Thomas Tallis (1505 - 1585)
Thomas Tallis (geboren am 30. Januar 1505 in Kent; † 23. November 1585 in Greenwich) war einer der bedeutendsten englischen Komponisten der Renaissance. Sein überragendes kompositorisches Werk, das sich fast ausschließlich auf die Vokalmusik konzentriert, prägte die englische Kirchenmusik über mehrere Jahrzehnte hinweg und beeinflusste Generationen von Musikern bis in die Gegenwart. Tallis diente unter vier aufeinanderfolgenden englischen Monarchen – Heinrich VIII. (1491–1547), Eduard VI. (1537–1553), Maria I. (1516–1558) und Elisabeth I. (1533–1603) – als Komponist und Gentleman of the Chapel Royal.
Über Tallis' Kindheit und Ausbildung ist nur wenig bekannt. Sein Geburtsort wird heute mit großer Wahrscheinlichkeit in Kent vermutet, obwohl ältere Quellen Leicestershire nannten. Frühe musikalische Stationen führten ihn wahrscheinlich an die Benediktinerpriorate von Dover oder Canterbury, wo er möglicherweise als Chorknabe und Organist wirkte. Erstmals urkundlich belegt ist er im Jahr 1531 als „ioculator organorum“ des Klosters Dover Priory.
Nach der Auflösung des Klosters im Zuge der Reformation trat Tallis 1538 eine Stelle an der Augustinerabtei von Waltham an. Nach deren Schließung 1540 wurde er Sänger an der Kathedrale von Canterbury. Bereits drei Jahre später erfolgte seine Aufnahme in die königliche Hofkapelle – die Chapel Royal –, der er bis zu seinem Tod angehörte.
Tallis erwies sich als ein musikalischer Diplomat im Dienste wechselnder konfessioneller Strömungen. Ob katholische Messe unter Heinrich VIII. oder protestantische Liturgie unter Eduard VI., Tallis passte sich den jeweils herrschenden Stilidealen und theologischen Forderungen an. Trotz seiner Treue zum alten Glauben – Historiker bezeichnen ihn als „unreformierten Katholiken“ – gelang es ihm, sich unter allen Regimen zu behaupten.
Unter Königin Maria I. komponierte Tallis wieder groß angelegte lateinische Werke, etwa die festliche Messe "Puer natus est nobis", die vermutlich anlässlich einer erwarteten königlichen Geburt entstand. Auch "Suscipe quaeso Domin"e und das kunstvolle "Miserere nostri" zeigen seine Verbindung zum kontinentaleuropäischen Stil, insbesondere zur franko-flämischen Tradition.
Unter Elisabeth I. erhielt Tallis zusammen mit seinem bedeutendsten Schüler William Byrd (um 1540–1623) 1575 das königliche Privileg, als Einzige Musik im Druck veröffentlichen zu dürfen – ein Meilenstein in der Geschichte des englischen Musikverlagswesens. Aus dieser Zusammenarbeit entstand die Sammlung "Cantiones quae ab argumento sacrae vocantur", in der Tallis 17 Motetten beisteuerte, darunter das ausdrucksstarke "In ieiunio et fletu."
Zu seinen bekanntesten Werken zählen das vierzigstimmige Vokalmonument "Spem in alium", das vermutlich 1573 anlässlich des 40. Geburtstags Elisabeths I. entstand und in seiner Klangfülle einzigartig geblieben ist, sowie die ergreifenden Lamentations of Jeremiah, wahrscheinlich eine Komposition aus seinen späten Jahren, die den Kummer des Exils musikalisch umsetzen.
Daneben ist Tallis als Verfasser einfacher, aber wirkungsvoller englischer Anthems wie "If ye love me" und der Psalmenmelodien für Erzbischof Matthew Parkers (1504–1575) Psalter bekannt, aus denen die berühmte Tallis’s Canon hervorging – eine Melodie, die Ralph Vaughan Williams (1872–1958) als Grundlage seiner Fantasia on a Theme by Thomas Tallis wählte.
Tallis verbrachte seine letzten Lebensjahre in Greenwich, in unmittelbarer Nähe zur königlichen Residenz. Er starb am 23. November 1585 in hohem Alter und wurde in der Kirche St Alfege in Greenwich beigesetzt. Das ursprünglich dort angebrachte Messingepitaph mit seinem poetischen Nachruf ist heute verloren, doch sein Text überliefert den hohen Respekt, den Tallis zu Lebzeiten genoss. William Byrd ehrte ihn mit der elegischen Motette "Ye sacred muses".
Tallis hinterließ keine Kinder. Seine Witwe Joan überlebte ihn um fast vier Jahre.
Thomas Tallis gilt als einer der Wegbereiter der englischen Vokalmusik im 16. Jahrhundert. Seine Fähigkeit, kompositorisch auf politische und liturgische Veränderungen zu reagieren, ohne seine künstlerische Integrität zu verlieren, ist bemerkenswert. Durch seine Schüler, insbesondere William Byrd, lebte sein Stil fort. Seine Werke gehören bis heute zum festen Repertoire von Kirchenchören und Ensembles für Alte Musik.
