Josquin Desprez (1450 – 1521)
Josquin Desprez (* nach 1450 im Dörfchen Pres an der heutigen Grenze zwischen Frankreich und Belgien – † am 27. August 1521 in der Umgebung von Saint-Quentin) gehört zu den leuchtenden Gestalten der europäischen Musikgeschichte. Er war nicht nur ein Meister der Polyphonie, sondern ein Künstler von fast mythischem Rang – gefeiert zu Lebzeiten, bewundert über Jahrhunderte hinweg, und bis heute als Klangarchitekt der Hochrenaissance verehrt. Ob französischer oder franko-flämischer Herkunft: Josquin steht im Zentrum jener Schule, die die Vokalpolyphonie zur Vollendung führte und den musikalischen Ausdruck des 16. Jahrhunderts tiefgreifend prägte.
Sein Werk ist Brücke und Gipfel zugleich – es knüpft an die klanglichen Horizonte eines Guillaume Du Fay (ca. 1397–1474) und Johannes Ockeghem (ca. 1410–1497) an, überschreitet sie jedoch durch eine neue, menschlichere Rhetorik der Töne. Josquins Musik spricht in kunstvoller Imitation und klar gegliederter Textvertonung, aber auch in seelischer Unmittelbarkeit: Worte und Klänge verschmelzen in seinem Œuvre zu geistig durchdrungener Klangrede, getragen von einer feinsinnigen Balance zwischen mathematischer Struktur und lyrischer Empfindung.
Selbst als Sänger ausgebildet, schuf er ein nahezu ausschließlich vokales Werk – geistlich wie weltlich – das durch eindrucksvolle Klangarchitektur, innere Geschlossenheit und emotionale Tiefe besticht. Seine Messen, Motetten und Chansons gelten als Inbegriff der musikalischen Renaissance, durchdrungen von einem tiefen Verständnis für Text und Ton, für Theologie und Poesie.
Trotz der fragmentarischen Quellenlage lassen sich wesentliche Etappen seines bewegten Lebens rekonstruieren – ein Lebensweg, der ihn von den frankoflämischen Kathedralen über italienische Fürstenhöfe bis in den Dienst französischer Könige führte, ehe er schließlich als hochgeschätzter Propst und Komponist in Condé-sur-l’Escaut sein Lebenswerk beschloss.
Zwischen 1466 und 1475 fehlen direkte biografische Nachweise, doch aus einem Testament von Verwandten in Condé-sur-l’Escaut geht hervor, dass er dort Ländereien erbte – Besitz, der ihm Unabhängigkeit sicherte und an den er am Ende seines Lebens zurückkehrte. Vermutlich erhielt er seine musikalische Ausbildung in Cambrai, möglicherweise im Umfeld der Kathedrale, wo auch Guillaume Du Fay (um 1397–1474) gewirkt hatte.
Spätestens seit 1475 – belegt im April 1477 – war Josquin als Sänger an der Hofkapelle von René von Anjou (1409–1480) in Aix-en-Provence tätig. Der kunstliebende Herzog hatte seinen Hof zu einem kulturellen Zentrum ausgebaut. Nach dessen Tod (10. Juli 1480) fielen die Herzogtümer Anjou und Bar an die französische Krone. Es ist gut möglich, dass Josquin gemeinsam mit der Kapelle in die Sainte-Chapelle Ludwigs XI. (1423–1483) in Paris übernommen wurde. Als der König im September 1481 einen Schlaganfall erlitt (September 1481), stiftete er eine tägliche Messe, die auch von Josquin mitgestaltet wurde. In dieser Zeit entstand möglicherweise die Motette "Misericordias Domini in aeternam cantabo", die in fünfzig großformatigen Pergamentrollen abgeschrieben und im Schloss Plessis-lès-Tours aufgehängt wurde – ein musikalisches Denkmal königlicher Frömmigkeit.
Nach dem Tod Ludwigs XI. († 30. August 1483) verließ Josquin Frankreich. Um 1483 oder 1484 trat er in den Dienst Kardinal Ascanio Sforzas (1455–1505) in Mailand, eines kunstsinnigen und einflussreichen Würdenträgers. Als Ascanio 1484 nach Rom übersiedelte, folgte ihm Josquin und wurde Mitglied der päpstlichen Kapelle. Seine Anwesenheit dort ist für die Jahre 1486 bis mindestens 1495 belegt. Bereits 1489 scheint er vorübergehend an den Hof von Gian Galeazzo Sforza (1469–1494) zurückgekehrt zu sein. Es ist möglich, dass Josquin in dieser Zeit das höfische Leben und die Kunstszene Mailands miterlebte, in der auch Leonardo da Vinci (1452–1519) wirkte.
Nach dem Ausscheiden aus der päpstlichen Kapelle hielt Josquin vermutlich Verbindung zum Hof Philipps I. des Schönen (1478–1506) von Burgund. Eine Widmung seiner Motette "Stabat mater" an diesen Fürsten lässt darauf schließen. Zwischen 1501 und 1503 war er höchstwahrscheinlich in der französischen Hofkapelle Ludwigs XII. (1462–1515) tätig.
Im Jahr 1503 trat Josquin in den Dienst von Ercole I. d’Este (1431–1505), dem Herzog von Ferrara. Die Entscheidung für Josquin fiel nach eingehender Prüfung seiner und Heinrich Isaacs (ca. 1450–1517) Qualitäten. Ein Brief eines Höflings berichtet: "Isaac scheint mir besser geeignet zu sein, Eurem Herrn zu dienen (...) Josquin komponiert besser – aber nur, wenn er es will."
Trotz solcher Vorbehalte entschied sich Ercole für Josquin und bewilligte ihm das hohe Gehalt von 200 Dukaten jährlich – mehr als je einem Musiker des Hofes zuvor gewährt wurde.
Während seiner kurzen Zeit in Ferrara schuf Josquin einige seiner bedeutendsten Werke, darunter die tief empfundene Motette "Miserere mei, Deus", die auf eine Bußmeditation Girolamo Savonarolas (1452–1498) zurückgeht. Auch die Marienmotetten "Virgo salutiferi" und "O virgo prudentissima" sowie die berühmte "Missa Hercules Dux Ferrariae" dürften in dieser Phase entstanden sein. Die Messe, deren musikalisches Material aus dem Namen des Herzogs abgeleitet ist, wurde zum klingenden Zeugnis höfischer Selbstdarstellung.
Doch schon nach weniger als einem Jahr verließ Josquin Ferrara wieder – nicht aus Unmut, sondern aus Furcht vor der Pest, die 1503 in der Stadt ausbrach. Der Hof floh, und Josquin kehrte nach über tausend Kilometern Reise an den Ort seiner Herkunft zurück. Am 3. Mai 1504 traf er in Condé-sur-l’Escaut ein, wo ihn das Kapitel der Kollegiatkirche von Notre-Dame zum Propst ernannte. Dort fand er ideale Bedingungen für ein stilles, schöpferisches Leben: Besitz, Ansehen, musikalisches Umfeld. Er blieb bis zu seinem Tod am 27. August 1521.
In dieser letzten Lebensphase entstanden einige seiner reifsten Werke: die "Missa de Beata Virgine", die "Missa Pange lingua", Motetten wie "Inviolata", "Praeter rerum seriem", "Benedicta es" und das berühmte "Pater noster–Ave Maria". Auch seine Chansons wie "Mille regretz" oder "Plus nulz regretz" gehören in diese späte Phase, in der sich meisterliche Technik mit emotionaler Tiefe vereint.
Die Gestalt Josquins bleibt uns nur in Umrissen überliefert – doch in seinen Werken offenbart sich ein Geist von universaler Kraft. Theoretiker wie Heinrich Glarean (1488–1563) und Gioseffo Zarlino (ca. 1517–1590) feierten ihn als Inbegriff musikalischer Kunst, und im 20. Jahrhundert führten Forscher wie Albert Smijers (1872–1949), Helmuth Osthoff (1883–1949) und Edward Lowinsky (1911–1991) seine Musik erneut ins Zentrum musikwissenschaftlicher Aufmerksamkeit. Die internationale Josquin-Konferenz von 1971 und die weltweiten Gedenkfeiern zum 500. Todestag im Jahr 2021 unterstrichen: Josquin Desprez bleibt ein Fixstern der Musikgeschichte – dessen Strahlen bis heute reichen.
Die wichtigsten Quellen und Literatur zu Josquin Desprez – Auswahl
1. Grundlagenwerke (Standardliteratur)
Helmuth Osthoff: Josquin Desprez. 2 Bände. Tutzing 1962–1965.
Das monumentale, bis heute unverzichtbare Grundlagenwerk; trotz überholter Details weiterhin eine der wichtigsten biografischen und analytischen Referenzen.
Richard Sherr (Hrsg.): The Josquin Companion. Oxford 2000.
Das moderne Standard-Handbuch: detailliert, multidisziplinär, international maßgebend.
David Fallows: Josquin. Turnhout 2009.
Die wichtigste moderne Monografie. Präzise, kritisch, voll neuer Quellenfunde; heute die zuverlässigste Gesamtdarstellung.
Ludwig Finscher: „Josquin des Prez“. In: MGG2, Personenteil Bd. 9, 2003. Der maßgebliche deutsche Überblicksartikel, methodisch und stilistisch auf höchstem Niveau.
2. Quellen- und Archivstudien – entscheidend für Biografie und Chronologie
Herbert Kellman: „Josquin and the Courts of the Netherlands and France“ (1976). Grundlegend für Josquins frühe Karriere und die Identifikation von Quellen.
Lewis Lockwood: „Josquin at Ferrara: New Documents and Letters“ (1976). Die zentrale Studie zu Josquins Ferrara-Jahren, mit neuen Archivzeugnissen.
David Fallows: „Josquin and Milan“ (1996).
Ein Meilenstein zur Mailänder Phase; korrigiert ältere Forschungsannahmen.
David Fallows: „Approaching a New Chronology for Josquin“ (1999).
Schlüsseldokument zur Neuordnung der Werkchronologie.
Lora Matthews und Patrick Macey: „Iudochus de Picardia…“ (1998).
Wichtiger Beitrag zur Identitätsfrage und Namensform des Komponisten.
3. Echtheits- und Autorschaftsforschung
Chris Maas: Josquin – Agricola – Brumel – De la Rue. Een authenticiteitsprobleem (1966). Wesentlich für frühe Echtheitsdiskussionen.
Martin Just: „Zur Frage der Autorschaft in den Josquin des Prez zugeschriebenen Werken“ (1991).
Bis heute bedeutsamer Überblick zu den Problemen der Zuschreibung.
Rebecca Stewart: „Motets attributed to both Josquin and Mouton“ (1991). Zentrale Fallstudie zu strittigen Motetten.
David Fallows: „Who composed Mille regretz?“ (2001).
4. Historischer Kontext und Mäzenatentum
Patrick Macey: „Galeazzo Maria Sforza and Musical Patronage in Milan“ (1996). Schlüssig zur Kulturpolitik Mailands und zum Hintergrund wichtiger Werke.
Edward E. Lowinsky: „Josquin des Prez and Ascanio Sforza“ (1969).
Wichtiger Beitrag zur Verbindung Sforza–Josquin.
Charles Van den Borren: „Une hypothèse concernant le lieu de naissance…“ (1957). Klassisch für die Geburtsort-Debatte.
5. Frühere klassische Studien, die weiterhin relevant sind
(Nicht modern, aber noch immer wissenschaftlich wertvoll.)
Albertus Smijers: „Josquin des Prez“ (1926/27).
Historisch bedeutsam – erste systematische Darstellung.
Carl Dahlhaus: Studien zu den Messen Josquins des Prés (1953).
Dahlhaus’ frühe Dissertation: analytisch wegweisend.
Suzanne Clercx: „Lumières sur la formation de Josquin…“ (1957).
Einflussreich für die Ausbildungsfrage (u. a. Cambrai).
Neuere musikwissenschaftliche Forschungen haben das Bild von Josquin Desprez’ Œuvre grundlegend verändert. Während ältere Werklisten häufig alle überlieferten Zuschreibungen ohne kritische Prüfung zusammenstellten, zeigt sich heute, dass ein großer Teil dieser Stücke aufgrund unzuverlässiger Quellenüberlieferung oder stilistischer Zweifel nicht von Josquin stammen kann. In der frühen Neuzeit wurde Josquins Name oft bewusst oder unbewusst als Prestige-Marke verwendet: Kopisten, Sammler und Drucker schrieben seinen Namen über Kompositionen anderer Meister, weil er als Garant für musikalische Qualität galt. Dadurch entstand ein überdimensioniertes und historisch verzerrtes Bild seines tatsächlichen Werkbestandes.
Zu den wichtigsten verlässlichen Quellen gehören allerdings die frühen Musikdrucke des venezianischen Verlegers Ottaviano Petrucci (um 1466–1539). Seine Chorbücher, besonders jene aus den Jahren 1502–1505, gehören zu den aufwendigsten und sorgfältigsten Musikeditionen der Renaissance. Petrucci arbeitete mit hervorragenden Vorlagen, verfügte über ein außergewöhnlich präzises Notendruckverfahren und führte den Namen Josquins mit großer editorischer Zurückhaltung. Werke, die in diesen frühen Druckausgaben unter Josquins Namen erscheinen, gelten deshalb als besonders zuverlässig überliefert und bilden einen Kernbereich der heute als authentisch anerkannten Kompositionen.
Den entscheidenden Fortschritt brachte jedoch die New Josquin Edition (NJE), die seit den 1980er-Jahren erarbeitet wurde und 2016 ihren Abschluss fand. Sie ist die erste Gesamtausgabe, die wirklich alle verfügbaren Quellen – Handschriften, Drucke, Fragmente, stilistische Vergleiche – systematisch und nach einheitlichen Kriterien bewertet. Jedes Werk wurde neu geprüft: Wo stammt die früheste Zuschreibung her? Ist sie eindeutig? Entspricht das musikalische Material den nachweisbaren Eigenheiten Josquins? Sind spätere Überlieferungen vertrauenswürdig oder fehleranfällig?
Auf diese Weise wurde ein Großteil der über Jahrhunderte angenommenen Werke ausgeschlossen oder als zweifelhaft gekennzeichnet. Der verbleibende Bestand ist kleiner, aber dafür wissenschaftlich klar begründet. Dadurch versteht man heute Josquins Stil, seine Entwicklung und sein tatsächliches Schaffen viel präziser als früher. Die NJE bildet deshalb die maßgebliche Grundlage jeder modernen Beschäftigung mit Josquins Werk – in Forschung, Edition und Aufführungspraxis.
Kurz gesagt: Frühere Werklisten spiegeln die historische Überlieferung wider, aber nicht die Realität. Die NJE trennt erstmals zuverlässig zwischen sicherer Authentizität, zweifelhaften Zuschreibungen und Fehlzuschreibungen und definiert damit den tatsächlichen Umfang von Josquins musikalischem Erbe.
