Palestrina: Der „musicae princeps“ und seine Welt
Giovanni Pierluigi da Palestrina wurde mit hoher Wahrscheinlichkeit im Februar 1525 in Palestrina geboren, eine Datierung, die sich aus zwei unabhängigen zeitgenössischen Quellen ergibt: Zum einen berichtet der lothringische Kurialkleriker Melchior Major in seinem unmittelbar nach dem Tod des Komponisten verfassten Nekrolog vom 2. Februar 1594, Palestrina habe „vixit annis LXVIII“ – 68 Jahre gelebt; zum anderen wird im Testament seiner Großmutter Iacobella Pierluigi vom 22. Oktober 1527 ein „ungefähr zweijähriger“ Enkel „Giov“(anni) erwähnt, dessen Alter mit dieser Angabe am besten zu einem Geburtsmonat im frühen Jahr 1525, höchstwahrscheinlich im Februar, passt.
Palestrina gilt als Inbegriff der römischen Vokalpolyphonie des späten 16. Jahrhunderts und als jener Komponist, dem die Nachwelt – oft in mythischer Überhöhung – die „Rettung“ der katholischen Kirchenmusik nach dem Konzil von Trient (1545 bis 1563) zuschrieb. Er war kein weltfremdes Genie, sondern ein äußerst pragmatischer, gut vernetzter Kapellmeister, der zwischen päpstlicher Kurie, römischen Basiliken und adligen Höfen agierte und es verstand, künstlerische Ideale mit liturgischer Praxis und ökonomischer Vernunft zu verbinden.
Über seine frühen Jahre sind wir nur indirekt informiert. Palestrina entstammte einer Familie namens Pierluigi in der kleinen Stadt Palestrina (dem antiken Praeneste) östlich von Rom; seine Eltern Sante (Santo) Pierluigi († nach 1527) und Palma Pierluigi († 1536) werden in den Quellen ausdrücklich genannt. Eine erste urkundliche Erwähnung des Knaben findet sich im Testament seiner in Rom lebenden Großmutter Jacobella (Iacobella) Pierluigi († nach 1527) vom 22. Oktober 1527, in dem ihr etwa zweijähriger Enkel „Giov“ ein paar Hausgeräte zugesprochen erhält. Kurz darauf taucht die Familie in einer römischen Volkszählung unter Papst Clemens VII. (1478–1534) in der Nähe von San Giovanni in Laterano auf – ein Hinweis darauf, dass der junge Giovanni schon früh zwischen der kleinen Heimatstadt und der Metropole Rom pendelte.
Sicher belegt ist sein Auftauchen als Chorknabe („putto“) an der Basilica Santa Maria Maggiore in Rom im Jahr 1537. Dort erhielt er neben dem liturgischen Dienst eine solide Ausbildung in Musik und Latein; als Kapellmeister treten in den Dokumenten der Sänger Giacomo Coppola († nach 1537) sowie die franko-flämischen Musiker Robin (Rubinus) Mallapert (um 1520–1573) und Firmin Lebel (um 1510–1573) in Erscheinung, die sehr wahrscheinlich zu seinen Lehrern gehörten.
Ältere Biographien behaupteten gern, Palestrina sei Schüler des Hugenotten Claude Goudimel (um 1514–1572) gewesen; neuere Forschung hat diese schöne, aber unhaltbare Geschichte widerlegt, da sich für Goudimel kein Aufenthalt in Rom nachweisen lässt und die Chronologie nicht stimmt.
Aus der Nähe zu franko-flämischen Meistern erklärt sich jedoch, weshalb Palestrina stilistisch in der Nachfolge von Guillaume Du Fay (um 1397–1474), Josquin Desprez (um 1450–1521) und ihrer römischen Kollegen steht, obwohl er selbst Italiener war.
Seine erste feste Anstellung erhielt Giovanni 1544 in seiner Heimatstadt Palestrina: Ein Vertrag mit dem Domkapitel von San Agapito verpflichtete ihn, als Organist und „magister cantus“ den täglichen Chorgesang bei Messe, Vesper und Komplet zu leiten, an Festtagen die Orgel zu spielen und Kanonikern wie Chorknaben Unterricht zu erteilen. In diese Jahre fällt seine Heirat mit Lucrezia Gori († 1580) aus einer alteingesessenen Familie der Stadt; aus der Ehe gingen drei Söhne hervor, Rodolfo (1549–1572), Angelo (1551–1575) und Iginio (1558–1610), die später alle selbst komponierten. Schon diese frühe Phase zeigt Palestrina als praktischen Musiker, der liturgische Pflichten, Unterricht und Komposition verbindet – ein Berufsbild, das ihn sein ganzes Leben begleiten sollte.
Ein entscheidender Karrieresprung ergab sich 1551, als der bisherige Bischof von Palestrina, Giovanni Maria Ciocchi del Monte (1487–1555), unter dem Namen Julius III. zum Papst gewählt wurde (7. Februar 1550). Kurz nach seiner Erhebung berief er „seinen“ Stadtmusiker ohne Prüfungsverfahren zum magister cantorum der Cappella Giulia an Sankt Peter in Rom, der Chorkapelle des Domkapitels des Petersdoms. Hier stand Palestrina plötzlich im Zentrum des römischen Musiklebens. 1554 erschien sein „Missarum liber primus“ in Rom, ein umfangreiches Messbuch, das er Julius III. widmete und mit der Cantus-firmus-Messe „Ecce sacerdos magnus“ als Huldigungskomposition eröffnete. Dieses Messenbuch war das erste seiner Art eines in Italien geborenen Komponisten; die großen Messzyklen der vorangegangenen Jahrzehnte stammten fast alle von franko-flämischen Meistern wie Cristóbal de Morales (um 1500–1553), dessen Druck Palestrina sogar im Titelholzschnitt imitierte.
Anfang 1555 erreichte Palestrinas Aufstieg einen vorläufigen Höhepunkt: Auf Anordnung von Papst Julius III. wurde er – wiederum unter Umgehung der üblichen Prüfungen und ohne Zustimmung des Kollegiums – als Sänger in die päpstliche Sixtinische Kapelle aufgenommen. Kurz darauf starb Julius III., sein Nachfolger Marcellus II. (1501–1555) regierte nur 22 Tage, vom 9. April bis zu seinem Tod am 1. Mai 1555.
Die berühmte Missa Papae Marcelli, die traditionell in die frühen 1560er Jahre datiert wird, ist zwar nach Marcellus II. benannt, entstand aber nicht während seines kurzen Pontifikats und schon gar nicht auf direkten Befehl des Papstes. Die oft wiederholte Legende, Palestrina habe mit dieser Messe die Polyphonie vor einem vom Konzil von Trient angeblich geplanten Verbot „gerettet“, gehört in das Reich der späteren kirchenmusikalischen Mythologie; die Konzilstexte sind in ihren Forderungen weit moderater, und von einem auch nur ernsthaft erwogenen allgemeinen Polyphonie-Verbot kann keine Rede sein.
Der neue Pontifex Romanus Paul IV. (1476–1559, Papst vom 23. Mai 1555 bis zu seinem Tod am 18. August 1559) ein streng asketischer Reformpapst auf den Stuhl Petri gelangte. Dieser verfügte im Sommer 1555, dass alle Sänger der päpstlichen Kapelle zölibatäre Kleriker sein müssten; die verheirateten Mitglieder, unter ihnen Palestrina, wurden gegen lebenslange Renten entlassen.
Nach seiner Entlassung aus der päpstlichen Kapelle fand Palestrina rasch neue Aufgaben. Ab 1. Oktober 1555 übernahm er, als Nachfolger von Orlando di Lasso (1532–1594), die musikalische Leitung an San Giovanni in Laterano, der Kathedrale des Bischofs von Rom und somit erzbischöflichen Hauptkirche. Die Kapelle war finanziell schwächer ausgestattet als die Cappella Giulia, doch Palestrinas Ruf wuchs weiter; in diesen Jahren erschienen zahlreiche Madrigale in prominenten Sammeldrucken, und 1560 wurden seine achtstimmigen Improperien für zwei Chöre an der Lateranbasilika uraufgeführt, die einen tiefen Eindruck hinterließen. Papst Pius IV. ließ eigens eine Abschrift für die päpstliche Kapelle anfertigen – ein frühes Zeichen für das besondere Vertrauen, das man dem Komponisten in Fragen der liturgischen Angemessenheit entgegenbrachte.
Am 1. März 1561 wechselte Palestrina an die Basilica Santa Maria Maggiore, seine alte Ausbildungsstätte. Die letzten Sitzungsperioden des Konzils von Trient (1545–1563) brachten nicht nur eine Neuordnung der Liturgie, sondern auch intensive Diskussionen über die Funktion der Kirchenmusik. In Rom bildete sich ein Kreis einflussreicher Kirchenmänner um Kardinal Rodolfo Pio da Carpi (1500/01–1564), die in Palestrinas Musik ein Modell für eine erneuerte, aber weiterhin polyphone Liturgie sahen. Ihm widmete der Komponist 1563 den Zyklus „Motecta festorum totius anni“, Motetten zum gesamten Kirchenjahr, seinen ersten großen Individualdruck geistlicher Musik. Kurz darauf trat auch Kardinal Ippolito II. d’Este (1509–1572), Erbauer der Villa d’Este in Tivoli, als bedeutender Gönner auf; er verpflichtete Palestrina im Sommer 1564 für einige Monate an seine reich besetzte Hofkapelle.
Die unmittelbare Umsetzung der tridentinischen Reformbeschlüsse in Rom war mit den Namen der Kardinäle Carlo Borromeo (1538–1584) und Vitellozzo Vitelli (1531–1568) verbunden. 1565 wurden in deren Auftrag neue Messkompositionen – darunter Werke Palestrinas – von der päpstlichen Kapelle vorgetragen, um zu prüfen, ob der polyphone Stil mit der geforderten Textverständlichkeit vereinbar sei.
Spätestens hier dürfte die Missa Papae Marcelli erklungen sein, deren wechselweise homophone und polyphone Abschnitte den dogmatischen Kerntext klar hervortreten lassen und dennoch eine reiche Stimmführung beibehalten. Als Reaktion verlieh Pius IV. Palestrina den Ehrentitel „modulator pontificus“, erhöhte seine Pension und unterstrich damit seine Sonderrolle als musikalischer Interpret der neuen kirchlichen Leitlinien.
Parallel dazu führten berufliche Angebote aus dem Ausland vor Augen, dass Palestrina längst als Komponist von gesamteuropäischem Rang galt. Seine zweiten und dritten Messenbücher (1567, 1570) widmete er König Philipp II. von Spanien (1527–1598); der kaiserliche Gesandte Prospero d’Arco († nach 1579) sondierte in Rom die Möglichkeit, ihn als Kapellmeister an den Wiener Hof Kaiser Maximilians II. (1527–1576) zu berufen. An Palestrinas hohen Gehaltsforderungen scheiterte dieses Projekt, und die Stelle fiel schließlich an Philippe de Monte (1521–1603).
Nach dem Tod Giovanni Animuccias (um 1520 – † 25. März 1571) kehrte Palestrina 1571 als Kapellmeister an die Cappella Giulia zurück und behielt diese prestigeträchtige Position bis zu seinem Lebensende.
Die 1570er Jahre waren allerdings von schweren persönlichen Verlusten überschattet. Bereits 1572 starb sein ältester Sohn Rodolfo (1549–1572), 1575 folgte der zweitgeborene Angelo (1551–1575); beide galten als hoffnungsvolle Musiker und sind mit je einem Motettensatz im Motettendruck von 1572 vertreten. Kurz darauf traf es auch Palestrinas jüngeren Bruder, den Komponisten Silla Pierluigi († 1573), der nach den Quellen am Neujahrstag 1573 einer Seuche erlag. Den schwersten Schlag bedeutete schließlich der Tod seiner Frau Lucrezia Gori († 1580), die in der großen Influenza-Epidemie des Jahres 1580 in Rom starb: eine neuere biographische Chronik nennt als Sterbedatum den 2. August 1580, während ein Teil der deutschsprachigen Literatur den 22. August angibt. Im folgenden Jahr 1581 raffte die anhaltende Epidemie zudem noch drei seiner Enkelkinder dahin, vermutlich Nachkommen seines jüngsten Sohnes Iginio (1558–1610). Dass Palestrinas zweites vierstimmiges Motettenbuch auffallend viele Trauermotetten enthält, wird in der Forschung nicht selten mit dieser dichten Folge familiärer Katastrophen in Verbindung gebracht.
Palestrina selbst erwog in dieser Zeit, in den Klerikerstand einzutreten, ließ sich Ende 1580 niedere Weihen erteilen und erhielt 1581 eine Pfründe an Santa Maria in Ferentino. Kurz darauf aber entschied er sich um und heiratete am 28. März 1581 die wohlhabende Witwe Virginia Dormoli († nach 1594), deren Erträge aus einem Pelzhandelsgeschäft er klug in Immobilien anlegte. Damit war seine Existenz erstmals finanziell abgesichert – eine Voraussetzung für die erstaunliche Produktivität seiner letzten Lebensphase.
Neben seinen Aufgaben an der Peterskirche übernahm Palestrina nun weitere Verpflichtungen. Papst Gregor XIII. (1502–1585) betraute ihn und den Sänger Annibale Zoilo (1537–1592) 1577 mit der Revision des gregorianischen Chorals (Graduale Romanum). Das Projekt wurde zwar rasch abgeschlossen, aber wegen Widerstands – nicht zuletzt aus dem Umfeld Philipps II. – nie gedruckt.
Palestrina komponierte außerdem für die Arciconfraternita della Santissima Trinità dei Pellegrini e Convalescenti, eine Bruderschaft, die Pilger und Kranke betreute, und pflegte eine intensivere Beziehung zum Hof der Gonzaga in Mantua. Herzog Guglielmo Gonzaga (1538–1587) ließ in der Basilika Palatina di Santa Barbara eine eigene Hofliturgie pflegen und bestellte bei Palestrina zehn Messzyklen nach einer lokal geprägten Tradition. Diese Alternatim-Messen, vier- und fünfstimmig, wurden erst im 20. Jahrhundert von Knud Jeppesen (1892–1974) in Mantuaner Handschriften wiederentdeckt und zeigen, wie flexibel Palestrina auf spezifische liturgische Kontexte reagieren konnte.
Die letzten anderthalb Jahrzehnte seines Lebens waren musikalisch außerordentlich fruchtbar. In rascher Folge erschienen große Zyklen geistlicher Musik, die seine reife Kunst in beeindruckender Breite dokumentieren: die Hohelied-Motetten „Canticum canticorum“ (1583/84), die Lamentationen (1588), eine umfangreiche Sammlung von Hymnen für das gesamte Kirchenjahr (1589), die Magnificat-Sammlung (1591), die Offertorien „Offertoria totius anni“ (1593) und die Litanien.
