Pierre (?) Barbingant (* nach 1400–1460) und Johannes Tinctoris (um 1435–1511) – Zwei frühe Meister der dreistimmigen Messe
Im 15. Jahrhundert nahm die Parodiemesse als neue kompositorische Technik Gestalt an. Komponisten begannen, weltliche Vorlagen wie Chansons in ihre sakralen Werke zu integrieren und damit weltliche und geistliche Klangwelten zu verbinden. Zwei faszinierende Beispiele aus dieser Zeit sind die Missa "Terriblement" a 3 von Barbingant und die Missa "sine nomine" a 3 von Johannes Tinctoris.
Über Barbingant, der um die Mitte des 15. Jahrhunderts tätig war, wissen wir nur wenig. Umso bedeutender ist seine Missa "Terriblement" a 3, die zu den frühesten bekannten Parodiemessen zählt. Sie basiert auf der weltlichen Chanson "Terriblement suis fortunée", deren Text eine Klage über den Verlust der Liebe ausdrückt.
Die Komposition folgt der damals typischen dreistimmigen Anlage: Der Discantus (höchste Stimme) trägt die Melodie, während Tenor und Contratenor die harmonische Grundlage bilden. Die Messe ist durch eine klare, homophone Struktur und gelegentliche imitatorische Elemente geprägt. Besonders hervorzuheben ist, dass sie fast vollständig auf Material der weltlichen Vorlage zurückgreift und es kunstvoll in den liturgischen Rahmen überträgt.
Die Chanson "Terriblement suis fortunée" selbst wurde lange als anonym überliefert, etwa im bekannten Chansonnier Cordiforme (Paris, Bibliothèque nationale de France, Rothschild 2973).
Ihr Text (Mittelfranzösisch) lautet:
"Terriblement suis fortunée
Et de grans douleurs atournee,
Car mon amy m’a delaissée.
Car mon amy m’a delaissée,
Et d’une aultre s’est amée."
Die Übersetzung macht den schmerzvollen Inhalt deutlich:
"Schrecklich bin ich vom Schicksal getroffen
Und von großem Schmerz umgeben,
Denn mein Geliebter hat mich verlassen.
Und eine andere hat er geliebt."
In jüngerer Zeit wird die Urheberschaft der Chanson zunehmend Barbingant selbst zugeschrieben. Stilistische Übereinstimmungen zwischen der Messe und der Chanson sowie die Verwendung durch den Komponisten sprechen für diese Annahme, auch wenn die Zuschreibung nicht durch eine namentliche Nennung in den Quellen belegt ist.
Im Gegensatz dazu steht die Missa "sine nomine" (ohne Namen) a 3 von Johannes Tinctoris (um 1435–1511), die auf keine konkrete Vorlage zurückgreift.
Tinctoris, einer der bedeutendsten Musiktheoretiker seiner Zeit, wirkte in Neapel am Hof von König Ferdinand I. (1423–1494, König von 1458) als Sänger, Lehrer und Jurist. Seine zahlreichen theoretischen Werke, darunter das berühmte "Terminorum musicae diffinitorium", prägen bis heute das Verständnis der Musiktheorie des 15. Jahrhunderts.
Seine Messe "sine nomine" zeigt ihn auch als versierten Komponisten. Ohne die Bindung an eine Chanson oder einen Cantus firmus gestaltet er die drei Stimmen frei und kontrapunktisch ausgewogen. Die Messe ist ein Beispiel für die sogenannte „freie Messe“, in der der Komponist allein durch motivisch-thematische Arbeit und kontrapunktische Kunst die Einheit der Satzteile schafft. Dabei gelingt es Tinctoris, klangliche Dichte und Eleganz mit einer im Vergleich zur Parodiemesse größeren gestalterischen Freiheit zu verbinden.
Beide Werke — Barbingants Missa "Terriblement" und Tinctoris’ Missa "sine nomine" — stehen exemplarisch für zwei Wege der Messkomposition im späten Mittelalter: Die erste schöpft aus der Welt der höfischen Liedkunst und integriert diese in die Liturgie, die zweite stellt die freie schöpferische Gestaltung ins Zentrum. Beide zeugen von der künstlerischen Vielfalt und Innovationskraft der franko-flämischen Komponisten in einer Zeit des musikalischen Umbruchs.
Hörbeispiel:
