wirkung entfaltet sich weniger durch kompositorische Komplexität als durch Klarheit, Rhythmus und unmittelbare Ansprache.

 

Besonders reizvoll ist die Gegenüberstellung englischer und französischer Texte, etwa in Gentil prince de renom („Edler Fürst von hohem Ruhm“), das in zwei Teilen erklingt. Sie verweist auf die internationale Ausrichtung des englischen Hofes und auf Heinrichs bewusste Orientierung an kontinentalen Vorbildern, ohne die eigene Tradition aufzugeben. Auch Stücke wie Helas madam („Ach, Madame“) oder Alas what shall I do for love („Ach, was soll ich aus Liebe tun“) unterstreichen die Nähe dieser Musik zur höfischen Liedkunst Frankreichs und Burgunds.

 

Ausgeführt wird das Programm vom Ensemble St George’s Canzona unter der Leitung von John Sothcott, der die Musik zudem praktisch „realisiert“, also auf Grundlage der Quellen aufführungsfähig gestaltet hat. Die Besetzung mit Gesangsstimmen und historischen Instrumenten – Rebec (Streichlaute), Blockflöten, Krummhörnern, Cornetto und dezenter Perkussion – erzeugt ein farbiges, aber nie überladenes Klangbild. Zu den Solisten zählen Philip Langridge (Tenor), John Whitworth (Bariton) und Derek Harrison (Countertenor), deren differenzierte Stimmcharaktere die Vielfalt der Stücke plastisch hervortreten lassen.

 

Insgesamt vermittelt diese Aufnahme ein überzeugendes Bild von Heinrich VIII. als musikalischem Akteur seiner Zeit. Sie zeigt ihn nicht als isolierten „König-Komponisten“, sondern als Mittelpunkt eines lebendigen höfischen Musikbetriebs, in dem Gesang, Instrumentalmusik, Repräsentation und persönlicher Ausdruck eng miteinander verbunden waren. Gerade in dieser Verbindung von historischer Quelle, sorgfältiger Aufführungspraxis und fließender Dramaturgie liegt der besondere Wert dieser Einspielung: Sie macht hörbar, warum Heinrich VIII. zu Recht als musikalischer Schlusspunkt der vorreformatorischen Tudor-Epoche gelten kann.

 

Henry VIII nimmt innerhalb der englischen Musikgeschichte eine besondere Stellung ein, nicht wegen eines umfangreichen oder stilistisch revolutionären Œuvres, sondern aufgrund seiner Funktion als kultureller Mittelpunkt eines ganzen höfischen Kosmos. Die ihm zugeschriebenen Kompositionen – ob sicher eigenhändig oder aus seinem unmittelbaren Umfeld stammend – bilden ein geschlossenes Klangbild, das untrennbar mit seiner Person und seiner Zeit verbunden ist.

 

Diese Musik ist bewusst weltlich und dem Alltag des Hofes verpflichtet. Sie entstand nicht für liturgische Repräsentation oder kompositorische Demonstration, sondern für Geselligkeit, Maß, höfische Selbstvergewisserung und kontrollierte Freude. Gerade darin liegt ihre historische Aussagekraft: Sie zeigt eine Hofkultur, in der Musik selbstverständlicher Bestandteil des täglichen Lebens war und in der künstlerische Praxis, politische Macht und persönliche Bildung ineinandergriffen.

 

Stilistisch steht die Musik Heinrichs VIII. an einer Schwelle. Sie wurzelt noch fest in der spätmittelalterlichen englischen Liedtradition, öffnet sich jedoch zugleich kontinentalen Einflüssen aus Burgund und Frankreich. Damit markiert sie keinen Neubeginn, wohl aber einen Übergang – einen letzten, klar umrissenen Abschnitt vor den tiefgreifenden religiösen und musikalischen Umbrüchen der Reformationszeit.

 

Als Abschluss eines ersten Kapitels englischer Musikgeschichte erfüllt dieses Repertoire eine doppelte Funktion: Es bewahrt die Klangwelt des vorreformatorischen Hofes und macht zugleich hörbar, wie eng Musik, Gesellschaft und Herrschaft um 1500 miteinander verbunden waren. In diesem Sinne bildet die Musik Heinrichs VIII. weniger ein isoliertes Kapitel als vielmehr einen stimmigen Schlusspunkt – ruhig, weltlich und von historischer Geschlossenheit. 

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König Heinrich VIII. als Komponist
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