Daneben publizierte Palestrina weiterhin Messen, Motetten und Madrigale, darunter zwei Bücher weltlicher Madrigale und zwei Sammlungen „geistlicher Madrigale“, die dem tridentinischen Geschmack nach textnaher, moralisch „ernster“ Vokalmusik entgegenkamen. Die Zahl seiner überlieferten Werke ist eindrucksvoll: mehr als 100 Messen, rund 250 Motetten und zahlreiche weitere Gattungen – Hymnen, Magnificat-Vertonungen, Offertorien, Litanien, Lamentationen – bilden ein Œuvre, das nahezu alle wichtigen Formen der spätrenaissancezeitlichen Kirchenmusik umfasst.
Im Frühjahr 1593 dachte Palestrina noch einmal ernsthaft an eine Rückkehr in seine Heimatstadt, um dort vorübergehend das vakante Amt des Domkapellmeisters und Organisten zu übernehmen. Zu einer endgültigen Vereinbarung kam es jedoch nicht mehr. Anfang 1594 erkrankte er schwer, wahrscheinlich an einer Lungenentzündung, und starb am Morgen des 2. Februar 1594 in Rom.
Sein Leichnam wurde – der damaligen Sitte entsprechend – noch am selben Tag in einem einfachen Sarg in Sankt Peter beigesetzt; auf der Bleitafel des Sarges soll die Inschrift „Ioannes Petrus Aloysius Praenestinus, Musicae princeps“ gestanden haben. Die Grabstätte, überbaut durch spätere Baumaßnahmen am Petersdom, ließ sich in der Neuzeit nicht mehr lokalisieren. Sein Nachfolger an der Cappella Giulia wurde Ruggiero Giovannelli (um 1560–1625), die Position eines „Hauskomponisten“ der päpstlichen Kapelle ging an Felice Anerio (um 1560–1614).
Die Wirkungsgeschichte Palestrinas ist ungewöhnlich lang und reich. Schon im frühen 17. Jahrhundert dominierten seine Werke das Repertoire der Sixtinischen Kapelle, und Bearbeitungen – etwa die vierstimmige Reduktion der Missa Papae Marcelli durch Giovanni Francesco Anerio (um 1567–1630) oder die doppelchörige Erweiterung derselben Messe durch Francesco Soriano (um 1548–1621) – zeigen, wie sehr seine Musik als „klassisches“ Vorbild galt. Im 18. Jahrhundert griff Johann Sebastian Bach (1685–1750) auf Palestrinas Missa sine nomine zurück und richtete sie für Singstimmen und Bläser ein. Der entscheidende Schritt zur Kanonisierung erfolgte 1725 durch Johann Joseph Fux (um 1660–1741), der in seinem „Gradus ad Parnassum“ den Kontrapunkt im „stile antico“ systematisch lehrte und Palestrina stilistisch zur Norm erhob.
Im 19. Jahrhundert, im Zeichen der kirchenmusikalischen Reform und der cäcilianischen Bewegung, wurde Palestrinas Musik zum programmatischen Bezugspunkt einer „reinen“ katholischen Kirchenmusik: E. T. A. Hoffmann (1776–1822) pries sie als „Musik aus einer anderen Welt“, und Komponisten wie Franz Liszt (1811–1886), Charles Gounod (1818–1893), Johannes Brahms (1833–1897), Joseph Rheinberger (1839–1901) und Anton Bruckner (1824–1896) setzten sich bewusst mit seinem Stil auseinander. Hans Pfitzner (1869–1949) erhob Palestrina in seiner 1917 uraufgeführten „musikalischen Legende“ Palestrina zur Symbolfigur des schöpferischen Künstlers, der gegen äußeren Druck seine innere Wahrheit behauptet – eine spätromantische Deutung, die mehr über das 20. Jahrhundert als über den historischen Palestrina erzählt, aber viel zur Popularität seines Namens beigetragen hat.
Im 20. Jahrhundert schließlich analysierte Knud Jeppesen (1892–1974) die Satzweise Palestrinas in monumentalen Studien und befreite den „Palestrina-Stil“ aus der Erstarrung des Lehrbuchs, indem er die feine Beweglichkeit und historische Wandelbarkeit dieser Kunst sichtbar machte.
Was wir heute als „Palestrina-Stil“ bezeichnen, ist das Resultat dieser langen Rezeptionsgeschichte: eine idealisierte, aber historisch in der Musik der römischen Kapellen des 16. Jahrhunderts verankerte Satzweise, in der melodischer Fluss, harmonische Klarheit und kontrapunktische Kunst in ein schwerelos wirkendes Gleichgewicht gebracht werden. Palestrina bevorzugt in seinen Melodien schrittweise Bewegung, gleicht Aufwärts- und Abwärtslinien sorgfältig aus und behandelt Dissonanzen streng als vorbereitete Durchgänge, Vorhalte und Wechselnoten; die Stimmen sind so geführt, dass sich bei wechselnder Besetzung ein atmender Wechsel von Voll- und Geringstimmigkeit ergibt. Aus dieser Kunst des Maßhaltens, des Ausbalancierens und Verfeinerns erwächst jener Klang, der seiner Musik über Jahrhunderte das Etikett des „musicae princeps“ eingetragen hat – und der bis heute als Maßstab dafür gilt, wie weit Vokalpolyphonie sich ins Geistige erheben kann, ohne ihre liturgische Funktion zu verlieren.
Ausgewählte Literatur zu Giovanni Pierluigi da Palestrina
Die Forschung zu Palestrina ist umfangreich und vielschichtig. Für einen fundierten Überblick lassen sich die wichtigsten Beiträge in vier größere Bereiche gliedern: grundlegende Biographien, stil- und kontrapunktbezogene Studien, Untersuchungen zur Rezeption vom 17. bis 19. Jahrhundert sowie Spezialforschung zu einzelnen Werkgruppen. Die folgende Auswahl führt die maßgebliche und oft zitierte Literatur auf, die für biographische, werkbezogene und historische Fragestellungen als Referenz gilt.
1. Grundlegende Monographien und Gesamtdarstellungen
Diese Werke vermitteln den umfassendsten Einblick in Leben, Werk und historischen Kontext des Komponisten. Sie gehören zu den Standardwerken der modernen Palestrina-Forschung.
Michael Heinemann: Giovanni Pierluigi da Palestrina und seine Zeit.
Regensburg: Laaber-Verlag, 1994.
– Die derzeit ausgewogenste deutschsprachige Monographie; verbindet Biographie, Werkübersicht und kulturhistorischen Kontext der römischen Kirchenmusik.
Karl Gustav Fellerer: Palestrina. Leben und Werk.
Regensburg 1930; 2. Auflage Düsseldorf 1960.
– Klassische Studie des 20. Jahrhunderts, heute vor allem historiographisch bedeutsam.
Reinhold Schlötterer: Der Komponist Palestrina. Grundlagen, Erscheinungsweisen und Bedeutung seiner Musik.
Augsburg: Wißner-Verlag, 2002.
– Moderne Gesamtdarstellung der kompositorischen Prinzipien, besonders wertvoll wegen der detaillierten musikalischen Analysen.
Marco Della Sciucca: Giovanni Pierluigi da Palestrina.
Palermo: L’Epos, 2009.
– Italienische Monographie mit engem Bezug zu Quellen und italienischer Forschungstradition.
2. Stilistische und kontrapunktische Studien
Hier steht die Satztechnik Palestrinas im Vordergrund – besonders der vokale Kontrapunkt, der später zur Grundlage des sogenannten stile antico wurde.
Knud Jeppesen: Kontrapunkt. Lehrbuch der klassischen Vokalpolyphonie.
Leipzig 1935 (10. Aufl. Wiesbaden 1985).
– Die bis heute einflussreichste Analyse des Palestrina-Stils; Standardwerk der kontrapunktischen Forschung.
Christoph Hohlfeld / Reinhard Bahr: Schule musikalischen Denkens. Der Cantus-firmus-Satz bei Palestrina.
Wilhelmshaven: Florian Noetzel, 1994.
– Exakte Analyse des Umgangs mit Cantus-firmus-Strukturen.
E. Apfel: „Zur Entstehungsgeschichte des Palestrinasatzes.“
In: Archiv für Musikwissenschaft 14 (1957), S. 30–45.
– Klassische Studie zur Entwicklung seiner Satztechnik.
Reinhold Schlötterer: „Struktur und Kompositionsverfahren in der Musik Palestrinas.“
In: Archiv für Musikwissenschaft 17 (1960), S. 40–50.
– Prägnante Darstellung wichtiger kompositionstechnischer Prinzipien.
3. Palestrina in der musikalischen Rezeption des 17.–19. Jahrhunderts
Diese Literatur beleuchtet, wie Palestrinas Musik und Stil nach seinem Tod wahrgenommen, idealisiert oder instrumentalisiert wurde – besonders im Kontext der katholischen Reform und der cäcilianischen Bewegung.
J. Garratt: Palestrina and the German Romantic Imagination.
Cambridge 2002.
– Bedeutende Untersuchung zur romantischen Überhöhung und ideologischen Aneignung Palestrinas im 19. Jahrhundert.
M. Janitzek / W. Kirsch (Hrsg.): Palestrina und die klassische Vokalpolyphonie als Vorbild kirchenmusikalischer Kompositionen im 19. Jahrhundert.
Kassel 1995.
– Dokumentiert die Rezeption im 19. Jahrhundert, besonders bei Mendelssohn, Gounod und in der Kirchenmusikbewegung.
W. Kirsch: Das Palestrina-Bild und die Idee der „wahren Kirchenmusik“ im Schrifttum von ca. 1750 bis 1900.
Kassel 1999.
– Standardwerk zur Entstehung des Palestrina-Mythos.
Helmut Hucke: „Palestrina als Autorität und Vorbild im 17. Jahrhundert.“
In: Kongressbericht Venedig/Mantua/Cremona 1968, S. 253–261.
– Zeigt die frühe Autoritätsstellung Palestrinas in der römischen Kirchenmusik.
Wilhelm Osthoff: „Palestrina e la leggenda musicale di Pfitzner.“
In: Kongressbericht Palestrina 1986, S. 527–568.
– Analyse der Palestrina-Deutung in Pfitzners Musikdrama Palestrina.
4. Werkbezogene Spezialstudien
Forschungsliteratur zu einzelnen Gattungen oder Werkgruppen Palestrinas.
Johanna Japs: Die Madrigale von Giovanni Pierluigi da Palestrina. Genese – Analyse – Rezeption.
Augsburg: Wißner-Verlag, 2008.
– Bedeutende Studie zu den weltlichen Madrigalen.
Peter Ackermann: „Motette und Madrigal. Palestrinas Hohelied-Motetten im Spannungsfeld gegenreformatorischer Spiritualität.“
In: Festschrift W. Kirsch, Tutzing 1996, S. 49–64.
– Wichtig für das Verständnis des Canticum canticorum.
P. Besutti: „Giovanni Pierluigi da Palestrina e la liturgia mantovana.“
In: Kongressbericht Palestrina 1986, S. 155–164.
– Zentrale Studie zu den Mantuaner Messen.
H. Rahe: „Der Aufbau der Motetten Palestrinas.“
In: Kirchenmusikalisches Jahrbuch 35 (1951), S. 54–83.
– Frühe, strukturell orientierte Analyse.
R. J. Snow: „An Unknown ‘Missa pro Defunctis’ by Palestrina.“
In: Festschrift J. López-Calo, Santiago de Compostela 1990, S. 387–430.
– Quellenkundlich wichtige Studie zu einem lange übersehenen Requiem.
5. Hilfsmittel und Kataloge (für fortgeschrittene Recherche)
A. de Chambure: Palestrina. Catalogue des œuvres religieuses.
Paris 1989.
– Nützlich zur Orientierung in der Werküberlieferung.
Werkliste Palestrinas (nach Gattungen, Titelliste)
Im Werk Palestrinas gelten nur wenige Kompositionen als unsicher oder zweifelhaft. Besonders hervorzuheben sind die beiden Zyklen der Missa „L’homme armé“, die in älteren Quellen Palestrina zugeschrieben wurden, von der modernen Forschung jedoch weitgehend als nicht authentisch angesehen werden; sie entsprechen stilistisch eher späteren römischen Nachahmern. Ebenfalls problematisch ist die Messe über das „Stabat Mater“, die im Gegensatz zum authentischen gleichnamigen Motett nur in späten Quellen erscheint und vermutlich aus dem Mantua-Umfeld stammt. Leichte Zweifel bestehen zudem bei der Missa „O magnum mysterium“, die zwar gut in Palestrinas Stil passt, aber nur in uneinheitlichen Quellen überliefert ist, sowie bei der Missa „Veni sponsus angelorum“, die ebenfalls nur in späten Abschriften erscheint und dem römischen Kreis zugerechnet werden könnte.
Im Bereich der Motetten sind die bekannten Hauptwerke gesichert; unsicher sind lediglich einige abweichende Mantua-Fassungen, die in späteren Handschriften unter Palestrinas Namen erscheinen, aber stilistisch nicht immer eindeutig ihm zugeordnet werden können. Auch die gelegentlich Palestrina zugeschriebenen Ricercari für Orgel gelten heute als unecht, da sie weder stilistisch noch historisch überzeugend mit seinem Œuvre in Verbindung stehen. Schließlich existieren neben den beiden authentischen Litaneien einige weitere Fassungen in römischen Handschriften, deren Zuschreibung unklar bleibt und die vermutlich aus dem Umfeld seiner Schüler stammen. Insgesamt betrifft die Unsicherheit also nur eine kleine Gruppe von Werken, während der überwältigende Großteil des Palestrina-Katalogs als eindeutig authentisch gilt.
