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Die vier Scherzi

Einleitung: Vom Scherz zum Drama

Das Wort Scherzo bedeutet im Italienischen schlicht „Scherz, Spiel“. In der frühen Musikgeschichte war es noch ein loses Etikett für geistreiche oder tänzerische Stücke. Claudio Monteverdi (1567–1643) veröffentlichte 1607 seine Sammlung Scherzi musicali, die heitere Madrigale enthält – von tiefem Ernst war hier keine Rede. Im 18. Jahrhundert tauchte der Begriff ebenfalls sporadisch auf, doch erst Ludwig van Beethoven (1770–1827) verlieh dem Scherzo Gewicht und Gestalt. Er verdrängte das höfische Menuett aus der Sinfonie und setzte an seine Stelle das Scherzo: schneller, schärfer, energischer. Bei Beethoven war das Scherzo kein geselliger Tanz mehr, sondern ein rhythmisches Spiel mit Überraschungen, oft mit ironischem Unterton und eruptiver Kraft.

Im 19. Jahrhundert entdeckte man weitere Facetten: Felix Mendelssohn (1809–1847) schuf in seiner Sommernachtstraum-Musik Scherzi von federleichter, „elfenhafter“ Bewegung; Robert Schumann (1810–1856) füllte den Begriff mit grotesken Maskenspielen und seelischen Brechungen. Doch niemand wagte so radikal wie Frédéric Chopin, das Scherzo aus seinem symphonischen Kontext zu lösen und es zu einem autonomen Klavierwerk zu machen. Seine vier Scherzi sind keine tänzerischen Nebensätze, sondern groß angelegte, dramatische Dichtungen.

 

Schumann war einer der ersten, der die Umkehrung des Begriffs erfasste. Als er 1835 Chopins erstes Scherzo hörte, schrieb er: „Wie soll sich der Ernst kleiden, wenn schon der ›Scherz‹ in dunklen Schleiern geht?“ Damit hatte er den Kern getroffen: Chopins Scherzi sind keine Spiele, sondern Klangdramen, die zwischen furioser Bewegung und lyrischen Inseln oszillieren. Jedes der vier Werke ist eine eigene Welt, und doch bilden sie zusammen eine Art inneren Zyklus – von der finsteren Tragik des h-Moll-Scherzos über die „Frage und Antwort“ des b-Moll, die komprimierte Gewalt des cis-Moll bis zum lichtdurchfluteten E-Dur.

 

Scherzo Nr. 1 in h-Moll, op. 20 (1831–1835)

 

Das erste Scherzo schrieb Chopin in den Jahren 1831 bis 1833, in Wien und in den ersten Pariser Exiljahren. Veröffentlicht wurde es 1835 gleichzeitig in Paris (Maurice Schlesinger, Pl.-Nr. M.S. 1832), Leipzig (Breitkopf & Härtel, Pl.-Nr. 5599) und London (Wessel & Co.).

 

Widmung

 

Das Werk ist Thomas Albrecht gewidmet, einem Diplomaten aus Sachsen, der in den 1830er Jahren als Attaché der sächsischen Gesandtschaft in Paris diente und später Konsul und Handelsagent wurde. Albrecht gehörte zum engeren Freundeskreis Chopins und war 1849 an dessen Sterbebett anwesend – ein Zeichen dafür, dass die Widmung nicht einer Virtuosenfreundschaft galt, sondern einer persönlichen Bindung.

 

Form und Harmonie

 

Der Bau folgt einer erweiterten ABA-Form mit Coda:

 

  • A-Teil (h-Moll, T. 1–122): harte, unisono geschlagene Akkorde und ein Presto con fuoco von eruptiver Gewalt, harmonisch eng an Dominante und Tonika gebunden.

  • B-Teil (H-Dur, T. 123–170): ein Molto più lento, in dem Chopin das polnische Weihnachtslied „Lulajże, Jezuniu“ zitiert. Ein seltener, fast einzigartiger Fall eines direkten Fremdzitats in Chopins Werk – als Erinnerung an Heimat und Kindheit.

  • A’-Teil (h-Moll, T. 171–239): Rückkehr des Furors, jetzt noch verdichtet.

  • Coda (T. 240–Schluss): Oktavtremoli und Arpeggien, die das Anfangsmotiv bis ins Äußerste zuspitzen. Das Werk endet nicht heroisch in Dur, sondern konsequent im tragischen Moll.

 

Spieltechnik

Pianistisch fordert das Werk extreme Kontraste: donnernde Akkorde, Tremolo-Oktaven, synkopische Kaskaden – und dazwischen ein inniger, choraler Mittelteil, der mit una corda und halbem Pedal wie ein Orgelklang gestaltet werden muss. Gerade in der Coda warnte Chopin davor, zu beschleunigen: „Ein Presto wirkt doppelt erschreckend, wenn es im Zeitmaß bleibt.“

 

Das Stück selbst beginnt mit einem Aufschrei: harte, unisono geschlagene Akkorde, gefolgt von einem fieberhaften Presto con fuoco. Hier hat Chopin das Scherzo ins Tragische verkehrt – Schumanns Satz von den „dunklen Schleiern“ beschreibt genau diese Umkehrung des Begriffs. Im Mittelteil erscheint dann eine poetische Insel: ein Molto più lento in H-Dur, in dem Chopin das polnische Weihnachtslied „Lulajże, Jezuniu“ zitiert. Diese Melodie, ein Wiegenlied für das Jesuskind, war für Chopin ein Erinnerungsstück an seine Heimat – mitten im Exil erklingt sie wie ein inneres Bekenntnis. Danach stürzt die Musik zurück in den Furor der Außenteile; eine Coda von wilder Virtuosität beschließt das Drama.

Spieltechnisch verlangt das Werk scharfe Akkordschläge, weite Oktavsätze, Tremoli – und zugleich die Kunst, den Mittelsatz als inniges Choralstück singen zu lassen. Der Londoner Verleger Wessel nannte das Werk reißerisch „Le Banquet Infernal“, doch Chopin hasste solche Fantasienamen. Für ihn war es ein Stück tiefsten Ernstes, kein „Höllenbankett“.

 

Quellen

 

Ein Autograph ist nicht erhalten. Unterschiede zwischen den Erstausgaben betreffen vor allem Dynamik und Artikulation. Der Londoner Verleger Wessel versah das Werk mit dem Fantasietitel „Le Banquet Infernal“, worüber Chopin verärgert spottete – er hasste solche „Verkaufsnamen“. Robert Schumanns Wort von den „dunklen Schleiern“ bleibt dagegen bis heute die treffendste Charakterisierung.