Gesicherte Messen von Josquin Desprez nach der New Josquin Edition (NJE):
2. Missa Ave maris stella – 4 Stimmen
3. Missa De beata virgine – 4–5 Stimmen
4. Missa D’ung aultre amer – 4 Stimmen
5. Missa Faisant regretz – 4 Stimmen
6. Missa Fortuna desperata – 4 Stimmen
7. Missa Gaudeamus – 4 Stimmen
8. Missa Hercules Dux Ferrariae – 4 Stimmen (teilweise 6 Stimmen)
9. Missa La sol fa re mi – 4 Stimmen
10. Missa L’ami Baudichon – 4 Stimmen
11. Missa L’homme armé sexti toni – 4–6 Stimmen
12. Missa L’homme armé super voces musicales – 4 Stimmen
13. Missa Malheur me bat – 4–6 Stimmen
14. Missa Mater patris – 4–5 Stimmen
15. Missa N’auray je jamais (Missa Di dadi) – 4 Stimmen
16. Missa Pange lingua – 4 Stimmen
17. Missa Sine nomine – 4 Stimmen
18. Missa Une mousse de Biscaye – 4 Stimmen
Missa Gaudeamus („Freuen wir uns alle“, korrekt – „Lasst uns alle im Herrn frohlocken“)
Josquin Desprez komponierte die Missa Gaudeamus vermutlich in den 1490er Jahren, einer Phase seines Schaffens, in der er die traditionellen Formen der Cantus-firmus-Messe nicht mehr nur bewahrte, sondern sie bewusst erweiterte und in ein neues strukturelles Denken überführte. Die Messe gehört zu den bedeutendsten Beispielen dieses Entwicklungsstadiums, in dem sich ein ausgereiftes kontrapunktisches Können mit einem souveränen Umgang mit liturgischem Material verbindet. Grundlage des gesamten Zyklus ist die Melodie der Antiphon Gaudeamus omnes in Domino, ein Choral des Allerheiligenfestes, den Josquin nicht einfach als festliegende Tenorlinie übernimmt, sondern als schöpferisches Zentrum eines vielschichtigen Prozesses musikalischer Transformation behandelt. Der Cantus firmus erscheint in seiner ursprünglichen Gestalt ebenso wie in verkürzten, augmentierten oder rhythmisch verdichteten Varianten, er wird transponiert, in unterschiedliche Stimmen verlagert und dient immer wieder als Keimzelle imitatorischer Passagen. Dadurch entsteht ein Werk, das bei strenger zyklischer Geschlossenheit eine bemerkenswerte Vielfalt an kompositorischen Lösungen entfaltet.
Die Quellenlage – vor allem in den vatikanischen Codices der Cappella Sistina – bestätigt eine frühe und stabile Zuschreibung an Josquin; die Messe gehört damit zu jenen Werken, die sein Renommee bereits zu Lebzeiten innerhalb der römischen und franko-flämischen Hof- und Kapellenkultur festigten. Der liturgische Anlass lässt sich nicht exakt bestimmen, doch spricht die Wahl eines hochrangigen Allerheiligen-Chorals für einen repräsentativen Festgottesdienst innerhalb eines bedeutenden kirchlichen Umfelds. Die Missa Gaudeamus steht jedenfalls innerhalb jener Werkgruppe, in der Josquin die technischen Mittel der Cantus-firmus-Messe auf höchstem Niveau reinterpretiert und zugleich in Richtung eines freieren, motivisch flexibleren Satzes öffnet.
https://www.youtube.com/watch?v=5S-wd5XKUKY
Der musikalische Verlauf des Werks beschreibt eine kontinuierliche Dialektik von struktureller Strenge und melodischer Beweglichkeit. Bereits im Kyrie entfaltet sich die Choralgestalt mit bemerkenswerter Klarheit, bevor sie sich sukzessive in kleinere motivische Einheiten auflöst, die den Satz nach innen hin beleben. Das Gloria zeigt Josquin als Meister eines architektonisch weit gespannten Satzes, in dem lange liturgische Textabschnitte durch den Cantus firmus strukturiert werden, während die Schlussdoxologie mit ihrer Verschlankung des Stimmengeflechts auf eine charakteristische luzide Handschrift hindeutet. Das Credo bildet den kompositionsgeschichtlichen Schwerpunkt: Hier wird die Vorlage in mehreren Zeit- und Transpositionsvarianten verarbeitet, und Josquin nutzt den liturgischen Text zu einer fein abgestimmten musikalischen Dramaturgie. Die Passagen „Et incarnatus est“ und „Crucifixus“ erscheinen in reduzierter, häufig fast homophoner Faktur, während das „Et resurrexit“ mit gesteigerter Bewegung und klanglicher Offenheit antwortet. Trotz dieser Differenzierung bleibt der Cantus firmus ständige strukturelle Bezugsebene, wodurch das Credo eine der konzentriertesten Satzleistungen im Repertoire der preisgünstigen Cantus-firmus-Messen darstellt.
Sanctus und Benedictus führen diese Balance weiter, wobei der erste Teil durch einen weiträumig gestalteten, klangvoll ruhenden Satz geprägt ist, während das Benedictus die Textur zurücknimmt und die motivische Arbeit in den Vordergrund stellt. Das anschließende Hosanna verleiht dem Satz wieder größere Fülle, bevor im dreiteiligen Agnus Dei der Höhepunkt der zyklischen Integration erreicht wird. Josquin steigert die Intensität, indem er den Cantus firmus zunächst klar präsentiert, anschließend dichter verflicht und im abschließenden Agnus in eine erweiterte und klanglich eindrucksvolle Form überführt, die das Werk in würdiger, zugleich geistig konzentrierter Weise beschließt.
Wie in allen Messvertonungen des römischen Ordinariums bleibt der Text in jedem Satz identisch mit der liturgischen Vorlage; Unterschiede zwischen einzelnen Messen ergeben sich daher ausschließlich aus der musikalischen Konzeption. Gerade daran lässt sich Josquins kompositorische Intention exemplarisch ablesen: Die Missa Gaudeamus ist keine Demonstration gelehrter Strenge, sondern ein Versuch, die starre Bindung des Cantus firmus durch motivische Flexibilisierung zu lösen, ohne die Einheit des Zyklus aufzugeben. Das Ergebnis ist ein Werk, das in besonderer Weise die Reifephase des Komponisten repräsentiert. Es verbindet verbindliche liturgische Tradition mit bemerkenswerter Innovationskraft und zeigt Josquin als einen Meister, der die Techniken seiner Zeit nicht nur beherrschte, sondern entscheidend weiterentwickelte. Darum zählt die Missa Gaudeamus zu den Schlüsselwerken, an denen sich die Entwicklung der franko-flämischen Vokalpolyphonie um 1500 besonders klar nachvollziehen lässt.
CD-Vorschlag
Josquin: Musica symbolica, De Labyrintho, Leitung Walter Testolin (* 1964), Stradivarius, 2005, Tracks 1 bis 5:
Wie in allen Messvertonungen des römischen Ordinariums bleibt der Text in jedem Satz identisch mit der liturgischen Vorlage; Unterschiede zwischen einzelnen Messen ergeben sich daher ausschließlich aus der musikalischen Konzeption. Gerade daran lässt sich Josquins kompositorische Intention exemplarisch ablesen: Die Missa Gaudeamus ist keine Demonstration gelehrter Strenge, sondern ein Versuch, die starre Bindung des Cantus firmus durch motivische Flexibilisierung zu lösen, ohne die Einheit des Zyklus aufzugeben. Das Ergebnis ist ein Werk, das in besonderer Weise die Reifephase des Komponisten repräsentiert. Es verbindet verbindliche liturgische Tradition mit bemerkenswerter Innovationskraft und zeigt Josquin als einen Meister, der die Techniken seiner Zeit nicht nur beherrschte, sondern entscheidend weiterentwickelte. Darum zählt die Missa Gaudeamus zu den Schlüsselwerken, an denen sich die Entwicklung der franko-flämischen Vokalpolyphonie um 1500 besonders klar nachvollziehen lässt.
CD-Vorschlag
Josquin: Musica symbolica, De Labyrintho, Leitung Walter Testolin (* 1964), Stradivarius, 2005, Tracks 1 bis 5:
https://www.youtube.com/watch?v=3Gab8Pej-FQ&list=OLAK5uy_n3996NVXhBCd8zFTTndycUwIacFujqGio&index=2
Missa Pange lingua
Die Missa Pange lingua („Messe ‚Sing, o Zunge‘“ – korrekt: "Besinge, meine Zunge, das erhabene Geheimnis des göttlichen Leibes") gehört zu den letzten und reifsten Schöpfungen Josquin Desprez’ und gilt heute als das vollkommenste Beispiel einer spät-rénaissancezeitlichen Paraphrasemesse. Ihr Fundament ist die gregorianische Melodie des Fronleichnamshymnus Pange lingua gloriosi corporis mysterium, ein Choral des 13. Jahrhunderts, dessen sechs phrygische Phrasen Josquin nicht unverändert übernimmt, sondern in freie, bewegliche Motive auflöst.
Der zugrunde liegende Hymnus stammt von Thomas von Aquin (1225 –1274 und wurde für das Fronleichnamsfest geschaffen. Josquin verwendet ausschließlich die Melodie, nicht den Text
Diese Transformation einer liturgischen Einstimmigkeit in eine vielschichtige polyphone Sprache ist der Kern des Werkes: Die Melodie ist nicht Zitat, sondern Keimzelle, nicht dekorative Folie, sondern strukturelles Prinzip.
Die Messe trägt damit unverkennbar den Charakter eines Spätwerkes. Während frühere Komponisten eines Cantus-firmus-Modells den Choral streng im Tenor führten, lässt Josquin die Melodie im gesamten Satzgefüge zirkulieren. Jede Stimme kann Trägerin eines Motivfragments werden; alle Stimmen stehen in einem Gleichgewicht, das den Satz durchsichtig, ausgewogen und beweglich macht. Diese universale Einbindung des gregorianischen Materials schafft eine musikalische Einheit, die nicht äußerlich konstruiert wirkt, sondern organisch wächst – wie ein gelebtes musikalisches Gebet, das sich aus einer uralten Linie speist. (Tracks 1 bis 6)
https://www.youtube.com/watch?v=SAH1z7r3ags&list=OLAK5uy_nHmNcyJSr06EyBk-L_7Cj59IB5Xzwea7o&index=2
Das Kyrie öffnet das Werk in einer Atmosphäre ruhiger Sammlung. Die ersten Töne der Hymnenmelodie erscheinen paraphrasiert im Diskant und pflanzen sich in sanfter Imitation durch alle Stimmen fort. Der Satz entfaltet eine beinahe kontemplative Klarheit: kein kontrapunktischer Prunk, kein dramatischer Gestus, sondern eine schlichte, innere Bewegung, die sich aus der melodischen DNA des Hymnus speist.
Das Gloria führt diese motivische Einheit in lebhafterer Satzweise fort. Josquin gestaltet den langen Text mit subtiler Balance aus syllabischer Deutlichkeit und fließender Polyphonie. Immer wieder treten Motive aus Pange lingua hervor, doch nie als statische Zitate: Sie strukturieren den Satz, markieren wichtige Worte, schaffen Spannungsmomente und lösen sich wieder in neue Imitationen auf. Besonders eindrucksvoll sind die Abschnitte Qui tollis peccata mundi und Qui sedes ad dexteram Patris, deren leicht herabgesetzte Bewegung eine spirituelle Tiefe erzeugt, die sich von den festlicheren Passagen klar abhebt.
Das Credo, traditionell der textlich dichteste Teil der Messe, zeigt Josquin als souveränen Architekten musikalischer Bedeutung. Die motivischen Zellen des Hymnus erscheinen hier in wechselnden Kontexten, einmal weit ausgesponnen, dann wieder in engsten imitatorischen Verdichtungen. Die Stelle Et incarnatus est ist ein Ruhepunkt von großer Innigkeit: Hier lässt Josquin eine der klar erkennbaren Melodiephrasen des Hymnus deutlicher hervortreten und schafft damit eine symbolische Verbindung zwischen der Fleischwerdung Christi und dem eucharistischen Geheimnis, das der Hymnus besingt. Der Abschnitt Et resurrexit bringt Bewegung und Glanz zurück, bevor das Amen in einer energischen, aber elegant gebundenen Imitation den Satz beschließt.
Das Sanctus entfaltet einen hellen, lichtdurchfluteten Klang. Die paraphrasierte Anfangswendung der Hymnenmelodie eröffnet den Satz mit einer Art „Atemzug“, aus dem sich ein architektonisch klar gebautes Gefüge entwickelt. Pleni sunt caeli und Hosanna gewinnen durch ihre imitatorische Verdichtung eine ruhige Festlichkeit, die nie ins Triumphale kippt. Das Benedictus, kammermusikalisch zurückgenommen, wirkt wie der innere Kern des ganzen Messkomplexes: Die Linien sind schlank, die Motivik ist klarer hörbar, die Atmosphäre fast kontemplativ.
Das Agnus Dei schließlich ist der geistige Höhepunkt des Werkes. In den ersten beiden Abschnitten setzt Josquin die vertraute Paraphrasetechnik fort, jedoch mit gesteigerter Sanftheit und größerem melodischem Atem. Im dritten Agnus Dei kommt es zur entscheidenden musikalischen Geste: Die Hymnenmelodie erscheint zum ersten und einzigen Mal nahezu unverändert, in langen, schwebenden Notenwerten. Sie wird von den übrigen Stimmen nicht überwältigt, sondern mit zartem kontrapunktischem Gewebe umrahmt. Dadurch entsteht ein Moment tiefster Ruhe und spiritueller Sammlung – ein musikalisches Abbild der Bitte dona nobis pacem, das die Messe mit einzigartiger Schlichtheit beschließt.
Die Missa Pange lingua ist nicht nur ein Höhepunkt in Josquins Werk, sondern ein Kulminationspunkt der gesamten franko-flämischen Vokalpolyphonie. Sie verbindet die spirituelle Tradition des Gregorianischen Chorals mit der hochentwickelten Satzkunst des frühen 16. Jahrhunderts. Und sie zeigt einen Komponisten, der die Mittel seiner Kunst vollkommen beherrscht, sie aber nicht mehr zur demonstrativen Virtuosität einsetzt, sondern zur stillen Durchdringung eines einzigen musikalischen Gedankens.
In ihrer ruhigen, innerlich leuchtenden Architektur wirkt Josquins Messe wie eine meditative Auslegung des Hymnus, aus dem sie hervorgegangen ist – eine musikgewordene Theologie, in der jedes Motiv, jede Linie und jeder Satz auf das „Geheimnis des Leibes“ zurückführt, das Thomas von Aquin im 13. Jahrhundert besungen hat.
CD-Vorschlag
Josquin Desprez: Missa Pange lingua und Other Works, Westminster Cathedral Choir, Leitung James O'Donnell (* 1961), Hyperion, 1992, Tracks 1 bis 6.