Tallis’ Lebenswerk zeigt eindrucksvoll, wie ein Komponist in einer Epoche tiefgreifender religiöser Umbrüche eine musikalische Sprache von zeitloser Schönheit entwickeln konnte.
Liste der wichtigsten erhaltenen Werke von Thomas Tallis:
Messen
Missa "Salve intemerata"
Parodiemesse basierend auf der eigenen Motette "Salve intemerata"
Frühes Werk im englischen Votivstil (um 1530–1535),
Missa "Puer natus est nobis"
Wahrscheinlich 1554 zur Hochzeit von Maria I. (1516–1558) und Philipp II. (1527–1598) komponiert
Mischung aus englischem Stil und kontinentaler Satztechnik,
Missa "for Four Voices"
Homophone, syllabische Messe mit klarer Textverständlichkeit
Wohl unter Eduard VI. (1537–1553) entstanden.
Motetten und Antiphonen in Latein
40-stimmige Motette (8 Chöre à 5 Stimmen)
Vermutlich anlässlich des 40. Geburtstags von Elisabeth I. (1533–1603) komponiert
Text aus dem Buch Judith (apokryph)
"Salve intemerata virgo Maria"
Frühe Marienantiphon, evtl. um 1520/1530
"Ave Dei Patris filia"
"Ave rosa sine spinis"
"Gaude gloriosa Dei mater"
Ursprünglich lateinisch, später auch mit englischem Text (Se Lord and behold), möglicherweise für Heinrich VIII. (1491–1547)
"Suscipe quaeso Domine"
Feierliches Werk zum Ende des Schismas unter Maria I.
"Miserere nostri, Domine"
Streng kanonisch; evtl. in Zusammenarbeit mit William Byrd (um 1540–1623)
Ausdrucksstarke Motette im Lamentations-Stil, veröffentlicht 1575
Spätes Werk, harmonisch kühn
Hymnus
Psalm
Englische Anthems und Psalmen
"If ye love me"
Typisches Beispiel für die syllabische Vertonung der Reformationszeit
"Hear the voice and prayer"
"A new commandment"
"Blessed are those that be undefiled"
"Verily, verily I say unto you"
"Out from the deep"
"Discomfort them, o Lord"
Psalmvertonungen (Archbishop Parker’s Psalter, 1567)
9 Melodien zu Psalmen, darunter...
"Third Mode Melody" → Grundlage für Fantasia on a Theme von Ralph Vaughan Williams (1872–1958)
Psalm 67 – Tallis’ Canon, Später verwendet von Thomas Ken (1637–1711)
Lamentationen (Klagelieder Jeremias)
Lamentationes Ieremiae Prophetae
Wahrscheinlich um 1565–1570, für die Karwoche
Text aus dem Buch der Klagelieder (Septuaginta-Fassung).
Instrumentalwerke
"Felix namque" I und II (im Fitzwilliam Virginal Book)
Variationswerke über einen liturgischen Cantus firmus,
"In Nomine" I und II,
"Ut, Re, Mi, Fa, Sol" (Solfing Song),
Fantasia,
"Lesson" in Two Parts (zugeschrieben)
"When shall my sorrowful sighing slack?"
Auch in weltlichen Quellen überliefert.
Gemeinschaftswerke mit William Byrd (um 1540–1623)
"Cantiones quae ab argumento sacrae vocantur" (1575):
Sammlung mit jeweils 17 Motetten von Tallis und Byrd
Von der Königin Elisabeth I. (1533–1603) privilegiert.
Klagelieder des Propheten Jeremia und andere geistliche Werke
CD Thomas Tallis, Lamentations of Jeremiah, The Tallis Scholars unter der Leitung von Peter Phillips (* 1977), Label Gimell 1992, Released 2020
https://www.youtube.com/watch?v=uWKdCxBa-Bg&list=OLAK5uy_lKA31jSzzfDmIoDu8Apv9H13Sz65IzaBY&index=2
Diese CD versammelt einige der eindrucksvollsten Werke der englischen Renaissance und stellt Thomas Tallis (1505–1585) als Meister spiritueller Tiefe und polyphoner Klangkunst vor. Im Zentrum stehen die beiden groß angelegten Lamentationes Jeremiae Prophetae, bewegende Vertonungen der biblischen Klagelieder Jeremias für die Karwoche. In kunstvoll verschränkter Polyphonie lässt Tallis den Schmerz über den Untergang Jerusalems in meditativen Klangbildern aufleben – getragen von der melancholischen Schönheit der hebräischen Buchstaben ALEPH bis JOD.
Ergänzt werden die Lamentationen durch eine Auswahl geistlicher Motetten aus der Sammlung Cantiones Sacrae (1575), darunter das tief empfundene Absterge Domine, das kontemplative In ieiunio et fletu sowie die Eucharistiehymne O sacrum convivium. Den Abschluss bildet die prachtvolle Marienantiphon Salve intemerata virgo Maria, ein frühes Zeugnis der vorreformatorischen Votivtradition in England.
Diese Einspielung bietet nicht nur eine musikalische Reise in das religiöse Empfinden des 16. Jahrhunderts, sondern zugleich ein eindrucksvolles Beispiel für die klangliche Vollendung der Vokalpolyphonie – sorgfältig interpretiert von den Tallis Scholars mit ihrer charakteristischen Klarheit und spirituellen Präsenz.
Tracks 1 bis 23
Lateinischer Text – "Lamentationes Ieremiae Prophetae"
"Incipit lamentatio Ieremiae prophetae.
ALEPH
Quomodo sedet sola civitas plena populo:
facta est quasi vidua domina gentium;
princeps provinciarum facta est sub tributo.
BETH
Plorans ploravit in nocte,
et lacrimae eius in maxillis eius:
non est qui consoletur eam ex omnibus caris eius:
omnes amici eius spreverunt eam,
et facti sunt ei inimici.
GIMEL
Migravit Iuda propter afflictionem
et multitudinem servitutis:
habitavit inter gentes, nec invenit requiem:
omnes persecutores eius apprehenderunt eam inter angustias.
DALETH
Viae Sion lugent,
eo quod non sint qui veniant ad solemnitatem:
omnes portae eius destructae, sacerdotes eius gementes:
virgines eius squalidae,
et ipsa oppressa amaritudine.
HE
Facti sunt hostes eius in capite,
inimici illius locupletati sunt:
quia Dominus locutus est super eam
propter multitudinem iniquitatum eius:
parvuli eius ducti sunt in captivitatem
ante faciem tribulantis.
VAU
Et egressus est a filia Sion omnis decor eius:
facti sunt principes eius velut arietes non invenientes pascua:
et abierunt absque fortitudine ante faciem persequentis.
ZAIN
Recordata est Ierusalem dierum afflictionis suae et praevaricationis
omnium desiderabilium suorum, quae habuerat a diebus antiquis:
cum caderet populus eius in manu hostili,
et non esset auxiliator:
viderunt eam hostes,
et deriserunt sabbata eius.
HETH
Peccatum peccavit Ierusalem,
propterea instabilis facta est:
omnes qui glorificabant eam spreverunt illam,
viderunt enim ignominiam eius:
ipsa autem gemens et conversa est retrorsum.
TETH
Sordes eius in pedibus eius,
nec recordata est finis sui:
deposita est vehementer, non habens consolatorem.
Vide, Domine, afflictionem meam,
quoniam erectus est inimicus.
JOD
Manus eius expandit inimicus:
omnia desiderabilia eius diripuit:
vidit enim gentes ingressas sanctuarium suum,
de quibus praeceperas,
ne intrarent in ecclesiam tuam.
Ierusalem, Ierusalem, convertere ad Dominum Deum tuum."
Deutsche Übersetzung – "Klagelieder des Propheten Jeremias"
"Hier beginnen die Klagelieder des Propheten Jeremias.
ALEPH
Wie einsam sitzt die Stadt, einst voll von Menschen!
Sie ist wie eine Witwe geworden, die Herrin der Völker;
die Fürstin der Provinzen ist unter Fronlast geraten.
BETH
Bitterlich weinte sie in der Nacht,
und Tränen bedecken ihre Wangen;
keiner ist da, der sie tröstet unter all ihren Freunden.
Alle ihre Freunde verachten sie
und sind ihre Feinde geworden.
GIMEL
Juda zog ins Exil wegen Unterdrückung
und schwerer Knechtschaft;
er wohnt unter den Heiden und findet keine Ruhe.
Alle seine Verfolger haben ihn in der Not eingeholt.
DALETH
Die Wege Zions trauern,
weil niemand zu den Festen kommt;
alle ihre Tore sind zerstört, ihre Priester seufzen;
ihre Jungfrauen sind betrübt,
und sie selbst ist voll von Bitterkeit.
HE
Ihre Feinde sind an die Spitze gelangt,
ihre Widersacher haben Erfolg;
denn der Herr hat sie bestraft
wegen der Vielzahl ihrer Sünden.
Ihre Kinder sind in Gefangenschaft geführt worden
vor dem Angesicht des Bedrängers.
VAU
Alle Zierde ist aus der Tochter Zion gewichen;
ihre Fürsten sind wie Hirsche, die keine Weide finden;
sie gingen kraftlos davon vor dem Angesicht des Verfolgers.
ZAIN
Jerusalem gedachte der Tage ihres Elends und ihrer Treulosigkeit,
all der lieblichen Dinge, die sie einst besaß in früheren Zeiten,
als ihr Volk in Feindeshand fiel
und niemand ihr half.
Die Feinde sahen sie
und lachten über ihre Sabbate.
HETH
Jerusalem hat schwer gesündigt,
darum ist sie unrein geworden.
Alle, die sie einst rühmten, verachten sie nun,
denn sie sahen ihre Schande;
sie selbst aber seufzt
und wendet sich ab.
TETH
Ihr Schmutz klebt an ihren Füßen,
und sie dachte nicht an ihr Ende.
Tief gesunken ist sie und hat keinen Tröster.
Sieh, o Herr, mein Elend,
denn der Feind erhebt sich.
JOD
Der Feind streckte seine Hand aus
nach all ihren köstlichen Gütern;
er sah Heiden in ihr Heiligtum eintreten,
von denen du geboten hattest,
dass sie nicht in deine Gemeinde kommen sollen.