 

Scherzo Nr. 1 in h-Moll, op. 20 – Interpretationen

 

Claudio Arrau (1903–1991) gehört zu jenen Pianisten, die Chopin als großen tragischen Dichter verstanden. In seiner Aufnahme des ersten Scherzos zeigt sich diese Haltung besonders deutlich. Arrau vermeidet jede Hast und jedes vordergründige Bravourspiel. Sein Tempo wirkt getragen, beinahe altmodisch – doch gerade dadurch entfaltet sich eine ungeheure Wucht. Die eröffnenden Akkorde sind keine bloßen Schocks, sondern klingen wie Posaunenrufe eines tragischen Schicksals. Das anschließende Presto con fuoco baut er architektonisch auf, mit Klangmassen, die an Orgel oder Orchester erinnern.

 

Im Molto più lento mit dem Weihnachtslied Lulajże, Jezuniu offenbart Arrau jene Schwere und Wärme, für die er berühmt war. Statt eines einfachen Wiegenlieds erklingt hier ein Bild von Wehmut und innerer Größe – nicht sentimental, sondern erhaben. In der Reprise und besonders in der Coda bleibt er streng im Zeitmaß, erfüllt damit Chopins eigenes Gebot: „Ein Presto wirkt doppelt erschreckend, wenn es im Zeitmaß bleibt.“ Das Ergebnis ist eine Deutung von monumentaler Tragik. Viele Kritiker nannten Arrau den „Mahler unter den Chopin-Interpreten“: dunkel, schwer, aber von innerem Atem getragen.

Arthur Rubinstein (1887–1982) steht für eine ganz andere Sichtweise. Seine Aufnahme des ersten Scherzos verbindet dramatische Energie mit Noblesse des Tons. Die einleitenden Akkorde schlägt er mit kraftvoller Eleganz, nie hart, immer rund. Das Presto ist strahlend und motorisch, aber flüssig geführt, ohne gehetzt zu wirken. Kritiker lobten seine Fähigkeit, „niemals zu überinterpretieren“ – er vertraut der Musik selbst und lässt sie sprechen.

 

Im Mittelteil, wenn das polnische Wiegenlied erklingt, singt Rubinstein mit unvergleichlicher Natürlichkeit. Keine Sentimentalität, kein Schwärmen, sondern eine warme, klare Melodie – so, als spräche hier Chopins polnische Seele. Am Ende steigert er das Werk zu einem dramatischen Höhepunkt, ohne den Überblick zu verlieren. Die Energie bleibt geordnet, die Coda zwingend und klar.

 

Rubinsteins Lesart ist klassisch im besten Sinne: ausbalanciert, klangschön, lebendig. Sie zeigt Chopin als tragischen, aber auch menschlich warmen Dichter. Für viele Hörer bleibt gerade diese Verbindung von Pathos und Natürlichkeit ein Musterbeispiel für Chopin-Interpretation.

Seong-Jin Cho (*1994 in Seoul), Sieger des Internationalen Chopin-Wettbewerbs 2015, gehört zu den führenden Vertretern einer neuen Generation von Pianisten, die Chopin mit höchster Präzision und poetischer Intelligenz interpretieren. Seine Aufnahme der vier Scherzi (Deutsche Grammophon, 2021) zeigt exemplarisch, wie er die Balance zwischen architektonischer Klarheit und innerer Spannung findet.

Im ersten Scherzo h-Moll op. 20 eröffnet Cho mit unerhörter Klarheit. Die harten Anfangsakkorde sind schneidend und präzise, doch ohne Härte im Klang. Das Presto con fuoco entwickelt sich bei ihm nicht als unkontrollierter Ausbruch, sondern als logisch gebautes Drama, in dem jede Stimme durchsichtig bleibt. Kritiker sprachen von einer „staunenswerten Transparenz“, die selbst in größter Wucht die Struktur sichtbar macht.

Im Mittelteil, wo Chopin das polnische Weihnachtslied Lulajże, Jezuniu zitiert, findet Cho zu einer Innigkeit, die schlicht und berührend wirkt. Er vermeidet jede Sentimentalität, gestaltet die Melodie fast volksliedhaft klar – ein Moment, der durch seine Schlichtheit besonders ergreift.

In der Reprise und Coda wahrt Cho eiserne Disziplin. Die Oktavtremoli bleiben streng im Zeitmaß, was Chopins eigene Forderung erfüllt: „Ein Presto wirkt doppelt erschreckend, wenn es im Zeitmaß bleibt.“ So entsteht eine Spannung, die von innerer Konsequenz lebt.

Chos Deutung zeigt Chopin als modernen Klassiker: voller Furor und lyrischer Tiefe, aber immer gebändigt durch Maß und Klarheit. Damit bildet er einen faszinierenden Kontrast zu Arraus monumentaler Tragik und Rubinsteins nobler Eleganz.

 

Seong-Jin Cho (* 1994 in Seoul), Sieger des Internationalen Chopin-Wettbewerbs 2015, gehört zu den führenden Vertretern einer neuen Generation von Pianisten, die Chopin mit höchster Präzision und poetischer Intelligenz interpretieren. Seine Aufnahme der vier Scherzi (Deutsche Grammophon, 2021) zeigt exemplarisch, wie er die Balance zwischen architektonischer Klarheit und innerer Spannung findet.

Im ersten Scherzo h-Moll op. 20 eröffnet Cho mit unerhörter Klarheit. Die harten Anfangsakkorde sind schneidend und präzise, doch ohne Härte im Klang. Das Presto con fuoco entwickelt sich bei ihm nicht als unkontrollierter Ausbruch, sondern als logisch gebautes Drama, in dem jede Stimme durchsichtig bleibt. Kritiker sprachen von einer „staunenswerten Transparenz“, die selbst in größter Wucht die Struktur sichtbar macht.

Im Mittelteil, wo Chopin das polnische Weihnachtslied Lulajże, Jezuniu zitiert, findet Cho zu einer Innigkeit, die schlicht und berührend wirkt. Er vermeidet jede Sentimentalität, gestaltet die Melodie fast volksliedhaft klar – ein Moment, der durch seine Schlichtheit besonders ergreift.