Missa Ad fugam
Der Titel verweist auf das kompositorische Prinzip eines durchgehenden, imitatorischen Fugenthemas. (Ad fugam = „zur Fuge hin“)
Die Missa Ad fugam gehört zu den frühesten Messkompositionen von Josquin Desprez und zeigt bereits jenen erstaunlichen Grad an kontrapunktischer Meisterschaft, der sein späteres Werk prägen sollte. Sie steht in einer Reihe experimenteller Frühmessen, die den Anspruch besitzen, eine einzelne kompositorische Idee in allen Ordinariumssätzen konsequent durchzuführen. In diesem Fall bildet ein einziges, streng gefügtes Fugenthema die strukturelle Grundlage. Dieses Thema – knapp, prägnant und in seinem melodischen Verlauf typisch für die solmisatio-Baukastenwelt des 15. Jahrhunderts – erscheint in allen Teilen der Messe als Kern der Imitationssätze und prägt den musikalischen Verlauf wie ein roter Faden.
Zu den editorisch heikelsten Werken in Josquins Frühphase zählt die Missa Ad fugam, deren Überlieferung uneinheitlich ist. Mehrere Quellen geben abweichende oder unvollständige Fassungen einzelner Messabschnitte wieder, besonders im Sanctus- und Hosanna-Komplex sowie im Agnus Dei. Aus dieser schwierigen Quellenlage erklärt sich auch die auffallend feine Unterteilung in modernen Editionen und Aufnahmen: So wird das Sanctus häufig in zahlreiche Einzelsegmente gegliedert (4a–4f), während das Agnus Dei in Varianten wie 5a–5c erscheint, teils sogar in einer revidierten Version. Herausgeber und Interpreten trennen diese Abschnitte bewusst, um die unterschiedlichen Lesarten offen zu legen und die fragmentarische Überlieferung der Frühzeit transparent nachvollziehbar zu machen.
Gerade hier, im frühen Werkstadium Josquins, lässt sich seine Fähigkeit beobachten, aus einem technisch anspruchsvollen Konzept ein musikalisch geschlossenes, rhetorisch geschärftes Gebilde zu formen. Die Satztechnik ist insgesamt eher linear, weniger akkordisch verdichtet als in seinen späten Messen. Das Klangbild wirkt transparent, fast asketisch, ohne jedoch an Ausdruckskraft zu verlieren. Die Strenge des kontrapunktischen Gerüsts verbindet sich mit einer subtilen Gestaltung der Proportionen, sodass die Messe trotz ihrer theoretischen Konstruktion nie trocken oder bloß gelehrt erscheint.
Missa Ad fugam, Tracks 21 bis 48:
https://www.youtube.com/watch?v=KnVe0AoaIxM&list=OLAK5uy_mFe-WB5EPr9P6O7Sab7Z_Mb3Il-NbcDRA&index=21
Im Kyrie zeigt Josquin die thematische Idee erstmals in klarer, imitatorischer Entfaltung: ein Fugeneinsatz folgt organisch dem nächsten, wobei die Stimmen in engen Abständen ansetzen und das Thema enggeführt weiterreichen. Das Gloria nutzt die größere Textfülle, um das Fugenthema in wechselnden Besetzungen zu variieren; die kontrapunktische Arbeit wird durch kurze Homophonieblöcke gegliedert, die Orientierungspunkte im Verlauf setzen. Das Credo ist der zentralarchitektonische Satz der Messe: hier kumulieren die imitatorischen Verfahren, und es finden sich besonders markante Engführungen sowie kontrastierende Abschnitte, die dem langen Text klare dramaturgische Kontur geben.
Das Sanctus wirkt im Vergleich gelöster und heller; die nach innen gewendete Strenge des Beginns weicht einem flüssigen imitatorischen Spiel. Die Benedictus-Passage zeigt eine besonders feine Textur: eine Art kammermusikalisches Intermezzo innerhalb der strengen Großform. Im abschließenden Agnus Dei erreicht die Fugenidee ihren Höhepunkt, indem Josquin das Thema noch dichter führt und dabei die Stimmen so ineinandergreifen lässt, dass ein eindrucksvoller polyphoner Sog entsteht. Trotz dieser Verdichtung bleibt die Musik klar lesbar, weil Josquin – bereits in jungen Jahren – die Kunst beherrscht, polyphone Komplexität durch klangliche Balance auszugleichen.
Die Missa Ad fugam steht damit an einem entscheidenden Punkt in Josquins Entwicklung: Sie zeigt einen Komponisten, der die gelehrte Tradition der Generation Ockeghems ernst nimmt, sie jedoch nicht sklavisch imitiert, sondern für eigene Zwecke neu formt. Die Messe ist weniger ein Akt theoretischer Brillanz als ein frühes Beispiel jener einzigartigen Synthese von konstruktiver Strenge und menschlicher Empfindung, die Josquins Stil später zu einem europäischen Maßstab machen sollte. Sie wirkt wie der Versuch, aus der Sprache der Fuge – damals ein Kunstmittel höchster Komplexität – eine lebendige musikalische Rede zu entwickeln. Genau hierin liegt ihr historischer Wert: Als frühe Probe seines Könnens eröffnet sie den Weg zu den großen Messen der Reifezeit und zeigt gleichzeitig die intellektuelle Neugier eines Komponisten, der die Grenzen des Polyphonen zu verschieben wusste.
CD-Vorschlag
Josquin - Missa Sine Nomine und Missa Ad fugam, The Tallis Scholars, Leitung Peter Phillips (* 1953), Gimell Records, 2008, Tracks 21 bis 48.
Missa Sine nomine
Der Titel
Missa Sine nomine = „Messe ohne Namen“, im Sinne von:
Eine Messe, die keinem Cantus firmus, keinem Chanson und keinem vorgegebenen musikalischen Modell ihren Namen verdankt.
Josquin Desprez schuf mit der Missa Sine nomine ein Werk, das in seiner äußeren Schlichtheit – ein Titel ohne Modell, ohne Hinweis auf ein zugrunde liegendes Chanson oder einen gregorianischen Cantus firmus – eine erstaunliche kompositorische Freiheit offenbart. Der Titel bedeutet wörtlich „Messe ohne Namen“ und bezeichnet eine Komposition, die sich nicht auf ein präexistentes musikalisches Material stützt, sondern aus frei erfundenen Motiven entsteht. Im Œuvre Josquins ist dies eine bemerkenswerte Ausnahme, denn der Komponist griff sonst häufig auf bekannte Melodien, liturgische Gesänge oder chiffrierte Namensmotive zurück. Die Entscheidung für völlige thematische Unabhängigkeit verleiht der Messe eine unaufdringliche, souveräne Geschlossenheit, die sich aus der inneren Logik des Satzes speist und weniger aus einem äußeren Bezugssystem.
Stilistisch verweist die Messe auf eine Entstehung in den 1490er oder frühen 1500er Jahren, also an der Schwelle zwischen Josquins Dienstzeit an der römischen Sixtinischen Kapelle und seiner reiferen Phase. Ihre Überlieferung beruht ausschließlich auf dem venezianischen Petrucci-Druck Misse Josquin III von 1514, der als autoritätsnah gilt und zugleich belegt, dass das Werk früh als repräsentativer Bestandteil des reifen Josquin angesehen wurde. Da keine älteren Manuskripte nachweisbar sind, bildet diese Druckausgabe die Grundlage aller modernen Editionen.
Charakteristisch für die Messe ist ihre motivische Ökonomie: Josquin entwickelt jeden Satz aus kleinen, klar konturierten Motivzellen, die häufig im Sekundschritt beginnen und sich in Imitationen entfalten. Im Kyrie wird diese Technik paradigmatisch sichtbar. Der Satz beginnt mit einer ruhigen, imitatorischen Anlage, in der die Stimmen einander mit einer schlichten, aber prägnanten Motivfigur antworten. Das „Christe“ zeigt bereits eine Verdichtung der imitatorischen Abläufe, bevor das abschließende „Kyrie“ die motivische Keimzelle in erweiterten Intervallen und engeren Einsätzen erneut ausleuchtet. Diese Architektur macht das Kyrie zu einem Musterbeispiel dafür, wie Josquin auf kleinstem Raum maximale Balance zwischen Textklarheit und kontrapunktischer Kunst erzielt.
Das Gloria entfaltet sich als breiter vokaler Strom, in dem homophone Abschnitte bewusst eingesetzt werden, um zentrale theologische Aussagen hervorzuheben. Auf „Et in terra pax“ öffnet sich der Satz in eine horizontal gedachte, fließende Polyphonie, während Passagen wie „Qui tollis peccata mundi“ durch ein Absinken der Linie und eine verhaltene Stimmführung rhetorisch markiert werden. Die abschließende Doxologie bringt die Stimmen erneut in enggeführte Imitationen, die an den Beginn des Satzes erinnern und das Gloria mit klarer architektonischer Klammer schließen.
Das Credo, traditionell der umfangreichste und textreichste Abschnitt einer Messe, zeigt Josquin in außergewöhnlicher Meisterschaft. Statt sich in kontrapunktischer Opulenz zu verlieren, staffelt er den Text in übersichtlichen Blöcken. „Et incarnatus est“ wird in einem beinahe kammermusikalisch transparenten Satz geführt, der den theologischen Kern der Menschwerdung durch eine Reduktion der Stimmen und einen weicheren, gesanglichen Duktus hervorhebt. Der Übergang zu „Et resurrexit“ ist klar rhetorisch gesetzt: Die Linien steigen auf, der Rhythmus belebt sich, und die Imitationen treten wieder deutlicher hervor. Josquin gelingt es, die monumentale Länge des Credo durch kluge Proportionierung in ein dramaturgisch stimmiges Ganzes zu verwandeln, ohne die strukturelle Geschlossenheit der Messe zu gefährden.
Das Sanctus bildet einen der klanglich weitesten Räume der Messe. Seine Eröffnung wirkt wie ein ruhiger, nach innen gerichteter Klangdom, in dem sich die Stimmen zu weit gespannten Linien öffnen. Die „Pleni sunt caeli“-Passage bringt erstmals im Satz eine deutliche Imitationsdichte, die der himmlischen Fülle musikalische Entsprechung verleiht. Im „Hosanna“ treten rhythmisch markantere Einsätze auf, die jedoch nie in äußere Bewegung oder Überladenheit umschlagen; vielmehr bewahren sie die Intimität, die das gesamte Werk prägt. Das Benedictus wirkt wie ein meditativer Ruhepunkt, bevor das Hosanna in verkürzter, aber klanglich gesteigerter Form wiederkehrt.
Im Agnus Dei erreicht die Messe ihre größte Konzentration und zugleich ihre ruhigste Intensität. Die Stimmen bewegen sich in weiten Bögen, die Polyphonie bleibt klar, ungezwungen und transparent. Der Schluss auf „Dona nobis pacem“ wird nicht als virtuoser Höhepunkt, sondern als innerer Abschluss gestaltet: ein leiser, tief empfundener Friede, der die Haltung des gesamten Werkes zusammenfasst. Die Missa Sine nomine verzichtet auf äußere Effekte und auf spektakuläre kompositionstechnische Kunstgriffe, gewinnt jedoch gerade daraus ihre besondere Würde. Sie ist das Werk eines Komponisten, der seine Mittel vollkommen beherrscht und sie mit größtmöglicher Ökonomie einzusetzen weiß. Die Messe gehört zu den stillen Meisterwerken Josquins: weniger berühmt als die Missa Hercules Dux Ferrariae oder die Missa Pange lingua, aber ebenso durchdacht, subtil und architektonisch vollkommen.
Als Ganzes betrachtet präsentiert sich die Missa Sine nomine als ein Beispiel jener souveränen Reife, mit der Josquin seine späten Jahre prägte. Ihre Einheit entsteht nicht durch einen äußeren Cantus, sondern durch die innere Logik verwandter Motivgestalten, durch sorgfältig proportionierte Satzarchitektur und durch eine Sensibilität für den liturgischen Text, die jede Zeile in den Dienst der musikalischen Form stellt. Die Messe ist damit ein Muster dafür, wie ein „namenloses“ Werk einen unverwechselbaren Charakter gewinnen kann – durch eine Kunst, die sich nicht auf Vorlagen stützt, sondern aus sich selbst heraus spricht.
CD-Vorschlag
Josquin - Missa Sine Nomine und Missa Ad fugam, The Tallis Scholars, Leitung Peter Phillips (* 1953), Gimell Records, 2008, Tracks 1 bis 20:
https://www.youtube.com/watch?v=t9rOP_NPd1Q&list=OLAK5uy_mFe-WB5EPr9P6O7Sab7Z_Mb3Il-NbcDRA&index=1
Missa Ave maris stella – eine kontemplative Kunst der Transformation
Die Missa Ave maris stella zählt zu den klarsten und zugleich kunstvoll kontrollierten Messvertonungen, die Josquin Desprez in seinem reifen Mittelstil geschaffen hat. Nach heutiger Forschung dient ihr die gleichnamige Marienhymne des liturgischen Stundengebets als strukturelle Grundlage; darüber hinaus ist wahrscheinlich, dass Josquin auch auf eine polyphone Motettenbearbeitung desselben Materials zurückgriff. Aus diesem Grund wird das Werk in der Forschung häufig als Parodiemesse beschrieben, insofern polyphone Wendungen, motivische Zellen und charakteristische Intervalle nicht nur aus dem schlichten gregorianischen Hymnus, sondern möglicherweise auch aus einer bereits kunstvoll verarbeiteten mehrstimmigen Vorlage hervorgehen. Eine direkte mehrstimmige Motette Josquins mit diesem Titel ist nicht sicher überliefert, doch es existieren zeitnahe polyphone Ave maris stella-Sätze anderer Komponisten, die ähnliche melodische Formulierungen aufweisen.
Der Hymnus Ave maris stella:
https://www.youtube.com/watch?v=8TGW9k4zxhY
Lateinischer Text
Ave maris stella,
Dei Mater alma,
atque semper Virgo,
felix cæli porta.
Sumens illud Ave
Gabrielis ore,
funda nos in pace,
mutans Evæ nomen.
Solve vincla reis,
profer lumen cæcis,
mala nostra pelle,
bona cuncta posce.
Monstra te esse matrem,
sumat per te precem
qui pro nobis natus
tulit esse tuus.
Virgo singularis,
inter omnes mitis,
nos culpis solutos
mites fac et castos.
Vitam præsta puram,
iter para tutum,
ut videntes Iesum
semper collætemur.
Sit laus Deo Patri,
summa gloria Christo,
Spiritui Sancto,
tribus honor unus. Amen.
Deutsche Übersetzung
Sei gegrüßt, Stern des Meeres,
gütige Mutter Gottes,
für immer jungfräulich,
selige Pforte des Himmels.
Als du jenes „Ave“
aus Gabriels Mund empfingst,
verankere uns im Frieden
und heile die Schuld der Eva.
Löse die Fesseln der Schuldigen,
schenke den Blinden Licht,
wandle das Böse von uns ab
und erflehe uns alles Gute.
Zeige, dass du Mutter bist,
damit der, der für uns geboren
auch dein Sohn wurde,
unsere Bitten durch dich annehme.
O einzigartige Jungfrau,
mild unter allen Frauen,
mach uns, von Schuld gelöst,
zu milden und reinen Menschen.
Erweise uns ein lauteres Leben,
bereite uns einen sicheren Weg,
damit wir, wenn wir Jesus schauen,
uns ewig mit ihm freuen.
