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Die Impromptus

Schon im Wort Impromptu liegt eine Verheißung: es bedeutet „aus dem Stegreif“, das spontane Hervorbrechen einer Idee, die wie aus dem Augenblick geboren scheint. In der Musik des frühen 19. Jahrhunderts wurde diese Bezeichnung zum Inbegriff kleiner poetischer Formen, die improvisatorisch wirken und doch in sich geschlossen sind. Für Komponisten wie Jan Václav Voříšek (1791–1825) und Franz Schubert (1797–1828) war das Impromptu die elegante Möglichkeit, das Ungezwungene und den lyrischen Atem ihrer Phantasie in Noten zu bannen; Schuberts Zyklen haben den Gattungsnamen geradezu geprägt. Frédéric Chopin (1810–1849) hat diese Gattung zwar nicht erfunden, doch er verlieh ihr eine unverwechselbare Prägung: in seinen vier Impromptus verschmilzt der Eindruck spontaner Eingebung mit höchster formaler Delikatesse – Virtuosität und Innigkeit werden zu einer einzigen, unaufdringlichen Kunst.

Chopin schrieb vier Impromptus. Das erste, As-Dur op. 29, entstand 1837 und erschien noch im selben Jahr in Paris bei Maurice Schlesinger sowie in London bei Wessel; die Leipziger Erstausgabe bei Breitkopf & Härtel folgte – je nach Katalogisierung – Ende 1837 oder im Jahr 1838. Gewidmet ist das Stück Caroline de Lobau (1798–1865), einer Schülerin aus dem Pariser Gesellschaftskreis. Dass die Quellen hier leicht unterschiedliche Datierungen und Plattennummern überliefern, gehört zur Editionsgeschichte vieler Chopin-Werke; maßgebliche Kataloge nennen Paris und London 1837 und Leipzig kurz darauf. 

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Das zweite Impromptu, Fis-Dur op. 36, komponierte Chopin 1839; die Pariser Erstausgabe erschien 1840 nicht bei Schlesinger, sondern bei E. Troupenas & Cie., parallel noch im selben Jahr die Ausgaben bei Breitkopf & Härtel (Leipzig) und Wessel (London). Dass ältere Sekundärangaben mitunter Schlesinger nennen, erklärt sich aus späteren Pariser Nachdrucken; maßgebliche Werkverzeichnisse führen als Erstdruck eindeutig Troupenas. Eine Widmung fehlt – vielleicht nicht zufällig bei diesem Stück mit seinem besonders persönlichen Ton.

Das dritte Impromptu, Ges-Dur op. 51, entstand 1842 und wurde 1843 in Paris bei Maurice Schlesinger gedruckt; die Titelblatt-Widmung nennt „Madame la Comtesse Esterházy, née Comtesse Batthyány“. Parallel erschienen Londoner und Leipziger Drucke. In manchen Kurzbiographien wird hier irrtümlich der Pariser Verlag Meissonnier genannt – der tatsächlich aber für das postum edierte Fantaisie-Impromptu op. 66 maßgeblich wurde.

Das Fantaisie-Impromptu cis-Moll op. 66 schließlich schrieb Chopin bereits 1834, hielt es aber zurück. Erst sein Freund und Schüler Julian Fontana (1810–1869) edierte das Werk 1855 und prägte den Zusatz Fantaisie; nahezu gleichzeitig erschienen die Erstausgaben bei Meissonnier in Paris, bei A. Schlesinger in Berlin und bei Ewer & Co. in London. Fontanas Rolle ist hier die des Herausgebers aus dem Nachlass, nicht die des Verlegers.

Das As-Dur-Impromptu op. 29 eröffnet die Reihe wie ein Funkenregen: der Diskant perlt in schnellen Arabesken, die den Augenblick feiern, doch hinter der glitzernden Oberfläche steht eine ruhige Hand – klar gegliedert, souverän disponiert. Eine gesangliche Episode, weich und innig, führt in eine träumerische Mittelpartie (Ges-Dur), bevor die funkelnde Bewegung des Anfangs zurückkehrt. Diese Musik wirkt, als wäre sie improvisiert, und ist doch makellos gefügt – Chopin als Zauberer der Freiheit in der Form. Robert Schumanns Bild von „Kanonen, versteckt in Blumen“ – der Mischung aus Grazie und innerer Spannung – scheint eigens für solche Seiten geprägt.

Das Fis-Dur-Impromptu op. 36 besitzt größeren Atem. Der Anfang wirkt nach innen gewandt, als lausche die Musik sich selbst, dann aber öffnet sich im Mittelteil ein feierlicher Choral in Des-Dur, der beinahe symphonischen Charakter gewinnt. Die Rückkehr des ersten Themas erscheint wie durch Erinnerung verklärt. Diese Seite Chopins – der Erzähler, der aus wenigen Motiven eine weite Landschaft formt – ist hier besonders deutlich spürbar. Gerade weil keine Widmung überliefert ist, wirkt das Stück wie ein persönlicher Eintrag ins Tagebuch, ohne jeglichen Salon-Effekt.

Das Ges-Dur-Impromptu op. 51 entfaltet sich wie ein Gespräch im Halbdunkel. Zarte Arabesken schweben über einer schimmernden Begleitung, scheinbar beiläufig, und doch in jeder Faser kunstvoll proportioniert. Der kontrastierende Mittelteil schlägt leidenschaftlichere Töne an, verweht aber wieder in die beginnende Zartheit. Dieses Werk ist ein poetisches Flüstern, ein In-sich-Hineinsingen auf dem Pleyel, dessen zarter, perlender Ton in Chopins Händen zur idealen Klanghaut wurde.

Am bekanntesten ist das Fantaisie-Impromptu op. 66. Es hebt an wie ein Sturm: rechts jagen Sechzehnteltriolen, links antworten gleichmäßige Achtel – ein rhythmischer Wettlauf, der den Puls beschleunigt. Und doch bricht aus dieser Unruhe eine der innigsten Melodien Chopins hervor, der mittlere Abschnitt in Des-Dur, ein Kantilenen-Bogen, der längst zum Weltgedächtnis der Klaviermusik gehört. Wenn die aufgewühlte Eingangspassage zurückkehrt, wird der Kontrast – Brillanz und Lyrik, Exaltation und Trost – noch einmal grell und wahr zugleich. Da steht Chopin als Virtuose und Dichter – zwei Gesichter, eine Stimme.

Diese vier Stücke bilden kein geschlossenes Opus wie Balladen oder Scherzi, doch sie zeichnen ein biografisches Mosaik entscheidender Jahre. Das Fantaisie-Impromptu von 1834 fällt in die ersten Pariser Jahre, als Chopin Exil, Heimweh und Neuanfang zugleich erlebte. 1837, zur Zeit des op. 29, ist er bereits ein gefragter Lehrer und gefeierter Salon-Künstler; die Widmung an Caroline de Lobau spiegelt die gesellschaftliche Verankerung. 1839 – Mallorca, Krankheit, die neue Nähe zu George Sand – wächst aus der Unruhe das weit gespannte op. 36, das eher erzählt als brilliert. 1842, mit op. 51, findet Chopin in Nohant jene Ruhe, die seine reifen Werke atmen; die Widmung an Comtesse Esterházy zeigt zugleich die Welt, in der diese intime Kunst zirkulierte. So stehen die Impromptus zwischen Stadt und Land, zwischen Gesellschaft und Rückzug, und machen das „Zwischen“ selbst zum poetischen Gegenstand.

Die Rezeption im 19. Jahrhundert setzte früh ein, aber anders als bei den Etüden oder Nocturnes blieb der öffentliche Konzertsaal zunächst nicht ihr natürliches Habitat; sie lebten in den Pariser Salons und in der Pädagogik weiter. Chopin selbst spielte selten große, öffentliche Recitals; vielmehr wirkten seine Pupillen als Übermittler seines Stils. Karol Mikuli (1821–1897), einer der wichtigsten Schüler, bewahrte und ordnete die Tradition in seiner groß angelegten Leipziger Gesamtausgabe bei Fr. Kistner (1879). Sein Vorwort – von der National-Edition als Schlüsseldokument gefeiert – betont, dass Chopin in der Zeitgestaltung „unbeugsam“ war und das Rubato aus der Melodie herauswachsen müsse, während das Fundament klar und ruhig zu bleiben habe: Die Freiheit der rechten Hand balanciert auf der verlässlichen Zeit der linken. Dieses Verständnis prägte Generationen und ist mit Gründen zur Grundlage historischer Chopin-Interpretation geworden.

Neben Mikuli prägten die großen interpretatorischen Gesamtausgaben die Verbreitung – und damit die Aufführungspraxis – der Impromptus. Karl Klindworth (1830–1916) edierte Chopins Klavierwerke 1873–1876 in Moskau bei Jurgenson; in Deutschland folgte die große Breitkopf-Revision 1878–1880 (u. a. mit Woldemar Bargiel und Johannes Brahms). Diese editorischen Unternehmungen – wissenschaftlich, praktisch und mitunter deutlich „interpretierend“ – machten die Impromptus in Repertoire-Zyklen sichtbar und verankerten Fingersätze, Pedalisierung und Phrasierungsgewohnheiten, die bis ins 20. Jahrhundert hineinwirkten.

Die Spur führt aber auch in die Unterrichtssäle und auf kleine Podien: Chopins Schüler Georges Mathias (1826–1910) vermittelte am Pariser Conservatoire von 1862 bis 1887 genau jene Mischung aus Gesangston, fein dosiertem Rubato und unaffectierter Eleganz, die Zeitzeugen als „Chopins Handschrift“ beschrieben. Schon Mitte des Jahrhunderts tauchen Impromptus in Programmen außerhalb Frankreichs auf; in den USA etwa wird ein „Impromptu von Chopin“ im Kontext pädagogischer Konzerte der 1850er Jahre erwähnt – ein Indiz, wie rasch die Stücke über die Salonkultur hinaus in den internationalen Musikbetrieb einsickerten.

Nicht zu unterschätzen ist der Beitrag der Druck- und Verlagslandschaft selbst. Für op. 29 lässt sich die Drehscheibe Paris–London–Leipzig 1837/38 präzise nachzeichnen; für op. 36 ist Troupenas in Paris der maßgebliche Erstverleger, parallel die 1840er Drucke in London und Leipzig, während op. 51 nachweislich in Paris bei M. Schlesinger erschien; und das Fantaisie-Impromptu wurde 1855 durch Fontanas Edition bei Meissonnier (Paris) sowie synchron in Berlin (A. Schlesinger) und London (Ewer & Co.) in den europäischen Markt eingespeist. Diese Knotenpunkte des 19. Jahrhunderts – Pariser Haus Meissonnier/Brandus, Schlesinger in Paris und Berlin, Breitkopf & Härtel in Leipzig, Wessel/Ewer in London – sind nicht nur bibliographische Daten, sondern erklären, wie und warum die Impromptus so früh eine internationale Zirkulation erfuhren.

Auch die Klangästhetik der Epoche wirkte mit. Zeitgenössische Beschreibungen und Schülerberichte zeichnen Chopins Rubato nicht als „wogendes Tempo“, sondern als delikat schwebende Melodie über einem ruhigen Puls – eine Technik, die auf den pfeilgeraden, hellen Pleyel-Flügeln seiner Zeit eine geradezu sprechende Deutlichkeit gewann. Dass Mikuli hierfür nicht bloß eine Regel, sondern eine Poetik formulierte – Freiheit nur aus dem Ausdruck, nie gegen ihn – erklärt, weshalb die Impromptus jenseits des virtuosen Reizes so beredt wirken.

So erscheinen die vier Impromptus heute nicht als Nebenwerke, sondern als kleine, eigenständige Klanggedichte. Sie sind Zeugnisse einer Kunst, die das Flüchtige zum Dauerhaften macht, die aus scheinbar improvisiertem Spiel unvergängliche Schönheit gewinnt. In ihnen ist Chopin der Improvisator und der Architekt, der Virtuose und der Poet – ein Dichter am Klavier, der zwischen Licht und Schatten, zwischen Glanz und Intimität balanciert. Und vielleicht liegt ihr Zauber gerade darin, dass sie nie größer sein wollen, als sie sind – und doch die ganze Welt in einen Atemzug fassen.

 

Kurz zusammengefasst:  Chopin hinterließ vier Impromptus – drei erschienen zu seinen Lebzeiten, ein viertes erst postum.

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Impromptu Nr. 1 As-Dur, op. 29: 1837 veröffentlicht (Breitkopf & Härtel, Leipzig; parallel M. Schlesinger, Paris; Wessel & Co., London).

Hörbeispiel 1.

Artur Rubinstein (1887 – 1982) – die klassische, unmanierierte Referenz: frei atmendes Rubato, funkelnder Fluss, nie „gemacht“, immer natürlich. Ideal als Grundlinie fürs Ohr:

Hörbeispiel 2.

Garrick Ohlsson (* 1948) – strukturell klar, nobler Ton, makellose Balance der Hände; großartige „Lesbarkeit“ des Satzes bei voller Poesie:

Hörbeispiel 3.

Seong-Jin Cho (* 1994) – geschmackvoll proportioniert, sehr kultivierter Anschlag, schlanke Agogik; eine moderne, stilreine Sicht ohne Glamour-Effekte:

Impromptu Nr. 2 Fis-Dur, op. 36: 1839 entstanden, 1840 bei E. Troupenas & Cie. in Paris erschienen (nahezu zeitgleich Ausgaben in Leipzig und London).

Hörbeispiel 1.

Garrick Ohlsson – die weit gespannte Mittelsektion in D-Dur (Sostenuto) bekommt hier Atem und Ruhe; die Außenteile in Fis-Dur bleiben elastisch und schlank – insgesamt sehr ‚aus einem Guss‘

Hörbeispiel 2.

Artur Rubinstein - legt architektonisch an. Die Außenteile in Fis-Dur fließen ruhig und geschmeidig; man hört deutlich, wie er den Satz von innen her trägt – die Mittelstimmen sind geordnet, die Begleitfiguren haben Tritt. In der großen Sostenuto-Mittelpartie in D-Dur entfaltet Rubinstein noblen Atem, ohne je schwer zu werden: der quasi-choralartige Aufbau wächst durch Klangbalance, nicht durch Druck. Die Steigerung ist organisch, der Klang bleibt rund, das Legato unaufdringlich edel. Wenn das Anfangsthema wiederkehrt, klingt es wie erinnert und veredelt – ein klassischer Kreisschluss, der die Form bündelt und nicht bloß wiederholt.

Hörbeispiel 3.

Murray Perahia (* 1947 in New York City) setzt die Außenteile in Fis-Dur meist mit einem schlanken, federnden Puls an. Das Tempo ist nie eilfertig, eher ein ruhiges Fließen mit viel Luft zwischen den Tönen. Seine rechte Hand phrasiert mit kantablem Legato, die linke bleibt elastisch und sauber konturiert, sodass die Textur durchsichtig bleibt – kein dichter Nebel, sondern klar gezeichnete Linien. Rubato gibt es, aber nie als Zierat: es ist eine organische Atembewegung, die aus der Melodie herauskommt und den Satz nicht zerteilt.

 

In der Sostenuto-Mittelpartie in D-Dur öffnet er den Klang wie ein leiser Choral. Charakteristisch ist die edle, „runde“ Tongebung: nie breit oder schwer, sondern mit Wärme und tragendem Pianissimo, das sich allmählich ins Mezzoforte und Forte aufspannt. Die Stimmen sind sorgfältig balanciert – Perahia lässt die Mittelstimmen färben, ohne die Oberstimme zu erdrücken, und dosiert das Pedal in halben Wechseln, damit die Harmonik leuchtet, aber nicht verschwimmt. Die Kulmination wirkt darum nicht pathetisch, sondern unbedingt: ein natürlicher Höhepunkt aus Klanglogik.

 

Die Rückkehr nach Fis-Dur hat bei ihm etwas Verklärtes. Man hört dieselben Figuren wie zu Beginn, aber sie sind „weitergereist“: die Artikulation bleibt leicht, das Tempo bleibt integer, nur die innere Spannung ist reicher. In der Coda hält Perahia die Zügel kurz; nichts donnert, nichts protzt. Statt Effektkraft setzt er auf Linienführung – und gerade dadurch sitzt der Schluss fest und leuchtet.

Impromptu Nr. 3 Ges-Dur, op. 51: 1842 komponiert; Erstdruck 1843 bei Maurice Schlesinger in Paris.

Hörbeispiel 1.

Angela Hewitt (* 1958 in Ottawa, Kanada) - Musterbeispiel für Transparenz: die arabeskenhafte Oberfläche bleibt gläsern, der Mittelteil erwärmt sich ohne zu verdicken. Fazioli-Klang, sehr „sprechende“ Artikulation:

Hörbeispiel 2.

 Nikita Magaloff  (1912 in Sankt Petersburg – 1992) – elegante, klassische Linie; viel Innenspannung bei nobler Zurückhaltung. Ein „Pariser“ Ton alter Schule, der diesem Stück besonders steht:

Hörbeispiel 3.

Kate Liu (* 1994 in Singapur) ist eine US-amerikanische Pianistin – fein moduliertes Rubato, intime Klangrede; ein modernes Beispiel, wie leise Poesie im Saal trägt:


 

Fantaisie-Impromptu cis-Moll, op. 66: 1834 komponiert; 1855 von Julian Fontana (1810–1869) ediert und parallel bei Meissonnier (Paris), A. Schlesinger (Berlin) sowie Ewer & Co. (London) verlegt.

 

Hörbeispiel 1. 

Artur Rubinstein - atemloser Drive ohne Hektik, Mittelteil nobel gesungen; der „goldene Mittelweg“, an dem man andere messen kann:

Hörbeispiel 2.

Dmitri Schischkin (* 1992 in Tscheljabinsk, Russland) spielt das Fantaisie-Impromptu mit jener modernen Mischung aus Stahl und Poesie, die sofort elektrisiert: der Beginn hat Hochspannung, aber keine Hektik. Die rechte Hand zeichnet die wirbelnden Sechzehntel mit messerscharfer Artikulation, die linke hält einen unerschütterlichen Puls – genau jene stabile „Grundzeit“, auf der das Rubato der Melodie frei atmen darf. Entscheidend ist, dass er die Figur nicht einfach „durchrasselt“: die Oberstimme bekommt feine Mikro-Akzente, kleine dynamische Wellen, sodass aus dem Mechanischen musikalische Sprache wird. Pedal setzt er knapp, mehr als Lichtakzent denn als Weichzeichner; dadurch bleibt die Harmonik transparent und der Kontrapunkt der Binnenstimmen hörbar.

 

In der großen Des-Dur-Kantilene zeigt Shishkin seine andere Seite: belcantohaft, aber schlank, ohne Zuckrigkeit. Die Linie steht auf festem Legato, die Mittelstimmen färben diskret, die Bassführung bleibt lesbar. Er phrasiert in weiten Bögen, lässt die Spannung organisch wachsen und vermeidet jene sentimentale Überdehnung, in der das Stück gern versinkt. Das Rubato ist hier „atmend“ statt „wogend“: kleine Vorhalte, minimal verzögerte Zieltöne, sofort wieder in den Fluss entlassen. Pedalwechsel sind hörbar sauber; die Harmoniewechsel leuchten, ohne zu verwischen.

 

Die Rückkehr des Anfangs gelingt mit kluger Dramaturgie. Er erhöht die Energie, ohne den Klang zu verhärten; Akzente sitzen, aber sie knallen nicht. In der Coda zeigt sich die Souveränität am deutlichsten: Tempo fest, Finger klar, keine „Zerfaserung“ der Linien, die Schlussakkorde kompakt und doch rund im Ton. Das Ganze wirkt wie aus einem Guss – Virtuosität als Mittel, nicht als Botschaft.

 

Im Vergleichsbild positioniert sich Shishkin näher bei der hochauflösenden Gegenwart als bei der goldenen Mittellinie Rubinsteins. Rubinstein klingt sonniger, nonchalanter, mit dem berühmten „sich von selbst ergebenden“ Rubato; Perahia modelliert runder, klassizistischer und noch strenger im Pedal; Shishkin bringt mehr Kante, mehr Kontrast, eine etwas ausgeprägtere vertikale Präzision. Wer das Stück als brillante, aber kontrollierte Miniatur liebt, bekommt hier eine exemplarische moderne Lesart: klar, fokussiert, mit echtem Zug – und einer Mittelpartie, die singt, ohne zu schwelgen:

 

Hörbeispiel 3. 

Daniil Trifonow (* 1991 in Nischni Nowgorod, Russland)

Trifonov startet mit hoher elektrischer Spannung, doch ohne Hektik: das Grundtempo ist zügig, die Triolen der rechten Hand sind messerscharf artikuliert und fein nuanciert, die linke Hand hält einen eisernen, absolut zuverlässigen Puls. Entscheidender als bloße Virtuosität ist seine Sprachbildung: er akzentuiert kleine Schwerpunkte innerhalb der Triolen, so dass nicht eine Figur „durchrasselt“, sondern eine Linie spricht. Das Pedal bleibt knapp – eher Lichtakzent als Weichzeichner –, wodurch die Harmonik klar konturiert und der Kontrapunkt der Binnenstimmen hörbar bleibt.

