Walzer
Der Walzer entstand um 1780/90 aus volkstümlichen Tänzen in Süddeutschland und Österreich und entwickelte sich rasch vom dörflichen Vergnügen zum städtischen Ballphänomen. Während Johann Strauss ihn als schwungvolle Tanzmusik prägte, erhob Frédéric Chopin den Walzer zu poetischen Klavierminiaturen, die zum Zuhören statt zum Tanzen gedacht waren. Schon in seinen Warschauer Jugendwerken veredelte er die einfache Form durch elegante Melodik, virtuose Feinheiten und subtile Ausdrucksnuancen. In dieser Salon- und Hausmusikkultur fand Chopin ein ideales Experimentierfeld, um aus gesellschaftlicher Mode Kunst zu formen. Seine frühen Walzer verbinden Leichtigkeit mit Innerlichkeit und kündigen bereits die Pariser Meisterwerke an, die Franz Liszt als „Gedichte in Walzerform“ beschrieb.
Frédéric Chopin hat in traditioneller Lesart 18 Walzer komponiert. In Wirklichkeit gibt es bei Chopin mindestens 26 überlieferte Walzerstücke (inkl. Fragmente, Skizzen und posthum publizierte Werke). Die Verwirrung entsteht durch drei Ebenen der Zählung:
1. Die „offiziellen“ Walzer mit Opuszahl
8 Stücke: op. 18, op. 34 (Nr. 1–3), op. 42, op. 64 (Nr. 1–3)
Diese wurden von Chopin selbst veröffentlicht und gelten als Hauptwalzer.
2. Posthum veröffentlichte Walzer (teils vollständig, teils kleine Gelegenheitswerke)
u. a. op. 69 Nr. 1–2, op. 70 Nr. 1–3, diverse Werke mit KK-Nummern
zusammen rund 10–12 Stücke, die meist abgeschlossen sind, aber von Chopin nicht zur Veröffentlichung bestimmt waren.
3. Fragmente und Skizzen
etwa 6–8 Stücke, von denen nur einige Takte überliefert sind (z. B. KK IVb/10, IVb/11, IVb/12, IVb/7).
Diese zählen Musikwissenschaftler manchmal mit, manchmal nicht.
Also, 18 Walzer ist die traditionelle Zahl (8 offizielle + 10 „kanonische“ posthume). Nimmt man alle erhaltenen Skizzen, Fragmente und Jugendwalzer hinzu, kommt man – wie in deiner Liste – auf mindestens 26 Walzerwerke.
Hier die Liste der unten vorgestellten Werke:
Frühe Warschauer Walzer (vor der Emigration 1830):
1. Walzer in As-Dur, KK IVa/13, B. 21 (um 1827–1830)
2. Walzer in Es-Dur, KK IVa/12, B. 44 (1829)
3. Walzer in Des-Dur, op. 70 Nr. 3, B. 40 (1829)
4. Walzer in e-Moll, KK IVa/15, B. 56 (1830)
5. Walzer in h-Moll, op. 69 Nr. 2, B. 35 (1830/31)
6. Walzer in As-Dur, op. 69 Nr. 1 „L’Adieu“, B. 95 (1835, Skizze noch in Warschau entworfen)
Pariser Hauptwalzer (zu Lebzeiten veröffentlicht):
7. Walzer in Es-Dur, op. 18 „Grande valse brillante“ (1833/34, veröffentlicht 1834)
8. Walzer in As-Dur, op. 34 Nr. 1 (1835)
9. Walzer in a-Moll, op. 34 Nr. 2 (1835)
10. Walzer in F-Dur, op. 34 Nr. 3 (1838)
11. Walzer in As-Dur, op. 42 (1840)
12. Walzer in Des-Dur, op. 64 Nr. 1 „Minute-Walzer“ (1847)
13. Walzer in cis-Moll, op. 64 Nr. 2 (1847)
14. Walzer in As-Dur, op. 64 Nr. 3 (1847)
Späte, posthum veröffentlichte Walzer:
15. Walzer in Ges-Dur, op. 70 Nr. 1, B. 66 (1835)
16. Walzer in f-Moll, op. 70 Nr. 2, B. 145 (1842)
17. Walzer in Des-Dur, op. 70 Nr. 3 (B. 151)
18. Walzer in a-Moll (KK IVa/16, B. 150)
19. Walzer in As-Dur, KK IVa/16, B. 150 (1843–48)
20. Walzer in cis-Moll, KK IVa/15, B. 134 (ca. 1835)
21. Walzer in g-Moll, KK IVa/8, B. 56 (1829–30)
22. Walzer in Es-Dur (KK IVa/14, B. 133)
23. Walzer in As-Dur, KK IVb/11 (B. 21a, Fragment)
24. Walzer in Es-Dur, KK IVb/10 (B. 46, Fragment)
25. Walzer in As-Dur, KK IVb/12 (B. 147, Skizze, 8 Takte)
26. Walzer in D-Dur, KK IVb/7 (B. 44a, Fragment)
Wenn wir heute das Wort Walzer hören, denken wir an den eleganten Dreivierteltakt, an rauschende Bälle und an die schwingende Drehbewegung der Tanzenden. Doch der Walzer hat bescheidene Wurzeln: Er entstand um 1780/90 aus volkstümlichen Ländlern und Drehtänzen in Süddeutschland und Österreich. Bald fand er seinen Weg von den Dorffesten in die Ballsäle der Städte, wo er gleichermaßen Begeisterung wie Befremden auslöste – denn das Tanzen in enger Umarmung galt vielen Zeitgenossen als skandalös.
Rasch setzte sich der Walzer durch und wurde zum Symbol einer neuen Geselligkeit. Im 19. Jahrhundert entwickelte er sich zu einem europäischen Tanzphänomen und schließlich zu einer eigenständigen musikalischen Gattung. Auf dem Klavier begleitete man zunächst die Tänzer, doch schon früh entdeckten Komponisten den Walzer als formale Miniatur, die man auch ohne Tanz genießen konnte. So wurde er zur typischen Salonmusik: leicht, brillant, galant – aber zugleich offen für Virtuosität und künstlerische Feinheiten.
Für Frédéric Chopin war der Walzer weit mehr als eine Tanz Mode. Schon in seiner Warschauer Jugend schrieb er kleine Gelegenheitswalzer für Freunde und Bekannte. Als er nach Wien und später nach Paris kam, begegnete er der Gattung in voller Blüte. Doch während andere, wie Johann Strauss, das Publikum mit schwungvollen Tanzwalzern unterhielten, verfolgte Chopin ein ganz anderes Ziel. Er wollte aus dem Tanz ein poetisches Klavierstück machen – ein kleines Kunstwerk, das zum Zuhören bestimmt war und in dem er seine ganze musikalische Fantasie entfalten konnte.
In Warschau begegnete Chopin dem Walzer nicht als großformatiger Bühnenakt, sondern als gesellschaftliches Ritual der Salons. Zwischen Hausmusik und Ballkultur entstand eine Sphäre, in der kleine Tanzstücke zu Visitenkarten des guten Tons wurden. Pianisten improvisierten „à la valse“, junge Komponisten schenkten Freundinnen Albumblätter, Lehrmeister wie Józef Elsner (1769–1854) förderten Klarheit der Satztechnik und Geschmeidigkeit des Klaviersatzes. Für Chopin war diese Umgebung ein Labor: Hier erprobte er, wie man den gleichmäßig kreisenden Dreivierteltakt in eine poetische Miniatur verwandelt, die nicht mehr zum Tanzen verpflichtet ist, sondern zum Zuhören einlädt.
Die Warschauer Walzer sind in der Regel kurz, zweigeteilt oder dreiteilig angelegt und von einer eleganten, oft belcantisch gesungenen Oberstimme geprägt. In der linken Hand etabliert Chopin früh jenes elastische „Bassin-und-Akkord“-Schwingen, das er später zum Inbegriff des Walzers verfeinert; doch schon hier lockert er die Oberfläche durch synkopierte Binnenbewegungen, kleine Verzierungen und überraschende Modulationen. Der Ton ist höflich und brillant, nie schwer; selbst wenn Melancholie aufscheint, bleibt sie diskret. Man spürt, dass der junge Komponist das Pariser Ideal der „poetischen Virtuosität“ bereits ahnt, ohne dessen Glanz zu übertreiben.
Nicht wenige dieser frühen Stücke entstanden als persönliche Gelegenheiten – als musikalische Billette für den Salon, als Erinnerung an einen Abend, als Geschenk mit Widmung. Darum tragen sie oft schlichte Überschriften wie „Valse“ oder „Tempo di valse“ und verzichten auf programmatische Titel. Einige der später erst posthum veröffentlichten Walzer gehen in ihrem Kern auf diese Warschauer Jahre zurück: sie bewahren die Unmittelbarkeit des Augenblicks, sind aber kompositorisch sorgfältig gearbeitet. Das Ohr begegnet bereits jenen typisch chopinschen Signaturen, die seine Pariser Meisterwerke kennzeichnen werden: das atmende Rubato, die fein abgestufte Dynamik, der subtile Wechsel zwischen Helligkeit und Schatten.