Dem Vater sei Lob,
dem Sohn höchste Herrlichkeit,
dem Heiligen Geist die Ehre,
dem Einen in drei Personen. Amen.
Entscheidend bleibt: Die Messe zeugt von einer schöpferischen Methode, in der cantus-firmus-Technik, paraphrasierende Linienführung und imitatorische Satzweise eine vollkommen natürliche Einheit bilden.
Die theologischen Implikationen des Hymnus – Maria als leitender Stern, der den Gläubigen durch die Dunkelheit führt – sind in Josquins kompositorischer Sprache auf subtile Weise präsent. Der Hymnus erscheint meist nicht in langen cantus-firmus-Strecken, wie sie für ältere Messezyklen typisch wären, sondern in flexiblen, frei behandelten Melodiefragmenten, die in allen Stimmen aufscheinen. Dadurch entsteht ein Klangbild, das weniger auf Monumentalität als auf innere Ruhe, ausgewogene Polyphonie und lineare Transparenz zielt. Diese ästhetische Haltung verrät eine Nähe zu Josquins Missa de Beata Virgine, ohne deren episodische Vielfalt zu teilen; vielmehr ist die Missa Ave maris stella von einem durchgängig meditativen Ton bestimmt.
https://www.youtube.com/watch?v=XBeVn7XJcPI
Das Kyrie eröffnet mit einem gravitätischen, doch klar geordneten Imitationsgeflecht, in dem die Hymnusmelodie in zarten Andeutungen präsent bleibt. Der Satz wirkt wie ein ruhiges Einsammeln der Stimmen in einen gemeinsamen, bewusst zurückgenommenen Raum; die Polyphonie zeigt dabei eine fast architektonische Balance zwischen Weite und Nähe, die für Josquin typisch ist. Im Gloria entfaltet sich der Kontrast von homophonen Kulminationen und feingliedrigen imitatorischen Passagen, wobei immer wieder einzelne Motive des Hymnus – insbesondere sein charakteristischer Auftakt und die schrittweise Aufwärtsbewegung – als strukturelle Anker dienen. Trotz der Länge des Textes wahrt Josquin ein Gefühl von Ruhe und geordnetem Fortschreiten; dramatische Zuspitzungen, wie sie in späteren Messen häufiger werden, vermeidet er bewusst.
Das Credo zeigt Josquin als Meister des „thematischen Lichts“: bestimmte Zeilen wie Et incarnatus est und Et resurrexit werden durch fein dosierte Texturveränderungen hervorgehoben, ohne dass der übergeordnete meditative Charakter verloren geht. Der Hymnus ist hier als paraphrasiertes Motivmaterial besonders integrierend, sodass das Credo trotz der textlichen Länge wie aus einem einzigen Atemfluss hervorgeht. Im Sanctus gewinnt die Musik milden Glanz, und der Pleni sunt caeli-Abschnitt lässt erstmals eine etwas weit gespannte klangliche Ausstrahlung zu, die sich mit dem himmlischen Lobpreis verbindet. Das Benedictus ist von besonderer Zartheit: Die Textur öffnet sich, die imitatorischen Linien treten zurück und schaffen eine Atmosphäre konzentrierter Andacht. Das Agnus Dei, oft als kompositorischer Prüfstein eines Messensatzes verstanden, fasst die gesamte Haltung des Werks zusammen: die Stimmen erheben sich behutsam, fast wie in einem schwebenden Resonanzraum, während der Hymnus ein letztes Mal als strukturelles Fundament erscheint. Der Satz endet nicht im Triumph, sondern in einer geistigen Stille, die Josquins Marienfrömmigkeit und sein Streben nach reiner formaler Klarheit spürbar werden lässt.
Im Kontext der authentisch überlieferten Messen zeigt die Missa Ave maris stella eine besondere formale Reinheit und ein hohes Maß an Reduktion der Mittel. Wo andere Messen Josquins narrative oder rhetorische Spannungen, ausgeprägte Kontraste oder symbolische Motivsemantik aufweisen, bleibt dieses Werk von einer fast ikonischen Einfachheit: Der Hymnus wird nicht ausgestellt, sondern ständig gegenwärtig gehalten; die Polyphonie wirkt nie prunkvoll, sondern wie aus dem Inneren heraus geformt. Dies verleiht der Messe eine zeitlose Klarheit, die sie zu einem der stillen Meisterwerke des Komponisten macht. Ihr theologischer Kern – Maria als Wegweiserin – findet seine musikalische Entsprechung in einer Struktur, deren Schönheit aus Ordnung, Maß und leuchtender Schlichtheit entsteht.
CD-Vorschlag
Josquin Desprez, Missa "Ave maris stella", motets und chansons, Taverner Choir, Leitung Andrew Parrott (* 1947), A Warner Classics release, 1993, Tracks 9 und 10, 12 bis 15 (Track 11: Letabundus gehört nicht zu der Messe und ist auch nicht von Josquin komponiert worden):
https://www.youtube.com/watch?v=e_XR0jiRPrg&list=OLAK5uy_mrTZRkwSlKhVO-nCc2MsHTPJvZC0BGMco&index=9
Missa De beata virgine
Josquin Desprez komponierte seine vermutlich in den letzten Jahrzehnten seines Lebens, jedenfalls in einer Phase, in der seine Kunst auf bemerkenswerte Konzentration, Klarheit und geistige Intensität zulief. Die Messe gehört zu den meistverbreiteten Werken des Komponisten im 16. Jahrhundert; sie findet sich in zahlreichen Handschriften und Drucken und wurde noch Generationen nach seinem Tod als vorbildliches Modell marianischer Polyphonie betrachtet. Ihre Besonderheit liegt in der Struktur: Josquin gestaltet keinen einheitlichen Cantus-firmus-Zyklus, sondern verbindet unterschiedliche marianische Choralvorlagen und Techniken in den einzelnen Ordinariumssätzen zu einem harmonisch geschlossenen Ganzen. Dadurch entsteht ein Werk, das aus der Liturgie heraus denkt und zugleich eine unüberhörbare Handschrift des Komponisten trägt.
https://www.youtube.com/watch?v=SMQ4PXySvTU
Im Kyrie zeigt sich gleich zu Beginn Josquins souveräner Umgang mit chantgebundener Polyphonie. Der Komponist lässt den gregorianischen Kyrie-Gesang im Tenor erscheinen, doch nicht als starr durchlaufende Cantus-firmus-Linie, sondern frei paraphrasiert und in sorgfältigen imitatorischen Dialog mit den Oberstimmen eingebettet. Der Satz wirkt schlicht und konzentriert, fast wie eine Einstimmung auf das, was folgt: Die Linien sind weich geformt, die Imitationen sparsam gesetzt, und die Harmonik eröffnet einen typisch Josquin’schen Raum zwischen klösterlicher Strenge und subtiler Expressivität.
Das Gloria führt diese Technik fort, jedoch mit einer deutlich erhöhten Beweglichkeit. Der Choral wird paraphrasiert, oft zwischen den Stimmen verteilt und in unterschiedlichen Dichten verarbeitet. Charakteristisch ist das Wechselspiel zwischen syllabischen, fast rezitativisch geführten Abschnitten und dichterer Polyphonie, die vor allem an stärker affektgeladenen Stellen auftritt. Josquin nutzt diesen Kontrast als architektonisches Mittel: Textabschnitte von dogmatischer Klarheit erscheinen licht und durchsichtig, während Anrufungen und Bitten in engere, gewichtigere Polyphonie übergehen. Die Musik gewinnt damit eine theologische Topographie: Belehrung, Lob, Flehen und Bekenntnis haben jeweils einen eigenen Klangraum.
Im Credo entfaltet Josquin eine noch komplexere Textur. Auffallend ist die große strukturelle Gliederung, die eng am Text orientiert ist: klare homophone Passagen für die zentralen dogmatischen Formeln wie Et incarnatus est, kontrapunktische Verdichtungen für Et resurrexit, breitere imitatorische Felder für das abschließende Et vitam venturi saeculi. Der Choral ist auch hier präsent, jedoch weniger unmittelbar zu erkennen; Josquin verschmilzt ihn mit den imitatorischen Motiven, sodass ein Gewebe entsteht, das dem Wortfluss folgt und zugleich einen ruhenden Kern besitzt. Der Satz zeigt exemplarisch Josquins Fähigkeit, aus der liturgischen Tradition heraus eine polyphone Erzählung zu formen, die theologische Inhalte sinnlich erfahrbar macht.
Besondere Aufmerksamkeit verdient das Sanctus, das in vielen Handschriften in fünf Stimmen überliefert ist und damit zu den prachtvolleren Teilen dieser Messe gehört. Josquin gestaltet hier weit gespannte Linien, die sich im Pleni sunt caeli zu leuchtenden Imitationen verdichten. Das Hosanna wirkt wie ein Höhepunkt des gesamten Zyklus: rhythmisch energisch, leicht gesteigert im Tempoempfinden, mit einem fast tänzerischen Schwung, der dennoch nie die liturgische Würde verliert. Im Benedictus zieht Josquin das Tempo der musikalischen Ereignisse zurück und schreibt eine zart kontemplative Passage, die im erneuten Hosanna wieder in die glanzvolle Polyphonie des vorherigen Abschnitts zurückführt.
Das Agnus Dei bildet den geistigen Abschluss der Messe und gehört zu den eindrucksvollsten Momenten dieses Zyklus. Josquin komponiert hier in gesteigerter Klarheit: Weite Intervalle, weiche imitatorische Einsätze und ein besonderer Fokus auf Klangfarbe prägen diesen Satz. Ein drittes Agnus Dei, das in einigen Überlieferungen fünfstimmig erscheint, schließt den Zyklus mit einer Haltung, die zugleich Bitte und Verklärung ist. Die Musik entfaltet eine sanfte, fast schwebende Polyphonie, in der Bitten um Frieden – dona nobis pacem – wie in einem stillen Nachhall des gesamten Messgefüges resonieren.
Musikhistorisch steht die Missa De beata virgine an einem signifikanten Punkt: Sie ist einerseits fest in der Tradition der marianischen Liturgie verankert, andererseits summiert sie mehrere kompositorische Verfahren, die Josquins späte Meisterschaft kennzeichnen. Die Kombination aus Choralparaphrase, textbezogener Architektur, sorgfältiger Stimmführung und harmonischer Transparenz wurde bereits im 16. Jahrhundert als exemplarisch anerkannt. Nicht zufällig blieb gerade diese Messe im Repertoire vieler Institutionen des frühen 16. Jahrhunderts überdurchschnittlich präsent: Sie galt als Idealbild einer musikalisch und theologisch ausgewogenen Marienmesse.
In ihrer Gesamtgestalt ist die Messe ein Werk hoher innerer Geschlossenheit, obwohl sie nicht durch einen einzigen Cantus firmus verbunden ist. Josquins Kunst zeigt sich gerade im Ausgleich dieser Vielfalt: Die unterschiedlichen liturgischen Melodien und die jeweils variierenden Techniken treten nicht als Heterogenität hervor, sondern fügen sich zu einem großen, meditativen und zugleich strukturell präzisen Klangraum. Die Missa De beata virgine verkörpert damit jene Balance aus geistiger Tiefe, melodischer Schönheit und konstruktiver Intelligenz, die Josquin zu einem der zentralen Komponisten der Renaissance macht.
CD-Vorschlag
Josquinm Messas, De beata virgine und Ave maris stella, The Tallis Scholars, Leitung Peter Phillips (* 1953), Gimel, 2011, Tracks 1 bis 17:
https://www.youtube.com/watch?v=VcSOhNaYPts&list=OLAK5uy_nrz43WQ4uNuXiANvS0ahEVJu4qusfeIRo&index=1
Missa D’ung aultre amer
Unter Josquins erhaltenen Messkompositionen nimmt die Missa D’ung aultre amer eine Sonderstellung ein, weil sie – anders als manche groß dimensionierte Werke seines Reife- und Spätstils – ein ausgesprochen konzentriertes, fast kammermusikalisch transparentes Klangbild zeigt. Die Messe ist vierstimmig angelegt und gehört nach stilistischen Kriterien eher zu den früheren Schichten seines Schaffens. Ihr Fundament bildet die weltliche Chanson D’ung aultre amer, ein liedhafter Satz, der traditionell Ockeghem (um 1410–1497) zugeschrieben wird. Die Forschung betrachtet die Messe deshalb als klassische Parodiemesse, in der Josquin prägende melodische und kontrapunktische Züge der Vorlage aufgreift und in die Liturgie überführt. Für die Zeit um 1480/1490, in der solche Transformationstechniken zunehmend zum kompositorischen Standard gehörten, ist dieses Verfahren vollkommen typisch: Die Parodiemesse erlaubt einerseits die Huldigung an ein verehrtes Modell – in diesem Fall Ockeghem – andererseits demonstriert sie das kunstvolle Vermögen, ein profanes Cantus-material in einen geistlichen Kontext umzudeuten.
Die Chanson D’ung aultre amer gehört zu jener lyrisch-intimen Art von Liebesklagen, wie sie für das französische 15. Jahrhundert typisch ist und in Ockeghems Œuvre eine besonders feinsinnige Ausprägung findet. Der Satz ist dreistimmig und zeichnet sich durch lange, geschmeidig fließende melodische Linien aus, die sich ohne deutliche Kadenzabschlüsse durch den Modus bewegen. Das rhythmische Profil ist ruhig, die Harmonik von weichen Konsonanzen und nur vorsichtig gesetzten Dissonanzen geprägt. Ein charakteristisches Merkmal der Chanson ist die melodische „Wellenbewegung“, die aus schrittweisem Auf und Ab entsteht und eine Art resignative Zärtlichkeit transportiert. Die Musik wirkt zugleich introvertiert und kunstvoll, ein Beispiel für jene subtil balancierte Klangsprache, die Ockeghem zum verehrten Lehrmeister der nachfolgenden Generation machte.
https://www.youtube.com/watch?v=BQTD4aTSFvk&list=OLAK5uy_mroLiC_yfEZ1rECye_K7gY7rytnfnocQ4&index=2
Der Titel D’ung aultre amer bedeutet wörtlich „Von einer anderen Liebe“, korrekt „Um einer anderen Liebe willen“. In der Chanson erscheint er als Ausdruck eines emotionalen Wechsels oder einer neu entflammten Leidenschaft. Josquin übernimmt diesen Titel selbstverständlich nicht als theologisches Programm, doch verweist die Wahl der Vorlage indirekt auf das damalige kompositorische Netzwerk: Die Bezugnahme auf Ockeghem steht im Zeichen der tief empfundenen Verehrung, wie sie Josquin später in seiner berühmten Déploration Nymphes des bois zum Tod des Altmeisters noch deutlicher artikulieren wird. Die Messe trägt somit den Charakter einer musikalischen Hommage, ihre Materialgrundlage ist Ockeghems Melodie, und die raffinierte Verarbeitung bezeugt Josquins Fähigkeit, aus weltlicher Satzkunst geistliche Architektur zu formen.