1. MESSEN (über 100 Werke)
Parodie-, Cantus-firmus- und freie Messen (Auswahl der überlieferten Titel)
A – C
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Missa Ad fugam
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Missa Alma redemptoris mater
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Missa Aeterna Christi munera
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Missa Assumpta est Maria
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Missa Benedicta es
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Missa Brevis
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Missa Cerva retrospiciens
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Missa Confitebor tibi Domine
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Missa Descendit Angelus Domini
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Missa Dum esset rex
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Missa Emendemus in melius
-
Missa Exultate Deo
-
Missa Face sanctissime vultus
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Missa Ferialis
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Missa Fratres ego enim accepi
G – L
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Missa Hodie Christus natus est
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Missa Iste confessor
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Missa Jam Christus astra ascenderat
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Missa Lauda Sion
-
Missa Laudate Dominum omnes gentes
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Missa L’homme armé (2 Zyklen zugeschrieben / umstritten)
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Missa Lumen ad revelationem gentium
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Missa Lux et origo
M – O
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Missa Mater Christi
-
Missa Nisi Dominus
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Missa O admirabile commercium
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Missa O beata Maria
-
Missa O bone Jesu
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Missa O magnum mysterium
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Missa O sacrum convivium
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Missa O salutaris hostia
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Missa O Virgo simul
P – S
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Missa Pange lingua
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Missa Pro defunctis (Requiem)
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Missa Regina caeli
-
Missa Salve Regina
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Missa Sicut lilium inter spinas
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Missa Sin nomine (mehrere ohne Titel)
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Missa Stabat Mater
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Missa Super Dominicales
T – Z
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Missa Tu es Petrus
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Missa Tua est potentia
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Missa Veni sponsa Christi
-
Missa Veni Creator Spiritus
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Missa Veni dilecte mi
-
Missa Veni Sancte Spiritus
-
Missa Veni sponsa Christi
-
Missa Venite exultemus Domino
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Missa Veni sponsus angelorum
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Missa Viri Galilaei
-
Missa Viridarium
2. MOTETTEN (über 250 Werke)
A – C
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Ad te levavi animam meam
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Adoramus te Christe
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Advenit ignis
-
Alma redemptoris mater
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Angelus Domini descendit
-
Assumpta est Maria
-
Ave Maria (mehrere Fassung)
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Ave verum corpus
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Beatus Laurentius
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Cantate Domino
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Confitemini Domino
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Christus factus est
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Canticum canticorum (kompletter Hohelied-Zyklus)
D – F
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De profundis
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Dilexi quoniam
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Dum complerentur
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Ego sum panis vivus
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Ego vos elegi
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Emendemus in melius
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Exaltabo te Domine
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Exsultate Deo
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Factum est silentium
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Fratres ego enim accepi
G – L
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Gaude Barbara
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Gaude Maria Virgo
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Gaudeamus omnes
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Habes quidem
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Hodie Christus natus est
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Illumina oculos meos
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In die tribulationis
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In domino confido
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In pulverem mortis
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Jesu nostra redemptio
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Laetatus sum
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Lauda Sion Salvatorem
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Locus iste
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Luminare Ierusalem
M – O
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Magnificat (35 Fassungen)
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Miserere mei, Deus
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Misit Dominus misericordiam
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Nigra sum sed formosa
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Nisi Dominus
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O admirabile commercium
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O bone Jesu
-
O magnum mysterium
-
O sacrum convivium
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O rex gloriae
P – S
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Peccantem me quotidie
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Puer natus est nobis
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Quem terra, pontus, sidera
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Regina caeli
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Sancta Maria, succurre miseris
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Sicut cervus
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Sicut lilium inter spinas
-
Surge amica mea
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Super flumina Babylonis
T – Z
-
Tu es Petrus
-
Tua est potentia
-
Veni Sancte Spiritus
-
Veni Creator Spiritus
-
Veni sponsa Christi
-
Viri Galilaei
3. OFFERTORIEN (Zyklus „Offertoria totius anni“, 68 Stück)
Nur häufig zitierte Titel:
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Ad te Domine levavi
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Benedictus es Domine
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Confirma hoc Deus
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De profundis
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Domine convertere
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Expectans expectavi
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Gloria et honore coronasti eum
-
Jubilate Deo universa terra
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Laetentur coeli
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Reges Tharsis
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Scapulis suis obumbrabit tibi
-
Tui sunt coeli
-
Vir erat in terra
4. HYMEN (72 Hymnen im Zyklus „Hymni totius anni“)
Beispiele:
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A solis ortus cardine
-
Aeterne rerum conditor
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Ave maris stella
-
Conditor alme siderum
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Exultet orbis gaudiis
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Jesu corona virginum
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Lucis creator optime
-
Pange lingua gloriosi
-
Te lucis ante terminum
5. MAGNIFICATS
(35 Versionen, häufig alternatim)
Beispiele:
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Magnificat primi toni
-
Magnificat secundi toni
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… bis
-
Magnificat duodecimi toni
6. LITANIEN
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Litaniae de Beata Virgine Maria
-
Litaniae Sanctissimae Trinitatis
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(weitere Fassungen in römischen Handschriften)
7. LAMENTATIONEN
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Lamentationes Jeremiae Prophetae (mehrere Lectiones für die Karwoche)
8. WELTLICHE MADRIGALE (2 Bücher)
Beispiele:
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Ahi, troppo saggia
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Amor, quando fioriva
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Aspro core e selvaggio
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Che fa oggi il mio sole?
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Io sono ferito
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Là ver l’aurora
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Non vidi mai dopo notturna pioggia
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Separarmi da te
9. GEISTLICHE MADRIGALE (2 Bücher)
Il primo libro de’ madrigali spirituali a cinque voci („Le Vergini“, 1581)
Vergine bella, che di sol vestita
Vergine saggia, e del bel numer’ una
Vergine pura
Vergine santa
Vergine sola al mondo
Vergine chiara e stabile in eterno
Vergine, quante lagrime ho già sparte
Vergine, tale è terra
Weitere Beispiele:
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Beati quorum via
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Deus canticum novum
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Domine, convertere
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O beata Maria
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Timor et tremor
10. SELTENE & UMSTRITTENE WERKE
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Ricercari für Orgel (Palestrina zugeschrieben)
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Missa L’homme armé (Autorschaft teilweise angezweifelt)
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Einzelne Motetten aus Mantua-Handschriften (z. T. späte Zuschreibungen)
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Missa Papae Marcelli
Die „Missa Papae Marcelli“ – Palestrinas Klangideal zwischen Kunst und Kirchenreform, in einer exemplarischen Interpretation durch The Tallis Scholars.
Wenn man die Geschichte der europäischen Vokalpolyphonie in einem einzigen Werk zusammenfassen müsste, dann bietet sich kaum ein Stück so selbstverständlich an wie die Missa Papae Marcelli. Sie ist zum Synonym für jenen erfundenen, aber wirkungsmächtigen Mythos geworden, nach dem Giovanni Pierluigi da Palestrina (1525–1594) das „Leben der Kirchenmusik“ gerettet habe, indem er dem Konzil von Trient demonstrierte, dass Mehrstimmigkeit und Textverständlichkeit einander nicht ausschließen müssen. Auch wenn die populäre Anekdote historisch nicht haltbar ist, trifft sie doch auf einer tieferen Ebene ins Zentrum dieses Werks. In kaum einer anderen Messe verbindet Palestrina seine melodische Reinheit, seine makellose kontrapunktische Logik und seine subtile rhetorische Gestaltung mit so viel Klarheit, Ruhe und innerer Leuchtkraft.
Komponiert wurde die Messe wahrscheinlich um die Mitte der 1560er Jahre, also zu einer Zeit, in der Palestrina bereits seine reife Meisterschaft erreicht hatte. Der Widmungsträger, Papst Marcellus II. (Marcello Cervini, 1501–1555), regierte nur 22 Tage vom 9. April bis zu seinem Tod am 1. Mai 1555., doch sein Name blieb untrennbar mit diesem Werk verbunden.
Palestrina gestaltete die sechsstimmige Anlage so, dass sie sich an entscheidenden Stellen zu dreistimmigen, vierstimmigen oder fünfstimmigen Feldern verengt und wieder öffnet – ähnlich einem lebendigen Atem, der die Textaussage formt und zugleich die Klangarchitektur übersichtlich hält. Die polyphone Textur wirkt dabei nie ausufernd; sie besitzt jenen Fluss, der das Hören nicht mühsam, sondern selbstverständlich erscheinen lässt. Jeder Satz steht in einem inneren Gleichgewicht von Linearität und Harmonie, das bis heute als Inbegriff des „Palestrina-Stils“ gilt.
https://www.youtube.com/watch?v=jQgaQ9fG-X4&list=OLAK5uy_nVfB1x8eoHjM0fmAVtdx7aH9bf1ImUsRc&index=53
Besonders deutlich zeigt sich diese ästhetische Balance im Kyrie. Die Linien fließen gelassen ineinander, ohne je ornamental zu wirken; die Bittrufe bleiben durchhörbar, wie in stiller Andacht auf Wort und Klang konzentriert. Im anschließenden Gloria und Credo öffnet sich die Struktur zu größeren, hymnischen Bögen. Palestrina entfaltet hier seine singuläre Fähigkeit, weite Textstrecken so zu gestalten, dass sie trotz polyphoner Dichte verständlich bleiben. Entscheidend ist die blockhafte Stimmführung, die Wechsel von homophonen Verdichtungen und imitatorischen Passagen sowie das Zurücknehmen der Polyphonie an theologisch entscheidenden Stellen – etwa beim „Et incarnatus est“ oder beim „Crucifixus“. Erst im „Et resurrexit“ bricht die Musik wieder in jubilierenden, raschen Bewegungen auf, ohne die innere Ruhe des Gesamtbildes zu stören. Das Sanctus besitzt eine fast architektonische Monumentalität, während die Benedictus-Passage durch ihre kammermusikalische Schlichtheit wirkt. Den Abschluss bildet das Agnus Dei, in dessen zweitem Teil Palestrina die Messe in einer kunstvollen siebten Stimme krönt, die wie ein überirdischer Lichtstrahl über dem Geflecht der übrigen Stimmen schwebt.
Eine der feinsten modernen Realisationen dieses Klangideals stammt von The Tallis Scholars unter der Leitung von Peter Phillips (* 1953). Ihre Interpretation ist durch jene unerschütterliche Klarheit und Transparenz geprägt, die das Ensemble seit Jahrzehnten auszeichnet. Die Stimmen sind makellos intoniert, extrem schlank geführt und so präzise aufeinander abgestimmt, dass die polyphonen Linien geradezu mikroskopisch deutlich hervortreten. Peter Phillips legt größten Wert auf strukturelle Nachvollziehbarkeit: Jeder Einsatz ist hörbar, jede Imitation klar identifizierbar, jede Wendung des Cantus firmus behutsam in das Gesamtgewebe integriert. Dabei wirkt die Musik nie akademisch, sondern trägt eine stille, geradezu kontemplative Intensität.
Die Stärke dieser Einspielung liegt auch im Umgang mit Klangfarben. Obwohl The Tallis Scholars traditionell ohne große vokale Wärme singen, entwickeln sie in dieser Messe eine erstaunliche Leuchtkraft. Der Klang ist nicht körperlich-massiv, sondern eher lichtdurchtränkt und schwebend, ein Ideal, das dem Palestrina-Stil besonders entspricht. In der ruhigen Akustik entsteht ein fein balancierter Raumklang, der Palestrinas kontrapunktische Architektur wie ein Glasfenster erstrahlen lässt: Jede Stimme hat ihre Farbe, doch sie bildet gemeinsam ein durchsichtiges, homogenes Ganzes.
Im Credo wirkt diese Durchhörbarkeit besonders eindrucksvoll. Die Textmassen, die in weniger kontrollierten Interpretationen leicht zu einem polyphonen Nebel werden können, bleiben hier wie in Stein gemeißelt, ohne dass der Fluss ins Stocken gerät. Beim „Crucifixus“ nehmen die Tallis Scholars den Klang so weit zurück, dass man fast den Atem der Sänger zu hören glaubt; das „Et resurrexit“ dagegen öffnet sich mit einem fein austarierten, aber keineswegs theatralischen Jubel. Auch das Agnus Dei II wird von Phillips mit jener Mischung aus innerer Spannung und äußerster Ruhe gestaltet, die diesem Satz seine dynamische Würde verleiht. Die zusätzliche siebte Stimme entfaltet sich wie eine lichte Aureole, vollkommen eingebettet in die Harmonie.
Diese Aufnahme zeigt exemplarisch, warum die Missa Papae Marcelli über Jahrhunderte hinweg als Muster einer idealen Kirchenpolyphonie galt. Sie demonstriert die Fähigkeit des Komponisten, aus denkbar einfachen melodischen Bausteinen ein Geflecht zu schaffen, das zugleich strahlend klar und strukturell höchst komplex ist. Und sie zeigt, wie modern Palestrinas Kunst in Wahrheit klingt: transparent, wortbezogen, räumlich gedacht, immer dem geistigen Gehalt verpflichtet.
Die Interpretation der Tallis Scholars erhebt dieses Werk nicht zu einer musealen Reliquie, sondern lässt es in jener stillen Größe erscheinen, die seine Zeitlosigkeit ausmacht. Man hört keine Rekonstruktion eines historischen Klangbilds, sondern einen bewusst gestalteten Idealton, der die Essenz des Palestrina-Stils freilegt: Reinheit der Linien, Ruhe der Bewegung, Präzision des Ausdrucks und ein geistiger Ernst, der in seiner Schlichtheit überwältigt.
Wenn man am Ende des Agnus Dei die Stimmen sich ineinander verflechten hört, entsteht jener Augenblick, in dem man ahnt, weshalb dieses Werk schon für die Musiker des 16. Jahrhunderts als Meisterstück galt. Die Missa Papae Marcelli ist in dieser Interpretation weniger ein liturgisches Objekt als ein musikalisches Gebet – kristallin, strahlend und zugleich zutiefst menschlich.
Die CD The Tallis Scholars sing Palestrina (The Tallis Scholars, Leitung Peter Phillips, 2 CDs, Gimell CDGIM 204, 2005) vereint ausschließlich Werke von Giovanni Pierluigi da Palestrina (1525–1594). Die zweite CD enthält zunächst die Lamentationen für den Karsamstag, die Missa brevis und schließt mit der Missa Papae Marcelli, die dort als Tracks 7 bis 11 vollständig (Kyrie, Gloria, Credo, Sanctus & Benedictus, Agnus Dei I und II) zu hören ist. Das Doppelalbum ist im Handel vergriffen, aber als digitales Album auf Spotify, Apple Music und YouTube problemlos zugänglich. In bestimmten YouTube-Uploads erscheint die Missa Papae Marcelli aufgrund einer durchlaufend nummerierten Gesamtplaylist nicht als Tracks 7 bis 11, sondern als Tracks 53 bis 66; diese Zählung entspricht jedoch der künstlichen Nummerierung der Playlist und nicht der originalen Struktur der Doppel-CD.