Warum wandte sich Chopin überhaupt dieser Modeform zu? Weil der Walzer, gerade in Warschau, das ideale Spannungsfeld bot zwischen gesellschaftlicher Verständlichkeit und künstlerischer Freiheit. Der Dreiertakt schuf Ordnung, die Salonkultur versprach Publikum, und die klangliche Beweglichkeit des Klaviers erlaubte es, innerhalb enger Formen persönliches Sagen zu wagen. In den Warschauer Walzern lernen wir den jungen Chopin kennen, der das Gattungsmuster nicht sprengt, sondern veredelt: Er macht aus dem Tanz eine kleine Szene, aus der Etikette eine Andeutung von Innerlichkeit, aus der Brillanz einen Ton von Intimität. So bereitet er den Schritt nach Wien und Paris vor – dorthin, wo der Walzer bei ihm zur vollkommenen „Valse brillante“ reift – doch seine poetische Handschrift ist bereits in Warschau unverkennbar.
Der Pianist und Biograph Franz Liszt (1811–1886) fasste es treffend zusammen: „In Chopins Händen wird der Walzer zu einem Gedicht. Er hört auf, bloßes Tanzstück zu sein; er ist durchdrungen von einem Atem der Leidenschaft, der Wehmut und des Zaubers.“
Die Warschauer Walzer
Walzer in As-Dur (KK IVa/13, B. 21, ca. 1827–1830)
Der Walzer in As-Dur wurde in Warschau um 1827–1830 komponiert. Er gehört zu den frühen Salonstücken ohne Opuszahl; er blieb zu Chopins Lebzeiten ungedruckt und erschien erst 1902 bei Breitkopf & Härtel in Leipzig. In den Katalogen wird er als KK IVa/13 (KK steht für den thematischen Katalog von Krystyna Kobylańska (1925–2009), einer polnischen Musikwissenschaftlerin, die 1977 den Thematisch-bibliographischen Katalog der Werke von Fryderyk Chopin veröffentlichte.) und B. 21 (B steht für den Katalog von Maurice John Edwin Brown (1906–1975), einem britischen Musikwissenschaftler, der 1960 seinen Chopin. An Index of His Works in Chronological Order publizierte) geführt. Józef Michał Chomiński (1906–1994)
war ein polnischer Musikwissenschaftler und Chopin-Forscher, Professor an der Universität Warschau. 1960 veröffentlichte er zusammen mit Ludwik Erhardt das Werk Katalog dzieł Fryderyka Chopina („Katalog der Werke Fryderyk Chopins“). In der Literatur wird er meist mit Chom. oder Chomiński abgekürzt. Chomiński verzeichnet den Walzer unter der Nr. 221.
Eine Widmung ist nicht überliefert. Die Warschauer Entstehung und das späte Erstdruck-Datum sind gesichert über Quellenangaben der Werkverzeichnisse und Editorien.
Musikalisch ist es eine kleine, elegante Ternärform: eine belcantisch geführte Oberstimme in As-Dur, die über einer elastischen Dreier-Begleitung schwebt; die linke Hand „atmet“ mehr, als dass sie mechanisch ostinato schlägt. Kurzzeitige Färbungen über die Dominante und Seitennebentöne bringen Lichtwechsel, doch alles bleibt im höfischen Tonfall der Warschauer Salons. Gerade weil das Stück technisch nicht spektakulär ist, lebt es von Linie, Atem und einem diskreten Rubato – die Melodie muss singen, der Bass darf nicht stampfen, und die Verzierungen sollen wie gesprochene Nuancen wirken.
Musikalisches Beispiel Nr. 1:
Wladimir Aschkenasi (* 1937). Sein Chopin-Ton ist warm und klar, das Tempo moderat, das Rubato organisch aus der Phrasierung entwickelt. Er hält die linke Hand federnd und vermeidet jede nervöse Pointierung; dadurch bleibt der Tanzschritt spürbar, ohne je salonhaft zu werden. Charakteristisch ist sein nobles Legato in der rechten Hand: die Melodie trägt, ohne Zucker, mit feinen dynamischen Terrassen – genau die Schlichtheit, die diesem Jugendwalzer Würde gibt.
Musikalisches Beispiel Nr. 2:
Garrick Ohlsson (* 1948 in New York). Ohlsson liest das Stück beinahe kammermusikalisch: unaufdringliche Klangfülle, sehr saubere Binnenartikulation, der Bass als weiche Stütze statt als metrisches Korsett. Sein Rubato ist noch zurückhaltender als bei Ashkenazy, die Periodik bleibt durchsichtig, was den galanten Zuschnitt des Stücks ideal unterstreicht. So wird aus einer frühen Miniatur kein „kleiner“ Walzer, sondern eine konzentrierte poetische Geste mit polnischer Salonfarbe.
Walzer in Es-Dur (KK IVa/12, B. 44)
Chopin komponierte den Walzer in Es-Dur (KK IVa/12, B. 44) in seiner Warschauer Zeit um 1829. Er zählt zu den frühen Salonstücken ohne Opusnummer, blieb zu Lebzeiten ungedruckt und wurde erst posthum veröffentlicht. In den wissenschaftlichen Katalogen erscheint er unter KK IVa/12 (Thematischer-Katalog Kobylańska) und B. 44 (Brown), mit der Erstausgabe um 1861. Eine Widmung ist nicht überliefert; das Werk entstand offenbar als Gelegenheitsstück für das Musikleben in Chopins Warschauer Umfeld, wohl im Rahmen privater oder schulischer Hausmusik. Quellenlage: Katalogverzeichnisse, Erstdruckangabe, diverse Editorien.
Musikalisch ist das Stück eine klare Ternär form (A–B–A). Die Oberstimme führt eine helle, freundliche Melodie in E-Dur, über einer elastisch wiegenden Begleitung. Anders als spätere Walzer verzichtet Chopin hier auf demonstratives Walzerostinato, die linke Hand „atmet“ im 3/4-Takt statt mechanisch zu markieren. Harmonisch eröffnen leichte Färbungen über Gis-Moll, die jedoch rasch zur E-Dur-Ruhe zurückkehren. Charakteristisch ist die Balance zwischen höfischer Eleganz und dem aufgehenden Keim poetischer Musikalität – kein Virtuosen Stück, sondern ein feines, charmantes Miniaturbild.
Interpretationsbeispiele:
Wladimir Aschkenasi (* 1937) – einer der renommiertesten Chopin-Interpreten des 20. Jahrhunderts. Er gestaltet das Werk mit eleganter Gelassenheit: moderates Tempo, klare Linienführung, organisches Rubato und warme Klanggebung. Die linke Hand bleibt federnd und unaufdringlich, die rechte singt ohne Pathos im feinen Legato – so bewahrt er den salonhaften Ton und hebt zugleich die musikalische Würde des Stücks.
Hörbeispiel:
Garrick Ohlsson (* 1948) – als Pianist mit einer vollständigen Chopin-Gesamteinspielung bringt er eine kultivierte, ausgewogene Lesart. Sein Ansatz ist kammermusikalisch: Transparenz in der Artikulation, weiche Stütze der linken Hand, sehr kontrolliertes Rubato. Die melodischen Linien bleiben durchlässig und doch formwürdig strukturiert – eine Interpretation, die die poetische Miniatur als Kunstwerk einer musikalischen Szene begreift.
Hörbeispiel:
Walzer in Des-Dur (op. 70 Nr. 3, B. 40)
Chopin komponierte den Walzer in Des-Dur (op. 70 Nr. 3, B. 40) um 1829 in Warschau. Das Stück blieb zu Lebzeiten ungedruckt und erschien erst posthum im Jahr 1855, herausgegeben von Chopins Freund und Schüler Julian Fontana (1810–1869). Verlegt wurde es gleichzeitig in Paris bei Maurice Schlesinger (1798–1871) und in London bei Christian Rudolph Wessel (1797–1885).
Der Walzer gehört zu den persönlichsten Erinnerungsblättern aus Chopins Jugendzeit. Er ist kurz, heiter und fast volksliedhaft, getragen von einer hellen Grundstimmung. Besonders bemerkenswert ist der Trio-Teil, in dem Chopin eine dunklere, „geschattete“ Basslinie notierte, die er in einem Brief an seinen Freund Tytus Woyciechowski (1808–1879) eigens hervorhob. Die Forschung deutet diese Passage oft als Echo auf Chopins Jugendliebe zur Sängerin Konstancja Gładkowska (1810–1889) – nicht als gesicherte Widmung, sondern als biographische Resonanz, die der Musik eine innere Färbung gibt.
Musikalisch zeigt sich hier bereits Chopins Fähigkeit, ein schlichtes Genre in poetische Form zu verwandeln. Der Hauptteil strahlt Leichtigkeit und Charme aus, während das Trio mit seiner tieferen Harmonik und kantabler Linienführung den Tonfall plötzlich verdunkelt. Diese Binnenkontraste – Heiterkeit und Melancholie – prägen das kleine Werk, das man sowohl als Salonstück wie als intime Erinnerung hören kann.