Die weltliche Chanson D’ung aultre amer (Mittelfranzösusch)
Strophe 1
D’ung aultre amer mon cueur s’abesseroit,
il ne fault ja penser que je l’estrange,
ne que pour rien de ce propos me change,
car mon honneur en appetisseroit.
Je l’aime tant que jamais ne seroit
possible à moy de consentir l’eschange.
D’ung aultre amer mon cueur s’abesseroit.
Refrain
D’ung aultre amer mon cueur s’abesseroit.
Strophe 2
La mort, par Dieu, avant me desferoit
qu’en mon vivant j’acointasse ung estrange;
ne cuide nul qu’à cela je me range,
ma leauté trop fort s’en mesferoit.
D’ung aultre amer mon cueur s’abesseroit.
Refrain
D’ung aultre amer mon cueur s’abesseroit.
Deutsche Übersetzung
Strophe 1
Bei einer anderen Liebe würde mein Herz erniedrigt,
niemals dürft ihr glauben, ich würde ihn verlassen,
noch dass ich mich aus irgendeinem Grund änderte,
denn meine Ehre würde sich dadurch mindern.
Ich liebe ihn so sehr, dass es niemals möglich wäre,
dem Tausch zuzustimmen.
Bei einer anderen Liebe würde mein Herz erniedrigt.
Refrain
Bei einer anderen Liebe würde mein Herz erniedrigt.
Strophe 2
Der Tod, bei Gott, soll mich eher treffen,
als dass ich zu meinen Lebzeiten einen Fremden nähme.
Niemand soll glauben, dass ich mich dem beuge;
zu sehr würde meine Treue verletzt.
Bei einer anderen Liebe würde mein Herz erniedrigt.
Refrain
Bei einer anderen Liebe würde mein Herz erniedrigt.
Josquin überträgt genau diese Eigenschaften in seine Messe: Nicht mit direkten Zitationen der gesamten Melodie, sondern durch die Extraktion kleiner motivischer Zellen, durch imitatorische Verdichtung und durch die Übertragung des elegischen Grundtons in eine liturgische Textur. Das weltliche amour courtois wird nicht als Thema fortgeführt, sondern als musikalische Geste sublimiert. In der Messe erscheint das Material gereinigt, objektiviert und polyphon neu interpretiert.
Die kompositorische Anlage der Messe zeigt eine überaus kontrollierte Verwendung des Chanson-Materials. Der Cantus firmus erscheint nicht als starre, syllabische Gerüstlinie, sondern wird in verschiedenen Stimmen wechselnd geführt und in motivische Partikel aufgelöst, die dann imitatorisch verknüpft werden. Gerade im Kyrie und im Gloria wird deutlich, wie Josquin das thematische Profil der Vorlage – kleine Wellenbewegungen, charakteristische Sekundschritte und scheinbar beiläufige melodische Wendungen – zu Baustoffen eines dichten polyphonen Satzes macht. Die rhythmische Organisation bleibt klar und leichtfüßig, was der Messe eine gewisse Beweglichkeit verleiht. Gleichzeitig zeigt sich bereits der für Josquin typische Umgang mit Transparenz: Stimmen treten einzeln hervor, imitieren sich kanonisch oder bilden Engführungen, die bei aller Polyphonie stets eine deutliche Textverständlichkeit zulassen.
Im Credo intensiviert sich die Technik der motivischen Verdichtung, doch verzichtet Josquin auf monumentale Zuspitzungen. Stattdessen gestaltet er den Satz als ein fein abgestuftes Kontinuum, in dem die einzelnen Abschnitte des Glaubensbekenntnisses durch unterschiedliche kontrapunktische Texturen voneinander abgesetzt werden. Das berühmte „Et incarnatus est“ erhält eine merklich intimere Faktur, während das „Et resurrexit“ mit neu belebt wirkender Imitation aufstrahlt. Auch hier bleibt das Chanson-Material präsent, doch eher als struktureller Klanghintergrund denn als offen exponierte Cantus-Linie.
Das Sanctus und das Agnus Dei zeigen schließlich, dass Josquin in dieser Messe nicht auf große Proportionen zielt, wie er es in späteren Werken unternimmt. Stattdessen schafft er eine auf Reduktion, Klarheit und motivische Einheitlichkeit ausgerichtete musikalische Architektur. Im dritten Agnus Dei zieht er die Stimmen dichter zusammen, ohne jedoch die Dimensionen zu erweitern; auch hier bleibt der Satz von einer Art innerer Sammlung geprägt.
Aus historischer Sicht gehört die Missa D’ung aultre amer zu jenen Werken, die den Übergang der franko-flämischen Tradition des 15. Jahrhunderts in die frühe Hochrenaissance markieren. Die Referenz auf Ockeghem zeigt die Verwurzelung im älteren Meisterstil, während die motivische Prägnanz, die stärkere Textausrichtung und der fließende imitatorische Satz bereits zu Josquins unverwechselbarer Handschrift führen. Als Parodiemesse steht sie nicht am Rand, sondern im Zentrum einer damals weit verbreiteten Praxis, die weltliche Kunstmusik zur Quelle geistlicher Polyphonie zu machen. Dass Josquin gerade dieses Modell wählte, unterstreicht die persönliche Bedeutung Ockeghems für seine ästhetische Entwicklung.
In der Gesamtheit erscheint die Missa D’ung aultre amer daher als kunstvolle Synthese von Tradition und individueller Erfindung, als Hommage an ein verehrtes Vorbild und zugleich als Zeugnis der frühen Meisterschaft Josquins. Ihre polyphone Struktur wirkt diszipliniert und licht, ihre musikalische Sprache zeigt einen Komponisten, der die Kunst des subtilen Formens ebenso beherrscht wie die Kunst der motivischen Transformation. Sie ist ein Beispiel für jene besondere Balance aus Gelehrsamkeit und Expressivität, die Josquin in der europäischen Musikgeschichte zu einer Schlüsselgestalt macht.
CD-Vorschlag
Josquin Desprez, Missa "D'ung aultre amer", Motets und Chansons, Ensemble: Alamire, Leitung David Skinner (* 1964), Obsidian, 2007, Tracks 2 bis 6:
https://www.youtube.com/watch?v=_7JEORUb9TY&list=OLAK5uy_mroLiC_yfEZ1rECye_K7gY7rytnfnocQ4&index=2
Missa Faisant regretz
Josquins Missa Faisant regretz (Altfranzösisch bedeutet: „indem ich Trauer empfinde“) gehört zu den raffiniertesten und am strengsten konstruierten Zyklen seines mittleren Schaffens und zeigt den Komponisten als Meister einer dichten motivischen Arbeit, die bewusst auf Expressivität durch strukturelle Konzentration setzt. Der Titel verweist auf die gleichnamige Chanson Faisant regretz, einem heute verlorenen weltlichen Lied, von dem nur das prägende Kernmotiv erhalten ist. Dieses kurze, charakteristisch absteigende Vier-Ton-Modell – in der Forschung oft als „Regretz-Motiv“ bezeichnet – bildet das kompositorische Rückgrat der gesamten Messe: Es erscheint in nahezu jedem Satz, wird permutiert, gedehnt, gespiegelt und in imitatorischen Engführungen dicht ineinander verwoben. Die Bedeutung des Titels liegt daher nicht in einem literarisch-poetischen Zusammenhang, sondern in der kompositorischen Technik: Josquin transformiert ein weltliches Ursprungssignal der Klage (regretz) in einen geistlichen, polyphonen Gesamtentwurf, der eine innere, fast kontemplative Spannung erzeugt.
Die Messe ist vierstimmig angelegt und zeichnet sich durch eine im Vergleich zu anderen Josquin-Messen ungewöhnlich strenge motivische Ökonomie aus. Während Werke wie die Missa Hercules Dux Ferrariae oder die Missa Gaudeamus mit syllabischen Erweiterungen, Zählproportionen oder großflächigen cantus-firmus-Strategien arbeiten, bevorzugt Josquin hier ein mikroskopisch kleines Motiv als Keimzelle. Diese Entscheidung führt zu einer polyphonen Textur von hoher Dichte, deren Linienkunst eher an die Werke von Johannes Ockeghem (um 1420–1497) erinnert, jedoch mit Josquins unverkennbarer Klarheit der Phrasierung.
Die Missa Faisant regretz nimmt nicht einen poetischen Text auf, sondern das melodische Motiv einer verlorenen Chanson, deren Titel eben diese Stimmung benennt. Der Ausdruck regretz verweist also auf eine affektiv-klagende Grundhaltung, die Josquin in eine streng motivisch gearbeitete Messe transformiert.
Im Kyrie präsentiert Josquin das Regretz-Motiv erstmals klar konturiert als imitatorische Eröffnungsgeste. Die Stimmen setzen eng nacheinander ein, wodurch ein Sog entsteht, der die klagende Grundidee des Modells subtil transportiert, ohne in expressive Überzeichnung zu geraten. Das Christe öffnet den Satz harmonisch und strukturell etwas, bleibt jedoch der motivischen Durchdringung verpflichtet. Von Beginn an zeigt sich die fast asketische Konzentration des Werkes: Die Messe basiert weniger auf großem architektonischen Gestus als auf einem inneren polyphonen Dialog.
Das Gloria arbeitet mit längeren Phrasen und lässt an bestimmten Stellen bewusst lichteren Raum, etwa im „Qui tollis“-Abschnitt, wo die motivische Arbeit in ruhigere Bahnen gelenkt wird. Dennoch bleibt der gesamte Satz von intensiver imitatorischer Struktur geprägt. Die „Cum Sancto Spiritu“-Fuge bildet den Höhepunkt des Satzes und zeigt, wie effizient Josquin das knappe Motiv in eine weitgespannte polyphone Steigerung überführen kann.
Im Credo wird die motivische Konstanz besonders eindrucksvoll. Josquin hält am Vier-Ton-Modell über die große Textstrecke hinweg fest und gewinnt daraus eine Art intellektuelle Geschlossenheit, die für die Zeit außerordentlich modern wirkt. Die Passagen „Et incarnatus est“ und „Crucifixus“ sind bemerkenswert wegen ihrer Verdichtung und des zurückgenommenen Klanges, der ohne expressive Wortmalerei tiefen Ernst vermittelt. Beim „Et resurrexit“ folgt die charakteristische Öffnung des Klangraumes, wie sie für Josquin typisch ist, doch selbst hier bleibt die Motivik präsent: Der Jubel wirkt nicht triumphal, sondern kontrolliert – ein Zeichen der ästhetischen Disziplin des gesamten Werkes.
Das Sanctus und Benedictus zeigen Josquin auf dem Höhepunkt seiner imitatorischen Fähigkeit. Das Regretz-Motiv erscheint in weit gespannten Linien, gelegentlich in Engführung, gelegentlich in gedehnten Varianten, wodurch die klangliche Oberfläche heller wirkt, ohne die strukturelle Strenge zu verlieren. Das „Hosanna“ bildet einen polyphonen Höhepunkt des Zyklus: energisch, dennoch motivisch gebunden.
Im Agnus Dei führt Josquin die motivische Arbeit zu einem stillen Kulminationspunkt. Die imitatorische Dichte nimmt noch einmal zu, doch der Gesamtklang wirkt zugleich gelöst, beinahe meditativ. Die letzte Bitte um Frieden („dona nobis pacem“) erhält damit eine besondere Ausdruckskraft: ein subtil verwandelter Abglanz jenes ursprünglichen regretz, der als weltliche Klage begann und sich nun in eine geistliche Bitte transformiert hat.
Die Bedeutung der Messe liegt somit im souveränen Umgang mit motivischer Minimalität. Josquin beweist, dass ein winziges melodisches Fragment genügt, um über mehrere großformatige Sätze hinweg eine klangliche und strukturelle Einheit von höchster Geschlossenheit zu schaffen. Die Missa Faisant regretz gilt deshalb in der Forschung als Musterbeispiel für Josquins Fähigkeit, emotionale Suggestivität aus rein musikalischer Logik zu gewinnen – ein Werk von intimer Größe, das durch Konsequenz, nicht durch äußere Effekte beeindruckt.
Der affektive Charakter der Messe passt erstaunlich gut zur historischen Situation, in der Josquin lebte. Josquin erlebte den Mord seines Dienstherrn Galeazzo Maria Sforza (1444–1476). Das war ein dramatisches Ereignis, das seine musikalische Umgebung abrupt veränderte. Der Herzog Galeazzo Maria Sforza wurde am 26. Dezember 1476 in Mailand ermordet.
Dieses Ereignis erschütterte die gesamte Hofkapelle – und es ist nahezu sicher, dass Josquin es persönlich miterlebte oder unmittelbar betroffen war.
Eine Messe „in Trauer“ wäre nicht unpassend...
CD-Vorschlag
Josquin: Masses, Hercules Dux Ferrarie, Missa D'ung aultre amer und Missa Faysant regretz· The Tallis Scholars, Leizung Peter Phillips (* 1963), Gimell, 2020, Tracks 32 bis 47:
https://www.youtube.com/watch?v=CtZtZFNP1DU&list=OLAK5uy_lVa8Su3I_uoyg343gff_lO4DbHWu20ioU&index=32
Missa Fortuna desperata
Missa Fortuna desperata ist ein herausragendes Beispiel für Josquins Fähigkeit, eine vorgegebene Melodie – hier das populäre dreistimmige italienische Lied Fortuna desperata, das häufig Alexander Agricola (um 1445–1506) oder Antoine Busnois (um 1430–1492) zugeschrieben wird – zu einem kunstvollen polyphonen Gefüge zu verdichten.
Die Messe entstand nach heutigem Forschungsstand wahrscheinlich um 1490, also in einer Phase, in der Josquin seine kontrapunktische Sprache zunehmend verfeinerte und sich intensiv mit dem Verhältnis von Cantus-firmus-Technik und imitatorischer Durcharbeitung beschäftigte. Charakteristisch für diese Messe ist die Verwendung des Modells in einer Art „paraphrasierender Cantus-firmus-Technik“: Josquin übernimmt nicht einfach die Melodie des Liedes als starren Kern, sondern behandelt sie als thematisches Reservoir, aus dem er motivische Partikel ableitet, sie verkürzt, ausdehnt oder imitatorisch verstreut. Dadurch entsteht kein bloßes Konstruktionsschema, sondern ein lebendiger polyphoner Organismus, dessen Struktur sich aus der organischen Metamorphose des zugrunde liegenden Liedes speist.
Fortuna desperata ist eines der bekanntesten weltlichen Lieder von Alexander Agricola (um 1445–1506), einem der markantesten Vertreter der franko-flämischen Generation zwischen Ockeghem und Josquin. Agricola wirkte unter anderem an der Mailänder Hofkapelle der Sforza und später im Umkreis des französischen Königshofes; sein Stil verbindet die dunkle, geschmeidige Linearität Ockeghems mit einem zunehmend imitatorischen, oft rhythmisch kühnen Satz, der ihn zu einem der eigenwilligsten Komponisten seiner Epoche macht.