Zum Vergleich empfiehlt sich außerdem ein moderner Live-Mitschnitt mit dem Dresdner Kammerchor unter der Leitung von Hans-Christoph Rademann (* 1965), aufgenommen am 29. Mai 2021 im Dom zu Brixen. Der Chor präsentiert Kyrie, Gloria und Agnus Dei der Missa Papae Marcelli in einer lebendig artikulierten, wärmer gefärbten und räumlich eindrucksvollen Interpretation, die einen spannenden Kontrast zur idealisierten Studioklarheit der Tallis Scholars bildet.
https://www.youtube.com/watch?v=KSmT4VIjEtI
Missarum Liber primus und die 3 CDs Giovanni Pierluigi da Palestrina, Missarum Liber primus, Coro Polifonico dell’Accademia Nazionale di Santa Cecilia, Leitung Roberto Gabbiani, Fonè, 2003
Als Palestrina im Jahr 1554 den Missarum Liber primus veröffentlichen ließ, betrat er mit einem Schlag die Bühne der europäischen Kirchenmusik. Der Band, gedruckt bei Valerio Dorico (*um 1500 – † um 1565) und Papst Julius III. (1487– Papst vom 7. Februar 1550 bis 23. März 1555) gewidmet, war nicht nur ein Karriereinstrument, sondern ein musikalisches Manifest. Zum ersten Mal präsentierte sich ein römischer Kapellmeister mit einem in sich geschlossenen Zyklus großdimensionierter Messvertonungen, die bereits jene Eigenschaften erkennen lassen, die später als „Palestrina-Stil“ kanonisiert wurden: fließende melodische Linien, nahezu ideal proportionierte Imitation, völlige Durchhörbarkeit und die Balance zwischen liturgischer Würde und kompositorischer Phantasie. Der Liber primus markiert daher den Beginn jener Entwicklung, die die römische Polyphonie der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts prägen sollte – und er zeigt Palestrina bereits als reifen Meister, obwohl er erst um die dreißig Jahre alt war.
Die Einspielung des Coro Polifonico dell’Accademia Nazionale di Santa Cecilia unter Roberto Gabbiani (* 1954) stellt diese frühe Meisterschaft in ein Klangbild, das ausgesprochen römisch wirkt: warm, getragen, ohne jede Überzeichnung, zugleich klar genug, um die polyphone Architektur deutlich hervortreten zu lassen. Die Besonderheit der Produktion besteht darin, dass sie nicht in einer Kirche, sondern im großen Chorsaal des Auditorium Parco della Musica in Rom aufgenommen wurde, einem modernen Holzbau nach Entwurf von Renzo Piano (* 1937), dessen akustische Eigenschaften durch ihre Natürlichkeit, Wärme und strukturelle Klarheit bestechen. Die Aufnahmetechnik folgt einem radikal puristischen Ideal: keine Eingriffe, keine Entzerrung, kein künstlicher Nachhall, keine dynamische Bearbeitung, lediglich der analoge, röhrenbasierte Signalweg des sogenannten „Signoricci-Systems“, gespeist von historischen Neumann-Röhrenmikrofonen der Typen U47, U48 und M49. Aufgenommen wurde direkt in DSD-Stereo über einen Pyramix-Recorder mit dCS-Wandlern. Das Ergebnis ist eine klanglich außergewöhnlich unmittelbare, natürliche und transparente Darbietung, die Palestrinas Musik in einem selten erreichten Realismus erscheinen lässt.
Die fünf Messen des Bandes basieren sämtlich auf präexistenten Modellen, entweder Motetten oder Hymnen. In allen Fällen gelingt es Palestrina, den Geist der Vorlage zu bewahren und sie zugleich in ein souveränes, großflächiges Messdispositiv zu überführen.
Missa Ecce sacerdos magnus
Palestrina wählt hier ein festliches Graduale, das traditionell mit der Weihe und dem hohen Amt des Bischofs verbunden ist.
Graduale „Ecce sacerdos magnus“ (gregorianisch)
https://www.youtube.com/watch?v=4pLDDY5hzHs
Lateinischer Text
Ecce sacerdos magnus,
qui in diebus suis placuit Deo,
et inventus est iustus.
Non est inventus similis illi,
qui conservaret legem Excelsi.
Ideo iure iurando fecit illum Dominus crescere in plebem suam.
Deutsche Übersetzung
Siehe, ein großer Priester,
der in seinen Tagen Gott wohlgefiel
und als gerecht erfunden wurde.
Keiner ist ihm gleich,
der das Gesetz des Höchsten so treu bewahrte.
Darum ließ der Herr ihn kraft eines Eides
zu einem Segen für sein Volk heranwachsen.
Die Cantus-firmus-Melodie der Messe erscheint in langen Notenwerten, majestätisch und ruhig, oft wie ein musikalischer Pfeiler, an dem sich die übrigen Stimmen orientieren. Das Kyrie eröffnet mit einer fast monumentalen Statik, die sich im Gloria in einen breit strömenden Festcharakter verwandelt. Im Credo arbeitet Palestrina mit einer Mischung aus imitatorischer Dichte und klaren homophonen Kontrasten, wodurch die theologischen Kernaussagen besonders hervortreten. Das Sanctus, mit seinen schwebenden Oberstimmen und weit geöffneten Räumen, bildet einen Höhepunkt, bevor das Agnus Dei in tiefer, zeitloser Ruhe endet. Hier begegnet uns Palestrina als Baumeister sakraler Klangarchitektur, getragen von liturgischer Würde und innerer Leuchtkraft.
Missa Ecce sacerdos magnus, Disc 1, Tracks 1 bis 7:
https://www.youtube.com/watch?v=bZjD6V4HwII&list=OLAK5uy_k2X3aadOZrtB8_GoJJcAgY-9yqQJEf5IU&index=2
Missa O Regem coeli – Parodiemesse über die gleichnamige Marienmotette von Andreas de Silva (* um 1475 – † um 1522)
Andreas de Silva, Motette "O Regem coeli":
https://www.youtube.com/watch?v=iY90Hypy8d8
Lateinischer Text
O regem caeli, cui militat omnis creatura,
per quem cuncta sunt creata,
exora pro nobis Dominum.
O Maria, stella maris, mater Dei,
virgo semper intacta,
intercede pro nobis ad Dominum.
Deutsche Übersetzung
O König des Himmels, dem jedes Geschöpf dient
und durch den alles erschaffen wurde,
flehe für uns den Herrn an.
O Maria, Meerstern, Mutter Gottes,
immer unversehrte Jungfrau,
tritt für uns beim Herrn ein.
Die Vorlage ist eine Marienmotette von großem melodischen Reiz, dessen sanfte Aufwärtsbewegungen Palestrina fast wörtlich aufnimmt und in ein noch umfassenderes polyphones Gewebe setzt. Die Messe wirkt insgesamt heller, gesanglicher, beinahe tänzerisch. Das Gloria entfaltet ein geschmeidiges Nebeneinander von imitierenden und dialogischen Passagen. Das Credo überzeugt durch seine klare Binnenarchitektur, die besonders im „Et incarnatus est“ zu zarter Transparenz findet. Das Agnus Dei entfaltet eine fast instrumentale Leichtigkeit, bevor es sich in einem milden, lyrischen Schluss sammelt. Diese Messe zeigt Palestrinas Fähigkeit, aus der lyrischen Grundgeste einer Motette eine großräumige musikalische Erzählung zu formen.
Missa O Regem coeli, Disc 1, Tracks 8 bis 13:
https://www.youtube.com/watch?v=63agT3bs_hI&list=OLAK5uy_k2X3aadOZrtB8_GoJJcAgY-9yqQJEf5IU&index=8
Missa Virtute magna – Parodie über ein heute (!) Palestrina zugeschriebene, damals weit verbreitete Motette
Vierstimmige Motette Virtute magna von ? Mathieu Lasson (* um 1500 – † nach 1530):
https://www.youtube.com/watch?v=UOtXrbRzNNw
Lateinischer Text
Virtute magna reddebant apostoli
testimonium resurrectionis Iesu Christi Domini nostri,
et gratia magna erat in omnibus illis:
nec quisquam egens erat inter illos.
Quotquot enim possessores agrorum aut domorum erant,
vendentes afferebant pretia eorum quae vendebant,
et ponebant ante pedes apostolorum,
dividebatur autem singulis prout cuique opus erat.
Deutsche Übersetzung
Mit großer Kraft legten die Apostel
Zeugnis ab von der Auferstehung Jesu Christi, unseres Herrn,
und große Gnade ruhte auf ihnen allen;
und niemand unter ihnen litt Mangel.
Denn so viele Felder oder Häuser besaßen,
verkauften sie, brachten den Erlös
und legten ihn den Aposteln zu Füßen,
und jedem wurde zugeteilt, wie es ein jeder nötig hatte.
Die Vorlage prägt einen energischen, entschiedenen Grundton, den Palestrina in der Messe beibehält. Das Kyrie beginnt mit markanten Motiven und setzt unmittelbar eine gewisse Dringlichkeit frei. Die folgenden Sätze zeichnen sich durch die Kunst der dichten, aber stets transparenten Imitation aus. Besonders im Gloria und Credo entfaltet sich ein kontrapunktisches Geflecht, das sich schnell verdichtet, ohne je überladen zu wirken. Das „Et incarnatus est“ bildet einen Moment des Innehaltens, während die Kreuzigungsszene mit schwebenden, beinahe entmaterialisierten Harmonien gezeichnet wird. Das Agnus Dei führt alles in eine ruhigere, meditative Atmosphäre zurück. Diese Messe ist eine Demonstration polyphoner Energie, gebändigt durch Palestrinas unvergleichliche Kontrolle.
Missa Virtute magna, Disc 2, Tracks 1 bis 6, YouTube Tracks 14 bis 19:
https://www.youtube.com/watch?v=TjDzhySzoaA&list=OLAK5uy_k2X3aadOZrtB8_GoJJcAgY-9yqQJEf5IU&index=14
Missa „Gabriel Archangelus“ – Parodiemesse über die Motette zur Verkündigung
Philippe Verdelot (* nach 1480 – † nach 1530), Motette "Gabriel Archangelus":
https://www.youtube.com/watch?v=Sdq-PAIIbCo
Lateinischer Text
Gabriel archangelus apparuit Mariae
annuntians ei verbum:
Hail, Ave Maria,
gratia plena, Dominus tecum,
benedicta tu in mulieribus
et benedictus fructus ventris tui.
Deutsche Übersetzung
Der Erzengel Gabriel erschien Maria
und verkündete ihr das Wort:
Sei gegrüßt, Maria,
voll der Gnade, der Herr ist mit dir.
Gesegnet bist du unter den Frauen
und gesegnet ist die Frucht deines Leibes.
Hier entfaltet Palestrina einen leuchtenden, seraphischen Klang, der zum Thema der Verkündigung passt. Die Motette, selbst ein spielerisches Geflecht aus aufwärtsstrebenden Linien, bietet das Material für eine der strahlendsten Messen des Bandes. Das Kyrie öffnet sich in weit schwingenden Imitationen, das Gloria strahlt in festlicher Klarheit. Das Credo ist monumental und dennoch leicht, als würde der theologische Gehalt in lichtvolle Transparenz gehoben. Das Benedictus wirkt wie ein polyphones Duett über einem ruhenden Grund, während das Agnus Dei zu jenen vollkommen ausgewogenen, fast überirdisch ruhigen Abschlüssen gehört, die Palestrina besonders meisterlich gelingen. Diese Messe zeichnet ein Bild liturgischer Helle und geistiger Leichtigkeit.
Missa Gabriel Archangelus, Disc 2, Tracks 7 bis 12, YouTube Tracks 20 bis 25:
https://www.youtube.com/watch?v=R-ImZNNK8Kw&list=OLAK5uy_k2X3aadOZrtB8_GoJJcAgY-9yqQJEf5IU&index=20
Missa Ad coenam Agni providi – Cantus-firmus-Messe über die Osterhymnus
Osterhymnus „Ad coenam Agni providi“ (Osterhymnus, 7. Jahrhundert):
https://www.youtube.com/watch?v=c4fUFsOOKRE
Lateinischer Text
(klassische Fassung; im Mittelalter mit leichten Varianten)
Ad coenam Agni providi
stolis albis circumdati
post transitum maris Rubri
Christo canamus principi.
Cuius corpus sanctissimum
in ara crucis torridum,
sed et cruorem roseum
gustando Dei vivimus.
Protecti pascha transimus
Christo duce et credulus;
mandatum Dei novi ducis
dolet, quia vivit innoxius.
O consors paternae gloriae,
coaequalis coessentialis,
Spiritus sempiterne,
nos tua fove gratia.
Deutsche Übersetzung
Zum Mahl des göttlichen Lammes treten wir,
in weißen Gewändern umkleidet,
nach dem Durchzug durch das Rote Meer,
und singen Christus, unserem Fürsten.
Sein heiligster Leib,
am Kreuzaltar dargebracht,
und sein blutrotes Opfer
sind Speise, die uns das Leben Gottes schenkt.
Geschützt ziehen wir das Pascha hindurch,
geführt von Christus im Glauben;
sein neues Gebot verletzt die Welt,
weil er, der Unschuldige, lebt.
O du Gefährte der Herrlichkeit des Vaters,
gleich an Wesen und Macht,
heiliger, ewiger Geist,
behüte uns in deiner Gnade.
Die altkirchliche Osterhymne, deren Wurzeln bis in die Spätantike reichen, bildet den ruhenden Pol dieser Messe. Palestrina behandelt den Cantus firmus mit besonderer Ehrfurcht, lässt ihn in langen Notenwerten erscheinen und webt darum ein ruhiges, feierliches polyphones Gewand. Das Kyrie beginnt wie ein meditativer Nachklang der Passionszeit, doch bereits im Gloria macht sich die österliche Freude bemerkbar, die jedoch nie ins Überbordende kippt. Das Credo besticht durch klare Gliederung, wobei die zentralen dogmatischen Aussagen jeweils eigene musikalische Räume erhalten. Das Sanctus öffnet einen weit gewölbten Resonanzraum, und das Agnus Dei endet in einer Atmosphäre friedvoller Helle. Diese Messe verbindet archaische Strenge und moderne Polyphonie zu einer Einheit, die zeitlos wirkt.
Missa Ad coenam Agni providi, Disc 3, Tracks 1 bis 6, YouTube, Tracks 26 bis 31:
https://www.youtube.com/watch?v=9cUAWnM-Iv0&list=OLAK5uy_k2X3aadOZrtB8_GoJJcAgY-9yqQJEf5IU&index=26
Missa Nigra sum
Palestrinas Missa Nigra sum gehört zu jenen Messen, deren poetischer Kern in einer eigenen Motette des Komponisten liegt: Nigra sum sed formosa, ein Text aus dem Canticum Canticorum, dessen allegorische Deutung im Kontext der römischen Gegenreformation eindeutig marianisch geprägt ist. Die zarten, bildhaften Verse – „Nigra sum sed formosa, filiae Jerusalem; ideo dilexit me Rex et introduxit me in cubiculum suum…“ – beschreiben zunächst die Geliebte, zugleich aber, in der Liturgie des 16. Jahrhunderts, die makellose Schönheit und geistige Würde der Gottesmutter. Palestrina vertonte diese Zeilen in einer Motette von vornehmer, fast schwebender Eleganz, deren imitatorische Linienführung stets dem ruhigen Duktus des Textes folgt. Die Wendungen „Iam hiems transiit, imber abiit et recessit“ und „Surge amica mea et veni“ erscheinen wie zarte Lichtöffnungen: Der Winter ist vorüber, das neue Leben beginnt, und aus der Kontemplation erwächst Bewegung. Mit der Hinzufügung der Zeile „sancta Dei Genetrix, alleluia“ wird der Geist des Hohelieds eindeutig in die marianische Tradition überführt, sodass die Motette zugleich poetische Bildersprache und theologische Aussage wird.