Interpretationsbeispiele:
Dinu Lipatti – Seine legendäre Aufnahme aus Genf 1950 verleiht auch diesem kleinen Walzer eine unvergleichliche Noblesse. Lipatti spielt mit seidig-feinem Anschlag, sein Rubato ist vornehm zurückgenommen, die Binnenpulse untadelig kontrolliert. Dadurch entsteht eine fast überirdische Leichtigkeit ohne jede Oberflächlichkeit: das kurze Stück klingt wie eine kleine Perle von zeitloser Schönheit.
Hörbeispiel:
Wladimir Aschkenasi – Aschkenasi formt den Grundschritt federnd und phrasiert die Melodik des Trios kantabel, ohne jede Übertreibung. Seine Interpretation bleibt tänzerisch, klar und von warmer Emotionalität getragen. So wirkt der Walzer wie ein freundliches, leicht nostalgisches Souvenir aus Chopins Warschauer Zeit.
Hörbeispiel:
Walzer in e-Moll (KK IVa/15, B. 56)
Frédéric Chopin schrieb den Walzer in e-Moll (KK IVa/15, B. 56) vermutlich um 1830, kurz vor seiner Abreise aus Warschau. Das Werk blieb zu Lebzeiten ungedruckt; es wurde erst posthum veröffentlicht, wobei die Forschung zwischen 1851 und 1868 für den Erstdruck schwankt. Gesichert ist, dass es durch ein Autograph überliefert ist, das Chopin einer Bekannten in Warschau schenkte. Häufig wird Maria Wodzińska (1819–1896) als Adressatin genannt – die junge Malerin und Pianistin, mit der Chopin später für kurze Zeit verlobt war. Auch wenn diese Zuschreibung nicht eindeutig belegt ist, passt der intime Charakter des Stückes zu einer persönlichen Widmung.
Musikalisch handelt es sich um eine dreiteilige Form (A–B–A) von schlichter Faktur, die mehr wie eine improvisierte Skizze wirkt als ein ausgearbeitetes Konzertstück. Der Beginn setzt mit einer klagenden, gesanglichen Melodie in e-Moll ein, die sich über eine elastische, atmende Begleitung erhebt. Die linke Hand spielt keinen starren Walzerschlag, sondern gibt ein flexibles Fundament, das wie Atemzüge die Melodie trägt.
Im Mittelteil moduliert Chopin überraschend nach G-Dur und c-Moll. Diese kurzen Aufhellungen sind wie Lichtblicke – Momente von Hoffnung und Wärme –, doch sie zerfallen bald wieder in die Grundstimmung der Melancholie.
Das Schluss-A kehrt in die Trauerfarbe von e-Moll zurück und verklingt leise, ohne virtuose Geste. Der Walzer hört auf zu sprechen, als würde er in einem vertrauten Gespräch abbrechen – nicht als würde er ein Publikum verabschieden.
Deutung: Dieser Walzer ist kein Gesellschaftstanz und auch kein Salonbravourstück. Er ist eine poetische Miniatur, die eher wie ein intimer musikalischer Brief wirkt. Gerade weil ihm äußerer Glanz fehlt, erschließt sich seine Größe in der Zurückhaltung. Chopin zeigt hier, wie er das Genre des Walzers in den Bereich der persönlichen Lyrik hebt.
Interpretationsbeispiele:
Wladimir Aschkenasi – Aschkenasi spielt das Werk mit gedämpfter Wärme. Das Tempo ist ruhig, das Rubato diskret, die Dynamik zurückgenommen. Er betont die Einfachheit und gibt dem Stück den Charakter eines stillen Monologs. Sein Legato ist edel, die linke Hand bleibt weich und elastisch – der Walzer wirkt wie eine persönliche, melancholische Erinnerung.
Hörbeispiel:
Garrick Ohlsson (* 1948 in New York) – Ohlsson gestaltet den e-Moll-Walzer fast kammermusikalisch. Er lässt die Melodie „sprechen“, stützt sie mit einer weichen, unaufdringlichen Linken und vermeidet jede Spur von Sentimentalität. Seine Klarheit macht die Melancholie überzeugend, der Hörer nimmt das Stück als poetische Miniatur mit ernsthafter Innerlichkeit wahr.
Hörbeispiel:
Walzer in h-Moll (op. 69 Nr. 2, B. 35)
Chopin komponierte den Walzer in h-Moll (op. 69 Nr. 2, B. 35) wahrscheinlich um 1829/1830–31 in Warschau, also noch vor seiner Ausreise nach Wien und Paris. Zu Lebzeiten unveröffentlicht, erschien er erst 1855 in einer posthumen Edition, die Chopins enger Freund Julian Fontana (1810–1869) aus den hinterlassenen Manuskripten zusammenstellte. Fontana fungierte dabei nicht als Verleger, sondern als Herausgeber; gedruckt wurde die Sammlung zeitgleich bei Maurice Schlesinger (1798–1871) in Paris, bei Christian Rudolph Wessel (1797–1885) in London und bei Breitkopf & Härtel in Leipzig.
Das Werk trägt die Charakterangabe Moderato – schon dies weist darauf hin, dass es nicht als brillantes Tanzstück gedacht ist, sondern als intime, lyrische Miniatur. Eine konkrete Widmung ist nicht überliefert. In seiner Haltung entspricht der Walzer eher einem poetischen Albumblatt, das man in kleinem Kreis spielen und hören konnte.
Musikalisch folgt das Stück einer dreiteiligen Anlage (A–B–A). Der erste Abschnitt entfaltet eine sanft melancholische Melodie, die in schwebendem Legato geführt wird. Die linke Hand bleibt elastisch, ohne den Takt zu sehr zu betonen – sie gibt den Puls, aber keinen Zwang.
Im Mittelteil hellt die Musik durch kurze Dur-Modulationen (D-Dur, G-Dur) auf, ohne jedoch die Grundfarbe der Nachdenklichkeit aufzulösen. Diese Passagen wirken wie ein Aufatmen, das aber bald wieder von einem stillen Ernst überlagert wird.
Das Reprisen-A kehrt nach h-Moll zurück. Die Schlusswendung ist einfach und leise, sie verzichtet auf Bravour, vielmehr wirkt sie wie ein leiser innerer Monolog, der abrupt endet, als würde ein Gedanke unvollendet im Raum stehen bleiben.
Deutung: Der Walzer in h-Moll ist kein Tanz, sondern eine „Notiz der Seele“ – eine kleine Skizze von Innerlichkeit. Gerade weil er sich jeglicher Virtuosen-Geste verweigert, rührt er in seiner Zurückhaltung an. Die „Größe“ liegt hier nicht im Glanz, sondern in der Bescheidenheit der poetischen Geste.
Interpretationsbeispiele:
Gerrick Ohlsson – Ohlsson spielt den Walzer mit kultivierter Ruhe und sehr kontrolliertem Rubato. Die linke Hand bleibt weich und flexibel, wodurch die Melodie frei atmen kann. Er meidet jede Übertreibung und lässt den Walzer wie eine kammermusikalische Meditation erscheinen.
Hörbeispiel:
Wladimir Aschkenasi – Aschkenasi verleiht der Melodie ein warmes Legato und verbindet dies mit klarer Artikulation. Sein Rubato ist sparsam und wirkt dadurch sehr aufrichtig. Die melancholische Grundstimmung wird bei ihm nicht sentimental, sondern gefasst und würdevoll – eine stille, intime Erinnerung. Aschkenasi verbindet warmes Legato mit klarer Artikulation und einem sparsamen Rubato; die Melancholie wirkt gefasst und aufrichtig.
Hörbeispiel:
Walzer in As-Dur, op. 69 Nr. 1 „L’Adieu“ (B. 95)
Frédéric Chopin komponierte den Walzer in As-Dur, op. 69 Nr. 1 „L’Adieu“ (B. 95) im Jahr 1835 in Paris, wobei eine frühere Skizze bereits in Warschau entstanden sein dürfte. Posthum wurde das Werk 1855 von Julian Fontana (1810–1869) veröffentlicht. Der Beiname „L’Adieu“ („Der Abschied“) geht nicht auf Chopin selbst zurück, sondern auf eine romantische Legende, die schon im 19. Jahrhundert umlief und dem Stück seine bis heute verbreitete Aura verlieh.
Die Frage nach der Widmung ist besonders vielschichtig. Ein Autograph aus dem Jahr 1835 weist den Walzer als Geschenk an Maria Wodzińska (1819–1896) aus, die junge polnische Malerin und Pianistin, mit der Chopin 1836 zeitweise verlobt war. Weitere überlieferte Manuskripte tragen jedoch auch die Namen anderer Frauen, etwa Eliza Peruzzi (1808–1892), eine befreundete Musikerin in Florenz, sowie Charlotte de Rothschild (1825–1899) aus der bekannten Pariser Bankiersfamilie, die Chopin sehr verehrte. Später wurde zudem die wohlhabende Pariser Klavierschülerin Élise-Thérèse Gavard (1812–1890) als Adressatin genannt – doch hier ist der zeitliche Zusammenhang unsicher, da Gavard Chopin nachweislich erst in den 1840er Jahren begegnete. Wahrscheinlich wurde derselbe Walzer also mehrfach verschenkt, jeweils als persönliches Albumblatt mit individueller Widmung. Diese Praxis war für Chopin nicht ungewöhnlich, da er Musik oft als intimen Ausdruck zwischenmenschlicher Beziehungen verstand.