In der Reprise und Coda wahrt Cho eiserne Disziplin. Die Oktavtremoli bleiben streng im Zeitmaß, was Chopins eigene Forderung erfüllt: „Ein Presto wirkt doppelt erschreckend, wenn es im Zeitmaß bleibt.“ So entsteht eine Spannung, die von innerer Konsequenz lebt.

Chos Deutung zeigt Chopin als modernen Klassiker: voller Furor und lyrischer Tiefe, aber immer gebändigt durch Maß und Klarheit. Damit bildet er einen faszinierenden Kontrast zu Arraus monumentaler Tragik und Rubinsteins nobler Eleganz.

Scherzo Nr. 2 in b-Moll, op. 31 (1835–1837)

Das zweite Scherzo entstand 1835–1837 und erschien 1837/38 fast gleichzeitig in Paris, Leipzig und London. Anders als beim Ersten ist hier die Quellenlage besonders reich: Ein Autograph befindet sich in der Bibliothèque nationale de France; zudem existiert eine von Julian Fontana angefertigte Kopie als Stechvorlage, und Chopin selbst korrigierte Schülerexemplare.

Widmung. Das Werk ist Gräfin Adèle de Fürstenstein (fl. um 1837) gewidmet, einer jungen Aristokratin und Schülerin Chopins aus dem Kreis der Pariser Emigranten. Von ihrem Leben ist wenig überliefert, doch die Widmung bezeugt Chopins Nähe zu den polnischen und französischen Aristokratie-Salons, die sein künstlerisches Umfeld prägten.

Form und Harmonie

 

Die Dramaturgie baut auf Kontrast:

 

  • A-Teil (b-Moll, T. 1–112): Zwei hauchzarte, arpeggierte Akkorde (Frage), beantwortet von brutalen Fortissimo-Akkorden (Antwort). Wilhelm von Lenz schrieb: „Es war ihm nie fragend genug, nie leise genug – es müsse wie von einer Gruft klingen.“

  • B-Teil (Des-Dur, T. 113–188): eine ausgedehnte, gesangliche Melodie, die Robert Schumann als „ein byronisches Gedicht, überströmend von Zärtlichkeit, Kühnheit, Liebe und Verachtung“ bezeichnete.

  • A’-Teil (b-Moll, T. 189–248): Rückkehr des Anfangsmaterials, dichter, mit gesteigerter Motorik.

  • Coda (Des-Dur, ab T. 249): strahlende Auflösung in Des-Dur, das das dunkle b-Moll überblendet.

 

Spieltechnik

 

Das Werk verlangt extreme Kontraste: hauchzarte Pianissimo-Akkorde ohne Pedal, dann jähe Oktavschläge im Fortissimo; weit ausgesponnene Kantilenen im Mittelteil, die durch Fingersatzkunst (Fingerwechsel auf gehaltenen Tönen) und feinste Pedalarbeit getragen werden.

 

Der Beginn ist berühmt: zwei leise, arpeggierte Akkorde im Pianissimo, eine Frage, die von einem jähen Fortissimo-Akkord beantwortet wird. Wilhelm von Lenz überlieferte Chopins Worte: „Es war ihm nie fragend genug, nie leise genug – es müsse wie von einer Gruft klingen.“ Dieser Gegensatz von Frage und Antwort durchzieht das Werk. Nach dem b-Moll-Presto weitet sich eine lange, gesangliche Linie in Des-Dur, die Schumann als „byronisches Gedicht, überströmend von Zärtlichkeit, Kühnheit, Liebe und Verachtung“ beschrieb. In der Mitte steht eine kontemplative A-Dur-Passage, bevor am Ende Des-Dur das b-Moll überstrahlt – ein musikalisches Bild des Triumphs über die Dunkelheit.

 

Das Stück verlangt extreme Kontraste: hauchzartes Pianissimo und brutales Fortissimo, zarte Kantilenen und blitzende Oktavpassagen. Wessel versah das Werk in London mit dem Titel „Le Méditation“, was Chopin ebenso wenig gefiel wie die Etikette des Ersten Scherzos – und doch trifft der Begriff einen Kern: Es ist eine leidenschaftliche Meditation über die Extreme der Seele.

Quellen

 

Unterschiede zwischen Pariser und Leipziger Ausgabe zeigen sich gleich in den ersten Takten: pp in Paris, ppp in Leipzig. Die Londoner Ausgabe von Wessel gab dem Werk den Titel „Le Méditation“, den Chopin ebenso wenig billigte wie den des Ersten Scherzos. Dennoch spiegelt er die Rezeption: ein Werk zwischen Drama und kontemplativer Innenschau.

Scherzo Nr. 2 in b-Moll, op. 31 – Interpretationen

 

Seong-Jin Cho (* 1994), Gewinner des Internationalen Chopin-Wettbewerbs 2015 in Warschau, hat sich in wenigen Jahren als eine der maßgebenden Stimmen seiner Generation etabliert. In seiner Aufnahme des zweiten Scherzos (Deutsche Grammophon, 2021) zeigt er exemplarisch, wie modernes Chopin-Spiel zugleich poetisch und streng, virtuos und kontrolliert klingen kann.

 

Schon der Beginn verrät seine Handschrift: die beiden leisen, arpeggierten Akkorde im äußersten Pianissimo sind bei ihm nicht bloß leise, sondern fast körperlos – wie ein Atem aus der Ferne, eine Frage, die kaum hörbar gestellt wird. Dann die Antwort: ein brutaler Fortissimo-Schlag, der nicht als äußerlicher Effekt erscheint, sondern als innerer Ausbruch. Wilhelm von Lenz überlieferte, Chopin habe gesagt, es müsse „wie von einer Gruft klingen“. Bei Cho ist dieser Gedanke vollkommen eingelöst.

 

Der lange Mittelteil in Des-Dur entfaltet sich bei ihm mit nobler Weite. Sein Legato ist makellos, die Melodie hebt sich klar aus der Begleitung hervor, die linke Hand bleibt durchsichtig. Robert Schumann nannte diese Passage „ein byronisches Gedicht, überströmend von Zärtlichkeit, Kühnheit, Liebe und Verachtung“. Cho spielt sie mit poetischer Innigkeit, aber ohne jede Sentimentalität: der Ton bleibt hell, das Tempo straff, die Linie von schlichter Schönheit.

