Adrian Willaert (* um 1490 – † 7. Dezember 1562)
Willaert war ein franko-flämischer Komponist der Renaissance und gilt als Begründer der venezianischen Schule. Ursprünglich aus Flandern stammend, wirkte er zunächst in Frankreich und an verschiedenen italienischen Höfen, bevor er 1527 als Kapellmeister an die Basilika San Marco in Venedig berufen wurde. Dort entwickelte er die berühmte mehrchörige Praxis (cori spezzati), bei der Chöre und Instrumentalgruppen räumlich getrennt aufgestellt wurden, was einen neuen, prachtvollen Klangstil hervorbrachte und die Musikpraxis Venedigs über ein Jahrhundert prägte.
Willaerts Werk umfasst zahlreiche Messen, Motetten, Hymnen, Psalmenvertonungen sowie weltliche Kompositionen, darunter Madrigale, Villanelle und Chansons. Besonders seine Madrigale stehen am Beginn der großen italienischen Madrigaltradition, die bis zu Monteverdi reicht. Willaerts Musik zeichnet sich durch meisterhafte Kontrapunktik, expressive Textausdeutung und neue klangräumliche Experimente aus. Als Lehrer beeinflusste er bedeutende Komponisten wie Gioseffo Zarlino, Cipriano de Rore und Andrea Gabrieli, wodurch er zum zentralen Wegbereiter des venezianischen und später des barocken Musikstils wurde.
Zu den im Medici-Codex enthaltenen Motetten von Adrian Willaert gehören:
1. Virgo gloriosa Christi Margareta preciosa
Fol. 2v–4 — 4 Stimmen
Die Motette eröffnet den Codex und ist eine Huldigung an die heilige Margareta von Antiochia († um 305), die Schutzpatronin der Geburtshilfe. Der Text preist ihre Tugenden und bittet um ihre Fürsprache.
Musikalisch zeichnet sich die Komposition durch eine klare Struktur und ausgewogene Polyphonie aus, die typisch für Willaerts Stil ist. Die Stimmen sind sorgfältig aufeinander abgestimmt, wobei die Melodieführung eine besondere Ausdruckskraft entfaltet. Die Verwendung von Imitationen und harmonischen Wendungen verleiht dem Werk eine feierliche und kontemplative Atmosphäre.
Die Platzierung dieser Motette an erster Stelle im Codex unterstreicht ihre Bedeutung und könnte auf eine besondere Wertschätzung der heiligen Margareta im Kontext der Entstehung des Manuskripts hinweisen.
Lateinischer Text:
Virgo gloriosa Christi, Margareta preciosa,
tuum flagrans amore cor corpusque tradidisti
Christo, sponsum tuum.
Itaque nunc triumphans cum ipso in caelis regnas.
Ora pro nobis, ut ad eius perveniamus gloriam. Amen.
Deutsche Übersetzung:
Ruhmvolle Jungfrau Christi, kostbare Margareta,
im brennenden Liebesverlangen hast du Herz und Leib
Christus, deinem Bräutigam, hingegeben.
Darum herrschst du jetzt, triumphierend mit ihm, im Himmel.
Bitte für uns, dass wir zu seiner Herrlichkeit gelangen. Amen.
2. Saluto te sancta (2 pars)
Fol. 22v–26 — ein vierstimmiges Werk, das der Jungfrau Maria gewidmet ist.
Lateinischer Text:
Pars I
Saluto te, sancta virgo Maria,
domina caelorum et regina,
ea salutatione qua te salutavit Gabriel angelus, dicens:
Ave Maria, gratia plena, Dominus tecum,
benedicta tu in mulieribus,
et benedictus fructus ventris tui.
Pars II
Rogo te ergo per illud gaudium
quod habuisti in illa hora qua concepisti Dominum nostrum Iesum Christum,
ut laetifices cor meum in hora defunctionis meae,
et subvenias mihi tam in corpore quam in anima,
et non dimittas me perdi propter nimia peccata mea,
sed subvenias mihi in omnibus necessitatibus meis. Amen.
Deutsche Übersetzung:
Teil I
Ich grüße dich, heilige Jungfrau Maria,
Herrin des Himmels und Königin,
mit jener Anrede, mit der der Engel Gabriel dich grüßte und sprach:
Gegrüßet seist du, Maria, voll der Gnade, der Herr ist mit dir;
gesegnet bist du unter den Frauen
und gesegnet ist die Frucht deines Leibes.
Teil II
Darum bitte ich dich bei jener Freude,
die du in der Stunde hattest, da du unseren Herrn Jesus Christus empfangen hast:
dass du mein Herz erfreust in der Stunde meines Todes
und mir beistehst, leiblich wie geistlich;
und lass mich nicht zugrunde gehen wegen meiner allzu großen Sünden,
sondern hilf mir in all meinen Nöten. Amen.