Jerusalem, Jerusalem, kehre zurück zum Herrn, deinem Gott."
Tallis vertonte zwei groß angelegte "Lamentationes"-Sätze für den liturgischen Gebrauch während der Karmette (Tenebrae) der Karwoche – vermutlich für den Gründonnerstag (In Coena Domini). Die Texte stammen aus dem alttestamentlichen Buch der "Klagelieder des Propheten Jeremia" (Vulgata: Lamentationes Ieremiae Prophetae), einer poetisch dichten Klage über die Zerstörung Jerusalems durch die Babylonier im 6. Jahrhundert v. Chr. (Sommer 586 v. Chr.)
Die beiden vertonten Abschnitte – heute meist als Lamentation I und Lamentation II bezeichnet – umfassen die Verse 1 bis 5 aus Kapitel 1 der "Lamentationes" (Vulgata). Tallis folgt dabei dem liturgischen Brauch, dem Text die hebräischen Buchstaben ALEPH bis JOD als Akrostichon voranzustellen – ein Überbleibsel der ursprünglichen hebräischen Struktur des Bibeltextes, das in der musikalischen Gestaltung besonders hervorgehoben wird.
Der erste Abschnitt (Incipit lamentatio) vertont die Verse 1–2 (ALEPH, BETH), der zweite (De lamentatione) enthält die Verse 3–5 (GIMEL, DALETH, HE, VAU, ZAIN, HETH, TETH, JOD). Tallis beschränkt sich auf die klagenden, bildreichen Anfangsverse und fügt am Schluss beider Abschnitte die liturgische Formel hinzu:
„Ierusalem, Ierusalem, convertere ad Dominum Deum tuum“ – Jerusalem, Jerusalem, kehre zurück zum Herrn, deinem Gott.
Die Musik bewegt sich in langsamen, ernsten Phrasen, deren polyphoner Aufbau Schmerz, Sehnsucht und Hoffnung zugleich zum Ausdruck bringt – ein Höhepunkt der englischen Kirchenmusik vor der Reformation.
Tracks 24 bis 30: Motette "Absterge Domine"
https://www.youtube.com/watch?v=dlpYYY21zOQ&list=OLAK5uy_lKA31jSzzfDmIoDu8Apv9H13Sz65IzaBY&index=24
Lateinischer Text:
"Absterge, Domine, delicta mea,
quae inscienter iuvenis feci,
et ignosce poenitenti,
nam tu es Deus meus,
tibi soli fidit anima mea.
Tu es salus mea.
Dolorem meum testantur lacrimae meae.
Sis memor, Domine, bonae voluntatis tuae.
Nunc exaudi preces meas
et serviet per aevum tibi spiritus meus.
Amen."
Deutsche Übersetzung:
"Tilge, o Herr, meine Vergehen,
die ich unwissend in meiner Jugend beging,
und vergib dem Reuigen,
denn du bist mein Gott,
auf dich allein vertraut meine Seele.
Du bist mein Heil.
Meine Tränen bezeugen meinen Schmerz.
Gedenke, o Herr, deines guten Willens.
Höre nun meine Gebete
und mein Geist wird dir ewig dienen.
Amen."
Dieses Werk ist ein tief empfundenes Bußgebet, das Reue und die Hoffnung auf göttliche Vergebung ausdrückt. Tallis vertonte diesen Text als fünfstimmige Motette (ATTBB) und veröffentlichte ihn 1575 in der Sammlung "Cantiones Sacrae", die er gemeinsam mit William Byrd herausgab. Die Musik zeichnet sich durch eine klare Textvertonung und eine eindringliche, meditative Atmosphäre aus.
Tracks 31 und 32: Motette "Derelinquat impius"
https://www.youtube.com/watch?v=8mNtQwDvUCc&list=OLAK5uy_lKA31jSzzfDmIoDu8Apv9H13Sz65IzaBY&index=31
Lateinischer Text:
"Derelinquat impius viam suam,
et vir iniquus cogitationes suas,
et revertatur ad Dominum,
et miserebitur eius,
quia benignus et misericors est,
et praestabilis super malitia Dominus Deus noster."
Deutsche Übersetzung:
"Der Gottlose verlasse seinen Weg
und der Ungerechte seine Gedanken
und kehre um zum Herrn,
und er wird sich seiner erbarmen,
denn gnädig und barmherzig ist
und über die Bosheit erhaben ist unser Herr, unser Gott."
Dieses Werk ist ein tief empfundenes Bußgebet, das Reue und die Hoffnung auf göttliche Vergebung ausdrückt. Tallis vertonte diesen Text als fünfstimmige Motette (ATTBB) und veröffentlichte ihn 1575 in der Sammlung "Cantiones Sacrae", die er gemeinsam mit William Byrd herausgab. Die Musik zeichnet sich durch eine klare Textvertonung und eine eindringliche, meditative Atmosphäre aus.
Track 33: Motette "Mihi autem nimis"
https://www.youtube.com/watch?v=WCyWvrLwVAw&list=OLAK5uy_lKA31jSzzfDmIoDu8Apv9H13Sz65IzaBY&index=33
Lateinischer Text:
"Mihi autem nimis honorati sunt amici tui, Deus:
nimis confortatus est principatus eorum."