 

Zurück im b-Moll-Teil steigert Cho die Motorik mit eiserner Disziplin. Er wahrt das Tempo, vermeidet Überhitzung, und gerade daraus entsteht eine Spannung, die den Zuhörer in Bann hält. In der Coda, die triumphierend in Des-Dur endet, entwickelt er eine überwältigende Klangpracht, ohne ins Pathetische zu verfallen. Alles bleibt durchsichtig, streng, von innerer Glut getragen.

 

Chos Deutung gilt vielen Kritikern als eine der bedeutendsten modernen Einspielungen des Werkes. The Classic Review hob „seine überlegte Dramaturgie und klangliche Noblesse“ hervor, Gramophone pries die „Disziplin und Klarheit“, und das BBC Music Magazine sprach von einer „poetischen Intelligenz, die in der heutigen Chopin-Diskographie selten zu finden ist“.

 

Krystian Zimerman (* 1956), der große polnische Pianist, ist Schüler von Andrzej Jasiński (* 1936), einem der bedeutendsten Klavierpädagogen Polens und langjährigen Professor an der Musikakademie in Kattowitz. Unter Jasińskis Leitung gewann Zimerman 1975 den Internationalen Chopin-Wettbewerb in Warschau, was seine internationale Karriere begründete. Zimerman gehört seither zu den stilistisch strengsten und zugleich leidenschaftlichsten Interpreten Chopins – Eigenschaften, die in seiner Einspielung des Scherzo Nr. 2 b-Moll op. 31 (Deutsche Grammophon, 1994) in exemplarischer Weise zum Ausdruck kommen.

 

Der Beginn ist von fast unerträglicher Spannung: die beiden Pianissimo-Akkorde flüstern gespenstisch, kaum hörbar, gefolgt von Fortissimo-Schlägen, die wie Donnerschläge einschlagen. Bei Zimerman gibt es keine verschwommenen Konturen, keine Abschwächungen: alles ist kompromisslos zugespitzt, schwarz-weiß, von schneidender Klarheit.

 

Im Des-Dur-Mittelteil entfaltet er eine kantable Linie von erhabener Größe. Sein Ton ist rein, getragen von einem makellosen Legato, zugleich voller Noblesse, die jedes süßliche Schwelgen vermeidet. Schumann nannte diese Passage „ein byronisches Gedicht, überströmend von Zärtlichkeit, Kühnheit, Liebe und Verachtung“. Bei Zimerman klingt dieses Gedicht dunkel, erhaben, von glühender Leidenschaft erfüllt.

 

Die Rückkehr zum b-Moll steigert er unerbittlich. Der Puls bleibt fest, die Motorik eisern, die Kontrolle unerschütterlich. Die Coda, die das Werk in Des-Dur auflöst, gestaltet er als triumphale Apotheose, doch auch hier bleibt der Klang streng diszipliniert. Alles wirkt klar gebaut, organisch zwingend, ohne jede Spur von äußerlicher Virtuosität.

 

Die Kritik hat Zimermans Scherzo Nr. 2 vielfach hervorgehoben. Gramophone sprach von „einer kompromisslosen Deutung von überwältigender innerer Logik“, während die New York Times schrieb, er habe „ein musikalisches Drama von glühender Intensität geschaffen, streng, architektonisch, und zugleich von leidenschaftlicher Glut durchdrungen“.

Arturo Benedetti Michelangeli (1920–1995) gehört zu den rätselhaftesten und faszinierendsten Pianisten des 20. Jahrhunderts. Sein Spiel war geprägt von einer unerhörten Präzision, einer bis ins Äußerste kultivierten Technik und einem Klang, den Zeitgenossen oft als „überirdisch“ beschrieben. Seine Auftritte waren rar, seine Diskographie überschaubar – doch jede Aufnahme trägt den Stempel eines kompromisslosen Perfektionismus. Unter diesen Dokumenten nimmt seine Interpretation von Chopins Scherzo Nr. 2 b-Moll op. 31 eine besondere Stellung ein.

 

Schon die einleitenden Akkorde zeugen von dieser unvergleichlichen Haltung. Die beiden arpeggierten Pianissimo-Akkorde wirken bei ihm wie gemeißelt – kühl, gläsern, makellos in der Ausführung. Die anschließenden Fortissimo-Schläge sind keine eruptiven Explosionen, sondern kontrollierte, majestätische Blitzeinschläge. Hier klingt nichts zufällig, nichts aus dem Moment geboren: es ist ein Drama, das von einer eisernen Hand geformt wird.

 

Im großen Des-Dur-Mittelteil erreicht Michelangeli eine „kristalline Schönheit“, die Kritiker immer wieder hervorhoben. Sein Legato ist von unerschütterlicher Reinheit, die Melodie singt ohne jede Schwäche, frei von Sentimentalität. Wo andere Pianisten Wärme und Schwärmerei zeigen, erschafft er eine Klangwelt von entrückter Noblesse – eine große Arie, die nicht menschlich leidet, sondern erhaben über den Dingen steht. Manche beschrieben diesen Moment als „eine Eisskulptur, die von innen glüht“.

 

Die Rückkehr zum b-Moll-Teil und die anschließende Coda bleiben in derselben unerbittlichen Strenge gehalten. Michelangeli beschleunigt nicht, er jagt nicht, er lässt die Motorik in unerschütterlichem Maß weiterlaufen. So gewinnt die Musik eine unerhörte Spannung: die Gewalt entsteht aus der Klarheit, nicht aus Überhastung. Die Schlussapotheose in Des-Dur bleibt streng, gebändigt, ohne jede Geste des Virtuosen.

 

Diese Lesart ist nicht unumstritten. Vielen Hörern erscheint sie zu kühl, zu distanziert, zu asketisch – fast übermenschlich. Doch gerade darin liegt ihre Einzigartigkeit. Michelangeli verwandelt Chopins Scherzo Nr. 2 in eine Kathedrale aus Klang, in ein Monument der pianistischen Architektur, das nichts dem Zufall überlässt. Es ist eine Deutung, die ihresgleichen sucht – ein Zeugnis radikaler Kontrolle und gläserner Reinheit.

Scherzo Nr. 3 in cis-Moll, op. 39 (1839)

 

Das dritte Scherzo entstand im Winter 1838/39 in Valldemossa auf Mallorca, unter widrigsten Umständen. Trotz Krankheit und schwieriger Lebensbedingungen vollendete Chopin dort ein Werk von seltener Dichte. Veröffentlicht wurde es 1840 in Paris (Troupenas), Leipzig (Breitkopf & Härtel) und London (Wessel).

 

Widmung

 

Das Werk ist Adolphe Gutmann (1819–1882) gewidmet, Chopins treuestem Schüler. Gutmann, Sohn eines Frankfurter Bankiers, war eine imposante Erscheinung: hochgewachsen, mit riesigen Händen, die ihn zum idealen Interpreten der großen Oktavpassagen machten. Er war nicht nur Schüler, sondern enger Vertrauter, Kopist und Helfer im Alltag. Seine Abschriften sind für die Quellenlage unverzichtbar.

 

Form und Harmonie

 

Das kürzeste der vier Scherzi ist zugleich das konzentrierteste:

  • A-Teil (cis-Moll, T. 1–112): peitschende Oktavketten, motorisches Presto.

  • B-Teil (Des-Dur, T. 113–176): ein breiter, feierlicher Choral, umrankt von figurierten Girlanden. Der Tritonus-Abstand zu cis-Moll schafft eine „leuchtende Ferne“.

  • A’-Teil (cis-Moll, T. 177–238): Rückkehr des Furors, dichter und schärfer.

  • Coda (T. 239–Schluss, cis-Moll): rasendes Presto, Oktaven, Synkopen – ein Ende von schneidender Konsequenz.

 

Spieltechnik

 

Chopin forderte hier eine „orchestrale“ Wirkung: die Anfangsoktaven wie Trompeten, der Choral wie eine Orgel. Pianistisch bedeutet das: federndes Handgelenk in den motorischen Triolen, una corda und subtile Pedalwechsel im Choral, strenge Tempo-Disziplin in der Coda („kein Beschleunigen“).

Das Werk ist das kürzeste, aber vielleicht intensivste der vier. Es beginnt mit peitschenden Oktavketten im Presto con fuoco, die wie ein Orkan über die Tasten jagen. Dann öffnet sich ein Des-Dur-Choral: breit, feierlich, von figurierten Girlanden umrankt – eine Kathedrale im Sturm. Diese Gegenüberstellung von ungestümer Motorik und sakralem Gesang bestimmt das Werk. Am Ende kehrt der Furor zurück, und die Coda wirbelt das Anfangsmotiv mit schneidender Präzision in den Abgrund.

Technisch gehört dieses Scherzo zu den schwierigsten: beidhändige Oktaven, extreme Lagenwechsel, große Akkorde im Choral, die in aller Ruhe und Klarheit leuchten müssen. Dass Chopin es Gutmann widmete, war kein Zufall: Er wusste, dass nur ein Pianist mit dessen Kraft und Disziplin dieses Drama mit Noblesse bewältigen konnte.

Quellen

 

Eine von Gutmann geschriebene Reinschrift dokumentiert Chopins letzte Korrekturen. Unterschiede zwischen den Erstausgaben betreffen vor allem Dynamik im Choral. Zeitgenössische Rezensenten betonten den „orchestralen“ Klangcharakter – eine Deutung, die Chopin selbst im Unterricht nahelegte.

Scherzo Nr. 3 in cis-Moll, op. 39 – Interpretationen

Yundi Li (* 1982 in Chongqing, China), Gewinner des Internationalen Chopin-Wettbewerbs 2000 in Warschau, gehört zu den Pianisten, die Chopin mit technischer Brillanz und zugleich mit lyrischer Klarheit interpretieren. In seiner Einspielung des dritten Scherzos (Deutsche Grammophon, 2005) zeigt er exemplarisch, wie sich dämonische Motorik und gesangliche Noblesse verbinden lassen.

Schon die eröffnenden Oktavketten im Presto con fuoco sind bei Yundi von schneidender Präzision, federnd im Handgelenk, klanglich durchschlagend, aber niemals hart. Die Motorik entwickelt sich unerbittlich, ohne forciert oder überhetzt zu wirken. Hier spürt man die Disziplin seines Spiels: das Tempo bleibt unter Kontrolle, die Energie entsteht aus Beharrlichkeit, nicht aus Überhastung.

Der große Des-Dur-Mittelteil ist ein Musterbeispiel für Yundis kantables Spiel. Der Choral entfaltet sich majestätisch, die Akkorde strahlen in feierlicher Ruhe, während die ornamentierenden Girlanden makellos in die Melodie eingewoben sind. Kritiker nannten diesen Moment bei Yundi „orgelhaft“ und „von majestätischer Klarheit“ – und tatsächlich wirkt dieser Mittelteil wie eine Kathedrale aus Klang.

Wenn der Furor zurückkehrt, bleibt Yundi diszipliniert. Die Reprise steigert sich logisch, ohne Übertreibung, und die Coda führt das Werk zu einem Höhepunkt, der nicht chaotisch wirkt, sondern von innerer Konsequenz geprägt ist. So entsteht eine Deutung, die auf Ausgleich zielt: Virtuosität ohne Prunk, Ernst ohne Schwere, Klarheit ohne Kälte.

Martha Argerich (* 1941 in Buenos Aires) verkörpert das genaue Gegenteil: Spontaneität, Risiko, elektrisierende Energie. Ihre berühmte Aufnahme des dritten Scherzos (live, Warschau 1965) gilt bis heute als eine der faszinierendsten Interpretationen dieses Werkes.

Schon die eröffnenden Oktavketten explodieren bei ihr wie Blitze. Argerich geht Risiken ein, das Tempo ist rasend, die Energie entfesselt – doch im Chaos herrscht Präzision. Sie spielt am Rand des Abgrunds, und gerade das macht den Reiz aus. Der Zuhörer erlebt eine pianistische Eruption, die sich unausweichlich steigert.

Im Des-Dur-Mittelteil schlägt ihr Spiel in eine völlig andere Welt um. Hier findet sie zu einer Ruhe von fast überirdischer Schönheit. Die Akkorde sind breit gespannt, die ornamentalen Figuren leuchten in hellem Glanz. Kritiker beschrieben diesen Abschnitt bei ihr als „Tor zur Ewigkeit“ – so stark wirkt der Kontrast zwischen dem dämonischen Anfang und diesem sakralen Choral.

In der Reprise und besonders in der Coda steigert Argerich das Stück in eine Ekstase, die atemlos macht. Alles scheint zu lodern, zu taumeln, und doch bleibt die Linie klar. Es ist ein Rausch, aber kein Kontrollverlust. Ihre Interpretation ist damit ein Ereignis: nicht klassisch-ausgeglichen, sondern existentiell, voller Leidenschaft und Risiko.

