Die vermutlich erste Komponistin, deren Lebensdaten überliefert sind - Kassia
Kassia von Konstantinopel (um 810–867) steht am Anfang einer musikalischen Überlieferung, die nicht anonym blieb, sondern einen Namen trägt. Als Tochter einer gebildeten aristokratischen Familie im byzantinischen Reich der Ikonenstreitigkeiten wuchs sie in einer Umgebung auf, in der Theologie, Macht und Klang untrennbar miteinander verflochten waren. Ihre Existenz widerspricht dem weit verbreiteten Mythos, Frauen hätten in der frühen Musikgeschichte keine Autorschaft ausgeübt. Kassia war nicht nur Teilnehmerin eines geistlichen Systems, sie war eine bewusste Gestalterin, Dichterin, Theologin und Komponistin – mit eindeutig nachweisbarer musikalischer Handschrift.
Chronisten wie Georgios Monachos († nach 867) und Leo Grammaticus († nach 948) überliefern die Szene der Brautschau im Jahr 826, bei der Kaiserin Euphrosyne für ihren Stiefsohn Theophilos die klügsten und schönsten jungen Frauen des Reiches versammeln ließ. Als Theophilos sich Kassia näherte und mit spitzem Ton fragte: „Durch die Frau kam das Böse in die Welt“, antwortete sie ohne Zögern: „Aber auch das Gute kam durch die Frau.“ Dieser Satz war keine höfische Zierde, sondern ein geistiges Bekenntnis. Theophilos wandte sich ab, doch Kassia begann in diesem Moment, ihre Stimme nicht in der Nähe des Thrones, sondern in der geistigen Autorität des Wortes und des Gesangs zu entfalten.
Nach der Wiederzulassung der Ikonenverehrung – dem Triumph des Ikonodulismus – gründete sie um 843 ein Kloster geweihter Jungfrauen in Konstantinopel und wurde dessen Oberin. Dort schrieb sie Hymnen, deren musikalische Fassungen nicht anonym tradiert, sondern explizit mit ihrem Namen verbunden wurden. In Handschriften wie Sinai Codex Gr. 1256, Vat. Gr. 1613 und Patmos 220 erscheinen ihre Gesänge mit mittelbyzantinischer Neumenschrift, einer schriftlichen Klanggestik, die weniger absolute Tonhöhen fixiert als geistige Klangbewegungen bezeichnet. Kassia komponierte nicht, um gehört zu werden, sondern um geistlich zu sprechen. Ihr eigenes Motto – „Ich hasse das Schweigen, wenn es Zeit ist zu sprechen“ – wird in ihren Gesängen Wirklichkeit: Musik als Rede.
Das berühmteste Zeugnis ihres Schaffens ist das Troparion der Kassiani, gesungen am Dienstag der Karwoche. In einer liturgisch-authentischen Fassung aus dem Kloster Vatopedi auf dem Berg Athos erklingt der Eröffnungsvers: „Κύριε, ἡ ἐν πολλαῖς ἁμαρτίαις περιπεσοῦσα γυνή, τὴν σὴν αἰσθομένη θεότητα…“ – „Herr, die Frau, gefallen in viele Sünden, erkannte Deine Gottheit…“. Die Stimme zieht das Wort ἁμαρτίαις – „Sünden“ – über lange Melismen hinweg, nicht als ornamental-süßliche Verzierung, sondern als musikalische Form des inneren Erkennens. Diese Musik verweigert das Vorwärtsdrängen. Sie verweilt. Kassias Klang ist kein Ausdrucksentladungsdrama, sondern ein Klangraum des Denkens. Der Gesang steht wie eine Ikone – nicht bewegt, sondern anwesend.