Musikalisch entfaltet der Walzer einen lyrischen, zärtlich-melancholischen Grundton. Die Hauptmelodie in As-Dur schwebt in belcantischen Bögen über einer elastischen Dreiertakt-Begleitung. Schon im Eröffnungsthema verbindet Chopin Eleganz mit einer unterschwelligen Wehmut: der Dreivierteltakt wird nicht mechanisch betont, sondern atmend gestaltet, sodass die Musik mehr „spricht“ als „tanzt“.
Im Mittelteil moduliert das Stück nach Des-Dur. Hier weitet sich die Melodie in längeren Bögen, die Begleitung wird durch schimmernde Harmonien bereichert. Diese Passage verlangt vom Interpreten größte klangliche Balance: die rechte Hand muss singen, ohne die linke zu überdecken, das Rubato muss den Atem der Linie stützen. Es ist der emotionale Höhepunkt, bevor die Musik in elegischer Wärme in die Grundtonart zurückkehrt.
Das Schluss-A wiederholt das Anfangsthema in verinnerlichter Gestalt. Die Musik versinkt leise, wie ein bittersüßer Abschiedsgruß, der mehr andeutet als ausspricht. Gerade die Zurückhaltung macht den besonderen Zauber aus: kein brillanter Salonwalzer, sondern eine kleine intime Szene, ein musikalisches Souvenir.
Deutung: Der „Abschiedswalzer“ ist weniger eine Tanzminiatur als ein poetisches Bekenntnisstück. Die Melancholie ist stets von Anmut durchzogen, die Eleganz vom Ton der Wehmut. Er verkörpert Chopins Fähigkeit, selbst in kleinster Form seelische Zustände von zarter Tiefe auszudrücken.
Interpretationsbeispiele:
Dinu Lipatti – Seine legendäre Aufnahme vom Juli 1950 in Genf, wenige Monate vor seinem frühen Tod, gilt bis heute als Referenz. Lipatti spielt mit überirdischer Noblesse: vollkommenes Legato, atmendes Rubato, das Pianissimo trägt weit und bleibt kristallklar. Der „Abschied“ klingt bei ihm wie eine innere Geste – schmerzlich und doch von großer Würde.
Hörbeispiel:
Alexandre Tharaud (* 1968 in Paris) – Tharaud interpretiert den Walzer mit französischer Eleganz und Transparenz. Seine Linie bleibt schlank, das Rubato diskret, die Harmonik fein schattiert. Während Lipatti den Walzer in ein fast überirdisches Licht hebt, bringt Tharaud eine weltlichere Raffinesse: ein „L’Adieu“ ohne Sentimentalität, dafür mit subtiler Grazie und klanglicher Leichtigkeit.
Hörbeispiel:
Pariser Hauptwalzer (zu Lebzeiten veröffentlicht)
Walzer in Es-Dur, op. 18
Der erste veröffentlichte Chopins Walzer in Es-Dur, op. 18 entstand 1833/34 in Paris und erschien 1834 bei Maurice Schlesinger. Mit dem Titel „Grande valse brillante“ gab der junge Pole sein offizielles Debüt im Genre, das in den Salons der französischen Hauptstadt eine zentrale Rolle spielte. Der Beiname verweist nicht auf äußere Größe, sondern auf Brillanz und gesellschaftliche Eleganz: Es ist ein Stück, das den neuen Pariser Freundeskreisen zugleich Virtuosität und Raffinement zeigen sollte.
Die Faktur ist dreiteilig angelegt, doch Chopin denkt von Beginn an orchestraler als in den Warschauer Jugendwalzern. Die rechte Hand führt eine glanzvolle Melodie in Es-Dur, reich verziert, mit kaskadenartigen Läufen und funkelnden Figurationen, während die linke Hand eine elastische, deutlich markiertere Walzerbasis gibt. Diese Musik ist nicht für den Tanzboden gedacht, sondern für den Konzertsaal des Salons: brillantes Klavierspiel, das mehr Zuhören als Tanzen verlangt.
Der Mittelteil überrascht durch einen plötzlichen Rückzug in Moll, wodurch die ausgelassene Stimmung für einen Moment in eine elegische Färbung umschlägt. Diese Wechselwirkung von Glanz und Melancholie ist typisch für Chopins Kunst: selbst im hellsten Lichterspiel bleibt ein Schatten hörbar. Gegen Ende steigert sich der Walzer zu einer fulminanten Schlusssteigerung, die mit funkelnden Akkordketten und Oktavpassagen eine für die Zeit geradezu spektakuläre Wirkung erzielt.
Das Publikum in Paris reagierte begeistert – für Chopin war dies die Bestätigung, dass er die „Valse brillante“ als neue Gattung prägen konnte: nicht mehr Tanz, sondern poetische Schaustellung, eine Miniatur voller Noblesse.
Interpretationsbeispiele:
Wladimir Aschkenasi verleiht dem Walzer die nötige Balance zwischen Brillanz und Eleganz. Sein Anschlag ist kristallklar, die Tempowahl eher zügig, das Rubato sparsam. Er zeigt den Walzer als funkelnde, aber nicht oberflächliche Virtuosen Etüde – stets mit innerer Wärme getragen.
Hörbeispiel:
Alexandre Tharaud betont die französische Raffinesse und Transparenz. Sein Spiel ist federnd, die Verzierungen wirken leicht wie improvisiert, und die dynamische Abstufung bringt die Eleganz der Pariser Salons eindrucksvoll zur Geltung. Im Kontrastteil nimmt er das Tempo etwas zurück, um die Melancholie hörbar zu machen – bevor er im brillanten Finale wieder aufschwingt.
Hörbeispiel:
Walzer in As-Dur, op. 34 Nr. 1
Nur wenige Monate nach dem „Grande valse brillante“ op. 18 schrieb Chopin 1835 in Paris eine neue Walzer-Trilogie, die später als op. 34 veröffentlicht wurde. Der erste dieser drei, der Walzer in As-Dur, op. 34 Nr. 1, trägt wie sein Vorgänger den Beinamen „Valse brillante“ und richtet sich klar an das Pariser Publikum: virtuos, funkelnd, aber auch mit unverwechselbar persönlicher Handschrift.
Schon der Beginn signalisiert Leichtigkeit: die Melodie steigt tänzerisch auf, umrahmt von glitzernden Figuren, die das Klavier wie ein kleines Orchester klingen lassen. Das Hauptthema strahlt hell und unbeschwert, doch Chopin belässt es nicht bei oberflächlicher Brillanz. Im Mittelteil führt er überraschende harmonische Verschiebungen ein, die eine fast improvisatorische Wirkung erzeugen. Besonders markant ist die Steigerung zu einer kraftvollen Episode in Des-Dur, deren Schwung kurzzeitig die heitere Eleganz übersteigt und in eine Art jubelnder Deklamation mündet.
Die Reprise kehrt zurück in die Leichtigkeit des Anfangs, doch die Musik ist reicher geworden: was zunächst als glanzvolle Geste beginnt, endet in einer Mischung aus festlicher Brillanz und lyrischer Wärme. Hier zeigt sich Chopins Fähigkeit, das Genre Walzer über die Grenzen des Tanzes hinauszuführen: als Konzertstück, das einerseits unterhält, andererseits berührt.
Interpretationsbeispiele:
Garrick Ohlsson verbindet technische Souveränität mit innerer Klarheit. Sein Ton ist voll, die Figurationen perlen mühelos, aber ohne Härte. Im Mittelteil nimmt er das Tempo minimal zurück, sodass die harmonischen Verschiebungen deutlich hervortreten. Dadurch wirkt der Walzer wie eine kleine Sonate im Gewand eines Tanzstücks.
Hörbeispiel:
Alexandre Tharaud legt den Schwerpunkt auf Eleganz und Transparenz. Sein Anschlag ist schlank, die Artikulation präzise, das Rubato diskret. In seiner Lesart klingt der Walzer fast wie ein improvisiertes Stück in einem Pariser Salon – ein Spiel mit Licht und Schatten, das nie ins Spektakel kippt.
Hörbeispiel:
Walzer in a-Moll, op. 34 Nr. 2
Unter den drei Walzern op. 34 nimmt der in a-Moll, op. 34 Nr. 2 eine Sonderstellung ein. Entstanden 1835 in Paris, erschien er 1838 bei Maurice Schlesinger. Während der erste Walzer der Sammlung hell und brillant ist, trägt dieser eine tief melancholische, fast elegische Grundstimmung. Robert Schumann beschrieb ihn einmal als „eine Art Nocturne im Walzertakt“ – und tatsächlich erinnert seine poetische Tiefe mehr an ein lyrisches Klavierstück als an einen Tanz.