Deutsche Übersetzung:
"Wie kostbar sind mir deine Gedanken, o Gott;
wie gewaltig ist ihre Zahl."
Dieses Werk ist ein tief empfundenes Bußgebet, das Reue und die Hoffnung auf göttliche Vergebung ausdrückt. Tallis vertonte diesen Text als fünfstimmige Motette (ATTBB) und veröffentlichte ihn 1575 in der Sammlung "Cantiones Sacrae", die er gemeinsam mit William Byrd herausgab. Die Musik zeichnet sich durch eine klare Textvertonung und eine eindringliche, meditative Atmosphäre aus.
Track 34 bis 36: Motetten "O sacrum convivium"
https://www.youtube.com/watch?v=9Rml99umiMM&list=OLAK5uy_lKA31jSzzfDmIoDu8Apv9H13Sz65IzaBY&index=34
Lateinischer Text:
"O sacrum convivium!
in quo Christus sumitur:
recolitur memoria passionis eius:
mens impletur gratia,
et futurae gloriae
nobis pignus datur.
Alleluia."
Deutsche Übersetzung:
"O heiliges Gastmahl,
in dem Christus empfangen wird:
das Gedächtnis seines Leidens wird erneuert,
die Seele wird mit Gnade erfüllt,
und uns wird das Unterpfand
der zukünftigen Herrlichkeit gegeben.
Halleluja."
Dieses Werk ist ein tief empfundenes Bußgebet, das Reue und die Hoffnung auf göttliche Vergebung ausdrückt. Tallis vertonte diesen Text als fünfstimmige Motette (ATTBB) und veröffentlichte ihn 1575 in der Sammlung "Cantiones Sacrae", die er gemeinsam mit William Byrd herausgab. Die Musik zeichnet sich durch eine klare Textvertonung und eine eindringliche, meditative Atmosphäre aus.
Tracks 37 bis 39: Motette "In ieiunio et fletu"
https://www.youtube.com/watch?v=IfISFiwGdEs&list=OLAK5uy_lKA31jSzzfDmIoDu8Apv9H13Sz65IzaBY&index=37
Lateinischer Originaltext:
"In ieiunio et fletu orabant sacerdotes:
Parce, Domine, parce populo tuo,
et ne des hereditatem tuam in perditionem.
Inter vestibulum et altare plorabant sacerdotes,
dicentes: Parce, Domine, parce populo tuo,
et ne des hereditatem tuam in perditionem."
Deutsche Übersetzung:
"Mit Fasten und Weinen beteten die Priester:
Verschone, Herr, verschone dein Volk,
und gib dein Erbe nicht dem Untergang preis.
Zwischen Vorhalle und Altar weinten die Priester
und sprachen: Verschone, Herr, verschone dein Volk,
und gib dein Erbe nicht dem Untergang preis."
Dieses Werk ist ein tief empfundenes Bußgebet, das Reue und die Hoffnung auf göttliche Vergebung ausdrückt. Tallis vertonte diesen Text als fünfstimmige Motette (ATTBB) und veröffentlichte ihn 1575 in der Sammlung "Cantiones Sacrae", die er gemeinsam mit William Byrd herausgab. Die Musik zeichnet sich durch eine klare Textvertonung und eine eindringliche, meditative Atmosphäre aus.
Tracks 40 und 41: Hymnus "O salutaris hostia"
https://www.youtube.com/watch?v=8NWPS2omBc4&list=OLAK5uy_lKA31jSzzfDmIoDu8Apv9H13Sz65IzaBY&index=40
Lateinischer Text:
"O salutaris hostia,
quae caeli pandis ostium:
bella premunt hostilia,
da robur, fer auxilium.
Uni trinoque Domino
sit sempiterna gloria,
qui vitam sine termino
nobis donet in patria.
Amen."
Deutsche Übersetzung:
"O heilbringende Opfergabe,
die du das Tor des Himmels öffnest:
Feindliche Kriege bedrängen uns,
gib Kraft, bring Hilfe.
Dem einen und dreieinigen Herrn
sei ewiger Ruhm,
der uns das Leben ohne Ende
in der Heimat schenke.
Amen."
Dieser Hymnus stammt ursprünglich aus dem größeren Werk „Verbum supernum prodiens“, das Thomas von Aquin (1225–1274) für das Fest Fronleichnam schrieb. O salutaris hostia ist daraus als eigener liturgischer Gesang für die Anbetung des Allerheiligsten ausgegliedert worden.
Tallis vertonte nur die erste Strophe (bisweilen auch beide), meist vier- oder fünfstimmig, mit besonderer Innigkeit. Seine Vertonung entfaltet eine ruhige, kontemplative Atmosphäre mit sorgfältig geführten Stimmen und dezent gesetzten Dissonanzen, ganz im Sinne einer eucharistischen Meditation.
Track 42: "In manus tuas, Domine"
https://www.youtube.com/watch?v=UnX-FK3nNUo&list=OLAK5uy_lKA31jSzzfDmIoDu8Apv9H13Sz65IzaBY&index=42
Lateinischer Text:
"In manus tuas, Domine,
commendo spiritum meum.