Palestrina, Motette Nigra sum sed formosa:
https://www.youtube.com/watch?v=BjUJZyyPSTA
Lateinischer Text
Nigra sum sed formosa, filiae Jerusalem.
Ideo dilexit me Rex et introduxit me in cubiculum suum.
Iam hiems transiit, imber abiit et recessit.
Surge, amica mea, et veni.
Speciosa facta es
et suavis in deliciis tuis,
sancta Dei Genetrix.
Alleluia.
Deutsche Übersetzung
Ich bin dunkel, doch schön, ihr Töchter Jerusalems.
Darum hat mich der König geliebt und mich in sein Gemach geführt.
Schon ist der Winter vorüber, der Regen ist vergangen und verklungen.
Steh auf, meine Freundin, und komm.
Du bist schön geworden
und lieblich in deinen Anmutsgaben,
heilige Gottesgebärerin.
Halleluja.
Auf dieser Motette ruht die Missa Nigra sum, eine Parodiemesse, die kein direktes Zitieren kurzer Motiventlehnungen pflegt, sondern den Grundcharakter des Modells auf die einzelnen Messteile überträgt. Palestrina transformiert den lyrischen Ton des Hoheliedes in ein ausgesprochen ausgewogenes, gelöstes und transparentes Klangbild. Im Kyrie entfaltet er die charakteristische Weichheit der Motette, indem die Stimmen ohne Schärfe ineinander greifen und jeden imitatorischen Einsatz mit dem feinsten zeitlichen Abstand gestalten. Das Christe eleison wirkt wie eine zarte Überhöhung der ersten Anrufung und führt in das erneute, etwas gedrängtere Kyrie zurück, das den Satz zu einem ruhigen, symmetrischen Abschluss bringt.
https://www.youtube.com/watch?v=Rn7tREjCbXs
Das Gloria ist vergleichsweise licht und weit ausgebaut. Palestrina wahrt bei aller Komplexität eine durchsichtige Textführung: Die Anrufungen „Laudamus te“, „Benedicimus te“, „Adoramus te“ gehen in einer fließenden, nie rhetorisch aufgeladenen Bewegung ineinander über. Entscheidend ist, dass Palestrina die ausgedehnten Christustitel – „Domine Deus, Rex coelestis… Domine Fili unigenite…“ – nicht als dramatische Höhepunkte gestaltet, sondern als gleichmäßige Klangfelder, die sich über einem harmonisch stabilen Fundament entfalten. Die polyphonen Abschnitte lösen sich immer wieder in ruhig homophone Partien auf, insbesondere im abschließenden „Cum Sancto Spiritu“, das wie ein klarer, lichtvoller Schlussvorhang über der gesamten Textarchitektur liegt.
Das Credo zeigt Palestrina in seiner reifsten, architektonischen Denkweise. Der umfangreiche Text wird in größere, logisch gegliederte Abschnitte überführt. Das „Et incarnatus est“ erscheint – wie in vielen römischen Messvertonungen – als lyrisch verdichteter Ruhepunkt, ohne jedoch ins Expressive auszubrechen. Palestrina vermeidet bewusst jedes affektgeladene Profil, um den kontemplativen Charakter der Motette zu bewahren. Auch das „Et resurrexit“ hebt sich weniger durch dramatische Bewegung hervor als durch stilisierten Aufschwung in der Linienführung. Das gesamte Credo wirkt wie ein fern leuchtendes Fresko, in dem die theologische Fülle des Textes in polyphone Klarheit überführt wird.
Das Sanctus und das Benedictus greifen besonders deutlich auf die lyrische Atmosphäre des Hoheliedes zurück. Die Dreifach-Anrufung „Sanctus, Sanctus, Sanctus“ ist weit gespannt und frei von monumentaler Geste; stattdessen legt Palestrina ein fließendes, fast duftiges Klangband über den liturgischen Text. Im „Pleni sunt coeli“ treten sanfte, ausgewogene Imitationen hinzu, die im „Hosanna“ zu einem hellen, aber nie scharfen Klangkulminationspunkt zusammenfinden. Das Benedictus ist traditionell etwas schlanker gesetzt, hier jedoch von besonders kammermusikalischer Intimität – ein direkter Nachhall der Motette.
Das Agnus Dei bildet den geistigen Abschluss der Messe. Palestrina formuliert den ersten Teil – „Agnus Dei, qui tollis peccata mundi, miserere nobis“ – als ruhige Bitte von großer innerer Sammlung. Der zweite Agnus-Satz führt in eine noch freiere, melodisch weiter ausgezogene Linienführung, die schließlich in das abschließende „dona nobis pacem“ mündet. Dieser Friedensruf erhält kein pathetisches Gewicht, sondern bleibt – ganz im Sinne der marianischen Motette – eine stille, in sich ruhende Bitte.
Unter der Interpretation der Tallis ScholarsLeitung Peter Phillips (* 1953) erhält die Missa Nigra sum jene ideale klangliche Fassung, die sie benötigt, um ihre Feinheit vollkommen zu entfalten.
Die Transparenz der Stimmgruppen, die lichte Balance zwischen Soprantimbre und warmer Mittelstimme, die vollständig unangestrengte Linienführung und die völlige Durchhörbarkeit auch in dichterer Polyphonie lassen die Messe zu einem kontemplativen, schwebenden Ganzen werden. Die geistige Noblesse der Musik tritt in jeder Phrase hervor, und die lyrische Grundlage der Motette bleibt im gesamten Verlauf spürbar. Die Tallis Scholars realisieren Palestrinas Intention nicht als dramatische Entwicklung, sondern als einen ruhigen Aufstieg in lichtvolle Klarheit – und machen Missa Nigra sum zu einem Musterbeispiel dafür, wie römische Polyphonie klingen kann, wenn Disziplin, Reinheit und innerer Ausdruck vollkommen im Gleichgewicht stehen.
CD-Vorschlag
Giovanni Pierluigi da Palestrina, Missa Nigra sum, The Tallis Scholars, Leitung Peter Phillips (* 1997), Gimell, 1887:
https://www.youtube.com/watch?v=ZjtvxJaErpY
Stabat Mater
Giovanni Pierluigi da Palestrinas „Stabat Mater“ gehört zu seinen eindrucksvollsten und zugleich kultisch am tiefsten verankerten Kompositionen. Das Werk ist eine groß angelegte zweichörige Motette über den mittelalterlichen Sequenztext Stabat mater dolorosa, die Palestrina vermutlich für die Karfreitagsliturgie der päpstlichen Sixtinischen Kapelle schuf. Über viele Generationen hinweg wurde sie dort als ein streng gehütetes Repertoirestück ausschließlich am Karfreitag aufgeführt – so exklusiv, dass Abschriften lange Zeit verboten waren und das Werk bis ins 18. Jahrhundert hinein eine Aura des Geheimen bewahrte.
Obwohl Palestrinas Stabat Mater spätestens um 1560 innerhalb der päpstlichen Kapelle entstand und zunächst ausschließlich in deren Handschriften tradiert wurde, blieb es über zwei Jahrhunderte ein intern gehütetes Kultstück. Erst im 19. Jahrhundert gelangte das Werk in den allgemeinen musikalischen Umlauf: 1843 erschien die Motette in der Pariser Ausgabe Recueil des morceaux de musique ancienne, Band 1, Nr. 3, die eine der ersten gedruckten Fassungen bot und damit Palestrinas lange verborgenes Karfreitagsstück einer breiteren Öffentlichkeit erschloss.
Eine besonders eindrucksvolle moderne Interpretation bietet das Ensemble VOCES8, dessen Live-Aufführung die ruhige Erhabenheit des Werkes mit ätherischer Klarheit und feinsinniger Balance zwischen den beiden Chören verbindet. Die Transparenz ihres Klangs lässt Palestrinas harmonische Architektur in fast leuchtender Reinheit hervortreten und macht die geistliche Kontemplation dieser Motette unmittelbar erfahrbar.
https://www.youtube.com/watch?v=sLkLhZXCmmo
Palestrina wählt für diese Meditation über den Schmerz Marias unter dem Kreuz eine achtstimmige Besetzung in Doppelchören (SSAATTBB), deren dialogische Struktur den musikalischen Ausdruck maßgeblich prägt. Statt einer dichten, kontrapunktischen Polyphonie entfaltet sich das Werk überwiegend in großflächigen, akkordisch geführten Blöcken, die sich zwischen den beiden Chören hin- und herbewegen und so jene feierliche Ruhe und zeitlose Strahlkraft erzeugen, die oft als Inbegriff des „römischen Stils“ empfunden wird. Die Textdeklamation ist klar, wortgebunden und von einer eindringlichen Schlichtheit: Nicht emotionale Übersteigerung, sondern noble Zurückhaltung bestimmt den Ausdruck – ein kontemplativer, beinahe liturgischer Ernst, der dem Text seine eigene Würde lässt.
Charakteristisch für das Stabat Mater ist der Wechsel zwischen antiphonalen Momenten und homophonen Kulminationen, die sich langsam, aber unaufhaltsam verdichten. Besonders eindrucksvoll gestaltet Palestrina die Wendungen zu „dum pendebat filius“ und „dum emisit spiritum“: Die Harmonik öffnet sich hier für kurze Augenblicke, als würde sich ein Lichtstrahl über der statuarischen Oberfläche des Satzes brechen. Trotz aller äußeren Ruhe entsteht damit eine subtile dramatische Bewegung, die den Leidensweg Christi und den Schmerz der Gottesmutter in reiner Klangarchitektur erfahrbar macht.
Der Text wird nicht vollständig vertont, sondern in ausgewählten Strophen – ein für die Zeit typisches Vorgehen bei Sequenztexten, die Palestrina nicht als liturgisch bindenden Vortrag, sondern als geistliche Kontemplation behandelt. Der Schluss entfaltet eine besonders feine Transparenz, die sich in einer fast körperlosen, leuchtenden Harmonie auflöst und das Werk wie ein Gebet ausklingen lässt.
Palestrinas Stabat Mater ist damit weit mehr als eine Motette: Es ist ein Monument römischer Sakralmusik, eine klangliche Ikone des 16. Jahrhunderts, deren Würde, Schlichtheit und innere Glut zu den erhabensten Momenten der Renaissance-Polyphonie gehören. Bis heute zählt sie zu den meistbewunderten Kompositionen Palestrinas – ein Werk, das in seiner stillen Größe alle Moden überdauerte und den Karfreitagsgottesdiensten in Rom über Jahrhunderte ihren unverwechselbaren Ton verlieh.
Lateinischer Text (Palestrinas Fassung)
Stabat mater dolorosa
iuxta crucem lacrimosa,
dum pendebat Filius.
Cuius animam gementem,
contristatam et dolentem
pertransivit gladius.
O quam tristis et afflicta
fuit illa benedicta
Mater Unigeniti.
Quis est homo qui non fleret,
matrem Christi si videret
in tanto supplicio?
Pro peccatis suae gentis
vidit Iesum in tormentis
et flagellis subditum.
Eia Mater, fons amoris,
me sentire vim doloris
fac, ut tecum lugeam.
Fac ut ardeat cor meum
in amando Christum Deum,
ut sibi complaceam.
Amen.
Deutsche Übersetzung
Es stand die Mutter, voller Schmerzen,
weinend bei dem Kreuz der Schmerzen,
als dort hing ihr eigener Sohn.
Ihr Herz, so tief von Leid durchdrungen,
von Trauer schwer und Schmerz bezwungen,
durchbohrte einst das Schwert der Pein.
Wie bang, wie trostlos, wie verwundet
war diese Mutter, die im Bunde
den Eingebornen einst gebar.
Welch ein Mensch hält Tränen zurück,
sähe er in solchem Schmerz und Druck
die Mutter Christi vor sich stehen?
Für die Sünden ihres Volkes
sah sie Jesus, den ihr Teures,
gegeißelt, blutend, ganz gequält.
O Mutter, Quell der heil’gen Liebe,
lass mich fühlen deine Triebe,
deinen Schmerz mit dir beweinen.
Entzünde du in meinem Herzen
Liebe zu dem Herrn, der Schmerzen,
dass ich ihm immer wohlgefalle.
Amen.
CD Palestrina, Le Vergini, Madrigali Spirituali, Ave Regina Coelorum und Missa Ave Regina Coelorum, Ensemble Officium, Leitung Wilfried Rombach, Christophorus, 2001.
Der Titel der CD ist im theologischen Sinn zu verstehen und bezieht sich auf „Die Jungfrau– Marianische Madrigale“
Track 1: Vergine bella, che di sol vestita aus Palestrinas Il primo libro de’ madrigali spirituali a cinque voci („Le Vergini“, 1581)
Mit Vergine bella, che di sol vestita eröffnet Palestrina sein geistliches Madrigalbuch Le Vergini mit einem der erhabensten Texte des italienischen Humanismus. Die berühmte Marien-Canzone aus Petrarcas (1304–1374) Canzoniere (Nr. 366) bildet den poetischen Höhepunkt seines lyrischen Werks und steht am Ende einer langen inneren Wandlung: Nach dem Tod Lauras (Laura de Noves † 1348, eine verheiratete Adlige aus Avignon) richtet Petrarca seinen Blick nicht mehr auf die irdische Geliebte, sondern auf die Jungfrau Maria als himmlische Fürsprecherin und Quelle der Gnade.
Palestrina antwortet auf diesen überirdischen Text mit einer Musik von außergewöhnlicher Reinheit und Balance. Die Anfangsworte „Vergine bella, che di sol vestita“ entfalten sich in einer weit ausschwingenden, fast leuchtenden Polyphonie: Die Stimmen steigen wie in spiralförmigen Linien übereinander empor, als würden sie den Glanz des „mit Sonne bekleideten“ Bildes musikalisch nachzeichnen. Zugleich bleibt die Satztechnik vollkommen kontrolliert, ohne jede dramatische Effekthaftigkeit.
https://www.youtube.com/watch?v=r20Ly2n8zvw&list=OLAK5uy_n9otwYGqDQTCmn9wDB19t_TL-lTSFV8F0&index=1
Im Vers „amor mi spinge a dir di te parole“ zeigt sich die innere Spannung des Textes: Die menschliche Liebe treibt den Sprecher an, über Maria zu sprechen, doch zugleich fühlt er sich ihrer Würde nicht gewachsen. Palestrina gestaltet diesen Moment durch eine zarte, leicht zögernde Imitation, die sich langsam formt und erst nach und nach zu voller Klarheit findet.