Der Übergang in die Des-Dur-Kantilene wirkt bei ihm wie ein Atemholen, kein abrupter Szenenwechsel. Trifonov phrasiert den Gesang in weiten Bögen, mit belcantohaftem Legato und subtilen, lokal gesetzten Rubati an Zieltönen und Kadenzen. Er balanciert Ober- und Mittelstimmen vorbildlich: die Melodie blüht, aber die inneren Linien färben, ohne zu beschweren. Das Pedal wechselt halbstufig und transparent, die Harmonie leuchtet, ohne zu verschmieren. So vermeidet er Sentimentalität: die Mitte schwebt, sie steht nicht.

Wenn der Eröffnungssog zurückkehrt, steigert er die Energie, ohne den Ton zu verhärten. Die Artikulation bleibt federnd und klar, die metrische Stabilität der linken Hand garantiert, dass der bekannte „Wettlauf“ zwischen Triolen und Achteln nicht in Unruhe kippt, sondern in kontrollierter Rasanz weiterrollt. In der Coda zeigt sich seine Souveränität am deutlichsten: kein „Zerfransen“ der Linien, keine nervöse Überhitzung, sondern stringente Organisation bis zum letzten Akkord—glänzend, aber nie grell.

Charakteristisch ist insgesamt Trifonovs modernes „Hochauflösungs-Profil“: große dynamische Spreizung, scharfe Kanten, gleichzeitig eine erstaunlich gesangliche Mitte. Gegen Rubinstein wirkt er weniger sonnig und nonchalant, dafür kontrastreicher und vertikal präziser; gegenüber Perahia ist er weniger klassizistisch gebändigt, mit etwas größerem dramatischem Relief. Das Entscheidende: seine Virtuosität bleibt Mittel, nicht Botschaft—der Stückcharakter tritt klar hervor, und die Musik behält auch in größter Bravour ihren Sinn für Linie und Sprache.

Worauf man beim Hören besonders achten kann: auf die Mikro-Akzente in den Triolen des Anfangs, die „Atmer“ an den Wendepunkten der Des-Dur-Melodie, die sauberen Pedalwechsel bei Chromatik und Sequenzen sowie auf die Geschlossenheit der Coda. Wenn all das trägt, entsteht genau jener Eindruck, den Trifonov hier vermittelt: ein Fantaisie-Impromptu von packender Klarheit und poetischer Ruhe im Innersten.

Am Ende bleibt von Chopins Impromptus der Eindruck einer Kunst, die das Flüchtige in Form fasst. Vier Stücke, kein „Zyklus“ – und doch ein innerer Zusammenhalt: der freie Atem der Improvisation trifft auf eine Architektur, die nichts dem Zufall überlässt. Hier zeigt sich Chopin als Dichter am Klavier, der den Augenblick nicht festnagelt, sondern ihm Gestalt gibt. Die Brillanz ist nie Selbstzweck, die Lyrik nie süßlich; beides steht im Dienst einer Sprache, die mit leiser Autorität spricht.

Wer sie hört, darf die Maßstäbe mitnehmen, an denen Chopin selbst seine Kunst gemessen wissen wollte: ein singender Ton, ein Rubato, das aus der Melodie wächst, eine Linke, die den Puls bewahrt, und ein Pedal wie Licht, nicht wie Nebel. So werden diese scheinbar kleinen Stücke zu „Klanggedichten“ – mal funkelnd, mal meditativ, immer von jener Noblesse, die nicht laut werden muss, um zu wirken.

Vielleicht liegt ihr besonderer Zauber darin, dass sie nichts beweisen wollen. Sie öffnen einen Raum zwischen Salon und Konzertsaal, zwischen Virtuosität und Intimität, zwischen Welt und Rückzug – und laden dazu ein, die eigene Zeit darin zu finden. Wer die Impromptus so hört, entdeckt nicht Nebenwerke, sondern vier prägnante Selbstporträts eines Künstlers, der das Ungeplante zur Vollendung erhob.

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