Viele Hörer halten Argerichs Scherzo Nr. 3 für eine der eindrucksvollsten Chopin-Darbietungen überhaupt. Sie zeigt, dass Chopins Musik nicht nur gebaut und diszipliniert sein kann, sondern auch glühen, funkeln, explodieren – und doch von größter künstlerischer Wahrheit erfüllt ist.

Sviatoslav Richter (1915–1997) war einer der großen Titanen des Klaviers im 20. Jahrhundert, ein Künstler von unerbittlicher Ernsthaftigkeit, der das Klavier nicht als Instrument der Zierde, sondern als Werkzeug existenzieller Wahrheit verstand. Seine Interpretation von Chopins Scherzo Nr. 3 in cis-Moll op. 39 ist ein erschütterndes Zeugnis dieser Haltung – sie gehört zu den eindrucksvollsten und zugleich radikalsten Deutungen des Werkes.

Schon die ersten Oktaven im Presto con fuoco haben bei Richter apokalyptisches Gewicht. Sie sind keine virtuosen Peitschenhiebe, sondern klingen wie Posaunenrufe, von einer Wucht, die fast orchestrale Dimensionen erreicht. Die Motorik wirkt unerbittlich, der Puls eisern – nichts flattert, nichts ist unbestimmt. Kritiker sprachen von einem „Orkan aus Tönen, der das Publikum niederdrückt“.

Im Des-Dur-Mittelteil schlägt Richter einen ganz eigenen Ton an. Während andere Pianisten hier lyrisch, sakral oder gar tröstlich klingen, gestaltet er den Choral monumental, streng, fast unnachgiebig. Der Klang hat etwas von Orgelpfeifen: gewaltig, unbeweglich, von einer Größe, die nicht ergreift, sondern überwältigt. Die ornamentalen Girlanden umspielen die Melodie nicht zart, sondern wirken wie lodernde Flammen, die das Monument umgeben.

Die Rückkehr zum cis-Moll-Furor und besonders die Coda sind von einer Konsequenz, die kaum ihresgleichen hat. Richter steigert das Tempo nicht unkontrolliert, sondern treibt das Werk mit eiserner Logik in den Abgrund. Am Ende wirkt das Scherzo nicht wie ein brillantes Virtuosenstück, sondern wie ein apokalyptisches Drama, das in Vernichtung mündet.

Seine Interpretation polarisiert bis heute. Vielen Hörern erscheint sie zu düster, zu schwer, zu „un-chopinisch“. Doch andere sehen gerade darin ihre Größe: Richter entkleidet Chopin von allem Salonhaften und zeigt ihn als tragischen Propheten, als Schöpfer einer Musik von universaler Wucht.

Sein Scherzo Nr. 3 ist kein „schönes“ Chopin-Spiel, sondern ein erschütterndes Erlebnis. Es ist eine Deutung, die nicht beschwichtigt, sondern fordert – und die den Abgrund sichtbar macht, über den diese Musik gebaut ist.

Scherzo Nr. 4 in E-Dur, op. 54 (1842–1843)

Das letzte Scherzo entstand 1842/43 in Nohant. Veröffentlicht wurde es 1843 in Paris (Schlesinger, Pl.-Nr. M.S. 3959), Leipzig (Breitkopf & Härtel, Pl.-Nr. 7003) und London (Wessel).

Widmung

 

Hier findet sich ein Kuriosum: Die Pariser Ausgabe widmet es Clotilde de Caraman (1824–1898), die Leipziger Ausgabe ihrer Schwester Jeanne de Caraman (fl. 1842–1845). Beide gehörten zur belgisch-französischen Adelsfamilie de Riquet de Caraman-Chimay und waren Chopins Schülerinnen. Dass zwei Schwestern gleichzeitig in verschiedenen Ausgaben genannt werden, ist eine editorische Seltenheit – und ein Hinweis auf Chopins Nähe zu den Pariser Aristokratie-Salons.

Form und Harmonie

Das vierte Scherzo unterscheidet sich von den drei Vorgängern:

  • A-Teil (E-Dur, T. 1–132): ein fließendes Presto voller Arabesken, ein perpetuum mobile von großer Transparenz.

  • B-Teil (cis-Moll, T. 133–246): kontrastierender Mittelteil mit dichterer Polyphonie, fast fugiert, ernst und streng.

  • A’-Teil (E-Dur, T. 247–310): Rückkehr zum Anfang, reicher ausgeschmückt.

  • Coda (E-Dur, ab T. 311): Steigerung zu einer strahlenden Auflösung, kristallin und gläsern.

Spieltechnik

 

Hier gilt es, das Klavier zum Leuchten zu bringen: Arabesken ohne Pedalschleier, pianistische Leichtigkeit, klar hervortretende Stimmen im cis-Moll-Mittelteil. Chopin verlangte, dass das Tempo „nicht Geschwindigkeit, sondern Atem“ sei – gerade im Finale.

Musikalisch ist dieses Scherzo das hellste und geheimnisvollste. Der Beginn schimmert in E-Dur wie ein perpetuum mobile: perlende Arabesken, leicht und durchscheinend. In der Mitte bricht ein cis-Moll-Abschnitt auf, ernst und polyphon verdichtet, bevor die Helligkeit wieder zurückkehrt. Manche Zeitgenossen fühlten sich an Mendelssohns Feen-Scherzi erinnert, doch Chopin geht weiter: Er komponiert eine freie Form, die an eine Sonatendurchführung denken lässt, ohne gelehrt zu wirken. Es ist Musik von lichtdurchfluteter Transparenz.

Für Pianisten ist dieses Werk eine Schule der Leichtigkeit: Arpeggien müssen ohne Pedalschleier perlen, Stimmen klar hervortreten, die Balance zwischen Helligkeit und Ernst gewahrt bleiben. Nach den stürmischen Vorgängern wirkt dieses Scherzo wie eine Befreiung: eine Apotheose des Lichts.

 

Quellen

 

Die Reinschrift Chopins ist erhalten und erlaubt sichere Textbasis. Unterschiede zwischen Pariser und Leipziger Ausgabe betreffen fast ausschließlich die Widmung. Rezensenten betonten die „helle Leichtigkeit“ des Stückes – nach den düsteren Vorgängern wirkte es wie eine Befreiung. Manche nannten es „ein Lächeln nach langen Tränen“.

