Josquin Desprez (* um 1450 – † 1521)
Josquin Desprez (* um 1450/1455 – † 27. August 1521) gilt als einer der bedeutendsten Komponisten der Renaissance und als Hauptvertreter der franko-flämischen Schule. Geboren vermutlich in der Grafschaft Hainaut (heutiges Belgien oder Nordfrankreich), wirkte er unter anderem in Mailand, am päpstlichen Hof in Rom, am Hof von Ferrara sowie in den burgundisch-habsburgischen Niederlanden, bevor er als Propst der Stiftskirche in Condé-sur-l’Escaut starb. Zeitgenossen rühmten ihn als „Princeps musicorum“ („Fürst der Musiker“), und dank der frühen Notendrucke von Ottaviano Petrucci verbreiteten sich seine Werke in ganz Europa. Stilistisch zeichnen sie sich durch meisterhaften Kontrapunkt, den innovativen Einsatz der Imitation sowie eine enge Bindung von musikalischem Ausdruck und Textbedeutung aus. Josquin hinterließ ein umfangreiches Œuvre, darunter zahlreiche Messen (etwa die Missa Pange lingua oder die Missa Hercules Dux Ferrariae), Motetten wie Ave Maria … Virgo serena oder Miserere mei, Deus sowie weltliche Chansons in mehreren Sprachen. Mit seiner klaren und ausdrucksstarken Polyphonie prägte er den Übergang zur Hochrenaissancemusik und gilt bis heute als einer der ersten „internationalen Komponistenstars“ der Musikgeschichte.
1. O admirabile commercium (5 pars)
Fol. 14v–22 — 4 Stimmen
Lateinischer Text:
O admirabile commercium:
Creator generis humani,
animatum corpus sumens,
de virgine nasci dignatus est;
et procedens homo sine semine,
largitus est nobis suam Deitatem.
Alleluia.
Deutsche Übersetzung:
O wunderbarer Tausch:
Der Schöpfer des Menschengeschlechts,
nahm einen beseelten Leib an
und würdigte sich, von einer Jungfrau geboren zu werden;
und als Mensch ohne Samen hervorgegangen,
schenkte er uns seine Gottheit.
Halleluja.
Die Motette O admirabile commercium gehört zu einem Zyklus von fünf Motetten (einer Art meditativem liturgischen Zusammenhang) und ist vierstimmig. Josquin greift auf gregorianischen Plainchant zurück, den er im Tenor (und Bassus) nahezu original zitiert und in eine dicht durchdachte polyphone Struktur integriert. Studien zeigen, wie er Strophen des Cantus-firmus geschickt in stretto‑Fugen verarbeitet – etwa durch einen engen dialogischen Aufbau zwischen den Stimmen – und dabei harmonisch wie rhythmisch sorgfältig balanciert.
Die Analyse hebt hervor, wie Josquin den Schlussakkord gestaltet, indem er den Cadencepunkt nicht im tiefsten, sondern im "natürlichen" melodischen Verlauf der Vorlage setzt – ein wohlüberlegter formaler Eingriff. Diese Motette zeigt Josquins Fähigkeit, liturgische Einfachheit (Chorgesang, Chant) und komplexen polyphonen Aufbau zu vereinen – eine klangliche und strukturelle Synergie zwischen Tradition und Innovation.
2. Inviolata, integra et casta es (3 pars)
Fol. 89v–92 — 4 Stimmen
Lateinischer Text:
Inviolata, integra et casta es, Maria:
quae es effecta fulgida caeli porta.
O mater alma Christi carissima,
suscipe pia laudum praeconia.
Te nunc flagitant devota corda et ora,
nostra ut pura pectora sint et corpora.
Tu per precata dulcisona
nobis concede veniam per saecula.
O benigna! O Regina! O Maria,
quae sola inviolata permansisti.
Deutsche Übersetzung:
Unversehrt, unversehrt und rein bist du, Maria,
du bist zur strahlenden Pforte des Himmels geworden.
O milde Mutter Christi, liebste,
nimm fromm die Lobgesänge an.