3. Regina caeli laetare (2 pars)
Fol. 47v–49— 4 Stimmen
Eine festliche Vertonung des österlichen Marienhymnus. Diese vierstimmige Motette besteht aus zwei Teilen:
Teil 1: Regina caeli laetare alleluia
Der erste Teil ist eine freudige Anrufung der Himmelskönigin Maria, in der ihre Freude über die Auferstehung Christi zum Ausdruck gebracht wird. Die Musik zeichnet sich durch lebhafte Rhythmen und eine strahlende Harmonik aus, die die österliche Freude unterstreichen.
Lateinischer Text:
Regina caeli, laetare, alleluia:
Quia quem meruisti portare, alleluia,
Resurrexit sicut dixit, alleluia:
Ora pro nobis Deum, alleluia.
Deutsche Übersetzung:
Königin des Himmels, freue dich, Halleluja:
Denn er, den du zu tragen würdig warst, Halleluja,
ist auferstanden, wie er gesagt hat, Halleluja:
Bitt für uns Gott, Halleluja.
Teil 2: Resurrexit sicut dixit alleluia
Lateinischer Text:
Resurrexit, sicut dixit, alleluia.
Deutsche Übersetzung:
Er ist auferstanden, wie er gesagt hat, alleluia.
Im zweiten Teil wird die Auferstehung Christi gefeiert, wie er es verheißen hatte. Willaert verwendet hier kunstvolle Imitationen und kontrapunktische Techniken, um die triumphale Botschaft musikalisch zu vermitteln.
Die Motette ist ein Beispiel für Willaerts Fähigkeit, liturgische Texte mit musikalischer Raffinesse zu vertonen und dabei sowohl die spirituelle Bedeutung als auch die ästhetische Schönheit zu betonen.
4. Christi virgo dilectissima
Fol. 60v–62 — 4 Stimmen
Achtung: falsche Zuordnung des Komponisten auf der CD (bzw. YouTube Video); vgl. die CD „A thousand beautiful and graceful inventions“ Track 11, z. B. auf Spotify.
Christi virgo dilectissima ist ein Responsorium, das die innige Beziehung zwischen Christus und der Jungfrau Maria thematisiert. Willaert nutzt in diesem Werk kunstvolle Imitationen und kontrapunktische Techniken, um die spirituelle Tiefe des Textes musikalisch zu unterstreichen.
Lateinischer Text:
Pars I (Responsorium)
Christi virgo dilectissima,
virtutum operatrix:
opem fer miseris.
Subveni, Domina,
clamantibus ad te iugiter.
Pars II (Versus)
Quoniam peccatorum mole premimur,
et non est qui adiuuet.
Deutsche Übersetzung:
Teil I
Jungfrau, Christi höchst Geliebte,
Werkmeisterin der Tugenden:
komm den Elenden zu Hilfe.
Steh uns bei, Herrin,
wenn wir unablässig zu dir rufen.
Teil II
Denn vom Gewicht unserer Sünden sind wir bedrückt,
und es ist keiner, der hilft.
5. Veni sancte spiritus
Fol. 62v–66 — 4 Stimmen
Die Motette Veni Sancte Spiritus ist eine kunstvolle Vertonung der Pfingstsequenz, die den Heiligen Geist anruft. Diese Komposition wurde erstmals 1539 in der Sammlung "Musica quatuor vocum", Liber 1 veröffentlicht. Die Motette ist für vier Stimmen geschrieben und zeichnet sich durch ihre klare Struktur und die Verwendung von Imitationstechniken aus, die typisch für Willaerts Stil sind.
Lateinischer Text:
Veni, Sancte Spiritus,
et emitte caelitus
lucis tuae radium.
Veni, pater pauperum,
veni, dator munerum,
veni, lumen cordium.
Consolator optime,
dulcis hospes animae,
dulce refrigerium.
In labore requies,
in aestu temperies,
in fletu solatium.
O lux beatissima,
reple cordis intima
tuorum fidelium.
Sine tuo numine,
nihil est in homine,
nihil est innoxium.
Lava quod est sordidum,
riga quod est aridum,
sana quod est saucium.
Flecte quod est rigidum,
fove quod est frigidum,
rege quod est devium.
Da tuis fidelibus,
in te confidentibus,
sacrum septenarium.
Da virtutis meritum,
da salutis exitum,
da perenne gaudium. Amen. Alleluia.
Deutsche Übersetzung:
Komm, Heiliger Geist,
sende vom Himmel herab
einen Strahl deines Lichtes.
Komm, Vater der Armen,
komm, Geber der Gaben,
komm, Licht der Herzen.
Bester Tröster,
sanfter Gast der Seele,
süßes Labsal.
In der Mühsal bist du Ruhe,
in der Hitze milde Kühle,
im Weinen Trost.
O seligstes Licht,
erfülle das Innerste der Herzen
deiner Gläubigen.
Ohne dein Wirken
ist nichts im Menschen,
ist nichts ohne Schuld.
Was befleckt ist, wasche rein,
was dürr ist, tränke,
was verwundet ist, heile.
Beuge, was starr ist,
erwärme, was kalt ist,
lenke, was irregeht.
Gib deinen Gläubigen,
die auf dich vertrauen,
die heilige Siebenzahl der Gaben.