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Ein zweiter Gesang, überliefert in Codex Vaticanus Graecus 1613 zeigt ihre Fähigkeit zur Verdichtung. In einer historischen Interpretation erklingt der Hymnus an den Märtyrer Ignatius: „Ἰγνάτιε θεόφορε, ἄθλε τῶν ἀγώνων, πυρὶ τῆς ἀγάπης φλογωθεὶς καὶ τὴν σποδὸν σου ὡς σῖτον τῷ Χριστῷ προσενήνοχας.“ – „Ignatius, Gottesträger, du Kämpfer in geistlichen Mühen, entzündet vom Feuer der Liebe, hast du deine Asche wie Weizenkorn Christus dargebracht.“ Auch hier bleibt der Klang ernst, unbewegt, getragen vom ison – jenem Bordunton, der nicht nur Stütze, sondern spirituelle Grundierung ist. Kassias Musik ist kein Affekt, sie ist Haltung.
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Ein weiteres Fragment, überliefert im Sinai Codex Gr. 1256, fol. 33v (griechische Handschrift, die sich im Kloster St. Katharina auf dem Sinai befindet), gehört zu den Gesängen, die am Sonntag der Orthodoxie intoniert wurden – dem Fest der Wiedereinführung der Ikonen nach Jahren der Verfolgung. In einer Aufnahme aus dem athonitischen Ritus erklingt der Text: „Ἡ τοῦ κάλλους σου θέα, Χριστέ, ἐν ταῖς εἰκόσι φαινομένη, τοὺς πιστοὺς ἐφραίνουσα, τοὺς δὲ ἀσεβεῖς διασείουσα.“ – „Der Anblick Deiner Schönheit, Christus, sichtbar geworden in den Ikonen, erquickt die Gläubigen und erschüttert die Gottlosen.“ Diese Worte sind ein theologischer Kommentar über Klang. Kassia argumentiert nicht mit dem Stift, sondern mit der Stimme. Sie macht aus Musik eine geistige Waffe – leise, aber unerschütterlich.
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Zu den selten aufgeführten, aber musikalisch besonders fein gearbeiteten Zeugnissen Kassias gehört eine Marienhymne, überliefert in der Sinai-Tradition und in jüngeren Handschriften mit dem Anfangsvers „Ἐκ ῥίζης ἀγαθῆς…“ überliefert. In einer eindrucksvollen Aufnahme des Ensembles VocaMe entfaltet sich der Gesang mit stiller, kreisender Bewegung, fern jeder dramatischen Geste. Der Text beginnt: „Ἐκ ῥίζης ἀγαθῆς ἀνεβλάστησας, Θεοτόκε…“ – „Aus guter Wurzel bist du erblüht, Gottesgebärerin…“. Hier spricht Kassia in der Sprache der Bildtheologie: Maria erscheint nicht als emotionale Figur, sondern als ikonischer Ursprung, als geheimnisvolle Wurzel, aus der die Menschwerdung hervorgeht. Die Melodielinie erhebt sich nicht kraftvoll, sondern wie ein langsames Atmen, umkreist den Ton, als wolle sie ihn nicht behaupten, sondern liebend umhüllen. Diese Musik drängt sich nicht auf. Sie ist eine innerliche Hinwendung, bei der die Melismen nicht als Zierwerk erscheinen, sondern als Spur eines Gebets, das zwischen Klang und Schweigen schwebt.
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So entfaltet sich aus ihren Gesängen – ob im großen Troparion, in den knappen Märtyrerhymnen, in den ikonodulischen Stichera oder in der stillen Marienbitte – ein klingendes theologisch-poetisches Werk von seltener Geschlossenheit. Kassia komponierte nicht im Schatten, sondern mit Bewusstsein. Ihre Musik ist kein Fragment einer Frau im Mittelalter – sie ist bewusst geprägte geistige Autorschaft. Mit ihr beginnt in der Musikgeschichte etwas, das lange nicht als möglich gedacht wurde: dass eine Frau nicht nur singt, sondern formt, nicht nur wiederholt, sondern gestaltet, nicht nur Trägerin, sondern Ursprung von Klang ist.