Redemisti me, Domine, Deus veritatis."
Deutsche Übersetzung:
"In deine Hände, o Herr,
empfehle ich meinen Geist.
Du hast mich erlöst, Herr, du treuer Gott."
Dieser kurze, schlichte Text stammt aus dem Psalm 31, Vers 6 (nach der Vulgata: Psalmus 30:6) und wird besonders in der Komplet (dem Nachtgebet der Kirche) sowie in der Liturgie der Sterbestunde verwendet. Es sind auch die letzten Worte Jesu am Kreuz, wie sie das Lukasevangelium überliefert (Lk 23,46).
Tallis vertonte diesen Text sehr innig und konzentriert. Die Vertonung ist meist vierstimmig (SATB) oder fünfstimmig und lebt vom ruhigen, fast meditativen Fluss der Stimmen. Die Musik gleicht einem musikalischen Gebet – ideal für die nächtliche Andacht oder geistliche Einkehr.
Track 43: Hymnus "O nata lux de lumine"
https://www.youtube.com/watch?v=biTwJdONMCI&list=OLAK5uy_lKA31jSzzfDmIoDu8Apv9H13Sz65IzaBY&index=43
Lateinischer Text:
"O nata lux de lumine,
Iesu, redemptor saeculi,
dignare clemens supplicum
laudes precesque sumere.
Qui carne quondam contegi
dignatus es pro perditis,
nos membra confer effici
tui beati corporis."
Deutsche Übersetzung:
"O Licht, geboren aus dem Licht,
Jesus, Erlöser der Welt,
nimm gnädig das Lob
und die Bitten der Flehenden an.
Du, der es einst gewürdigt hast,
Fleisch anzunehmen für die Verlorenen,
lass uns Glieder werden
deines seligen Leibes."
"O nata lux ist" ein Hymnus aus der Laudes des Festes der Verklärung Christi (Transfiguratio Domini). Es handelt sich um eine mystische Betrachtung Christi als Licht vom Licht – eine Anspielung auf die trinitarische Natur (vgl. Lumen de Lumine aus dem Credo) und auf die Menschwerdung.
Tallis vertonte diesen Text in einer sehr klaren, leuchtenden Klangsprache. Die Stimmen entfalten sich in sanften, fließenden Linien, die ganz auf die innige Kontemplation Christi als göttliches Licht ausgerichtet sind.
Tracks 44 bis 53: Antiphon "Salve intemerata virgo Maria"
https://www.youtube.com/watch?v=9c3crOhGMsc&list=OLAK5uy_lKA31jSzzfDmIoDu8Apv9H13Sz65IzaBY&index=44
"Lateinischer Text:
"Salve intemerata virgo Maria,
Filii Dei Genetrix,
prae ceteris electa virginibus:
quae ex utero tuae matris Annae,
mulieris sanctissimae,
sic a Spiritu Sancto
tum sanctificata
tum illuminata fuisti,
munitaque tantopere
Dei omnipotentis gratia,
ut usque ad conceptum Filii tui,
Domini nostri Jesu Christi,
et dum eum conciperes,
ac usque ad partum,
et dum eum pareres,
semperque post partum,
virgo omnium
quae natae sunt
castissima incorruptissima
et immaculatissima
et corpore et animo
tota vita permanseris.
Tu nimirum universas
alias longe superasti virgines
sincera mentis
impollutae conscientia,
quotquot vel adhuc fuerunt
ab ipso mundi primordio,
vel unquam futurae sunt
usque in finem mundi.
Per haec nos praecellentissima
gratiae caelestis dona tibi,
Virgo et Mater Maria,
prae ceteris omnibus
mulieribus et virginibus
a Deo singulariter infusa.
Te precamur,
quae miseris mortalibus
misericors patrona es,
ut pro peccatis nostris
nobis condonandis
intercedere digneris
apud Deum Patrem omnipotentem
eiusque Filium Iesum Christum,
secundum divinitatem
quidem ex Patre
ante omnia saecula genitum.
Secundum humanitatem
autem ex te natum,
atque apud Spiritum Sanctum,
ut peccatorum nostrorum
maculis tua abstersis intercessione,
tecum, sancta Virgo,
semper congaudere,
teque in regno caelorum
sine fine laudare mereamur.
Amen."
Deutsche Übersetzung:
"Sei gegrüßt, unbefleckte Jungfrau Maria,
du Gebärerin des Sohnes Gottes,
vor allen anderen Jungfrauen auserwählt:
Du wurdest aus dem Schoß deiner Mutter Anna,
der heiligsten Frau,
vom Heiligen Geist
schon damals geheiligt
und erleuchtet,
und so überreich
mit der Gnade des allmächtigen Gottes beschenkt,
dass du bis zur Empfängnis deines Sohnes,
unseres Herrn Jesus Christus,
und auch in dem Augenblick, da du ihn empfingst,
bis zur Geburt
und in dem Moment, da du ihn gebarst,
und für immer danach
unter allen geborenen Frauen
die reinste, unversehrteste
und makelloseste
an Leib und Seele
für dein ganzes Leben geblieben bist.