Dich flehen nun an unsere ergebenen Herzen und Stimmen,
dass rein seien unsere Herzen und Leiber.
Durch deine süß tönenden Gebete
gewähre uns Vergebung für die Ewigkeit.
O gütige! O Königin! O Maria,
die du allein unversehrt geblieben bist.
Inviolata, integra et casta es ist eine innige und kunstvolle Marienmotette. Der Text preist Maria als unversehrte, reine und keusche Jungfrau, die eine besondere Verbindung zwischen Gott und Mensch herstellt. Josquin komponiert das Werk mit großer Sensibilität für den Textfluss, nutzt imitatorische Techniken sowie dichte Polyphonie und verleiht dem Ganzen eine strahlende, lichtvolle Klangwirkung.
3. Miserere mei Deus (3 pars)
Fol. 103v–112 — 4 Stimmen
Lateinischer Text:
Miserere mei, Deus, secundum magnam misericordiam tuam;
et secundum multitudinem miserationum tuarum,
dele iniquitatem meam.
Amplius lava me ab iniquitate mea:
et a peccato meo munda me.
Quoniam iniquitatem meam ego cognosco:
et peccatum meum contra me est semper.
Tibi soli peccavi,
et malum coram te feci:
ut iustificeris in sermonibus tuis,
et vincas cum iudicaris.
(Psalm 50 [51], Vulgata)
Deutsche Übersetzung:
Erbarme dich meiner, o Gott, nach deiner großen Barmherzigkeit;
und nach der Fülle deiner Erbarmungen
tilge meine Missetat.
Wasche mich immer mehr von meiner Schuld
und reinige mich von meiner Sünde.
Denn ich erkenne meine Missetat,
und meine Sünde steht mir stets vor Augen.
Dir allein habe ich gesündigt
und Böses vor dir getan,
damit du in deinen Worten gerechtfertigt wirst
und siegst, wenn man dich richtet.
Josquins Miserere mei Deus entstand um 1503/1504 für Herzog Ercole I. d’Este (1431–1505) in Ferrara. Die Vorlage war Psalm 51, den Girolamo Savonarola (1452–1498) kurz vor seiner Hinrichtung in seiner Meditation Infelix ego ausgelegt hatte. Ercole, ein tief religiöser Fürst, ließ sich von dieser Schrift inspirieren und beauftragte Josquin mit einer Vertonung, die als musikalisches Bekenntnis zu Buße und Demut gedacht war.
Der vollständige lateinische Text des Psalm 51 „Miserere mei Deus“ in der Fassung, die Josquin verwendet hat:
Lateinischer Text.
Miserere mei, Deus,
secundum magnam misericordiam tuam.
Et secundum multitudinem miserationum tuarum,
dele iniquitatem meam.
Amplius lava me ab iniquitate mea,
et a peccato meo munda me.
Quoniam iniquitatem meam ego cognosco,
et peccatum meum contra me est semper.
Tibi soli peccavi, et malum coram te feci;
ut iustificeris in sermonibus tuis,
et vincas cum iudicaris.
Ecce enim in iniquitatibus conceptus sum,
et in peccatis concepit me mater mea.
Ecce enim veritatem dilexisti;
incerta et occulta sapientiae tuae manifestasti mihi.
Asperges me hyssopo, et mundabor;
lavabis me, et super nivem dealbabor.
Auditui meo dabis gaudium et laetitiam,
et exsultabunt ossa humiliata.
Averte faciem tuam a peccatis meis,
et omnes iniquitates meas dele.
Cor mundum crea in me, Deus,
et spiritum rectum innova in visceribus meis.
Ne proicias me a facie tua,
et spiritum sanctum tuum ne auferas a me.
Redde mihi laetitiam salutaris tui,
et spiritu principali confirma me.
Docebo iniquos vias tuas,
et impii ad te convertentur.
Libera me de sanguinibus, Deus, Deus salutis meae,
et exsultabit lingua mea iustitiam tuam.
Domine, labia mea aperies,
et os meum annuntiabit laudem tuam.
Quoniam si voluisses sacrificium, dedissem utique;
holocaustis non delectaberis.
Sacrificium Deo spiritus contribulatus;
cor contritum et humiliatum, Deus, non despicies.
Benigne fac, Domine, in bona voluntate tua Sion;
ut aedificentur muri Ierusalem.
Tunc acceptabis sacrificium iustitiae, oblationes et holocausta;
tunc imponent super altare tuum vitulos.
Deutsche Übersetzung:
Erbarme dich meiner, Gott,
nach deiner großen Barmherzigkeit.
Und nach der Fülle deiner Erbarmungen
tilge meine Schuld.
Wasche mich immerfort von meiner Missetat,
und reinige mich von meiner Sünde.
Denn meine Schuld erkenne ich,
und meine Sünde steht mir stets vor Augen.
Dir allein habe ich gesündigt und Böses getan vor dir,
damit du gerecht erfunden werdest in deinen Worten
und rein dastehst, wenn du richtest.
Siehe, in Schuld bin ich geboren,
und in Sünden hat mich meine Mutter empfangen.
Siehe, du liebst die Wahrheit,
im Verborgenen hast du mir die Weisheit kundgetan.
Entsündige mich mit Ysop, so werde ich rein;
wasche mich, so werde ich weißer als Schnee.
Lass mich Freude und Wonne hören,
damit die Gebeine frohlocken, die du zerschlagen hast.
Verbirg dein Angesicht vor meinen Sünden,
und tilge alle meine Missetaten.
Schaffe mir, Gott, ein reines Herz,
und erneuere in mir einen rechten Geist.
Verwirf mich nicht vor deinem Angesicht,
und nimm deinen heiligen Geist nicht von mir.
Gib mir wieder die Freude deines Heils,
und stärke mich mit willigem Geist.
Ich will die Abtrünnigen deine Wege lehren,
dass die Sünder sich zu dir bekehren.
Errette mich von Blutschuld, Gott, du Gott meines Heils,
so wird meine Zunge deine Gerechtigkeit rühmen.
Herr, tu meine Lippen auf,
dass mein Mund dein Lob verkünde.
Denn Schlachtopfer willst du nicht, sonst gäbe ich sie;
an Brandopfern hast du kein Gefallen.
Das Opfer, das Gott gefällt, ist ein zerknirschter Geist;
ein zerbrochenes und demütiges Herz wirst du, Gott, nicht verachten.
Tu wohl an Zion nach deiner Gnade, Herr,
damit die Mauern Jerusalems wieder aufgebaut werden.
Dann wirst du Opfer der Gerechtigkeit gefallen, Gaben und Brandopfer;
dann wird man Stiere darbringen auf deinem Altar.
Diese Motette zählt zu Josquins „Motto-Motetten“ – Werke, die durch die stete Wiederholung eines zentralen Textmotivs in Struktur und Ausdruck geprägt sind. Hier ist es der Tenor, der wiederholt Miserere mei, Deus singt, zunächst mit einem schlichten, chantartigen Motiv aus nur zwei Tönen (E–F), fast wie fett gedruckter Text im Notenbild.
Der Tenorstrich Miserere mei, Deus kehrt nach jedem der 19 Psalmverse zurück und bildet so das musikalische Rückgrat des Werkes. Die Wiederholungen variieren tonal: Die Ausgangshöhe im Tenor sinkt stufenweise von E über eine Oktave, steigt wieder und fällt schlussendlich bis A, was drei Formabschnitte strukturiert (Down – Up – Down) und eine architektonische Wirkung entfaltet.
Insgesamt ist das Werk im phrygischen Modus gehalten, aber durch harmonische Verschiebungen entsteht expressive Vielfalt. Trotz polyphoner Anlage bleibt der Text klar verständlich – durch homophone Passagen, Duette und reduzierte Dichte, zudem betritt der Tenor solo und wird schrittweise von den anderen Stimmen unterstützt – wiederum wie typografisch hervorgehobener Text.