Besonders eindrucksvoll ist der Abschnitt um „invoco lei che ben sempre rispose“: Die Polyphonie weitet sich zu einem warmen, fast offenen Klang, der die Zuversicht des Betenden spürbar macht. Die Musik berührt hier jene typisch palestrinische Mischung aus Askese und Leuchtkraft, in der die Stimmen vollkommen organisch ineinander übergehen.
Die zentrale Anrufung „Vergine, s’a mercede miseria estrema“ behandelt Palestrina mit besonderer Klarheit. Der Satz wird hier etwas ruhiger, die Linien bewegten sich enger, und die Harmonik gewinnt einen milden, bittenden Charakter. Der abschließende Flehruf „socorri alla mia guerra“ entfaltet sich in einer klanglichen Verdichtung, die jedoch nie pathetisch wirkt. Schließlich führt Palestrina die Polyphonie in einen zarten, fast schwebenden Ausklang, der den Blick des Betenden in die Höhe hebt – zu jener „Regina des Himmels“, die in Petrarcas Versen zum geistigen Gegenpol aller irdischen Unruhe wird.
Dieses Madrigal ist damit nicht nur der poetische Einstieg in den Zyklus Le Vergini, sondern ein Musterbeispiel für Palestrinas Fähigkeit, große humanistische Dichtung in reine, von stiller Glut erfüllte Polyphonie zu überführen.
Italienischer Originaltext
Vergine bella, che di sol vestita,
coronata di stelle, al sommo sole
piacesti sí che 'n te sua luce ascose,
amor mi spinge a dir di te parole:
ma non so 'ncominciar senza tua 'aita
e di colui ch'amando in te si pose
invoco lei che ben sempre rispose,
chi la chiamo con fede.
Vergine, s'a mercede
miseria estrema de l'umane cose
giá mai ti volse, al mio prego t'inchina;
socorri alla mia guerra,
ben ch'i' sia terra e tu del ciel regina.
Francesco Petrarca — Canzoniere 366
Deutsche Übersetzung
Schöne Jungfrau, die mit Sonne bekleidet
und mit Sternen gekrönt bist,
der du dem höchsten Licht so gefielst,
dass es in dir sein Strahlen barg,
die Liebe drängt mich, Worte über dich zu sprechen;
doch weiß ich nicht, wie ich beginnen soll
ohne deine Hilfe
und ohne den Beistand dessen,
der aus Liebe in dir Wohnung nahm.
Ich rufe sie an, die stets erhört,
wer sie im Glauben ruft.
Jungfrau, wenn je die äußerste Not
des menschlichen Geschicks
dein Erbarmen bewegt hat, so neige dich meinem Flehen;
steh mir bei in meinem Kampf,
auch wenn ich Erde bin und du die Königin des Himmels.
Track 2: Vergine saggia, e del bel numer’ una
Vergine saggia, e del bel numer’ una zählt zu den theologisch tiefsten Madrigalen des gesamten Zyklus Le Vergini. Der Text stammt aus dem weiten Feld der petrarkistischen Marienpoesie, doch ist seine Bildwelt besonders reich: Maria erscheint hier als eine der „vergini prudenti“ aus der Gleichniswelt des Evangeliums, zugleich aber als Schild gegen das Unheil, als Zuflucht für die Leidenden und als jene, deren Augen das Leid Christi aus nächster Nähe sahen.
Palestrina reagiert auf diese dichterische Verdichtung mit einer Musik von klarem geistlichen Charakter. Das Madrigal eröffnet mit einem ruhigen, edel gebauten Imitationssatz: Die Stimmen treten nach und nach ein, und jede wiederholt den Begriff „Vergine saggia“ mit sanfter Eindringlichkeit. Durch diese gestaffelte Bewegung entsteht der Eindruck einer weisen, lichtvollen Gestalt – ganz im Sinn des Textes.
https://www.youtube.com/watch?v=Hqn2EABbN2g&list=OLAK5uy_n9otwYGqDQTCmn9wDB19t_TL-lTSFV8F0&index=2
Im zweiten Versblock, „O saldo scudo de l’afflitte genti“, nimmt der Klang eine stärkere, festere Gestalt an. Die Stimmen verschränken sich enger, die Harmonien verdichten sich, ohne schwer zu werden. Palestrina zeichnet das Bild eines schützenden Schildes nicht mit dramatischem Impetus, sondern mit klanglicher Stabilität und ruhiger Kraft. Auffällig ist der Wechsel im musikalischen Duktus, sobald der Text von „Morte“ und „Fortuna“ spricht: Die Polyphonie wird bewegter, spürbar unruhiger, bevor sie sich im Bild des „trionfare“ wieder öffnet.
Besonders feinfühlig behandelt Palestrina die Zeile „O refrigerio al cieco ardor ch’avvampa“. Hier setzt er eine kühlere, glattere Harmonie ein, die dem „refrigerio“ – der Erfrischung, der geistlichen Kühlung – unmittelbar Klanggestalt gibt. Die Oberstimmen gleiten wie ein sanfter Hauch durch das polyphone Gewebe, während Tenor und Bass eine ruhige Grundlage schaffen.
Einen Höhepunkt erreicht das Madrigal mit den Worten „Vergine, que’ begli occhi, che vider tristi la spietata stampa ne’ dolci membri del tuo caro figlio“. Palestrina lässt hier die Stimmen enger rücken und schafft eine Klangfarbe von fast schmerzhafter Zärtlichkeit. Die Erinnerung an die Passion Christi erhält eine gefasste, stille Intensität, die durch die puren Intervalle der Stimmen getragen wird.
Der Schluss, „Volgi al mio dubbio stato, che sconsigliato a te vien per consiglio“, ist musikalisch besonders gelungen. Die Musik nimmt einen klaren, bittenden Ton an; kurze homophone Passagen verleihen den Worten größere Unmittelbarkeit, bevor sich die Polyphonie wieder zu einem sanften Fluss öffnet. Der Satz endet in einer vollkommen ruhigen, ausgeglichenen Kadenz – ein musikalisches Bild eines Betenden, der mit Ehrfurcht und Vertrauen vor die Jungfrau tritt.
Damit gehört Vergine saggia zu den kontemplativsten und zugleich kunstvollsten Madrigalen dieses Zyklus: ein feines Gleichgewicht aus Weisheit, Schutz, Erinnerung und Gebet, ideal gefasst in Palestrinas vokaler Reinheit.
Italienischer Originaltext
Vergine saggia, e del bel numer' una
De le beate vergini prudenti,
Anzi la prima e con più chiara lampa;
O saldo scudo de l'afflitte genti
Contra' colpi di Morte e di Fortuna,
Sotto 'l qual si trionfa, non pur scampa;
O refrigerio al cieco ardor ch'avvampa
Qui fra' mortali sciocchi:
Vergine, que' begli occhi,
Che vider tristi la spietata stampa
Ne' dolci membri del tuo caro figlio,
Volgi al mio dubbio stato,
Che sconsigliato a te vien per consiglio.
Deutsche Übersetzung
Weise Jungfrau, eine aus der schönen Schar
der seligen, klugen Jungfrauen,
ja vielmehr die erste und mit der hellsten Lampe;
o festes Schild der bedrängten Menschen
gegen die Schläge des Todes und des Schicksals,
unter dem man triumphiert und nicht nur entkommt;
o Erfrischung dem blinden Feuer, das hier
unter den törichten Sterblichen lodert:
Jungfrau, jene schönen Augen,
die traurig das grausame Mal
in den süßen Gliedern deines geliebten Sohnes sahen,
wende sie meinem zweifelnden Zustand zu,
der ohne Rat zu dir kommt, um Rat zu finden.
Track 3: Vergine pura
Mit Vergine pura, d’ogni parte intera vertont Palestrina einen der innigsten Texte des gesamten petrarkistischen Marienkosmos. Die Canzone 366, die berühmte Schlussdichtung des Canzoniere, ist ein Gebet an die Jungfrau Maria, in dem Petrarca die irdische Leidenschaft hinter sich lässt und in der geistlichen Versenkung Trost sucht. Palestrina begegnet diesem Text mit einer Musik von außergewöhnlicher Balance und Reinheit: Die fünf Stimmen bilden ein gleichmäßig atmendes, fließendes Klanggewebe, das den Übergang zwischen irdischer Klage und himmlischer Hoffnung unmittelbar hörbar macht.
https://www.youtube.com/watch?v=AEwrpNRt1WA&list=OLAK5uy_n9otwYGqDQTCmn9wDB19t_TL-lTSFV8F0&index=3
Das Madrigal beginnt mit einem sanften, aber festen Auftakt: Die Worte „Vergine pura“ entfalten sich in einem ruhigen, klaren Imitationssatz, der jede Stimme einzeln hervorhebt, bevor sich die Polyphonie verdichtet. Der Text fordert eine Musik, die weder theatralisch noch affektüberladen ist, sondern innerlich glüht. Palestrina erreicht das durch lange, kantable Linien und eine nahezu vollkommen ausbalancierte Harmonik. Die Worte „d’ogni parte intera“ erscheinen wie ein stiller Bogen, der die Einheit und Reinheit der angerufenen Gestalt musikalisch nachzeichnet.
Besonders eindrucksvoll ist die Stelle „del tuo parto gentil figlio e vero“, in der Palestrina die Kontemplation der göttlichen Menschwerdung durch eine klare, hell strahlende Textur hervorhebt. Die Linien steigen leicht an und öffnen den Satz, als würde der Blick des Betenden in die Weite des Himmels gehoben. Später, bei „Soccorri a la mia guerra“, verdichtet sich der Satz leicht, die Intervalle werden enger, und die Harmonik nimmt einen ernsteren Ton an. Die Musik spiegelt so den inneren Kampf des Dichters und dessen Bedürfnis nach Erlösung.
Der Schluss des Madrigals ist ein Muster an Palestrinas Fähigkeit zur subtilen Intensivierung. Die Worte „Fammi degno de la tua mercede“ gleiten in einem weich verschmelzenden Geflecht dahin, das sich wie ein Gebet in der Stille verliert. Keine großen Steigerungen, keine rhetorischen Ausbrüche – die Musik endet in jenem Zustand leuchtender Ruhe, der die tiefste Essenz der Marienfrömmigkeit Palestrinas darstellt.
Italienischer Originaltext
(Francesco Petrarca, Canzone 366)
Vergine pura, d’ogni parte intera,
del tuo parto gentil figlio e vero
Madre, ch’ogni altra in cielo onori e spera,
tu che se’ di bontade il sommo impero,
del mondo reggi e guiderdon, e mera
luce del ciel, e ‘l mio conforto e ‘l cero.
Soccorri a la mia guerra,
ben ch’io sia terra,
e tu del ciel regina;
fammi degno de la tua mercede
per ch’io possa salire in vita eterna.
Anmerkung: Palestrina vertont im Zyklus die üblichen Kürzungen der Canzone; dies ist der authentische Text der musikalischen Fassung.
Deutsche Übersetzung
Reine Jungfrau, in jeder Hinsicht unversehrt,
Mutter des sanften, wahren Sohnes,
dessen Geburt dich über alle im Himmel erhebt und hoffen lässt.
Du, die du im Reich der Güte am höchsten thronst,
du Lenkerin und Lohn der Welt, du reines
Licht des Himmels, mein Trost und meine Kerze in der Dunkelheit.
Komm mir in meinem Kampf zu Hilfe,
auch wenn ich nur Erde bin
und du die Königin des Himmels.
Mach mich würdig deiner Gnade,
damit ich zum ewigen Leben gelangen kann.
Track 4: Vergine santa
Mit Vergine santa, d’ogni grazia piena erreicht der Zyklus Le Vergini einen Moment von gläserner Reinheit und tiefer Andacht. Der Text, fest in der petrarkistischen Marienpoesie verwurzelt, entfaltet ein Gebet von seltener theologischer Klarheit: Maria wird als Mutter, Tochter und Braut zugleich angesprochen, als Brücke zwischen Himmel und Erde, als Mittlerin zwischen menschlicher Not und göttlicher Gnade. Für einen Komponisten wie Giovanni Pierluigi da Palestrina, dessen musikalisches Denken zutiefst von dieser marianischen Spiritualität geprägt ist, bot ein solcher Text ein ideales Feld für jene Art innerer Leuchtkraft, die seine geistlichen Madrigale kennzeichnet.
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Das Madrigal beginnt mit einer weit gespannten, gleichzeitig äußerst sanften Imitation. Die Worte „Vergine santa“ entfalten sich in einer klaren, ruhigen Linienführung, die einer liturgischen Antiphon nähersteht als einem weltlichen Madrigal. Trotz der poetischen italienischen Sprache bleibt die musikalische Haltung kontemplativ und streng kontrolliert. Die zweite Zeile, „Che per vera et altissima umiltate“, inspiriert Palestrina zu einer transparenten Stimmführung, die die Demut der Angerufenen in feinen, abwärts geführten Gesten reflektiert.
Besonders eindrucksvoll ist die Stelle „Tu partoristi il fonte di pietate“: Die Musik nimmt dort eine weich strahlende Farbe an, als würde das polyphone Gewebe selbst aufleuchten, um die Barmherzigkeit zu symbolisieren, von der der Text spricht. Der folgende Vers „E di giustizia il sol“ führt zu einer elegant aufsteigenden Bewegung in den Oberstimmen, die in ihrer Helligkeit fast wie ein musikalischer Sonnenaufgang wirkt. Hier zeigt Palestrina die Fähigkeit, poetische Bilder mit diskreter, aber äußerst wirkungsvoller musikalischer Rhetorik zu verbinden.
In der zentralen Zeile „Tre dolci e cari nomi hai in te raccolti“ verschmelzen die fünf Stimmen zu einer warmen, dichten Textur. Die Aufzählung der drei marianischen Titel – Mutter, Tochter, Braut – erhält durch die Verklammerung im Satz eine fast dogmatische Geschlossenheit. Der nachfolgende Abschnitt, „Vergine gloriosa, Donna del re“, wirkt wie ein leiser Moment der Erhebung: Die Harmonie wird weiter, die Linien öffnen sich, und ein Hauch von liturgischer Feierlichkeit durchzieht den Klangraum.
Das Madrigal schließt mit „Prego ch’appaghe il cor, vera beatrice“ in einer Atmosphäre stiller Einlösung. Die Stimmen gleiten in zarten, miteinander verschmelzenden Bewegungen aus, als würde das Gebet im Raum verharren, lange nachdem die Musik verklungen ist. Palestrina findet damit einen Schluss, der weder pathetisch noch dunkel wirkt, sondern in jener reinen, fast überirdischen Ruhe endet, die das Wesen seiner geistlichen Kunst ausmacht.