Das Hauptthema beginnt mit einer weit gespannten, kantablen Linie, die in dunklen Harmonien gebettet ist. Der Dreivierteltakt wird kaum als tänzerische Bewegung spürbar, vielmehr dient er als sanfte Pulsierung für eine klagende Melodie. Der erste Abschnitt steigert sich nur langsam, als wolle die Musik in sich selbst hineinhorchen.
Im Mittelteil wechselt Chopin nach C-Dur, das eine zarte Aufhellung bringt – doch selbst hier bleibt die Grundfarbe nachdenklich. Harmonische Verschattungen, chromatische Linien und das Zurückgleiten in Moll lassen das Licht sofort von Schatten überlagern. Die Reprise des Hauptthemas erscheint schließlich wie ein resigniertes Wiederaufnehmen des Anfangs, ehe das Stück leise verklingt.
Dieser Walzer ist kein Gesellschaftsstück, sondern eine seelische Miniatur – ein „innerer Monolog“, in dem Chopin zeigt, dass selbst das Genre Walzer zur Bekenntnismusik werden kann.
Interpretationsbeispiele:
Dinu Lipatti macht aus dem Walzer eine fast spirituelle Erfahrung. Sein Anschlag ist von unerhörter Transparenz, jede Phrase atmet, das Tempo ist ruhig, die Melodie singt mit nobler Einfachheit. Die Aufnahme von 1950 in Genf verleiht dem Stück eine Aura des Unvergänglichen: schmerzvoll, innig und zugleich von überirdischer Reinheit.
Hörbeispiel:
Wladimir Aschkenasi wählt einen etwas flüssigeren Ansatz, bleibt aber stets im Ton der Melancholie. Sein Klang ist rund und warm, das Rubato diskret, die linke Hand federnd. Er bringt die Struktur des Walzers klar zur Geltung, ohne den poetischen Fluss zu stören. So wirkt die Musik wie eine lyrische Erzählung – ein Nocturne im Gewand eines Walzers.
Hörbeispiel:
Walzer in F-Dur, op. 34 Nr. 3
Der dritte Walzer der Sammlung op. 34 entstand ebenfalls 1838 in Paris und steht mit seiner heiteren Ausstrahlung im deutlichen Kontrast zu den beiden Vorgängern. Während op. 18 und op. 34 Nr. 1 vor allem Brillanz zeigen und Nr. 2 in tiefer Melancholie schwelgt, wirkt der Walzer in F-Dur, op. 34 Nr. 3 wie ein fröhlicher Epilog: spritzig, humorvoll, voller tänzerischer Beweglichkeit. Chopin selbst soll ihn scherzhaft „valse du petit chien“ („Walzer des kleinen Hundes“) genannt haben, weil das kreisende Motiv an das Bild eines kleinen Hundes erinnert, der seinem eigenen Schwanz nachjagt.
Die Eröffnung setzt mit einem quirlig bewegten Thema ein, das sofort die Leichtigkeit eines musikalischen Scherzes atmet. Die Melodie ist schlicht, fast verspielt, getragen von einer federnden Begleitung, die den Walzertakt tänzerisch hörbar macht. Anders als im melancholischen a-Moll-Walzer hält sich Chopin hier nicht mit innerer Versenkung auf, sondern spielt mit Energie und Witz.
Im Mittelteil führt eine Modulation nach Des-Dur zu einer lyrischen Aufhellung, die den tänzerischen Gestus kurz durchbricht. Doch bald kehrt das Hauptthema zurück, immer quirliger und lebhafter, bis das Stück in einer fröhlichen Schlusssteigerung endet. Die Wirkung ist charmant und leichtfüßig, fast wie ein musikalisches Kabinettstückchen.
Deutung: Der Walzer in F-Dur ist eine Parodie auf den Gesellschaftswalzer ebenso wie eine Miniatur voll guter Laune. Er zeigt, dass Chopin Humor besaß und mit dem Genre spielerisch umgehen konnte, ohne die Eleganz des Pariser Salons preiszugeben.
Interpretationsbeispiele:
Garrick Ohlsson bringt das Stück mit Schwung und Leichtigkeit zum Klingen. Sein Spiel ist klar artikuliert, die linke Hand federnd, das Tempo vital, ohne ins Hetzen zu geraten. Der Walzer wirkt bei ihm wie ein heiteres Charakterstück mit feinem Augenzwinkern.
Hörbeispiel:
Alexandre Tharaud betont die tänzerische Eleganz und die französische Raffinesse. Sein Anschlag ist schlank, die Figuren wirken wie improvisiert, das Rubato subtil. So erscheint der Walzer weniger als Scherz, sondern eher als raffinierter musikalischer Dialog voller Charme.
Hörbeispiel:
Walzer in As-Dur, op. 42
Mit dem Walzer in As-Dur, op. 42, den Chopin 1840 komponierte und 1841 bei Schlesinger veröffentlichte, erreicht das Genre eine neue Dimension. Hier wird der Walzer nicht mehr als Salonminiatur gezeigt, sondern als nahezu sinfonisch angelegtes Klavierstück. Robert Schumann nannte ihn begeistert den „Walzer der Walzer“ – eine treffende Bezeichnung, weil Chopin in diesem Werk mit außergewöhnlicher Raffinesse zeigt, wie weit man das Tanzschema ausdehnen kann, ohne seine Essenz zu verlieren.
Das Hauptthema ist von einer unwiderstehlichen, fast übermütigen Beweglichkeit geprägt: ein Schwung in gebrochenen Dreierfiguren, der die Tanzfläche mit glitzernden Wellen füllt. Anders als die frühen Walzer hält dieses Thema fast das gesamte Stück zusammen – nicht episodisch, sondern als durchgehender Strom. Chopin experimentiert mit rhythmischer Überlagerung: die linke Hand betont oft nur zwei Schläge pro Takt, wodurch ein „schwankender“ Effekt entsteht, als würde die Musik auf der eigenen Achse kreisen.
Im Mittelteil öffnet sich die Harmonik zu lyrischen Ausweichungen – ein Ruhepunkt inmitten der stürmischen Bewegung. Diese kurzen Momente von Innigkeit verstärken die Wirkung, wenn das Hauptthema in veredelter Form zurückkehrt. Gegen Ende steigert Chopin die Virtuosität durch rasche Oktavpassagen, synkopierte Betonungen und eine funkelnde Schlusskadenz: Musik, die gleichzeitig tanzt und brilliert, ohne jemals in bloße Zurschaustellung abzugleiten.
Deutung: Der Walzer op. 42 ist mehr als ein Tanz – er ist ein architektonisch durchdachtes Konzertstück. Hier trifft rhythmische Energie auf melodische Erfindung und pianistische Brillanz. Er verkörpert Chopins Ideal der „poetischen Virtuosität“ in Reinform.
Interpretationsbeispiele:
Wladimir Aschkenasi spielt diesen Walzer mit glitzernder Klarheit und dennoch innerer Wärme. Das Tempo ist zügig, das Rubato sparsam, wodurch der kreisende Effekt und die virtuosen Figuren brillant zur Geltung kommen. Aschkenasi macht aus dem Stück eine funkelnde, aber nicht oberflächliche Demonstration pianistischen Feinsinns.
Hörbeispiel:
Dinu Lipatti verleiht dem Walzer eine unnachahmliche Noblesse. Seine 1950 entstandene Aufnahme ist von kristalliner Transparenz: die Figuren perlen wie aus einem Guss, das Rubato wirkt organisch, die Eleganz überstrahlt jede Virtuosität. Bei Lipatti klingt der Walzer wie eine vollendete Symbiose von Tanz, Brillanz und innerer Poesie.
Hörbeispiel:
Walzer in Des-Dur, op. 64 Nr. 1 („Minute-Walzer“ / „Valse du petit chien“)
Paris, 1847: Drei Walzer erscheinen gemeinsam als op. 64; der erste in Des-Dur ist der berühmteste. Der populäre Beiname „Minute“ meint nicht die Spieldauer, sondern die Miniatur – eine kleine, funkelnde Form. In Chopins Umfeld kursierte die Anekdote vom kleinen Hund („petit chien“), der seinem Schwanz nachjagt; der kreisende Bewegungsimpuls der Oberstimme hat diese Lesart begünstigt. Die Widmung gilt Gräfin Delfina Potocka, einer der nahestehenden Freundinnen und begabten Dilettantinnen im Pariser Kreis.
Die Musik ist eine hochfeine Tanzminiatur mit Konzertformat. Der Auftakt setzt sofort in Bewegung: ein schimmerndes Band aus Sechzehnteln und Trillern in der rechten Hand, getragen von einer elastischen, klar akzentuierten Dreierbegleitung links. Das berühmte Hauptthema gleitet ohne Schwere – es will nicht „gehämmert“ werden, sondern schweben. In der Mittelpartie lindert Chopin die motorische Helligkeit durch kurze melodische Entlastungen und harmonische Seitenblicke; die Oberfläche bleibt brillant, doch im Untergrund atmet eine flexible Phrasierung, die jede Überhastung meidet. Schließlich verdichtet eine kleine Coda das Material zu glitzernden Kaskaden, bevor der Walzer mit tänzerischer Eleganz schließt. Richtig gespielt, ist dies kein „Prestissimo-Sprint“, sondern ein Muster an geschmeidiger Artikulation: die linke Hand muss federn, die rechte singen und perlen – beides zugleich.