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Das Lied Fortuna desperata entfaltet in drei Stimmen einen klagenden Tonfall, der die Verzweiflung über eine durch „Fortuna“ zerstörte Liebe in eindringliche musikalische Gesten fasst. Der italienische Text beschreibt die Willkür des Schicksals, das eine hochgeachtete Frau zu Fall bringt, und den Schmerz des Liebenden, der im Angesicht dieser ungerechten Erniedrigung „nur noch weinen“ kann und das Ende seiner Qualen herbeisehnt. Agricola übersetzt diese Thematik in eine dichte, kunstvoll verwobene Polyphonie, deren Linien zugleich elegant und von innerer Unruhe erfüllt sind; die Stimmen reagieren mit feinen imitatorischen Einsätzen aufeinander und verleihen dem Lied eine melancholische Tiefe, die weit über den höfischen Chansonstil hinausgeht. Gerade diese Verbindung von lyrischer Intensität und struktureller Klarheit machte Fortuna desperata zu einem der meistverwendeten Modelle seiner Zeit:
Die melodischen Zellen des Liedes eigneten sich ideal für polyphone Transformationen und boten Komponisten – unter ihnen Josquin Desprez – ein reiches Reservoir an thematischer Substanz. So wurde das Lied zu einem musikalischen Bezugspunkt der gesamten Generation um 1500 und bildet den poetisch-expressiven Kern von Josquins gleichnamiger Messe.
Originaltext (Italienisch)
Fortuna desperata
Iniqua e maledecta, maledecta,
Che de tal dona electa
La fama hai denigrata.
O morte dispietata,
Inimica e crudele, e crudele,
Che d’alto più che stelle
L’hai cusì abassata.
Meschino e despietata,
Ben piangere posso mai, posso mai,
Et desiro finire,
Desiro finire i mei guay.
Deutsche Übersetzung
Verzweifelte Fortuna,
Ungerecht und verflucht, ja verflucht bist du,
Die einer so erlesenen Frau
Den guten Ruf geschwärzt hat.
O erbarmungslose Tod,
Feindisch und grausam, grausam bist du,
Die du sie, höher einst als die Sterne,
So tief erniedrigt hast.
Elend und mitleidlos ist dein Werk;
Wahrlich, ich kann nur weinen, immerdar, immerdar,
Und wünsche mir ein Ende,
Ein Ende all meiner Qualen.
Die Wahl von Fortuna desperata ist nicht zufällig. Das Lied thematisiert das Gefühl einer tragischen, unglücklichen Liebe, und obwohl die Messe selbstverständlich liturgisch bleibt, schwingt eine gedämpfte, ernste Grundfärbung mit, die auf das expressive Potential des Liedmodells verweist.
Gerade im Kyrie entfaltet sich eine eindringliche, fast zurückgenommene Polyphonie, in der die Motivfragmente des Liedes wie tastende Suchbewegungen erscheinen. Das musikalische Material wird jedoch nie sentimentalisiert; vielmehr herrscht jene charakteristische Balance zwischen strenger Satztechnik und affektiver Feinheit, die Josquins Handschrift ausmacht. Im Gloria und Credo zeigt sich Josquins Meisterschaft der großformalen Organisation. Die melodischen Zellen aus Fortuna desperata werden hier deutlich straffer gefasst und zu längeren imitatorischen Perioden ausgebaut. Entscheidend ist, dass die Messe kein zyklisches Zitatwesen betreibt, sondern eine konsequent motivisch begründete Architektonik entfaltet: Die wiederkehrenden Elemente wirken wie Säulen, die das Gebäude der Messe zusammenhalten, während die kontrapunktische Beweglichkeit die innere Lebendigkeit garantiert. Besonders bemerkenswert ist die Behandlung des Liedmodells im Sanctus–Benedictus-Komplex. Anstatt die Vorlage breit auszukomponieren, arbeitet Josquin mit einer durchscheinenden Polyphonie, die die Konturen des Modells andeutet, aber nie vollständig exponiert. Diese subtile Durchdringung erzeugt einen meditativen Charakter, der in seiner Zurückgenommenheit eine theologisch passende Atmosphäre der Erhebung schafft.
Im Agnus Dei schließlich erreicht die Messe einen Höhepunkt polyphoner Kunst: Hier wird das Liedmodell in einer doppelten Perspektive präsentiert, einmal strukturell tragend, einmal paraphrasierend umflossen. Die Stimmen entfalten sich mit jener ruhigen Autorität, die für Josquins späte 1480er und frühen 1490er Jahre so typisch ist. Nichts wirkt überladen; alles ist auf Transparenz und Ausgewogenheit angelegt.
Im Vergleich zu anderen Modellenmessen Josquins – etwa der Missa D’ung aultre amer oder der Missa Malheur me bat – erscheint die Missa Fortuna desperata als besonders konzentriert, fast kammermusikalisch gedacht: keine großen Klangmassen, sondern ein feines, präzises Gewebe, das die melodischen Linien des Modells in immer neue Nuancen bricht. Diese strukturelle Konzentration hat in der Forschung oft zu der Annahme geführt, die Messe gehöre zu den Werken, in denen Josquin die Grenzen traditioneller Cantus-firmus-Technik bewusst überschreitet, um eine motivisch geschlossene, fast thematische Denkweise vorzubereiten, die später tiefen Einfluss auf Komponisten wie Nicolas Gombert (um 1495–1560) oder Adrian Willaert (um 1490–1562) haben sollte.
Damit steht die Missa Fortuna desperata an einer historischen Schnittstelle: Sie ist traditionell genug, um in der Praxis der späten franko-flämischen Chansonmessen zu wurzeln, aber modern genug, um Josquins eminent persönliche Handschrift erkennen zu lassen – ein Denken, das weniger auf bloße Repräsentation des Modells als vielmehr auf seine musikalische Transformation abzielt. Ihre Entstehung um 1490 verortet sie wahrscheinlich in Josquins Mailänder oder frühen Ferrara-Zeit; stilistisch jedenfalls zeigt sie eine Meisterschaft, die nur ein Komponist an der Schwelle seiner absoluten künstlerischen Reife besitzen konnte.
Dass Fortuna desperata eines der meistverwendeten Liedmodelle des 15. Jahrhunderts war, verleiht der Messe zusätzlich intertextuelle Bedeutung: Sie steht in einem Netzwerk musikalischer Bearbeitungen, das von Agricola und Obrecht über Compère bis hin zu späteren anonymen Quellen reicht. Josquin jedoch hebt sich aus dieser Tradition dadurch heraus, dass er die Vorlage nicht nur kunstvoll verarbeitet, sondern ihr eine neue seelische Dimension hinzufügt – feierlich, konzentriert, licht und doch durchzogen von einem leisen Schatten, der der Klangwelt eine besondere Tiefe verleiht.
CD-Vorschlag
Josquin Messas, Missa Malheur me bat und Missa fortuna desparata, The Tallis Scholars, Leitung Peter Phillips (* 1953), Gimell Records, 2019, Tracks 21 bis 39:
https://www.youtube.com/watch?v=tP7zck0a1Tw&list=OLAK5uy_nUBBYZnDfSBaBCsWE858mwkXwMwlqukxA&index=21
Missa Hercules Dux Ferrariae
Diese Messe gehört zu den berühmtesten und am besten dokumentierten Kompositionen Josquin Desprez’, nicht nur aufgrund ihrer außergewöhnlichen musikalischen Architektur, sondern auch wegen ihrer Entstehung im Spannungsfeld höfischer Repräsentation und humanistischer Kultur. Als Herzog Ercole I. d’Este (1431–1505), genannt Hercules Dux Ferrariae, im Jahr 1503 den begehrten und kostspieligen Kapellmeister Josquin an seinen Hof holte, war dies zugleich eine politische Entscheidung, eine Demonstration dynastischer Macht und ein kulturelles Prestigeprojekt. Die Messe entstand mit hoher Wahrscheinlichkeit während Josquins Ferrara-Zeit 1503–1504 und gehört damit zu den späten, technisch vollkommen ausgereiften Werken des Komponisten.
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Ihr Aufbau ist ein paradigmatisches Beispiel für den damals neuen Typus der sogenannten soggetto cavato-Messe – einer Messe, deren Cantus firmus nicht einem liturgischen Choral oder einer weltlichen Melodie entstammt, sondern aus den Vokalen eines Namens „herausgeschnitten“ (cavare) wird.
Der humanistisch gebildete Theoretiker Pietro Aron (* um 1480 – † nach 1545) beschreibt bereits 1523, Josquin habe die Vokale des lateinischen Namens „Hercules Dux Ferrariae“ in Solmisationstöne übertragen: He-re-cu-les → Re–Re–Ut–Re, dux → Ut–Re, Fe-rra-ri-ae → Re–Fa–Re–Mi. Diese Tonfolge – Re–Re–Ut–Re / Ut–Re / Re–Fa–Re–Mi – wird in der gesamten Messe als strukturgebendes Motiv verwendet und bildet die klanglich-intellektuelle Signatur des Herzogs. Damit wird der Auftraggeber in der Musik gleichsam hörbar gemacht, was in Ferrara als Zeichen höchster höfischer Kunstfertigkeit verstanden wurde.
Musikalisch verbindet die Messe symbolische Konstruktion mit einer bemerkenswert klaren, fast plastischen Textur. Josquin setzt den Namenscantus firmus nicht als starre, gleichbleibende Linie ein, sondern gestaltet ihn flexibel: mal erscheint er isorhythmisch verlängert, mal fragmentiert, mal in verschiedenen Stimmen verteilt. Besonders charakteristisch sind die Passagen, in denen die soggetto-cavato-Töne wie Säulen in den Satz eingeschrieben sind und eine harmonische Stabilität erzeugen, um die herum die übrigen Stimmen sich frei bewegen. Die Messe wirkt dadurch außergewöhnlich „durchkomponiert“ und einheitlich, ohne jemals monoton zu werden.
Die Einspielung der Messe durch die Maîtrise Notre-Dame de Paris unter Bernard Fabre-Garrus (1951–2006) beginnt mit einem Intronitus, der nicht von Josquin komponiert wurde, sondern aus der viel älteren gregorianischen Tradition stammt.
Solche einstimmigen Eingangsgesänge eröffneten seit dem Mittelalter jede feierliche Messe und gehörten zum Proprium des Tages, also zu jenem Teil der Liturgie, der je nach Anlass wechselte.
Der hier verwendete Introitus ist ein feierlicher, allgemein gebräuchlicher gregorianischer Gesang, der häufig an Sonntagen ohne besonderen Festcharakter erklang und dessen meditativer, modaler Verlauf den spirituellen Raum der Feier öffnete. In modernen Einspielungen der Missa Hercules Dux Ferrariae dient er als historisch authentische Einleitung, die den Hörer sammelt, den modalen Grundton etabliert und den Übergang zur polyphonen Architektur Josquins vorbereitet.
Sein Text preist die allumfassende Macht und Barmherzigkeit Gottes und bildet damit einen würdigen ideellen Rahmen für ein Werk, das im höfischen Umfeld der Este nicht nur als liturgische Musik, sondern auch als Repräsentationsstück eines mächtigen Fürsten verstanden wurde: Die stille Schlichtheit des gregorianischen Introitus hebt die strukturelle Klarheit und künstlerische Raffinesse der nachfolgenden Messe umso deutlicher hervor.
Der lateinische Text des Introitus wurde von mir nach dem gehörten Gesang rekonstruiert und entsprechend wiedergegeben
Antiphona
In voluntate tua, Domine, universa sunt posita, et non est qui possit resistere voluntati tuae: tu enim fecisti omnia, caeli et terrae, et universa quae caeli ambitu continentur; Dominus universorum est nomen tuum.
Psalmus (Versus)
Domine, ne in ira tua arguas me, neque in furore tuo corripias me. Miserere mei, Domine, quoniam infirmus sum secundum misericordiam tuam.
Gloria Patri ist ausgelassen
Die deutsche Übersetzung wurde von mir nach dem gehörten lateinischen Text angefertigt
Antiphon
In deinem Willen, Herr, hat alles seinen Bestand, und niemand vermag deiner Entscheidung zu widerstehen; denn du hast alles geschaffen, Himmel und Erde und alles, was im Bogen des Himmels eingeschlossen ist; „Herr der Heerscharen“ ist dein Name.
Psalmvers
Herr, strafe mich nicht in deinem Zorn und züchtige mich nicht in deinem Grimm.
Erbarme dich meiner, Herr, denn ich bin schwach nach deiner Barmherzigkeit.
Im Kyrie entfaltet sich zunächst eine zurückhaltende, doch energische Linienführung, die den Namenscantus firmus in feiner Weise in den polyphonen Dialog integriert. Das Gloria zeigt Josquins Fähigkeit zur großflächigen Disposition: Wechsel zwischen homophonen Akzenten und fließender Polyphonie strukturieren den langen liturgischen Text. Besonders eindrucksvoll ist das Qui tollis, wo der Cantus firmus gedehnt erscheint und den Klang gravitätisch erdet. Im Credo zeigt sich die kompositorische Meisterschaft in der textgebundenen Dramaturgie: Das Et incarnatus est tritt zurückgenommen hervor, während das Et resurrexit mit rhythmischer Vitalität neu anhebt – ein Musterbeispiel spätmittelalterlich-frühneuzeitlicher Wort-Ton-Korrespondenz.
Das Sanctus gehört zu den lichtesten Abschnitten des Werks: Die Stimmeinsätze sind klar, die harmonischen Wendungen leuchtend, und im Hosanna entfaltet Josquin eine polyphone Steigerung von großer Eleganz. Das Agnus Dei, dreiteilig wie üblich, führt die Namensformel zu einer letzten, verklärten Erscheinung. Besonders im dritten Agnus, wo die Stimmenzahl erhöht und der Satz dichter wird, entsteht ein Eindruck von architektonischer Vollendung, als ob Josquin das musikalische Monument in feierlicher Rundung abschlösse.
Die Missa Hercules Dux Ferrariae ist damit nicht nur ein Werk hohen Repräsentationscharakters, sondern auch eine der intellektuell raffiniertesten und zugleich klanglich klarsten Messen der Renaissance. Sie zeigt Josquin auf dem Höhepunkt seiner Kunst: als Komponisten, der höfische Widmung, humanistischen Geist und polyphone Meisterschaft in einer Weise miteinander verbindet, die weit über den Hof von Ferrara hinaus ausstrahlte. Die Messe war schon zu Lebzeiten des Komponisten ein Prestigeobjekt und gilt bis heute als Musterbeispiel dafür, wie symbolisches Denken und musikalische Struktur zu einer Einheit verschmelzen können.
CD-Vorschlag
Eine klanglich außergewöhnlich ausgewogene und liturgisch fein austarierte Interpretation bietet die Einspielung der Missa Hercules Dux Ferrariae mit der Maîtrise Notre-Dame de Paris unter der Leitung von Bernard Fabre-Garrus , erschienen 1997 bei Auvidis France. Die Produktion verbindet eine hohe stilistische Sensibilität mit der für diesen Knabenchor typischen Klarheit des Vokalklangs, der Josquins polyphone Linienführung in bemerkenswerter Transparenz erscheinen lässt. Das Album eröffnet die Messe mit einem einstimmigen gregorianischen Introït, der als historisch plausibles klangliches Portal wirkt und den modalen Raum vorbereitet, in dem sich Josquins polyphone Architektur entfaltet. Die Aufnahme zeichnet sich durch ruhige Tempodisposition, natürliche Phrasierung und eine akustische Balance aus, die den strukturellen Kern des soggetto cavato besonders gut hervortreten lässt. Für Hörerinnen und Hörer, die die Messe sowohl in ihrer liturgischen Einbettung als auch in ihrer polyphonen Feinheit erleben möchten, stellt diese Einspielung eine der überzeugendsten Interpretationen der letzten Jahrzehnte dar.