Italienischer Originaltext
Vergine santa, d'ogni grazia piena
Che per vera et altissima umiltate
Salisti al ciel, onde miei prieghi ascolti
Tu partoristi il fonte di pietate
E di giustizia il sol, che rasserena
Il secol, pien d'errori, oscuri e folti:
Tre dolci e cari nomi hai in te raccolti
Madre, figliuola, e sposa;
Vergine gloriosa
Donna del re che nostri lacci ha sciolti
E fatto 'l mondo libero e felice
Ne le cui sante piaghe
Prego ch'appaghe il cor, vera beatrice.
Deutsche Übersetzung
Heilige Jungfrau, voll jeder Gnade,
die du durch wahre und höchste Demut
zum Himmel aufgestiegen bist und so meine Bitten hörst.
Du hast die Quelle des Erbarmens geboren
und die Sonne der Gerechtigkeit, die erhellt
das Jahrhundert, dunkel, dicht und voller Irrtum.
Drei süße und kostbare Namen trägst du in dir vereint:
Mutter, Tochter und Braut.
Ruhmreiche Jungfrau,
Herrin des Königs, der unsere Fesseln gelöst
und die Welt frei und glücklich gemacht hat,
in dessen heiligen Wunden
ich bitte, dass Er mein Herz erfülle, wahre Selige.
Track 5: Vergine sola al mondo
Mit Vergine sola al mondo wendet sich Palestrina erneut einem der tiefsten und zugleich poetischsten Texte des marianischen Petrarkismus zu. Das Gedicht zeichnet Maria als einziges, unvergleichliches Wesen auf Erden, als himmlisches Ideal, das durch göttliche Schönheit, Reinheit und heilige Demut erhoben ist. Palestrina reagiert auf diese Worte mit einer Musik von feiner Durchsichtigkeit und inniger Wärme, die das Madrigal zu einem der geistlichsten Momente des gesamten Zyklus macht.
https://www.youtube.com/watch?v=5U419sPUgtE&list=OLAK5uy_n9otwYGqDQTCmn9wDB19t_TL-lTSFV8F0&index=5
Der Beginn des Madrigals – „Vergine sola al mondo senza esempio“ – erklingt in einer ruhigen, edel fließenden Imitationsbewegung. Die Stimmen setzen nacheinander ein, wie ein Blick, der in die Tiefe des Raumes wandert, und verleihen der Aussage über Marias Einzigartigkeit eine kontemplative Weite. Die Musik vermeidet jede übermäßige Expressivität; stattdessen schafft Palestrina eine Atmosphäre stiller Erhebung, die von einer vollkommenen Kontrolle der polyphonen Linien lebt.
Besonders eindrucksvoll ist die musikalische Gestaltung der Worte „santi penseri, atti pietosi et casti“: Die fünf Stimmen verweben sich zu einer hellen, fast schwerelos wirkenden Textur, in der Reinheit und Hingabe unmittelbar erfahrbar werden. Diese Stelle bildet einen der lichtesten Momente des Madrigals und wirkt wie ein musikalisches Bild jener Heiligkeit, von der der Text spricht. Danach wechselt Palestrina zu einer etwas dichteren, wärmeren Harmonik, wenn von der „feconda verginità“ die Rede ist. Dieser scheinbare Widerspruch – jungfräuliche Reinheit und fruchtbare Gnade – wird nicht dramatisch hervorgehoben, sondern durch eine leicht verdichtete Polyphonie subtil ins Klingen gebracht.
Der Mittelteil des Stücks – „Per te pò la mia vita esser ioconda“ – zeigt Palestrinas besondere Fähigkeit, Text und Musik in eine innige Einheit zu bringen. Die Linien öffnen sich, die Musik hellt sich auf, und das Klangbild wirkt wie ein sanftes Aufblühen, das den Hoffnungston dieser Bitte widerspiegelt. Die Anrufung „Vergine dolce et pia“ erscheint in einer ruhigen Homophonie, die wie ein kurzer Moment klarer, fast liturgischer Aussage wirkt. Unmittelbar darauf zieht die Polyphonie wieder fein an und lässt die Bitte „dove ‘l fallo abondò, la gratia abonda“ mit warm leuchtender Harmonie ausklingen.
Im Schlussbereich – „Con le ginocchia de la mente inchine“ – verleiht Palestrina dem Bild des inneren Kniefalls durch eine sanfte Abwärtsbewegung der Stimmen eine meditative Geste. Der Satz endet in einem Zustand stiller Konzentration: Die fünf Stimmen führen den Hörer an einen Punkt der Sammlung, an dem Bitte, Demut und Gnade in einem klanglichen Gleichgewicht ruhevoll verschmelzen. Kein Pathos, keine Schärfe – nur reine, durchgeistigte Polyphonie, die das Wesen dieses gesamten Zyklus prägt.
Italienischer Originaltext
Vergine sola al mondo senza exempio,
che 'l ciel di tue bellezze innamorasti,
cui né prima fu simil né seconda,
santi penseri, atti pietosi et casti
al vero Dio sacrato et vivo tempio
fecero in tua verginità feconda.
Per te pò la mia vita esser ioconda,
s'a' tuoi preghi, o Maria,
Vergine dolce et pia,
ove 'l fallo abondò, la gratia abonda.
Con le ginocchia de la mente inchine,
prego che sii mia scorta,
et la mia torta via drizzi a buon fine.
Deutsche Übersetzung
Jungfrau, einzig auf der Welt und ohne Beispiel,
du, die den Himmel durch deine Schönheit entflammt hat,
der keine vorher ähnlich war, noch eine zweite folgen wird.
Fromme Gedanken, göttliche und keusche Taten
haben dich zum geweihten, lebendigen Tempel
des wahren Gottes gemacht und deine Jungfräulichkeit fruchtbar.
Durch dich kann mein Leben froh werden,
wenn du auf meine Bitten hörst, o Maria,
du süße und fromme Jungfrau,
wo die Schuld überreich war, möge die Gnade überreich werden.
Mit den Knien meines Geistes gebeugt
bitte ich, dass du meine Führerin seist
und meinen verirrten Weg zu einem guten Ziel lenkst.
Track 6: Vergine chiara e stabile in eterno
Mit Vergine chiara e stabile in eterno erreicht Palestrinas Zyklus Le Vergini einen der eindringlichsten Momente: Das Gedicht zeichnet Maria als „stella dei naviganti“, als verlässlichen Stern am nächtlichen Himmel, der dem Schiffbrüchigen im Meer der Welt den Weg weist. Dieses Bild, das in der spätmittelalterlichen und humanistischen Mariendichtung von zentraler Bedeutung ist, bietet Palestrina eine Fülle an musikalischen Möglichkeiten, die er mit seiner unvergleichlichen Fähigkeit zu klanglicher Reinheit und psychologischer Feinheit nutzt.
https://www.youtube.com/watch?v=71dC7kkg3Kk&list=OLAK5uy_n9otwYGqDQTCmn9wDB19t_TL-lTSFV8F0&index=6
Schon der eröffnende Vers, „Vergine chiara e stabile in eterno“, wird mit einer leisen, weit atmenden Imitation behandelt: Die Stimmen steigen klar und ruhig an, als wollten sie jene Unerschütterlichkeit nachzeichnen, die der Text preist. Die Musik wirkt nicht streng oder monumental; vielmehr legt Palestrina einen schimmernden, ruhigen Klang über den gesamten Satz, der den Eindruck eines beständigen, himmlischen Lichtes erweckt.
Die zweite Zeile, „Di questo tempestoso mare, stella“, gehört zu den poetischsten Stellen der ganzen Sammlung. Palestrina malt das Bild des sturmgepeitschten Meeres nicht mit dramatischen musikalischen Gesten aus, sondern durch eine leichte Verdichtung der Stimmen. Die Polyphonie wird feiner und bewegter, die Intervalle enger, sodass die Musik wie von einem leisen inneren Beben durchzogen scheint. Auf das Wort „stella“ hingegen öffnet sich der Satz, und ein kurzer, fast aufleuchtender Moment markiert die himmlische Verlässlichkeit der Jungfrau.
Besonders eindrucksvoll ist die Passage „I’mi ritrovo, sol, senza governo“: Der Satz wird hier etwas schmaler und intimer geführt, als spiegele die Musik den Zustand eines Menschen wider, der sich schutzlos im Chaos wiederfindet. Palestrina hält die emotionale Intensität dabei stets in der Schwebe – nie grell, nie opernhaft, sondern voll stiller, schmerzhafter Schönheit. Die Bitte „Ma pur in te l’anima mia si fida“ erhält daraufhin eine wärmere, rundere Harmonik: Die Stimmen legen sich enger aneinander, wie ein innerer Trost, der sich behutsam einstellt.
In den Zeilen „Peccatrice, i’no’l nego, Vergine; ma ti prego“ tritt die Demut des Sprechers stark hervor. Palestrina kleidet diesen Moment in eine Homophonie von bemerkenswerter Klarheit: Keine Verzierungen, keine Polyphonie, nur ein einziger, aufrichtiger chorischer Satz, der die Aufrichtigkeit des Geständnisses betont. Danach nimmt die Polyphonie wieder sanft Fahrt auf und führt zum eindringlichen Ende.
Der Schluss – „Prender Dio … umana carne al tuo virginal chiostro“ – ist einer der lichtesten Momente des Madrigals. Hier öffnet Palestrina den Klang wie ein Fenster: Das Wunder der Menschwerdung erscheint nicht in überwältigender Pracht, sondern in schlichter, lumineszenter Reinheit. Die Stimmen sinken schließlich in einem ruhigen, versöhnlichen Ausklang zusammen. Es ist der Klang eines Gebets, das im Vertrauen endet – und damit das Wesen des gesamten Zyklus berührt.
Italienischer Originaltext
Vergine chiara e stabile in eterno,
Di questo tempestoso mare, stella,
D’ogni fedel nocchier fidata guida;
Pon’ mente in che terribile procella,
I’mi ritrovo, sol, senza governo,
Ed ho già da vicin l’ultime strida.
Ma pur in te l’anima mia si fida;
Peccatrice, i’no’l nego,
Vergine; ma ti prego
Che’l tuo nemico del mio mal non rida.
Ricorditi che fece il peccar nostro
Prender Dio, per scamparne,
Umana carne al tuo virginal chiostro.
Deutsche Übersetzung
Reine Jungfrau, klar und ewig unverrückbar,
Stern dieses stürmischen Meeres,
zuverlässige Führerin eines jeden treuen Steuermanns;
sieh, in welcher schrecklichen Windflut
ich mich wiederfinde, allein, ohne Leitung,
und schon höre ich aus der Nähe die letzten Schreie.
Doch dennoch vertraut dir meine Seele;
ich bin eine Sünderin, ich leugne es nicht,
Jungfrau – doch flehe ich dich an,
dass dein Feind nicht über mein Elend lache.
Gedenke dessen, dass unsere Sünde
Gott dazu brachte, um uns zu retten,
menschliches Fleisch in deinem jungfräulichen Schoß anzunehmen.
Track 7: Vergine, quante lagrime ho già sparte
Vergine, quante lagrime ho già sparte gehört zu den eindringlichsten und existenziellsten Stücken des gesamten Zyklus Le Vergini. Der Text, tief in der Tradition der spätmittelalterlichen Buß- und Marienfrömmigkeit verwurzelt, verbindet persönliche Lebensklage mit der Bitte um Rettung in der letzten Stunde. Die autobiographisch anmutende Zeile „Da poi ch’i’ nacqui in su la riva d’Arno“ lässt auf eine toskanische, petrarkistische Herkunft schließen; zugleich gestaltet Palestrina diesen Text in einer Weise, die ihn aus der literarischen Sphäre herausholt und in reine geistliche Kontemplation überführt.
https://www.youtube.com/watch?v=6GUT3iwwbRA&list=OLAK5uy_n9otwYGqDQTCmn9wDB19t_TL-lTSFV8F0&index=7
Das Madrigal beginnt mit einer der klagendsten Eröffnungen der Sammlung. Die Worte „Vergine, quante lagrime ho già sparte“ trägt Palestrina in einer engen, aber nicht düsteren Polyphonie vor. Die Stimmen beginnen in einem suchenden, unruhigen Wechselspiel, das den Eindruck von Tränen und vergeblichen Bitten unmittelbar hörbar macht. Diese Musik klagt nicht laut, sie zerfließt nicht in Chromatik; sie wirkt wie eine innere, stille Erschütterung, die in einem gläsernen Klang festgehalten ist.
Die folgenden Zeilen – „quante lusinghe et quanti preghi indarno“ – sind musikalisch besonders fein gearbeitet. Palestrina lässt die Imitationen dichter werden, wobei die Oberstimmen kurze, seufzerartige Abwärtsbewegungen beschreiben. Das Wort „indarno“ erhält eine leichte Verzögerung, als wollte die Musik selbst zeigen, wie fruchtlos jene alten Bitten waren. Dann öffnet sich der Satz plötzlich zu einem weiter gefassten Klangraum, wenn die Lebensklage beginnt: „Da poi ch’i’ nacqui in su la riva d’Arno“. Hier wirkt die Musik wie eine Erinnerung, weich, etwas entrückt, fast lyrisch.
Im Mittelteil – „non è stata mia vita altro ch’affanno“ – nimmt der Satz eine größere Ernsthaftigkeit an. Die Stimmen rücken enger zusammen, die Harmonik wird dunkler. Das Madrigal trägt nun den Charakter eines stillen „miserere mei“. Besonders ausdrucksvoll ist die Stelle „Mortal bellezza, atti et parole m’hanno tutta ingombrata l’alma“: Hier legt Palestrina die Stimmen etwas höher, die Klangfarbe wird schärfer, und die Polyphonie wirkt wie eine Verdichtung des inneren Chaos.
Die zentrale Bitte „Vergine sacra et alma“ erscheint dann in einer überraschenden, aber typisch palestrinischen Wendung: Die Polyphonie tritt einen Schritt zurück, und ein ruhiger homophoner Moment gibt dem Flehen Klarheit und Gewicht. Diese Stelle wirkt wie eine der seltenen Stellen, an denen im Zyklus die individuelle Stimme des Betenden für einen Augenblick aus dem polyphonen Strom hervortritt.
Der Schluss – „non tardar, ch’i’ son forse a l’ultimo anno…“ – führt das Madrigal in eine Atmosphäre stiller Endlichkeit. Palestrina lässt hier die Musik gleichmäßig ausschwingen, die Linien sinken sanft, und die Stimmen verlieren sich in einer feinen, resignativen Ruhe. Die letzten Worte „son sen’ andati, et sol Morte n’aspetta“ werden nicht dramatisiert; sie stehen in einer schlichten, ernsten Klarheit. Es ist der Klang eines Menschen, der auf sein Ende blickt – und zugleich in Maria die letzte Zuflucht erkennt.
Italienischer Originaltext
Vergine, quante lagrime ho già sparte,
quante lusinghe et quanti preghi indarno,
pur per mia pena et per mio grave danno!