Zwei ausgewählte Interpretationen:
Dinu Lipatti (Genf, 1950). Der legendäre Rumäne meidet jede Effekthascherei. Sein Tempo ist flink, aber nie gehetzt; das Rubato atmet wie selbstverständlich, die Figuration wirkt „aus einem Guss“. Charakteristisch sind das vollkommen ruhige linke Fundament und die gläserne Klarheit der rechten Hand: jeder Lauf behält Profil, jeder Triller hat Kern, ohne scharf zu werden. So entsteht Noblesse statt Nervosität – ein „Minute“-Walzer als stilistische Vollendung.
Hörbeispiel:
Alexandre Tharaud - schlanker Ton, federndes Timing, französische Transparenz: Tharaud lässt die Linie sprechen und dosiert das Rubato so fein, dass der kreisende Impuls nie ins Mechanische kippt. Die Begleitung bleibt biegsam, die Verzierungen wirken wie improvisiert, die Schlussakkorde glänzen ohne metallische Härte. Ergebnis: ein ideal proportionierter Salon-Walzer von heutiger Eleganz, der Chopins Witz und Raffinesse ernst nimmt.
Hörbeispiel:
Walzer in cis-Moll op. 64 Nr. 2
Der zweite Walzer aus der 1847 erschienenen Sammlung op. 64 steht in cis-Moll und ist von ganz anderem Charakter als sein berühmter „Minute“-Gefährte. Statt funkelnder Brillanz herrscht hier eine gedämpfte, melancholische Stimmung. Schon der erste Takt zeigt eine sangliche Oberstimme, die sich über eine rhythmisch klare, aber leise pulsierende Begleitung legt. Dieser Walzer gehört nicht in den glitzernden Pariser Salon, sondern wirkt wie ein persönlicher, poetischer Monolog.
Die Anlage ist dreiteilig. Im ersten Abschnitt entfaltet sich das klagende Hauptthema in dunkler Farbe. Chopin bindet kleine chromatische Gänge und Seufzermotive ein, die den Ausdruck intensivieren. Im Mittelteil moduliert die Musik nach Es-Dur – eine plötzliche Aufhellung, beinahe wie ein Sonnenstrahl, der aber sofort wieder von Schatten überlagert wird. Der dritte Teil bringt das Anfangsthema zurück, nun resignativer, ehe das Stück in gedämpftem cis-Moll verklingt.
Deutung: Der Walzer in cis-Moll ist kein Tanz, sondern eine kleine Ballade im Walzertakt. Chopin entzieht sich dem bloß Gesellschaftlichen und zeigt, dass selbst das scheinbar leichte Genre die Tiefen seiner Melancholie tragen kann. Es ist einer der Walzer, die Schumann als „Lieder ohne Worte“ hätte bezeichnen können.
Interpretationsbeispiele:
Wladimir Aschkenasi – In seiner Einspielung wirkt der cis-Moll-Walzer von stiller Größe. Das Tempo ist gemäßigt, die rechte Hand singt im noblen Legato, das Rubato bleibt organisch und unaufdringlich. Besonders eindrucksvoll ist, wie Ashkenazy die Es-Dur-Aufhellung als zarten Hoffnungsschimmer behandelt, der sofort in Nachdenklichkeit zurücksinkt.
Hörbeispiel:
Garrick Ohlsson – Ohlsson gestaltet den Walzer mit klarer Struktur und kammermusikalischem Klang. Sein Spiel ist durchlässig, das Rubato sehr behutsam, die linke Hand weich wie ein atmendes Fundament. Die Melancholie erscheint hier weniger schwermütig als verinnerlicht, fast wie ein Gespräch mit sich selbst.
Hörbeispiel:
Walzer in As-Dur-Walzer op. 64 Nr. 3
Der dritte Walzer aus op. 64, komponiert 1847 und wie seine beiden Geschwister bei Schlesinger in Paris erschienen, steht in As-Dur. Im Gegensatz zum weltberühmten „Minute“-Walzer (Nr. 1) und dem elegischen cis-Moll-Walzer (Nr. 2) zeigt er eine hellere, lebensfrohe Seite. Chopin beschließt mit ihm das Kapitel seiner Walzer – es ist der letzte, den er selbst veröffentlichte.
Die Anlage ist weitgespannt. Schon die Eröffnung überrascht: kein sofortiges Taktieren, sondern eine tänzerisch schwingende Figur, die fast orchestrale Wirkung entfaltet. Die rechte Hand zeichnet geschmeidige Bögen, die linke Hand stützt mit federndem Dreiertakt, doch immer elastisch, nie mechanisch. Der erste Abschnitt ist festlich und lebendig, durchsetzt von glitzernden Passagen.
Im Mittelteil moduliert Chopin nach H-Dur – eine plötzliche Aufhellung, die fast überirdisch wirkt. Der Ton ist lyrisch, elegant, dabei weniger melancholisch als träumerisch. Hier zeigt sich Chopins Meisterschaft, in einem Walzer plötzlich eine Art innere Arie anklingen zu lassen. Nach dieser Oase kehrt das Hauptthema zurück, nun mit noch größerem Schwung, bevor das Stück mit funkelnden Figurationen ausklingt.
Deutung: Der As-Dur-Walzer op. 64 Nr. 3 vereint Brillanz und Eleganz. Er zeigt Chopin am Ende seiner Walzer-Komposition auf dem Höhepunkt seiner Meisterschaft: keine reine Salonmusik, sondern ein Konzertstück, das Leichtigkeit mit Tiefe verbindet. Es ist ein Abschied in festlichem Ton, ein Walzer voller Glanz, der gleichwohl poetisch bleibt.
Interpretationsbeispiele:
Dinu Lipatti – In seiner legendären Aufnahme wirkt der Walzer wie aus einem Guss. Lipattis Anschlag ist kristallklar, das Tempo flüssig, das Rubato organisch. Die H-Dur-Episode gestaltet er mit inniger Wärme, während die Schlusssteigerung makellos perlt. Hier vereinen sich technische Vollendung und innere Noblesse.
Hörbeispiel:
Alexandre Tharaud – Tharaud bringt französische Leichtigkeit und Transparenz ein. Sein Spiel ist schlank, elegant, die Verzierungen klingen improvisiert, das Rubato subtil. Der Walzer wirkt bei ihm weniger monumental, sondern wie ein brillantes, duftiges Kabinettstück – ein funkelnder Schlusspunkt der Gattung.
Hörbeispiel:
Späte, posthum veröffentlichte Walzer
Walzer in Ges-Dur, op. 70 Nr. 1 (B. 66)
Dieser Walzer entstand vermutlich um 1835 in Paris, blieb aber zu Chopins Lebzeiten ungedruckt. Erst 1855 veröffentlichte ihn Julian Fontana (1810–1869) aus dem Nachlass, zusammen mit weiteren unveröffentlichten Walzern, unter der Opuszahl 70. Gedruckt wurde er bei Maurice Schlesinger in Paris, Christian Rudolph Wessel in London und Breitkopf & Härtel in Leipzig. Eine Widmung ist nicht überliefert, doch die Leichtigkeit und Eleganz des Stückes deuten auf einen salonartigen Kontext, möglicherweise für Chopins Schüler- und Freundeskreis.
Die Musik trägt den Charakter eines brillanten, aber charmanten Gesellschaftswalzers. Die Hauptthemen sind kantabel und festlich, getragen von einer federnden linken Hand. Schon das eröffnende Motiv wirkt wie eine kleine Fanfare, die das Publikum zum Tanz bittet, doch Chopin veredelt die Figur mit lyrischen Verzierungen und harmonischen Farben. Der Mittelteil moduliert nach Es-Dur und bringt eine lyrische Aufhellung, ehe das Hauptthema in Ges-Dur zurückkehrt.
Bemerkenswert ist die Eleganz der Faktur: das Stück verlangt keine extreme Virtuosität, sondern geschmeidige Artikulation und geschicktes Rubato. Es ist eine Musik, die im Salon wie auf der Bühne gleichermaßen wirkt – „brillant“ im ursprünglichen Sinn des Wortes.
Deutung: Der Walzer in Ges-Dur ist ein Musterbeispiel für Chopins „Valse brillante“-Stil, wenngleich er posthum erschien. Die Musik vermittelt Leichtigkeit, Eleganz und Glanz, aber auch jene für Chopin typische Mischung aus Heiterkeit und einem leisen Unterton von Wehmut.
Interpretationsbeispiele:
Wladimir Aschkenasi – Aschkenasi bringt das Stück mit glitzernder Leichtigkeit zum Klingen. Sein Anschlag ist klar, das Tempo flüssig, die linke Hand federnd. Er meidet jede Übertreibung, sodass die Musik charmant, elegant und unaufdringlich bleibt – ein idealer Gesellschaftswalzer.