Du hast gewiss
alle anderen Jungfrauen weit übertroffen
durch die Lauterkeit deines Sinnes
und das reine Bewusstsein deiner Seele –
so sehr, dass keine,
weder seit dem Ursprung der Welt,
noch künftig bis an ihr Ende,
dir je gleich sein wird.
Durch diese
überragenden Gnadengaben des Himmels,
die dir, Jungfrau und Mutter Maria,
von Gott vor allen
anderen Frauen und Jungfrauen
in einzigartiger Weise verliehen wurden,
bitten wir dich,
du barmherzige Fürsprecherin
der elenden Sterblichen,
dass du für uns Sünder
um Vergebung unserer Schuld
bei Gott, dem allmächtigen Vater,
und seinem Sohn Jesus Christus
für uns eintreten mögest –
ihn, der nach seiner Gottheit
vom Vater vor aller Zeit geboren wurde,
aber nach seiner Menschheit
aus dir geboren ist,
und ebenso bei dem Heiligen Geist,
damit wir durch deine Fürsprache
von den Makeln unserer Sünden gereinigt
mit dir, heilige Jungfrau,
in ewiger Freude leben
und dich im Himmelreich
ohne Ende loben dürfen.
Amen."
"Salve intemerata virgo Maria" ist eine Votiv-Antiphon zu Ehren der Jungfrau Maria, die in der vorreformatorischen englischen Liturgie verwendet wurde. Tallis komponierte dieses Werk für fünf Stimmen (SATTB), wobei er zwischen solistischen Passagen und vollstimmigen Abschnitten wechselt. Die Musik zeichnet sich durch reiche Imitationen und eine sorgfältige Textausdeutung aus.
Tallis verwendete später musikalisches Material aus dieser Antiphon für seine Missa "Salve intemerata", was die Bedeutung dieses Werkes in seinem Schaffen unterstreicht.
Spem in alium
The Tallis Scholars · Leitung: Peter Phillips (* 1953)
https://www.youtube.com/watch?v=iT-ZAAi4UQQ
Die Entstehung von Spem in alium fällt vermutlich in die späten 1560er Jahre, als Thomas Tallis auf dem Landsitz von Thomas Howard, dem 4. Herzog von Norfolk (1536–1572), zu Gast war. Wahrscheinlich entstand die Komposition im Auftrag Heinrich FitzAlans, des 19. Earl of Arundel (1512–1580), der mit der italienischen Mehrchörigkeit vertraut war und Tallis ermutigte, ein Werk von ähnlicher Größe zu schaffen. Als mögliches Vorbild gilt Alessandro Striggios monumentale 40-stimmige Motette Ecce beatam lucem, die wenige Jahre zuvor in England erklungen war.
In der Geschichte der abendländischen Vokalmusik gibt es nur wenige Werke, die gleichermaßen durch ihre architektonische Kühnheit und ihre geistige Erhabenheit überwältigen. Spem in alium von Thomas Tallis ist ein solches Wunderwerk – ein Denkmal des Glaubens, geboren aus der Vision, Klang in Raum und Raum in Gebet zu verwandeln. In einer Epoche religiöser Spannungen, zwischen katholischer Tradition und anglikanischer Reform, entwarf Tallis eine Motette für acht Chöre zu je fünf Stimmen – insgesamt vierzig selbständige Linien, die einander antworten, sich umschlingen, zu gewaltigen Klangwogen anwachsen und schließlich in Stille zurücksinken.
Was auf dem Papier wie ein polyphones Labyrinth erscheint, entfaltet sich im Hören als ein leuchtendes Gewebe aus Atem und Bewegung, von fast überirdischer Transparenz. Jeder Ton scheint nicht gesetzt, sondern geboren; jede Stimme ist Trägerin eines Gebets, das sich in der Gesamtheit zu einem einzigen, übermenschlichen Flehen erhebt. Diese Musik sucht nicht den Effekt, sondern die Ewigkeit.
Der lateinische Text, dem Buch Judit entnommen, ist ein demütiger Ruf nach göttlichem Erbarmen – und Tallis macht daraus einen klanglichen Dom, dessen Pfeiler aus Tönen bestehen. Das monumentale Tutti, wenn alle vierzig Stimmen zugleich erklingen, wirkt wie ein Moment der Offenbarung: ein Abbild göttlicher Gegenwart im Klang. Doch am Ende zieht sich der Jubel zurück, und das Werk schließt mit einer stillen, fast intimen Bitte um Gnade. Wer Spem in alium hört, begegnet nicht nur der Vollendung polyphoner Kunst, sondern einer der tiefsten geistlichen Erfahrungen, die die Musikgeschichte kennt.
Das Werk besitzt darüber hinaus eine metaphysische Dimension, die weit über Theologie oder Polyphonie hinausweist. Tallis erschafft hier eine klanggewordene Vision des göttlichen Prinzips von Einheit in Vielheit. Vierzig Stimmen – jede mit eigener Identität, eigener Bewegung, eigener Atemlinie – fügen sich zu einem übergeordneten Ganzen, das nicht aus Addition, sondern aus Transzendenz entsteht. Das Metaphysische liegt nicht im Text, sondern in der Struktur selbst: in der Art, wie Vielstimmigkeit zur Metapher des Kosmos wird. Jede Stimme ist Teil des Ganzen, doch das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile.