Josquin Desprez, Missa Hercules Dux Ferrariae, Maîtrise Notre-Dame de Paris, Leitung Bernard Fabre-Garrus, Auvidis France, 1997, Tracks (3) 4 bis 11:
https://www.youtube.com/watch?v=bi_aTmVoDfE&list=OLAK5uy_kPFx8gaRFY5ck86sldHpV3JMdZ9c9JfTg&index=3
Missa La sol fa re mi
Die Missa La sol fa re mi gehört zu den kühnsten und zugleich persönlichsten Schöpfungen von Josquin Desprez (1450–1521). Ihr melodisches Fundament ist kein traditioneller Cantus firmus und kein liturgischer Gesang, sondern die aus den Solmisationstonsilben gebildete Tonfolge la–sol–fa–re–mi, deren Klanggestalt im 15. Jahrhundert eine unverwechselbare Bedeutung hatte. Die syllabische Reihenfolge ist ein musikalisches Kryptogramm: Sie geht unmittelbar auf den italienischen Ausruf „Lascia fare mi“ zurück – „Lass mich machen“, eine Formel, die Josquin vermutlich selbstbewusst als künstlerisches Signum verwendete und zugleich als rhetorisches Wortspiel in Musik verwandelte. Indem er diese Folge zum strukturellen Kern einer ganzen Messe erhebt, demonstriert er souverän seine kompositorische Meisterschaft, die Fähigkeit zur motivischen Variation und zur symbolischen Tiefenschichtung.
Die Messe ist vollständig auf die fünf Töne la–sol–fa–re–mi gebaut, doch ihre Verarbeitung variiert von Satz zu Satz, oft sogar taktweise. Mal erscheint das Motiv als klarer Cantus in langen Werten, mal als frei bewegtes Thema in dichtem imitatorischem Satz, mal wird es transponiert, gedehnt, verkürzt oder invertiert. Dadurch gewinnt das Werk einen inneren Zusammenhalt, der nicht durch äußere Zitate, sondern durch die permanente, fast obsessive Präsenz des Motivs entsteht. Gleichzeitig vermeidet Josquin jede mechanische Wiederholung: Der Zyklus entfaltet sich als eine Folge immer neuer Perspektiven auf denselben melodischen Kern, ein polyphones Prisma, das den Ursprungston stets sichtbar lässt und zugleich ständig verwandelt.
Im Kyrie begegnet das Motiv noch relativ unverstellt. Die Stimmen setzen nacheinander ein und exponieren die Tonfolge in einer ruhigen, homophonen Klarheit, die den Charakter eines meditativen Bekenntnisses trägt. Der imitatorische Satz entwickelt sich erst allmählich, sodass das Motiv wie ein Fundament wirkt, das sich aus der Stille hebt. Der Übergang zum Christe eleison intensiviert die Imitation, während das abschließende Kyrie den Satz verdichtet und das Motiv in kunstvolle Engführungen überführt.
Das Gloria zeigt Josquin in seiner Fähigkeit, das strukturelle Motiv in den rhetorischen Verlauf des liturgischen Textes einzubetten. Die Textmengen erfordern einen rascheren musikalischen Fluss, und das Motiv erscheint in kürzeren, drängenderen Gestalten. Die Polyphonie wirkt durchlässig, die Stimmen bewegen sich mit spielerischer Leichtigkeit umeinander, und doch bleibt das Kernintervall stets identifizierbar. Besonders bemerkenswert ist Josquins Tendenz, den Wechsel von Textabschnitten durch Variationen des Motivs zu markieren, etwa durch rhythmische Pointierung oder durch Wechsel zwischen imitatorischen und homophonen Passagen.
Im Credo, dem theologischen Zentrum der Messe, steigert Josquin die strukturelle Komplexität weiter. Die Tonfolge la–sol–fa–re–mi erscheint hier in allen denkbaren Transformationen – als geradlinige Melodie, als Ausgangspunkt für kontrapunktische Dialoge und als harmonisch prägnante Gestalt in akkordischen Verdichtungen. Besonders im Abschnitt Et incarnatus est bemerkte schon die ältere Forschung die subtile Intensität: Das Motiv tritt im Wert verlängert hervor, gewissermaßen verlangsamt, als würde der musikalische Diskurs innehalten, um die zentrale christologische Aussage zu kontemplieren. Der Kontrast zum energischen Et resurrexit, wo das Motiv in hellere Tonlagen und schnellere Bewegungen überführt wird, gehört zu den eindrucksvollsten dramatischen Effekten der gesamten Messe.
Im Sanctus erreicht die Komposition eine fast architektonische Weite. Josquin lässt die Stimmen in breitem Ambitus und mit klanglicher Transparenz über lange Spannungsbögen hinweg agieren. Das Motiv erscheint sowohl in langen Linien als auch in subtil verwobenen Imitationen. Die Osanna-Abschnitte bringen eine freudige, rhythmisch schärfere Entfaltung des Motivs, das nun in dichterer Polyphonie erklingt und dadurch einen feierlichen Glanz erhält.
Das Agnus Dei krönt den Zyklus, indem es das Motiv in besonders kunstvoller Weise verarbeitet. Josquin lässt die Stimmen teils im engen Kanon, teils in frei imitierenden Gestalten auftreten und steigert so die innere Spannung. Der dritte Abschnitt, traditionell der Höhepunkt, besitzt eine fast transcendierende Klanglichkeit: Die Tonfolge erscheint zugleich als strukturelles Gerüst und als eine Art meditativer Chiffre, die den polyphonen Satz durchleuchtet. Die Musik wirkt hier nicht nur kunstvoll, sondern auch kontemplativ, als würde die motivische Beständigkeit die Bitte um Frieden musikalisch verbürgen.
Die Missa La sol fa re mi gilt deshalb als eines der paradigmatischen Werke Josquins. Sie zeigt ihn als Erfinder polyphoner Symbolsprache, als Meister motivischer Transformation und als Komponisten, der das scheinbar Spielerische – ein Wortspiel, ein mündlicher Ausruf – in ein strukturell hochkomplexes, geistlich vertieftes Kunstwerk verwandeln konnte. Die Messe demonstriert die geheime Energie der kleinsten melodischen Zelle: Aus fünf Tönen entsteht ein Kosmos.
CD-Vorschlag
Josquin, Missa Pange lingua und Missa La sol fa re mi, The Tallis Scholars, Leitung Peter Phillips (* 1953), Gimell Records, 1983, Tracks 32 bis 59:
https://www.youtube.com/watch?v=uw5lMVSoXx0&list=OLAK5uy_kZ8luVd6pmthjTFBWEoamLNS0w7x9B3m4&index=32
Missa L’ami Baudichon
Josquin Desprez hat mit der eines seiner frühesten und eigenwilligsten Werke geschaffen, das im Gesamtbild seiner großen Messproduktion eine Sonderstellung einnimmt. Die Komposition zeigt einen jungen, experimentierfreudigen Josquin, der mit einer Leichtigkeit zwischen Parodie, kompositorischem Witz und kontrapunktischer Ernsthaftigkeit pendelt, die später in dieser Form kaum noch wiederkehrt. Grundlage der Messe ist die französische, eher derben Sphäre entstammende weltliche Chanson L’ami Baudichon, deren Melodie und harmonische Wendungen in ihrem ursprünglichen Kontext keinerlei sakrale Ambition besitzen.
Die Chanson L’ami Baudichon ist ein kurzes, volkstümliches französisches Lied des 15. Jahrhunderts, dessen Text in verschiedenen Handschriften belegt ist und in der Regel in einer derben, humorvollen Alltagsrede gehalten ist. Der Kern lautet: „L’ami Baudichon, qu’as-tu fait de ton pain? – Je l’ai donné à ma mignonne, qui en avait grand faim.“ Es handelt sich damit um ein einfach aufgebautes, syllabisches Lied, dessen melodiöse Klarheit und enger Ambitus typisch für populäre Liedkultur sind. Die Melodie besitzt eine prägnante, leicht merkbare Kontur und eignet sich deshalb hervorragend als Cantus firmus: Sie ist stabil genug, um eine polyphone Struktur zu tragen, und zugleich schlicht genug, um vom Komponisten frei transformiert zu werden.
Gerade diese Kombination aus volkstümlichem Tonfall und formaler Einfachheit erklärt, warum Josquin des Prez sie als Grundlage seiner frühen Missa L’ami Baudichon wählte – nicht wegen ihres Textinhalts, sondern wegen ihrer musikalischen Formbarkeit und ihres unverwechselbaren melodischen Profils.
Originaltext (Altfranzösisch)
L’ami Baudichon, qu’as-tu fait de ton pain?
Je l’ai donné à ma mignonne,
qui en avait grand faim.
Deutsche Übersetzung
Freund Baudichon, was hast du aus deinem Brot gemacht?
Ich gab es meiner Liebsten,
die großen Hunger danach hatte.
Josquin geht mit dem Cantus firmus nicht so um, wie es in seinen späteren Parodiemessen üblich wird. Die Vorlage wird nicht konsequent imitatorisch durchgearbeitet, sondern erscheint als strukturelle Achse und koloristisches Fundament, das er frei behandelt. Die Melodie – in ihrer ursprünglichen Gestalt von ausgesprochen einfacher, syllabischer Faktur – wirkt bei Josquin wie ein formales Rohmaterial, das an verschiedensten Stellen des Messzyklus immer wieder erkenntlich wird, zugleich aber in so verfeinerte polyphone Texturen eingewoben ist, dass die Herkunft nur für den kundigen Hörer wahrnehmbar bleibt. Der Cantus firmus wird überwiegend im Tenor geführt, doch erlaubt sich Josquin, ihn rhythmisch und intervallisch zu verschieben, zu verkürzen oder durch imitatorische Engführung in eine neue Perspektive zu rücken. Es handelt sich damit um eine Parodiemesse in einem frühen, noch spielerischen Sinn, bevor das Genre im 16. Jahrhundert seine strenge Ausprägung erhielt.
Im Kyrie begegnet man der ersten charakteristischen Erscheinung des weltlichen Materials: Die Linie des Cantus firmus bleibt klar konturiert, doch Josquin umgibt sie mit einem filigranen Netz imitatorischer Einsätze, die den ursprünglich volkstümlichen Ton in eine feierliche, beinahe kontemplative Atmosphäre überführen. Der junge Komponist zeigt hier bereits, wie sicher er den Satz zu öffnen und zugleich zu bündeln versteht. Das Gloria ist von größerer klanglicher Bewegtheit geprägt; es folgt der liturgisch üblichen Textdramatik und arbeitet stärker mit imitatorischen Ketten, deren Energie den profanen Ursprung der Melodie kaum noch erahnen lässt. Der Cantus firmus erscheint klar markiert, doch nie pedantisch: Josquin verfolgt ein Ideal struktureller Leichtigkeit.
Besonders kunstvoll ist das Credo, in dem Josquin die Herausforderung des langen liturgischen Textes mit einem Wechsel von knappen imitatorischen Abschnitten und homophonen Verdichtungen beantwortet. Der Cantus firmus tritt hier wiederum deutlich hervor, doch in subtiler Variationsgestalt, die seine Herkunft maskiert, ohne sie ganz zu verbergen. Eindrücklich ist insbesondere der Abschnitt Et incarnatus est, dessen ruhigere Faktur einen Moment der Andacht schafft, bevor die Messe im Et resurrexit zu kraftvoller linearer Bewegung zurückkehrt. Dass eine Chanson-Melodie diesen theologischen Kerntext trägt, zeigt die spielerische, zugleich furchtlos experimentelle Geisteshaltung des jungen Josquin.
Im Sanctus entfaltet er eine weichere, räumlich breitere Polyphonie. Die vertraute Melodielinie des Cantus firmus wird hier gedehnt und gewinnt eine fast meditative Qualität. Die Hosanna-Abschnitte dagegen wirken lebendiger und stärker rhythmisiert; sie markieren den Höhepunkt der Messe, indem sie das gesamte polyphone Gefüge in festliche, glanzvolle Bewegung versetzen. Das Agnus Dei, meist der Ort besonderer kompositorischer Verdichtung, bildet den konsequenten Abschluss: Hier experimentiert Josquin mit unterschiedlichen Stimmreduktionen und Stimmführungen; der Cantus firmus erscheint in gedehnter Form, zugleich aber in enger Beziehung zu den Oberstimmen, die kunstvoll um ihn kreisen. Die Schlusswirkung ist eine der klaren Beruhigung und strukturellen Abrundung: Das weltliche Material kehrt gleichsam geläutert zur Ruhe.
Die Missa L’ami Baudichon ist kein Spätwerk, das auf höchste kontrapunktische Komplexität zielt, sondern eine Komposition, die im Grenzbereich zwischen Tradition und künstlerischem Wagemut steht. Ihre besondere Bedeutung liegt darin, dass sie uns einen seltenen Blick auf den jungen Josquin eröffnet, der mit Humor, Intelligenz und untrüglicher kompositorischer Instinktsicherheit zeigt, wie sich selbst ein unprätentiöses profanes Lied in ein tragfähiges Gerüst für anspruchsvolle Vokalkunst verwandeln lässt. Die Messe ist zugleich ein frühes Dokument jener souveränen Freiheit, die Josquin später zu einer der maßgeblichen Figuren der Renaissance-Polyphonie werden ließ.
CD-Vorschlag
Josquin Messas, Missa Gaudeamus und Missa L'ami Baudichon, The Tallis Scholars, Leitung Peter Phillips (* 1953), Gimell Records, 2018, Tracks 19 bis 36:
https://www.youtube.com/watch?v=UlpYlUmx2dU&list=OLAK5uy_mWQe-8VbfSQZ2i2MlHCpZPvV0hN2NxTEA&index=19
Missa L’homme armé sexti toni
Messe „L’homme armé“ im sechsten Ton (sechster Kirchenton) oder
Messe über das Lied L’homme armé im sechsten Modus (Hypolydisch)
Hypolydisch bezeichnet den sechsten kirchlichen Modus der mittelalterlichen und renaissancezeitlichen Musik und ist die plagale Variante des lydischen Modus; sein strukturelles Zentrum (Finalis) liegt auf F, der typische Tonumfang erstreckt sich von etwa C bis C, und der Rezitationston liegt auf A. Das diatonische Tonmaterial entspricht grundsätzlich der Folge F–G–A–B–C–D–E–F, wobei in der musikalischen Praxis das B häufig zu B♭ abgeschwächt wird, um den Tritonus zu vermeiden, was dem Klangbild eine milde, ruhige und ausgewogene Färbung verleiht. Als modales Ordnungssystem – und nicht als Tonart im späteren Dur-Moll-Sinn – prägt der hypolydische Modus Melodieführung, Kadenzen und Stimmambitus und war für zeitgenössische Hörer ein unmittelbar erkennbares klangliches Strukturmerkmal liturgischer Musik.