Hörbeispiel:
Garrick Ohlsson – Ohlsson betont stärker die lyrischen Qualitäten. Sein Spiel ist voller Klangfülle, aber ohne Schwere, das Rubato sehr fein dosiert. Die Melodie singt weit, während die Begleitung elastisch schwingt. Damit hebt er die poetische Seite dieses Walzers hervor.
Hörbeispiel:
Walzer in f-Moll, op. 70 Nr. 2 (B. 145)
Der Walzer in f-Moll, op. 70 Nr. 2 (B. 145) entstand vermutlich 1842 in Paris. Auch er wurde von Julian Fontana (1810–1869) nach Chopins Tod aus den Manuskripten zusammengestellt und 1855 veröffentlicht – gleichzeitig in Paris bei Maurice Schlesinger, in London bei Christian Rudolph Wessel und in Leipzig bei Breitkopf & Härtel.
Von allen posthum veröffentlichten Walzern ist dieser vielleicht der anspruchsvollste. Er verbindet tänzerische Eleganz mit einem ungewöhnlich tragischen Grundton. Während viele Walzer Chopins hell, brillant oder charmant wirken, atmet dieser ein deutlich ernsteres Pathos. Schon das erste Thema ist von schmerzlich gesanglicher Melodik geprägt, die Begleitung in der linken Hand hebt nicht, sondern drückt fast.
Die Anlage ist breit: mehrere Themenkomplexe werden vorgestellt und verarbeitet. Nach dem ersten klagenden Abschnitt folgt ein kontrastierender Mittelteil in As-Dur, der nur vorübergehend Helligkeit bringt. Bald drängt sich das Moll wieder zurück, verstärkt durch chromatische Linien und eine fast dramatische Bassbewegung. Schließlich endet das Stück nicht in brillanter Virtuosität, sondern in einem resignativen f-Moll-Schluss, der wie eine Verdunkelung wirkt.
Deutung: Der Walzer in f-Moll ist weniger „Gesellschaftsmusik“ als eine kleine Charakterdichtung. Er zeigt, wie Chopin selbst ein scheinbar leichtes Genre zur Ausdrucksform tiefster Emotion machen konnte. Man spürt hier die Nähe zu seinen Mazurken und Nocturnes – die Welt des Salons weicht einer ernsten, introspektiven Sprache.
Interpretationsbeispiele:
Wladimir Aschkenasi – Aschkenasi bringt die düstere Eleganz dieses Walzers mit warmem, zugleich kontrolliertem Klang zur Geltung. Sein Tempo ist zurückhaltend, das Rubato sparsam, die Melodie kantabel. Er meidet jedes Pathos und macht das Stück zu einem melancholischen, fast noblen Klagegesang.
Hörbeispiel:
Garrick Ohlsson – Ohlsson wählt ein langsameres Tempo und gibt der Musik dadurch gravitätische Schwere. Die linke Hand bleibt weich, doch unaufhaltsam; die rechte singt mit viel Atem. Der Walzer wirkt bei ihm weniger tänzerisch, sondern eher wie eine große Romanze in Moll – ein Beispiel für Chopins Fähigkeit, selbst kleinste Formen mit seelischer Tiefe zu füllen.
Hörbeispiel:
Walzer in Des-Dur, op. 70 Nr. 3 (B. 151)
Der Walzer in Des-Dur, op. 70 Nr. 3 (B. 151) gehört zu Chopins frühen Versuchen im Genre. Er entstand um 1829 in Warschau, blieb jedoch ungedruckt und gelangte erst 1855 in die Öffentlichkeit, als Julian Fontana (1810–1869) das Stück aus Chopins Manuskripten für eine posthume Edition auswählte. Veröffentlicht wurde es wie die beiden anderen Walzer op. 70 bei Maurice Schlesinger in Paris, Christian Rudolph Wessel in London und Breitkopf & Härtel in Leipzig.
Von den drei Walzern der Sammlung ist dieser der leichteste und heiterste. Seine melodische Erfindung ist schlicht, aber charmant; das Hauptthema in Des-Dur gleitet anmutig dahin, getragen von einer elastischen Begleitung. Der Charakter ist fast volksliedhaft – eine Musik, die mehr lächelt als tanzt.
Besonders auffällig ist der Mittelteil, der eine tiefere Basslinie führt und damit eine überraschende melancholische Färbung einbringt. Chopin erwähnte diese Stelle in einem Brief an seinen Freund Tytus Woyciechowski (1808–1879) ausdrücklich und wies auf ihre Wirkung hin. Die Forschung hat diesen Abschnitt oft in Verbindung mit Chopins jugendlicher Schwärmerei für die Sängerin Konstancja Gładkowska (1810–1889) gebracht. Auch wenn es sich nicht um eine formale Widmung handelt, spiegelt der Tonfall des Trios wohl Chopins persönliche Empfindungen.
Das Stück schließt mit einer Rückkehr zum Hauptthema und endet ohne Bravour, sondern in freundlicher, fast schüchterner Geste.
Deutung: Der Walzer in Des-Dur ist weniger ein Konzertstück als ein musikalisches Erinnerungsblatt. Er bewahrt den Charme der Warschauer Zeit, verbindet Leichtigkeit mit einem kurzen Moment von Melancholie – und zeigt schon hier Chopins Fähigkeit, selbst einfache Formen mit seelischer Farbe zu versehen.
Interpretationsbeispiele:
Dinu Lipatti – Lipattis Interpretation verleiht dem Stück eine unerhörte Noblesse. Sein Spiel ist seidig, das Tempo beweglich, das Rubato sparsam. Er meidet alles Äußerliche, sodass der Walzer als kleine poetische Miniatur erscheint, schwebend und von zeitloser Eleganz.
Hörbeispiel:
Wladimir Aschkenasi – Aschkenasi betont stärker den tänzerischen Charakter. Seine linke Hand ist federnd, die Melodik kantabel, das Tempo frisch. Dadurch wirkt das Stück wie ein heiteres Souvenir, das die freundliche Atmosphäre der Warschauer Salons einfängt.
Hörbeispiel:
Walzer in a-Moll (KK IVa/16, B. 150)
Der Walzer in a-Moll (KK IVa/16, B. 150) gehört zu Chopins bekanntesten posthum veröffentlichten Stücken. Entstanden ist er vermutlich um 1843–1848 in Paris. Eine eindeutige Datierung ist nicht gesichert, doch stilistisch weist er in die späte Schaffenszeit. Veröffentlicht wurde er 1855, als Julian Fontana (1810–1869) Chopins unveröffentlichte Manuskripte zu einer Sammlung ordnete und bei Maurice Schlesinger (Paris), Christian Rudolph Wessel (London) sowie Breitkopf & Härtel (Leipzig) in Druck gab.
Eine Widmung ist nicht überliefert. Doch der intime, melancholische Tonfall des Stückes deutet darauf hin, dass es eher für den privaten Kreis gedacht war, als persönliches Albumblatt. Gerade diese zurückhaltende Gestalt hat dazu geführt, dass der a-Moll-Walzer oft als „Volksstück“ empfunden und weit über den Konzertsaal hinaus gespielt wurde.
Die Faktur ist einfach, fast skizzenhaft: eine sangliche Melodie entfaltet sich in der rechten Hand, während die linke eine schlichte Dreiertakt-Begleitung gibt. Die Harmonik bleibt lange in a-Moll verhaftet, doch kurze Modulationen – etwa nach C-Dur oder F-Dur – bringen zarte Aufhellungen. Besonders der Mittelteil wirkt wie ein hoffnungsvoller Lichtstrahl, der jedoch bald wieder von der Grundtrauer überlagert wird. Am Schluss versinkt die Musik leise in Moll – nicht in brillanter Kadenz, sondern in resignativer Stille.
Deutung: Dieser Walzer ist keine „Valse brillante“, sondern ein kleines, intimes Charakterstück. Er lebt nicht von Virtuosität, sondern von der Schlichtheit seiner Phrasen. Vielleicht ist das auch sein Geheimnis: er klingt wie ein persönlicher Gedanke, der nicht für den großen Salon bestimmt war, sondern für vertraute Ohren.
Interpretationsbeispiele:
Wladimir Aschkenasi – Aschkenasi verleiht dem Stück eine noble Melancholie. Sein Anschlag ist warm, das Tempo getragen, das Rubato sparsam. Die Schlichtheit bleibt gewahrt, ohne ins Sentimentale zu kippen. Der Walzer klingt bei ihm wie ein stiller, melancholischer Rückblick.
Hörbeispiel:
Walzer in cis-Moll (KK IVa/15, B. 134)
Der Walzer in cis-Moll (KK IVa/15, B. 134) ist einer der bekanntesten nachgelassenen Walzer Chopins. Entstanden wohl um 1835 in Paris, blieb er ungedruckt und wurde erst 1855 von Julian Fontana (1810–1869) in seiner posthumen Edition veröffentlicht. Auch dieses Stück erschien gleichzeitig in Paris bei Maurice Schlesinger, in London bei Christian Rudolph Wessel und in Leipzig bei Breitkopf & Härtel.