Wenn sich die Chöre reihum erheben, einander antworten, sich überkreuzen und schließlich alle vierzig Stimmen zugleich erklingen, entsteht der Eindruck einer sphärischen Architektur, eines „Klangdoms“, der sich ins Unendliche öffnet. Diese Architektur steht sinnbildlich für die göttliche Ordnung, die hinter allem Sichtbaren wirkt. Das Wort Spem – Hoffnung – wird bei Tallis nicht als Emotion, sondern als metaphysisches Prinzip verstanden: als Bewegung der Seele hin zum Absoluten. Sie ist die Kraft, die den Klang aufsteigen lässt, bis er in einem leuchtenden, alles umspannenden Akkord mündet.
Zugleich ist Spem in alium eine Meditation über Demut: Die Stimmen, die sich zu Beginn voneinander lösen, finden erst im Schlussakkord ihre gemeinsame Heimat. Es ist, als kehre jede Stimme in das göttliche Eine zurück, aus dem sie hervorgegangen ist. Der Mensch – klein, irdisch, vergänglich – wird hier durch Klang erhoben und mit dem Ewigen verbunden. So offenbart sich in dieser Musik das tiefste metaphysische Prinzip: das Erleben des Einen im Vielen, die Ahnung, dass inmitten der Vielfalt der Welt eine unsichtbare, göttliche Ordnung wirkt. Tallis’ Motette führt den Hörer über den rationalen Akt des Hörens hinaus – sie öffnet den Raum des Ergriffenseins, in dem Polyphonie zu Theologie wird, Klang zu Licht und Zeit zu Ewigkeit.
Originaltext
Spem in alium nunquam habui
praeter in te, Deus Israel,
qui irasceris et propitius eris,
et omnia peccata hominum
in tribulatione dimittis.
Domine Deus, Creator caeli et terrae,
respice humilitatem nostram.
Deutsche Übersetzung
Ich habe niemals auf einen anderen gehofft
als auf dich, Gott Israels,
du, der du zürnst und doch gnädig bist,
und alle Sünden der Menschen vergibst
in ihrer Bedrängnis.
Herr, Gott, Schöpfer des Himmels und der Erde,
sieh auf unsere Demut.
Diese Fassung verbindet historische, spirituelle und metaphysische Deutung zu einem einheitlichen Ganzen – ohne Wiederholungen, ohne Brüche, mit innerem Atem.
Was Spem in alium im Innersten auszeichnet, ist seine metaphysische Dimension – die Erfahrung einer unsichtbaren Ordnung, die sich durch den Klang offenbart. Tallis schuf kein liturgisches Werk im engeren Sinne, sondern eine klanggewordene Vision des göttlichen Prinzips von Einheit in Vielheit. Vierzig Stimmen – jede mit eigener Identität, eigener Bewegung, eigener Atemlinie – fügen sich zu einem übergreifenden Ganzen, das sich nicht aus Addition, sondern aus Transzendenz ergibt.
Das Metaphysische liegt hier nicht im Text, sondern in der Struktur: in der Art, wie Vielstimmigkeit zur Metapher des Kosmos wird. Jede Stimme ist ein Teil des Ganzen, aber das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile. Wenn sich die Chöre reihum erheben, einander antworten, sich überkreuzen und schließlich alle vierzig Stimmen zugleich erklingen, entsteht der Eindruck einer sphärischen Architektur, eines „Klangdoms“, der sich ins Unendliche öffnet. Diese Architektur steht sinnbildlich für den göttlichen Geist, der in der Schöpfung wirkt – für die Ordnung, die hinter allem Chaos verborgen liegt.
Im Zentrum der Motette steht das Wort Spem – Hoffnung. Doch Tallis vertont diese Hoffnung nicht als menschliche Emotion, sondern als metaphysisches Prinzip: Hoffnung als Bewegung der Seele hin zum Absoluten. Sie ist die Kraft, die den Klang aufsteigen lässt, bis er in einem leuchtenden, alles umspannenden Akkord mündet. Dieses Aufsteigen, die ständige Überführung des Einzeltons in ein größeres Ganzes, ist musikalisch die Darstellung des metaphysischen Gedankens, dass alles Geschaffene im Ursprung eins ist.
Zugleich ist Spem in alium eine Meditation über Demut: Die Stimmen, die sich zu Beginn voneinander lösen, finden erst im Schlussakkord ihre gemeinsame Heimat. Es ist, als kehre jede Stimme in das göttliche Eine zurück, aus dem sie hervorgegangen ist. Der Mensch – klein, unbedeutend, irdisch – wird hier durch Klang erhoben und mit dem Ewigen verbunden.
So ist die metaphysische Essenz von Tallis’ Spem in alium das Erleben des Einen im Vielen: die Ahnung, dass inmitten der Vielstimmigkeit der Welt eine göttliche Ordnung wirkt. Tallis’ Musik führt den Hörer über den rationalen Akt des Hörens hinaus – sie eröffnet den Raum des Ergriffenseins, in dem Polyphonie zu Theologie wird, Klang zu Licht und Zeit zu Ewigkeit.