 

Scherzo Nr. 4 in E-Dur, op. 54 – Interpretationen

Seong-Jin Cho (* 1994 in Seoul), Gewinner des Internationalen Chopin-Wettbewerbs 2015, hat in seiner Einspielung aller vier Scherzi (Deutsche Grammophon, 2021) ein besonderes Augenmerk auf das vierte Werk gelegt. Es zeigt ihn von seiner poetischsten Seite: transparent, federnd, leuchtend.

Der Beginn mit seinen fließenden Arabesken ist bei Cho von kristalliner Klarheit. Jedes Arpeggio perlt leicht und durchsichtig, nichts verschwimmt, kein Pedalschleier trübt die Linien. Viele Kritiker lobten diese Fähigkeit, „das Licht im Klang sichtbar zu machen“. Das Presto wirkt bei ihm nicht gehetzt, sondern schwebend – wie ein perpetuum mobile, das von innen her strahlt.

Im Mittelteil, wenn cis-Moll plötzlich die Helligkeit des E-Dur überschattet, zeigt Cho seine große Stärke: Ernst ohne Schwere. Die Stimmen bleiben klar gezeichnet, polyphon durchsichtig, der Kontrast wirkt markant, aber nie bedrückend. Es ist kein Zusammenbruch, sondern ein kurzer Schatten über einer sonnendurchfluteten Landschaft.

Die Rückkehr nach E-Dur bringt eine erneute Leichtigkeit, die Coda funkelt, ohne in äußerliche Virtuosität zu verfallen. Chos Interpretation ist modern im besten Sinn: makellose Technik, gepaart mit poetischer Intelligenz, die aus Transparenz Ausdruck gewinnt. Damit zeigt er das vierte Scherzo als Musik des Lichts – luftig, elegant und dennoch von innerem Ernst getragen.

 

Marc-André Hamelin (* 1961 in Montréal, Kanada), berühmt für seine stupende Technik und sein weites Repertoire, hat mit seiner Interpretation des vierten Scherzos gezeigt, dass er Chopin nicht nur virtuos, sondern auch poetisch durchdringen kann.

Die Arabesken des Beginns klingen bei Hamelin wie gläserne Girlanden: federnd, präzise, von makelloser Transparenz. Wo andere Pianisten Gefahr laufen, in verschwommenem Klang zu schwelgen, wahrt er eine klare Struktur: jede Figur ist erkennbar, jede Stimme ausbalanciert. Kritiker sprachen von „einem Spiel wie gemeißeltes Glas – funkelnd und doch fest gefügt“.

 

Im cis-Moll-Mittelteil entfaltet er eine ernste, polyphone Dichte, die jedoch nie schwer wirkt. Hamelin versteht es, den Kontrast auszukosten, ohne den Bogen zu brechen: das Ernsthafte bleibt eingebettet in den leuchtenden Gesamtcharakter des Werkes. So klingt der Abschnitt wie ein ernstes Innehalten, bevor das Licht zurückkehrt.

In der Coda schließlich steigert er das Werk zu einer brillanten Apotheose. Doch auch hier meidet er Effekthascherei: die Brillanz leuchtet aus innerer Logik, nicht aus äußerlichem Funkeln. Sein Schluss ist klar, gläsern, strahlend – eine Apotheose der Transparenz.

Hamelins Deutung zeigt, dass Chopins viertes Scherzo nicht nur ein brillantes Kabinettstück ist, sondern ein Werk von tiefer poetischer Balance. Technische Perfektion verbindet sich mit geistiger Klarheit – eine Lesart, die im heutigen Diskurs über Chopin höchste Anerkennung findet.

Ivan Moravec (1930–2015), der tschechische Pianist, galt unter Kennern als „Pianisten-Pianist“ – ein Künstler von stiller Größe, dessen Chopin-Spiel von tiefem Ernst, feinstem Klangempfinden und einer seltenen Balance von Kopf und Herz geprägt war. Er mied das Rampenlicht, hinterließ aber eine Reihe von Aufnahmen, die von Pianistenkollegen wie auch von Kritikern hoch geschätzt werden. Sein Scherzo Nr. 4 in E-Dur op. 54 ist ein Musterbeispiel für diese Kunst.

Schon der Beginn ist bei Moravec von wunderbarer Natürlichkeit. Die Arabesken perlen nicht kühl wie Glas, sondern fließen wie lebendige Linien, atmend, warm und klar. Jede Figur ist sorgfältig ausgehört, doch niemals mechanisch. Sein Ton hat jene legendäre „Glut im Piano“, für die er berühmt war: nicht laut, nicht schwülstig, sondern von innerem Leuchten getragen.

Der Mittelteil in cis-Moll entfaltet sich bei ihm als ernstes, kontrapunktisches Geflecht, das von Klarheit und Ruhe lebt. Wo andere Pianisten in Strenge oder Gewicht verfallen, bewahrt Moravec eine fast asketische Einfachheit. Jede Stimme ist hörbar, die Polyphonie transparent, und doch klingt alles von innerer Wärme durchdrungen. Dieser Ernst wirkt nicht erdrückend, sondern würdevoll – ein Moment tiefer Konzentration.

In der Rückkehr nach E-Dur blüht sein Spiel auf. Moravec lässt das Licht wiederkehren, doch nicht als grelle Explosion, sondern als mildes, warmes Leuchten. Seine Coda ist kein virtuoses Spektakel, sondern eine organische Steigerung, die sich wie selbstverständlich in den strahlenden Schluss fügt. So wirkt das Werk nicht wie ein Bravourstück, sondern wie ein poetisches Klanggedicht, dessen Botschaft aus innerer Notwendigkeit erwächst.

Kritiker haben Moravecs Chopin immer als „ehrlich, unsentimental und von überlegener Klangkultur“ beschrieben. In seinem Scherzo Nr. 4 hört man genau das: keine Pose, keine Show, keine Manieriertheit – nur reine Musik, gespielt mit einem Klang, der Herz und Verstand gleichermaßen anspricht.

Schluss

Chopins vier Scherzi markieren eine radikale Neuerfindung. Aus dem „Scherz“ wurde ein musikalisches Drama, eine Symphonie für Klavier. Sie sind keine kleinen Spiele, sondern Klanggedichte, die zwischen Furor und Innigkeit, Tragik und Licht oszillieren. Die Widmungen – an einen Diplomaten, eine Aristokratin, einen treuen Schüler, zwei Adlige – spiegeln Chopins persönliches Umfeld wider.