Das Miserere mei Deus war äußerst einflussreich für Spätrenaissance Kompositionen der Bußpsalmen. Es demonstriert, wie wiederholungsbasierte Struktur, formale Innovation und Textverständlichkeit wirkungsvoll verbunden werden können.
4. Virgo salutiferi (3 pars)
Fol. 112v–116 — 4 Stimmen
Lateinischer Text:
Virgo salutiferi generis humani decus,
advoca Filium tuum,
ut nobis donet veniam peccatorum.
Per te, Virgo, vita data est mundo;
ora pro nobis ad Dominum Jesum Christum,
ut nos salvet in aeternum.
Deutsche Übersetzung:
Jungfrau, Zierde des rettenden Menschengeschlechts,
rufe deinen Sohn an,
damit er uns die Vergebung der Sünden gewähre.
Durch dich, Jungfrau, ist der Welt das Leben gegeben worden;
bitte für uns bei dem Herrn Jesus Christus,
dass er uns auf ewig rette.
Josquin arbeitet hier wieder mit klaren Imitationen zwischen den Stimmen, wobei jede Zeile des Textes musikalisch betont wird. Besonders auffällig ist die zunehmende Verdichtung am Schluss („intercede pro nobis“), wo die Bitte um Fürsprache musikalisch intensiviert wird.
Josquin strukturiert die Motette klar entlang des Textes, wobei jede Textzeile eine neue musikalische Einheit bildet. Die Komposition ist geprägt von ruhigen, ausgeglichenen Bewegungen und einer feinen Balance zwischen Imitation und Homophonie.
„Virgo salutiferi genetrix et porta salutis“
Hier beginnt Josquin mit einer sehr klaren Imitationskette. Jede Stimme setzt nacheinander ein, wobei das Motiv kurz und eingängig ist. Die Musik fließt weich, fast wie ein langsames Licht, das sich von Stimme zu Stimme verbreitet.
Die Bildsprache des „Tores des Heils“ wird musikalisch durch einen sanften, offenen Klang dargestellt: Keine schroffen Dissonanzen, sondern weiche Konsonanzen dominieren.
„Virgo piissima, Virgo clementissima, Virgo gloriosissima“
Josquin behandelt jede Anrufung („piissima“, „clementissima“, „gloriosissima“) fast wie eine kleine Steigerung.
Die Musik wird hier dichter, die Imitationen etwas schneller geführt, was eine Art spirituelle Intensivierung ausdrückt: Maria wird nicht nur als fromm, sondern als mild und schließlich als glorreich besungen.
Die Steigerung wird subtil, aber wirkungsvoll gestaltet, ohne äußerliche Effekte, nur durch leichte Verdichtung der Stimmen und vermehrte Beweglichkeit.
„Intercede pro nobis ad Dominum Jesum Christum“
Diese Schlussbitte wird musikalisch besonders hervorgehoben.
Josquin wechselt hier zu einer stärker homophonen Textur: die Stimmen bewegen sich enger zusammen, fast wie ein gemeinsames inständiges Gebet.
Harmonisch verdichtet er das Klangbild, sodass die Musik gegen Ende wärmer, voller und in ihrer Dringlichkeit spürbar wird. Es ist ein musikalisches Bild von geschlossenem Flehen und Vertrauen.
„Virgo salutiferi genetrix“ ist ein frühes Beispiel für Josquins Fähigkeit, Text und Musik in enger, aber unaufdringlicher Weise zu verbinden. Die Motette wirkt ruhig und betend, dabei kunstvoll durchdacht, aber nie überladen. Man spürt in dieser Komposition bereits Josquins Meisterschaft im subtilen Gestalten von spiritueller Atmosphäre.
Unsichere Zuschreibungen an Josquin Desprez
5. Tua est potentia (Fol. 96v–98) — siehe auch unsichere Mouton-Liste
Zuschreibung: teils Josquin, teils Jean Mouton.
(Text und Übersetzung siehe Mouton-Unsicherheiten.)
6. Missus est Gabriel angelus (Fol. 132v–138) — siehe Mouton-Unsicherheiten
Zuschreibung: Josquin oder Mouton.