Inhaltlich gehört dieser Walzer zu den eindringlichsten, die Chopin geschrieben hat. Schon der erste Takt stellt eine klagende Melodie vor, die über einer schlichten Dreiertakt-Begleitung liegt. Anders als im cis-Moll-Walzer op. 64 Nr. 2, der verinnerlicht und resignativ wirkt, ist dieser cis-Moll-Walzer von dramatischerer Spannung getragen.
Die Form ist dreiteilig. Der erste Abschnitt entfaltet eine elegische Melodie, die mit chromatischen Wendungen immer stärker an Ausdruck gewinnt. Im Mittelteil moduliert Chopin nach Es-Dur und H-Dur, wodurch ein Moment von Aufhellung entsteht. Diese lyrische Episode ist aber nur von kurzer Dauer – rasch zieht das Dunkel von cis-Moll wieder heran. In der Reprise des Anfangs ist der Ton noch intensiver, bis der Walzer schließlich in verhaltener Moll-Trübnis endet.
Deutung: Der cis-Moll-Walzer ist eine intime Charakterstudie. Er wirkt wie ein Bekenntnisstück, in dem Chopin den Walzer als Vehikel für seine melancholische Grundstimmung verwendet. Kein Tanz, sondern ein lyrischer Monolog, dessen Tiefe bis heute fasziniert.
Hörbeispiel:
Alice Sara Ott (*1988 in München) ist eine deutsch-japanische Pianistin, die schon als Kind mit außergewöhnlichen Wettbewerbserfolgen auf sich aufmerksam machte und ab dem zwölften Lebensjahr am Mozarteum Salzburg bei Karl-Heinz Kämmerling studierte. Seit 2008 Exklusivkünstlerin der Deutschen Grammophon, hat sie eine beachtliche Diskographie vorgelegt – von Liszts Études d’exécution transcendante über Chopins Walzer bis hin zu innovativen Projekten wie The Chopin Project mit Ólafur Arnalds oder ihrem multimedial angelegten Album Echoes of Life. Kritiker rühmen ihre technische Brillanz ebenso wie die emotionale Tiefe ihres Spiels, und sie arbeitet mit führenden Orchestern und Dirigenten weltweit zusammen. Bekannt ist sie zudem für ihre unkonventionelle, nahbare Art – etwa dass sie meist barfuß auftritt. 2019 machte Ott öffentlich, dass sie an Multipler Sklerose erkrankt ist, begegnet der Krankheit aber mit Offenheit und Mut, ohne ihre künstlerische Tätigkeit einzuschränken. So gilt sie heute als eine der profiliertesten und zugleich authentischsten Pianistinnen ihrer Generation.
Walzer in e-Moll (KK IVa/8, B. 56)
Der Walzer in e-Moll (KK IVa/8, B. 56) gehört zu den frühesten Walzern Chopins. Er entstand vermutlich 1829 oder 1830 in Warschau, also noch bevor der junge Komponist nach Wien und Paris aufbrach. Gedruckt wurde er erst 1855 in der von Julian Fontana (1810–1869) herausgegebenen posthumen Sammlung, zeitgleich bei Schlesinger in Paris, Wessel in London und Breitkopf & Härtel in Leipzig.
In der Faktur zeigt sich noch der „Warschauer“ Ton: kleine Formen, ein klarer Dreiertakt, belcantische Oberstimme. Doch anders als im eleganteren As-Dur-Walzer oder im lyrischen h-Moll-Walzer trägt dieses Stück eine gewisse Herbheit. Schon das Hauptthema in g-Moll ist von dunkler Farbe, mit pochender Begleitung und kantabler, aber streng geformter Melodie.
Die Anlage ist einfach, fast zweiteilig: auf die klagende Eröffnung folgt ein kontrastierender Abschnitt in B-Dur, der eine kurze Aufhellung bringt. Diese Passage wirkt fast wie eine naive Erinnerung, bevor das g-Moll-Thema in resignativer Gestalt zurückkehrt. Der Schluss ist knapp, ohne Bravour, eher wie ein Abbrechen des Gedankens.
Deutung: Der e-Moll-Walzer zeigt, dass Chopin schon in seiner Jugend das Genre nicht nur als Tanz, sondern als lyrische Ausdrucksform verstand. Hier klingt weniger Salon als innere Ernsthaftigkeit – eine kleine, ernste Miniatur, die an die frühen Mazurken erinnert.
Wladimir Aschkenasi – Aschkenasi betont die Ernsthaftigkeit des g-Moll-Walzers. Sein Tempo ist getragen, die linke Hand weich, das Rubato sehr diskret. Die Melodie wirkt bei ihm wie eine kleine Elegie, die innere Ruhe und Würde verströmt.
Hörbeispiel:
Walzer in Es-Dur (KK IVa/14, B. 133)
Der Walzer in Es-Dur (KK IVa/14, B. 133) entstand vermutlich um 1830 in Warschau, also noch in Chopins Jugendzeit. Wie viele frühe Stücke blieb er zu Lebzeiten ungedruckt und wurde erst 1855 von Julian Fontana (1810–1869) in der großen posthumen Sammlung veröffentlicht – bei Schlesinger (Paris), Wessel (London) und Breitkopf & Härtel (Leipzig).
Der Tonfall ist heiter und leicht, fast ein kleines musikalisches Billet. Das Hauptthema entfaltet eine schlichte, anmutige Melodie, die von einer elastischen linken Hand gestützt wird. Im Gegensatz zu den ernsteren Jugendwalzern (etwa in g-Moll oder e-Moll) zeigt dieses Stück die charmante Seite des jungen Chopin: es lächelt, ohne zu glänzen, und wirkt wie ein Moment musikalischer Gesellschaftskonversation.
Die Form ist übersichtlich dreiteilig. Nach dem eröffnenden Es-Dur-Thema folgt ein kurzer kontrastierender Mittelteil in B-Dur, der eine Art lyrische Aufhellung bringt, bevor das Hauptthema wiederkehrt. Am Ende bleibt die Musik schlicht und charmant – kein virtuoser Ausbruch, sondern eine elegante Schlusswendung.
Deutung: Dieser Walzer ist weniger eine poetische Miniatur als ein frühes Gesellschaftsstück. Er zeigt, dass Chopin schon in Warschau den Saloncharakter des Walzers verstand, ihn aber mit melodischer Grazie und harmonischer Feinheit überhöhte. Kein tiefes Bekenntnis, sondern ein feines „Gesprächsstück“ im Dreivierteltakt.
Hörbeispiel:
Walzer in As-Dur, KK IVb/11 (B. 21a, Fragment)
Dieses kurze Stück entstand wohl um 1827–1828 in Warschau. Es handelt sich nicht um ein abgeschlossenes Werk, sondern um ein Skizzenfragment. Der Charakter ist leichtfüßig, das Thema schlicht, in der rechten Hand eine kleine Melodie, begleitet von einer simplen Dreierstruktur links. Da der Walzer abrupt abbricht, wird er in Editionen meist mit wenigen Takten als Beispiel abgedruckt.
Interpretationen sind selten. Seine Bedeutung liegt weniger in musikalischem Gewicht als darin, Chopins früheste Schritte im Genre zu dokumentieren. Alice Sara Ott (* 1988 in München):
Walzer in Es-Dur, KK IVb/10 (B. 46, Fragment)
Ebenfalls ein unvollständiges Stück, entstanden vermutlich um 1829–1830. Es zeigt einen galanten Gestus, fast wie eine kleine Salonminiatur, bricht aber nach wenigen Takten ab. Musikalisch ist es interessanter als der As-Dur-Fragmentwalzer, weil es bereits eine gewisse harmonische Differenzierung erkennen lässt.
Auch dieses Fragment ist vor allem in kritischen Gesamtausgaben (z. B. der National-Edition von Jan Ekier) dokumentiert. In Aufnahmen findet man es gelegentlich als „Kleinwalzer in Es-Dur“.
Walzer in As-Dur, KK IVb/12 (B. 147, Skizze, 8 Takte)
Noch kürzer: ein Notat aus der Pariser Zeit (ca. 1840er Jahre). Es besteht nur aus wenigen Takten, die wie eine Improvisationsidee wirken. Kein abgeschlossenes Werk, aber ein authentischer Blick in Chopins Werkstatt.
Walzer in D-Dur, KK IVb/7 (B. 44a, Fragment)
Ein weiterer Jugendversuch, stilistisch in der Nähe der Warschauer Walzer. Auch hier bleibt es bei einigen Takten, die keinen vollständigen Bogen ergeben.
Bedeutung der Fragmente
Diese Miniaturen und Skizzen sind keine „Walzer“ im eigentlichen Sinne, sondern Arbeitsmaterial, das Chopin nicht zur Veröffentlichung bestimmt hatte. Dennoch sind sie wichtig, weil sie dokumentieren, wie der junge Komponist mit dem Genre experimentierte, bevor er in Paris seine Meisterwerke schrieb.
Zusammengefasst
Ein Vorschlag der "kompletten" Aufnahmen der Walzer von Chopin - Wladimir Aschkenasi:
elegant, brillant, poetisch – eher "Pariser Glanz“
und als CD - Garrick Ohlsson - tiefgründig, kammermusikalisch, sehr „amerikanische Klarheit“.