Gib Verdienst der Tugend,
gib das Heil am Ende,
gib ewige Freude. Amen. Halleluja.
Diese Sequenz wird traditionell am Pfingstsonntag in der römisch-katholischen Liturgie gesungen und ist eine der wenigen mittelalterlichen Sequenzen, die nach der Liturgiereform des Konzils von Trient (13. Dezember 1545 bis 4. Dezember 1563) beibehalten wurden.
Willaerts Vertonung hebt sich durch ihre polyphone Struktur und die expressive Textvertonung hervor, die die spirituelle Tiefe des Textes unterstreicht. Die Motette ist ein Beispiel für Willaerts Fähigkeit, liturgische Texte mit musikalischer Raffinesse zu vertonen und dabei sowohl die spirituelle Bedeutung als auch die ästhetische Schönheit zu betonen.
6. Beatus Ioannes apostolus
Fol. 67v–70 — 4 Stimmen
Diese Motette besteht aus zwei Teilen:
1. Beatus Ioannes apostolus
und
2. Ipse est qui evangelii fluenta
Sie ist für vierstimmigen Chor (SATB) komponiert und ehrt den Apostel Johannes. Der Text hebt die Rolle des Johannes als Evangelist und Zeuge Christi hervor.
Lateinischer Text:
Pars I
Beatus Ioannes, Apostolus et Evangelista,
de nuptiis vocatus, et virgo electus a Domino,
atque inter ceteros magis dilectus.
Valde honorandus est, qui supra pectus Domini in coena recubuit.
Pars II
Ipse est, qui Evangelii fluenta
de ipso sacro Dominici pectoris fonte cum potasset,
quasi unus de paradisi fluminibus
verbi Dei gratiam in toto terrarum corde diffudit.
Sancte Ioannes, ora pro nobis Dominum. Amen.
Deutsche Übersetzung:
Teil I
Selig ist Johannes, Apostel und Evangelist,
zur Hochzeit geladen und vom Herrn als Jungfrau erwählt,
unter den anderen besonders geliebt.
Sehr zu ehren ist er, der beim Abendmahl an der Brust des Herrn ruhte.
Teil II
Er ist es, der die Ströme des Evangeliums
aus der heiligen Quelle der Brust des Herrn trank.
Wie einer der Flüsse des Paradieses
verbreitete er die Gnade des Wortes Gottes
in aller Welt.
Heiliger Johannes, bitte für uns zum Herrn. Amen.
Willaerts Komposition zeichnet sich durch kunstvolle Polyphonie und expressive Textvertonung aus. Die Stimmen imitieren einander und schaffen eine dichte Klangstruktur, die die Bedeutung des Textes unterstreicht. Besonders hervorzuheben ist die sanfte Harmonik, die die spirituelle Tiefe der Motette betont.
7. Intercessio quaesumus Domine
Fol. 70v–72 — 4 Stimmen
Die Motette Intercessio quaesumus, Domine (um 1514 !) ist ein bemerkenswertes Werk der Renaissance, das sowohl musikalisch als auch textlich tiefe spirituelle Inhalte vermittelt.
Willaerts Komposition zeichnet sich durch ihre fünfstimmige Polyphonie aus, die typisch für seine stilistische Entwicklung ist. Die Stimmen sind kunstvoll miteinander verwoben, was eine dichte und zugleich transparente Klangstruktur erzeugt. Die Motette verwendet eine modale Harmonik, die den liturgischen Charakter des Werkes unterstreicht.
Der lateinische Text der Motette lautet:
Intercessio, quaesumus Domine,
beata Barbara virginis et martyris tuae
gloriosa nos protegar,
ut per ejus interventum
gloriosissimi corporis et
sanguinis tui sacramentum
ante vitae no strae exitum
vera fide et pura confessione
accipere mereamur,
qui vivis et regnas Deus
per omnia saeculorum, amen.
Deutsche Übersetzung:
Die Fürbitte der heiligen Barbara,
deiner Jungfrau und Märtyrin, o Herr,
möge uns glorreicherweise beschützen,
damit wir durch ihre Vermittlung
das Sakrament deines
allheiligsten Leibes und Blutes
noch vor dem Ende unseres Lebens
in wahrer Glaubenstreue und reiner Beichte
empfangen zu verdienen würdig werden.
Du, der du lebst und herrschest, Gott,
in alle Ewigkeit. Amen.
Der Text ist eine Bitte um die Fürsprache der heiligen Barbara von Nikomedien († 306 n. Chr., Euchaita, heute Türkei), einer frühchristlichen Märtyrin, die besonders in der katholischen Tradition verehrt wird. Die Anrufung ihrer Fürsprache spiegelt die tiefe Frömmigkeit und das Vertrauen in die Heiligen als Mittler zwischen Gott und den Gläubigen wider.
Die Motette Intercessio quaesumus, Domine steht exemplarisch für Willaerts Fähigkeit, tiefgründige spirituelle Inhalte mit musikalischer Raffinesse zu verbinden. Sie ist ein bedeutendes Zeugnis der Renaissance-Musik und ihrer liturgischen Praxis.