Da poi ch'i' nacqui in su la riva d'Arno,
cercando or questa et or quel'altra parte,
non è stata mia vita altro ch'affanno.
Mortal bellezza, atti et parole m'hanno
tutta ingombrata l'alma.
Vergine sacra et alma,
non tardar, ch'i' son forse a l'ultimo anno.
I dí miei più correnti che saetta
fra miserie et peccati
son sen' andati, et sol Morte n'aspetta.
Deutsche Übersetzung
Jungfrau, wie viele Tränen habe ich schon vergossen,
wie viele Schmeicheleien und wie viele Bitten vergebens,
und all dies nur zu meinem Schmerz und meinem großen Verlust!
Seit ich an den Ufern des Arno geboren wurde,
suchte ich bald hier, bald dort,
und mein Leben war nichts als Mühsal.
Sterbliche Schönheit, Taten und Worte
haben meine Seele ganz verwirrt und belastet.
Heilige und erhabene Jungfrau,
zögere nicht, denn vielleicht bin ich im letzten Jahr.
Meine Tage, rascher als ein Pfeil,
sind in Elend und Sünde
dahin gegangen, und nur der Tod erwartet mich.
Track 8: Vergine, tale è terra
Im achten Madrigal des Zyklus Le Vergini begegnet Palestrina einem Text von außergewöhnlicher innerer Zerrissenheit: Der Sprecher schildert ein Herz, das von Schmerz niedergebeugt und von unzähligen Leiden überwältigt ist. Trotz dieser finsteren Grundstimmung bleibt das Madrigal weit entfernt von dramatischer Überzeichnung. Palestrina wählt eine zurückhaltende, fast spirituelle Klangsprache, die den seelischen Zustand nicht ausmalt, sondern in ein Geflecht feinster klanglicher Linien überführt.
https://www.youtube.com/watch?v=zJWC9zjdCko&list=OLAK5uy_n9otwYGqDQTCmn9wDB19t_TL-lTSFV8F0&index=8
Der Beginn – „Vergine, tale è terra, et posto à in doglia lo mio cor“ – wird in einem engen, aber ruhigen Imitationssatz entfaltet. Die Stimmen steigen in leicht verschobenen Einsätzen ein, als spiegelten sie die Unruhe eines Herzens, das „in Schmerz gesetzt“ wurde und im Weinen verharrt. Bemerkenswert ist dabei die Transparenz der Polyphonie: Zwischen den Stimmen bleibt genügend Raum, sodass das Leid nicht als drückende Last, sondern als innere, gedämpfte Schwere hörbar wird.
Die zentrale Klage „et de mille miei mali un non sapea“ setzt Palestrina mit einer fast tastenden Harmonik in Szene. Die Musik wirkt hier wie ein zögernder, nach innen gerichteter Schritt, bevor sie sich zu einer weiteren, fließenderen Phrase öffnet. Auf den folgenden Vers „fôra avenuto, ch'ogni altra sua voglia era a me morte“ reagiert die Musik mit einer leichten Verdichtung; die Linien bewegen sich enger, fast bedrängend, als klänge ein Schatten durch die Polyphonie.
Mit der Anrufung „Or tu donna del ciel, tu nostra dea“ kommt es zu einem Wechsel der musikalischen Ebene. Die Musik lichtet sich, die Harmonie gewinnt eine klare, ruhige Weite. Diese Stelle besitzt eine stille Würde: Der Beter wendet sich vom eigenen Schmerz ab und richtet den Blick in die Höhe. Palestrina nutzt kurze homophone Einsprengsel, um den Text deutlicher hervortreten zu lassen, bevor er wieder zur fein gewebten Polyphonie zurückkehrt.
Die Worte „Vergine d’alti sensi“ tragen eine besondere Zartheit. Palestrina führt die Stimmen hier in einem beinahe schwebenden Satz, der die „hohen Sinne“ der Jungfrau in musikalischer Reinheit nachzeichnet. Noch eindrücklicher wird die Schlussbitte: „por fine al mio dolore; ch'a te honore, et a me fia salute“. Während der Beter um ein Ende seines Schmerzes fleht, bleibt die Musik vollkommen ausgewogen, ohne Pathos, ohne ruckartige Steigerungen. Der Satz endet in einer ruhigen, fast versiegelten Klarheit – ein Klang, der wie ein stilles Echo eines aufrichtigen Gebets wirkt.
Damit gehört Vergine, tale è terra zu den kontemplativsten Stücken des Zyklus: ein Madrigal, das Schmerz, Bitte und Vertrauen in ein polyphones Gleichgewicht bringt, das sich nur Palestrina in dieser Vollendung zutraut.
Italienischer Originaltext
Vergine, tale è terra, et posto à in doglia
lo mio cor, che vivendo in pianto il tenne
et de mille miei mali un non sapea:
et per saperlo, pur quel che n'avenne
fôra avenuto, ch'ogni altra sua voglia
era a me morte, et a lei fama rea.
Or tu donna del ciel, tu nostra dea
(se dir lice, e convensi),
Vergine d'alti sensi,
tu vedi il tutto; e quel che non potea
far altri, è nulla a la tua gran vertute,
por fine al mio dolore;
ch'a te honore, et a me fia salute.
Deutsche Übersetzung
Jungfrau, so ist die Erde, und in Schmerz
hat sie mein Herz gesetzt, das, im Weinen lebend,
fest daran gebunden blieb
und von tausend Leiden nicht eines erkannte.
Und hätte es eines erkannt, wäre doch
geschehen, was geschah, denn jeder andere Wunsch
war mir der Tod und ihr ein Makel.
Doch du, Herrin des Himmels, du, unsere Göttliche
– wenn man so sagen darf und es sich geziemt –,
Jungfrau von hohen Sinnen,
du siehst das Ganze, und was kein anderer vermochte,
ist nichts vor deiner großen Tugend:
setzt meinem Schmerz ein Ende;
denn dir wird es Ehre, und mir wird es Heil sein.
Palestrinas Missa Ave Regina Caelorum gehört zu jenen späten Parodiemessen, in denen der Komponist die gesamte Kunst seiner ausgereiften Polyphonie entfaltet. Sie basiert auf der gleichnamigen Marienantiphon Ave Regina Caelorum, deren Melodie und harmonische Konturen Palestrina nicht lediglich zitiert, sondern in einem fein gesponnenen Netz aus motivischen Verwandlungen, imitatorischen Linien und strukturellen Verdichtungen verarbeitet.
Palestrinas Motette Ave Regina coelorum gehört zu jenen Marienantiphonen, die im liturgischen Jahreskreis im Zeitraum zwischen der Darstellung des Herrn und dem Gründonnerstag gesungen wurden. Sie stammt aus Palestrinas reifem Schaffen und zeigt eindrucksvoll die Balance zwischen majestätischer Linienführung und einer inneren Sammlung, die sich besonders in seinen marianischen Werken entfaltet. Für die spätere Missa Ave Regina Coelorum dient sie als thematische Grundlage; hier aber steht sie als eigenständige geistliche Komposition, die den Antiphontext in einem Geflecht aus edler, durchsichtiger Polyphonie auslegt.
Track 9: Motette Ave Regina caelorum
https://www.youtube.com/watch?v=ckmzcomRxP0&list=OLAK5uy_n9otwYGqDQTCmn9wDB19t_TL-lTSFV8F0&index=9
Die Motette eröffnet mit einem hellen, weit ausschwingenden Ave, das in allen Stimmen erscheint. Diese einladende Geste prägt den gesamten Satz: Die Musik wirkt wie ein sanfter Aufblick zur himmlischen Königin. Palestrina verwendet kleine motivische Bausteine, die zwischen den Stimmen wandern und dabei eine ruhige, fast schwerelose Bewegung erzeugen. Die Harmonik bleibt geschmeidig, ohne überraschende Wendungen, aber stets ausdrucksvoll genug, um die unterschiedlichen Gebetsanrufungen zu spiegeln.
Besonders eindrucksvoll ist die Passage Gaude gloriosa, in der die Musik deutlich strahlender wird, jedoch ohne opernhafte Gebärden. Palestrina verstärkt durch homophone Einschübe den Eindruck eines feierlichen Chorgesangs, bevor er wieder zur fließenden Polyphonie zurückkehrt. Im Abschnitt Vale, o valde decora findet sich ein Moment inniger Zartheit: Die Stimmen werden enger geführt, die Intervalle kleiner, und die Musik nimmt einen milden, fast persönlichen Ton an, als ob das Gebet unmittelbar aus dem Herzen des Betenden käme.
Am Ende, bei Et pro nobis Christum exora, öffnet sich die Harmonie nochmals. Hier setzt Palestrina ein leises Crescendo nicht im dynamischen Sinne, sondern in der Dichte der Polyphonie: Die Stimmen wandern in feinsten Abstufungen aufeinander zu, bis die Bitte um Fürsprache in einem würdevoll gebündelten Schluss mündet. Der Satz endet weder pathetisch noch triumphal, sondern in einem hoch konzentrierten, klaren Klangbild, das aus innerer Frömmigkeit heraus wirkt.
So bildet die Motette nicht nur die Vorlage für die spätere Messe, sondern auch ein vollkommenes Beispiel für die kontemplative, ausgeglichene und doch innig glühende Marienverehrung, die Palestrinas Musik in einzigartiger Weise prägt.
Lateinischer Text
Ave, Regina caelorum,
ave, Domina angelorum.
Salve, radix, salve, porta
ex qua mundo lux est orta.
Gaude, virgo gloriosa,
super omnes speciosa.
Vale, o valde decora,
et pro nobis Christum exora.
Deutsche Übersetzung
Sei gegrüßt, Königin des Himmels,
sei gegrüßt, Herrin der Engel.
Sei gegrüßt, du Wurzel, sei gegrüßt, du Pforte,
aus der das Licht der Welt hervorgegangen ist.
Freue dich, glorreiche Jungfrau,
schöner als alle anderen.
Leb wohl, du überaus Hohe und Anmutige,
und bitte Christus für uns.
Die Messe dürfte in den 1580er Jahren entstanden sein, also in einer Phase, in der Palestrina als Kapellmeister von Santa Maria Maggiore und als erfahrener Komponist der päpstlichen Kapelle eine ideale Stellung innehatte, um solche groß angelegten liturgischen Werke zu schaffen.
Charakteristisch für diese Messe ist die vollkommene Durchdringung des ursprünglichen Antiphonmaterials mit der Technik der Parodie. Palestrina übernimmt aus der Vorlage nicht nur Themenköpfe, sondern auch charakteristische melodische Wendungen, die er in allen Stimmen verteilt und so den einzelnen Ordinariumssätzen ein gemeinsames, übergeordnetes Profil verleiht. Dadurch entstehen Linien von großer Klarheit und ruhiger Eleganz, zugleich jedoch mit subtiler Kunstfertigkeit, wie sie für sein Spätwerk typisch ist. Die Satzfolge zeigt die klassische Anlage des römischen Ordinariums – Kyrie, Gloria, Credo, Sanctus und Benedictus sowie Agnus Dei –, wobei jeder Teil seine eigene Formkraft besitzt, aber immer auf die Gestalt der Marienantiphon zurückgeführt bleibt.
Missa Ave Regina caelorum, Tracks 11 bis 17:
https://www.youtube.com/watch?v=7ucojkeTqBI&list=OLAK5uy_n9otwYGqDQTCmn9wDB19t_TL-lTSFV8F0&index=11
Im Kyrie eröffnet Palestrina mit einer zurückhaltenden, fast meditativen Imitation: die Melodie der Antiphon wird in verlängerten Notenwerten vorgestellt, darüber spannt sich eine sanft fließende Polyphonie. Es ist ein ausgesprochen kontemplativer Beginn, der gewissermaßen die Grundhaltung der gesamten Messe vorgibt: keine äußerliche Prachtentfaltung, sondern ein konzentriertes, klanglich gut austariertes polyphones Geflecht.
Das Gloria nutzt die vertraute Struktur aus homophonen und polyphonen Abschnitten, doch sind die Übergänge ungewöhnlich weich gestaltet. Palestrina bindet die Themen der Vorlage so eng in den Satz ein, dass die Textabschnitte sich wie von selbst organisch entfalten. Besonders eindrucksvoll ist die Passage „Qui tollis peccata mundi“, in der die Musik einen Moment der inneren Sammlung gewinnt, bevor das „Cum Sancto Spiritu“ in einen leuchtenden, aber nie grellen Schluss übergeht.
Das Credo gehört zu den prägnantesten Sätzen dieser Messe. Die kunstvolle Setzung der Worte „Et incarnatus est“ zeigt Palestrinas Fähigkeit zum textbezogenen Ausdruck: hier dünnt er den Satz behutsam aus, lässt die Linien enger zusammenrücken und schafft eine Atmosphäre innigen Ernstes. Zum „Et resurrexit“ öffnet sich die Textur wieder, der Imitationsfluss gewinnt an Energie, ohne je die polyphone Ausgewogenheit zu verlieren. Auch das Ende des Satzes bleibt verankert in den Gesten der Antiphon, sodass das gesamte Credo trotz seiner Länge geschlossen wirkt.
Im Sanctus nimmt Palestrina einen ausgesprochen lichtdurchfluteten Ton an. Die Harmoniewechsel wirken besonders weich, das Wechselspiel zwischen Imitation und kurzen homophonen Momenten erinnert an die Klarheit seiner berühmten Marienmotetten. Das anschließende Benedictus ist intimer gefasst: die Stimmen treten etwas zurück, die Textur wird durchsichtiger und deutlicher linear geführt.
Das Agnus Dei bildet den Höhepunkt der Messe. Palestrina komponiert zwei Abschnitte, wobei der zweite Teil häufig mit einer erweiterten Stimmenzahl gearbeitet hat, um den Schluss feierlicher zu gestalten. Der Cantus der Antiphon erscheint hier besonders klar: in längeren Notenwerten tritt er hervor, wird von imitierenden Linien der übrigen Stimmen umspielt und führt zu einem klanglich vollkommen ausbalancierten „Dona nobis pacem“. Palestrina vereint dabei die Demonstration polyphoner Meisterschaft mit einer tiefen Spiritualität, die im Agnus Dei ihresgleichen sucht.
Die Missa Ave Regina Caelorum verkörpert Palestrinas Ideal einer geläuterten, vollkommen kontrollierten Polyphonie. Sie besitzt keinen ekstatischen Überschwang, keine theatralischen Gesten, sondern eine edle Ruhe, die aus der vollendeten Beherrschung des kontrapunktischen Handwerks erwächst. Zugleich spürt man überall, wie eng Palestrina der Marienantiphon verbunden bleibt. Die Messe ist nicht bloß ein kunstvolles Geflecht aus Imitationen, sondern eine geistliche Meditation über einen der zentralen Marientexte der römischen Liturgie.