Vom düsteren h-Moll-Scherzo über das byronische b-Moll, die komprimierte Gewalt des cis-Moll bis zum strahlenden E-Dur spannt sich ein Bogen, der nicht als Zyklus gemeint war, aber dennoch wie ein inneres Drama wirkt. Schumanns Wort von den „dunklen Schleiern“ steht am Anfang – doch das Ende gehört dem Licht.

 

Gesamtaufnahmen der vier Scherzi

Nach der detaillierten Betrachtung der einzelnen Scherzi lohnt es sich, auch die großen Gesamtaufnahmen ins Auge zu fassen. Vier Zyklen ragen in besonderer Weise heraus – sie zeigen verschiedene Generationen, Schulen und ästhetische Ansätze. Gemeinsam zeichnen sie ein Panorama dessen, wie Chopins Scherzi im 20. und 21. Jahrhundert verstanden und interpretiert wurden.

*Seong-Jin Cho (1994) – Chopin: Piano Concerto No. 2 & 4 Scherzi (Deutsche Grammophon, 2021)


Der südkoreanische Pianist Seong-Jin Cho, Gewinner des Chopin-Wettbewerbs 2015, steht für die junge Generation. Seine Gesamtaufnahme der Scherzi überzeugt durch kristalline Klarheit, makellose Technik und poetische Intelligenz. Kritiker lobten seine „staunenswerte Transparenz“ (Gramophone), während das BBC Music Magazine von einer „Selbstverständlichkeit und Noblesse des Tons“ sprach. Das Drama des h-Moll-Scherzos gestaltet er als kontrollierte Architektur, im b-Moll-Scherzo glänzt seine Fähigkeit zum extremen Pianissimo, im cis-Moll-Scherzo bewältigt er die dämonische Motorik mit eiserner Präzision, und im E-Dur-Scherzo zeigt er eine helle, fließende Leichtigkeit. Damit bietet er eine moderne, exemplarische Deutung, die sowohl junge Hörer anspricht als auch erfahrene Chopin-Liebhaber überzeugt.

Claudio Arrau (1903–1991) – Chopin: 4 Scherzi, Polonaise-Fantaisie (Decca, 1985)


Claudio Arrau repräsentiert die große Tradition des 20. Jahrhunderts, die Chopin nicht als eleganten Salonkomponisten, sondern als tragischen Dichter von symphonischer Dimension versteht. Seine Aufnahme der vier Scherzi ist schwer, dunkel, monumental. Besonders das h-Moll-Scherzo gestaltet er als tragisches Monument von innerer Wucht, im b-Moll-Scherzo wuchtet er die Extreme in einen existentiellen Rahmen, das cis-Moll-Scherzo wird bei ihm zu einem Orkan mit unerbittlicher Logik, und im E-Dur-Scherzo wirkt das helle Licht nicht heiter, sondern erhaben. Arraus Scherzi sind nicht „schön“ im dekorativen Sinn, sondern gewaltige Klangdramen, die zu den ernstesten und tiefgründigsten Interpretationen gehören. Manche Hörer empfinden sie als „altmodisch“ – doch wer sich einlässt, entdeckt die vielleicht tragischste Dimension von Chopins Kunst.

Yundi Li (* 1982) – Chopin: 4 Scherzi & Impromptus (Deutsche Grammophon, 2005)

Yundi, der 2000 als erster Chinese den Chopin-Wettbewerb gewann, bietet in seiner DG-Einspielung eine ganz andere Sicht: virtuos, brillant, elegant. Seine Scherzi funkeln, sind voller Leichtigkeit und Energie, nie verkrampft, nie schwer. Kritiker lobten die „brillante Technik“ und „jugendliche Frische“, während manche die Lesart als zu glatt oder oberflächlich empfanden. Besonders das cis-Moll-Scherzo gewinnt bei ihm eine klare Struktur, ohne den Orkancharakter zu verlieren, und das E-Dur-Scherzo strahlt in funkelnder Helligkeit. Yundi ist kein Tragiker wie Arrau, kein Architekt wie Zimerman, sondern ein Pianist, der Chopin hell, klar und mit Eleganz zeigt. Damit spricht er ein breiteres Publikum an, ohne den Respekt vor der Partitur zu verlieren.

Adam Harasiewicz (* 1932) – The Four Scherzos (Philips, 1958–62; Reissue 2024)

Adam Harasiewicz, Sieger des Chopin-Wettbewerbs 1955, repräsentiert die polnische Schule der 1950er Jahre. Seine Scherzi sind straff, rhythmisch klar, direkt. Keine übermäßigen Rubati, keine romantische Verzuckerung – dafür klare Architektur, dynamische Präzision und polnische Erdung. Manche empfanden seine Lesart als „zu kühl“, doch gerade in dieser Zurückhaltung liegt eine große Ehrlichkeit. Besonders das cis-Moll-Scherzo spielt er mit orchestraler Schärfe, das E-Dur-Scherzo perlt leicht, ohne Sentimentalität. Harasiewicz’ Aufnahme ist historisch bedeutsam und wurde erst kürzlich in neuer Remastering-Qualität wiederveröffentlicht. Sie bleibt ein wichtiges Dokument der polnischen Chopin-Tradition.

Zugabe

Garrick Ohlsson (* 1948) – Live-Aufnahme (YouTube, kein offizielles Album; 1970, Warschau, im Kontext des 8. Chopin-Wettbewerbs)


Als besondere Ergänzung sei Garrick Ohlsson erwähnt, der 1970 den Chopin-Wettbewerb gewann und bis heute als einer der souveränsten Chopin-Interpreten gilt. Zwar gibt es von ihm keine offizielle Gesamtaufnahme der Scherzi im Streaming, doch eine Live-Aufnahme ist auf YouTube erhalten und zeigt ihn in voller Größe. Sein Spiel verbindet Noblesse, Klarheit und Kraft. Anders als Arrau monumental oder Yundi brillant, findet Ohlsson zu einer natürlichen Balance. Sein Chopin ist stets klassisch, nie manieriert, von jener „amerikanischen Gelassenheit“ getragen, die in Verbindung mit seiner tiefen Kenntnis der polnischen Tradition zu einer einzigartigen Mischung führt. Diese Live-Darbietung ist ein wertvolles Zeugnis, das man unbedingt hören sollte – auch wenn es keine Studio-Referenz ist. 

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