Unter Josquins beiden Bearbeitungen des berühmten weltlichen Cantus-firmus L’homme armé nimmt die Missa L’homme armé sexti toni eine besondere Stellung ein, weil sie nicht nur ein Meisterwerk kontrapunktischer Virtuosität, sondern zugleich ein Experiment mit Tonarten, Intervallarchitektur und musikalischer Symbolik darstellt. Der sechste Kirchenton (modus VI), der der Messe ihren Namen gibt, prägt die klangliche Physiognomie des Werks: eine helle, fast silbrige Modalfarbe, die Josquin mit einer bewundernswerten Mischung aus Strenge und Freiheit entfaltet. Während die Schwesterkomposition Missa L’homme armé super voces musicales systematisch mit dem transponierten Cantus firmus experimentiert, erscheint der Cantus in der sexti toni-Messe in ungewöhnlichen Positionen, in gedehnten Werten, mehrfach invertiert, verkürzt, augmentiert und teilweise so nahtlos in das polyphone Geflecht eingearbeitet, dass er mehr strukturelle Kraftzentralen bildet als melodische Signalpunkte.
Der klangliche Eindruck des Kyrie ist geprägt von der Idee des „verborgenen“ Cantus firmus: Die thematischen Einsätze wachsen aus einer ruhig pulsierenden Vierstimmigkeit, deren Linien sich in idealer Ausgewogenheit bewegen. Josquin entwickelt das Material aus kleinen, imitatorisch verzahnten Motiven, imitiert den Cantus nicht bloß, sondern transformiert ihn. Der Modus VI erzeugt hier eine weiche, aber konzentrierte Atmosphäre, in der sich das Flechtwerk der Stimmen mit bemerkenswerter Klarheit entfaltet.
Im Gloria beschleunigt sich das musikalische Geschehen: Die polyphone Faktur wird breiter, die textbezogene Disposition freier. Typisch für Josquin ist die plastische Textbehandlung am Qui tollis peccata mundi, wo er den Cantus firmus deutlich hervorhebt und die übrigen Stimmen wie in einer lichtdurchfluteten Arkade darum gruppiert. Besonders eindrucksvoll ist die intensivere syllabische Artikulation in den Passagen Quoniam tu solus sanctus und Cum Sancto Spiritu, die gleichsam einen Wendepunkt von der meditativen Strenge zur befreiten Jubelpolyphonie markieren. Die abschließende Fuge auf Amen zeigt den Komponisten auf dem Höhepunkt architektonischer Kontrolle: Die motivische Dichte wird bewusst gesteigert, die Stimmkreise ziehen sich kraftvoll zusammen und entlassen den Satz in einem strahlenden Schluss.
Das Credo gehört zu den strukturell raffiniertesten Teilen der Messe. Josquin arbeitet mit großräumigen Abschnitten, in denen polyphone Transparenz und rhetorische Logik eng miteinander verwoben sind. Der Cantus firmus erscheint hier in mehreren Erscheinungsformen – mal gedehnt im Tenor, mal in eng verzahnten Kanonstrukturen verborgen –, wobei Josquin besondere Aufmerksamkeit auf die szenische Darstellung zentraler Glaubensgeheimnisse legt. Das Et incarnatus est nimmt er stark zurück, reduziert die Stimmbewegungen, lässt die Harmonik ruhiger werden und erzielt damit eine eindrucksvolle kontemplative Versenkung. Dem folgt das dramatisch gespannte Crucifixus, dessen Linienführung die expressive Kraft der Dissonanzen betont. Mit dem Et resurrexit wechselt der Charakter abrupt zu einer bewegten, energisch aufstrebenden Faktur, die eine der überzeugendsten Auferstehungsmusiken der Renaissance bildet. Die kompositorische Krönung des Satzes ist das groß angelegte Amen, wo Josquin den Cantus firmus als strukturellen Pfeiler nutzt und die Stimmen zu einem eindrucksvollen Schlussgewölbe zusammenführt.
Das Sanctus entfaltet eine Musik von fast architektonischer Ruhe und Symmetrie. Die lange Aufspannung des Sanctus-Hauptsatzes erzeugt eine Weite, die durch den Modus VI ideal getragen wird. Der Cantus firmus erscheint hier klarer, fast wie ein ruhiger Orgelpunkt, der das polyphone Geschehen zentriert. Im Osanna bricht Josquin mit der Kontemplation und setzt auf straffe Imitationen, die sich wie konzentrische Kreise ausbreiten. Die Doppelgestalt des Osanna – als Reprise nach dem Benedictus wiederkehrend – gehört zu jenen formalen Lösungen, die Josquin mit besonderer Souveränität beherrscht.
Das Benedictus zeichnet sich durch eine entrückte, fast solistische Linienführung aus, in der der Cantus firmus nicht mehr als primäres architektonisches Fundament, sondern als leise reflektierter Hintergrund erscheint. Die Stimmen bewegen sich in einer Art vokalem „Chiaroscuro“: ein Wechselspiel aus Licht und Schatten, aus klanglicher Transparenz und dichterer Polyphonie, das der inneren Ruhe dieses Satzes eine besondere Intensität verleiht.
Im Agnus Dei gelangt die Messe zu ihrer geistigen und musikalischen Vollendung. Der erste Abschnitt knüpft an die Architektur des Sanctus an, doch erweitert Josquin die textliche und motivische Verdichtung. Der zweite Abschnitt, der traditionell stärker auf expressiven Ausdruck als auf kontrapunktische Strenge ausgerichtet ist, bietet einen der schönsten Momente des gesamten Zyklus: Der Cantus firmus erscheint hier in einer subtilen, fast schwebenden Form, während die übrigen Stimmen ein Gewebe von großer Innigkeit spinnen. Das abschließende Agnus Dei III wirkt wie ein konzentrierter Epilog: eine harmonisch klare, räumlich weite und zugleich fest gefügte Polyphonie, die die musikalische Logik des gesamten Werkes reflektiert und zu einer erhabenen Ruhe führt.
Die Missa L’homme armé sexti toni gehört zu den Messen, in denen Josquin die Grenzen zwischen Cantus-firmus-Technik, Kanonstruktur, modaler Harmonik und freier Imitation aufhebt und zu einem einzigen, organisch verwobenen Klangkörper formt. Ihre besondere Größe liegt nicht nur in der souveränen Beherrschung kontrapunktischer Mittel, sondern im musikalischen Denken, das den berühmten L’homme armé-Cantus als Symbol betrachtet: als Idee einer geistlichen Bewaffnung, einer Transformation des Weltlichen ins Sakrale. Das Werk entfaltet eine Polyphonie, die zugleich streng, durchgeistigt und von tiefer innerer Wärme getragen ist – eine der vollendetsten Antworten der Renaissance auf den berühmtesten Cantus firmus ihrer Zeit.
Josquins Missa L’homme armé sexti toni ist keine Parodiemesse, sondern eine Cantus-firmus-Messe, die ausschließlich auf der einstimmigen Melodie des berühmten Liedes L’homme armé basiert. Josquin übernimmt dabei nicht polyphone Strukturen eines fremden Werkes, sondern verwendet allein den Liedton als musikalisches Fundament, das er in allen Teilen der Messe kunstvoll verwandelt, dehnt, verkürzt oder invertiert. Deshalb beginnt die CD der Tallis Scholars mit dem Chanson L’homme armé: Der erste Track macht dem Hörer die originale Melodie hörbar, damit man erkennt, wie Josquin sie später in der Messe verarbeitet. Das Lied selbst gehört also nicht zur Messe, sondern dient als bewusst vorangestellte Vorlage, die den Cantus firmus verständlich macht.
https://www.youtube.com/watch?v=np9p435V8kg&list=OLAK5uy_n9-vK4dGZIev9pChKUUVLKZ_HdDSISbt4&index=2
Text des Liedes (Mittelfranzösisch)
L’homme armé doit on douter.
On a fait partout crier
Que chacun se viegne armer
D’un haubregon de fer.
Deutsche Übersetzung
Der bewaffnete Mann – vor ihm muss man sich fürchten.
Überall hat man ausrufen lassen,
dass sich jeder bewaffnen soll
mit einem Kettenhemd aus Eisen.
CD-Vorschlag
Josquin: L'homme armé Masses, The Tallis Scholars, Leitung Peter Phillips (* 1953), Gimell Records, 1989, Tracks
34 bis 63:
https://www.youtube.com/watch?v=fUFLFIlbA6M&list=OLAK5uy_n9-vK4dGZIev9pChKUUVLKZ_HdDSISbt4&index=34
Missa L’homme armé super voces musicales
Messe über das Lied L’homme armé, aufgebaut auf den Solmisationsstufen (ut–re–mi–fa–sol–la)
Der Zusatz super voces musicales bezeichnet, dass das zugrunde liegende Cantus-firmus-Material systematisch entlang der Solmisationssilben geführt und strukturell verarbeitet wird.
Unter den zahlreichen Vertonungen des berühmten Burgunderliedes L’homme armé nimmt Josquins Missa L’homme armé super voces musicales eine Sonderstellung ein. Sie gehört zu den kühnsten, gelehrtesten und zugleich musikalisch wirkungsvollsten experimentellen Messen der Renaissance. Der Titel verrät bereits den kompositorischen Grundgedanken: Josquin legt das Proportionsgerüst der Messe auf die hexachordale Leiter ut–re–mi–fa–sol–la, indem er in jedem Satz den Cantus-firmus auf einer anderen Stufe einsetzt. Dieses Verfahren verwandelt die Messe in ein streng durchdachtes, fast architektonisches Kunstwerk, dessen innere Ordnung sich aus dem System der Solmisation speist und das dennoch unverwechselbar Josquins melodische Eleganz und expressive Tiefenschärfe erkennen lässt.
Im Kyrie entfaltet sich das Material zunächst in einer vergleichsweise schlichten, doch präzise konstruierten Faktur. Der Cantus-firmus erscheint in langen Notenwerten, ruhig und linear, während die übrigen Stimmen ihn in lebendiger, imitatorischer Bewegung umspielen. Die Solmisationsstufe ut schafft eine Art Ausgangspunkt, ein Fundament, auf dem Josquin die weitere proportionale Architektur errichtet. Schon hier wird spürbar, wie bewusst er Dichte und Transparenz ausbalanciert und wie eng die Polyphonie mit der strukturellen Idee verzahnt ist.
Im Gloria verschärft sich die kontrapunktische Arbeit, die Textur wird heller, bewegter, durchzogen von energischen Imitationen, die den liturgischen Text in ein klingendes Geflecht aus Linien und Gegenlinien verwandeln. Der Cantus-firmus erscheint nun auf der Stufe re, wodurch Josquin die harmonische Grundfarbe leicht verschiebt und das Satzgefüge heller zu strahlen beginnt. Besonders eindrucksvoll ist, wie der Komponist die großräumige Architektur des Gloria mit expressiven Einzelmomenten verbindet, etwa in den Abschnitten Qui tollis und Cum Sancto Spiritu, wo der Kontrapunkt eine neue Geschmeidigkeit und Durchhörbarkeit annimmt.
Das Credo gilt zu Recht als eines der geistreichsten Zentren der Messe. Die Verlagerung des Cantus-firmus auf die Stufe mi erzeugt eine subtil gespannte Harmonik, die dem langen, dogmatisch fest umrissenen Text zusätzliche Tiefe verleiht. Josquin gliedert den Satz großräumig, kontrastiert syllabisch klare Passagen mit weit gespannten imitatorischen Linien und lässt die musikalische Architektur auf den zentralen Bekenntnisstellen regelrecht kulminieren. Im Et incarnatus est öffnet sich die Textur, Linien werden weicher, fast schwebend; das darauffolgende Et resurrexit gewinnt an Impuls und Vitalität, bevor die abschließende Amen-Fuge den Satz in eine strahlende kontrapunktische Krönung führt.
Das Sanctus steht ganz im Zeichen der Solmisationsstufe fa. Die Harmonik wirkt hier stabiler, ruhiger, beinahe monumental. Die eröffnenden Akkordflächen dehnen den Raum, die polyphonen Einwürfe wirken wie leuchtende Pfeiler, die den liturgischen Text tragen. In den beiden Hosanna-Abschnitten erreicht Josquin eine beeindruckende Steigerung der Bewegung, die die innere Architektur des Satzes zusammenbindet, zugleich aber seine kompositorische Meisterschaft in der dramatischen Gestaltung großräumiger Formverläufe zeigt.
Das Benedictus zeigt eine verfeinerte, kammermusikalische Anlage. Josquin setzt den Cantus-firmus auf die Stufe sol und verleiht dem Satz eine geschmeidige, entspannt kantable Atmosphäre. Die Linien entfalten sich in ausgewogener Imitation, und die Stimmeinsätze werden wie in einer sorgfältig gezeichneten Miniatur ineinander verschachtelt. Auch hier kehrt im Hosanna das volle Klangbild zurück, nun mit erhöhter Energie und dichterer Polyphonie.
Das Agnus Dei schließlich bildet mit der Stufe la die Vollendung des hexachordalen Zyklus. Josquin entfaltet hier eine feierliche Ruhe, die an kontemplative Motetten erinnert. Die Stimmbewegungen sind weit, gelassen, von einer inneren Harmonie getragen, die den Abschluss des Zyklus als logisch zwingend und zugleich als spirituell erfüllend erscheinen lässt. Oft beschrieben wird die feine Balance zwischen gravitätischer Langsamkeit und der subtilen inneren Bewegung, die die Linien stets fließend hält. In den späteren Abschnitten des Agnus verdichtet Josquin die Polyphonie erneut, führt die Stimmen in eng verflochtenem Satz und lässt den Schluss in einem von heller Transzendenz erfüllten Klangraum ausklingen.
Die Missa L’homme armé super voces musicales ist eines jener Werke, in denen Josquin des Prez seine polyphone Kunst mit einer konstruktiven Idee verbindet, ohne je in trockene Gelehrsamkeit zu geraten. Die Messe wirkt wie ein klingender Bau aus Proportionen, der durch die innere Logik der Solmisation getragen wird und dennoch von tief empfundenem Ausdruck geprägt ist. Der Cantus-firmus, stets präsent, aber nie dominierend, fungiert als Leitlinie durch eine musikalische Kathedrale, deren Räume und Perspektiven Josquin mit größter Meisterschaft gestaltet. In ihrer Verbindung von formaler Strenge, textbezogener Expressivität und melodischer Schönheit gehört diese Messe zu den vollkommensten Beispielen jener hohen polyphonen Kunst, auf die die Musikgeschichte mit Recht immer wieder zurückblickt.
CD-Vorschlag
Josquin: L'homme armé Masses, The Tallis Scholars, Leitung Peter Phillips (* 1953), Gimell Records, 1989, Tracks 2 bis 33:
https://www.youtube.com/watch?v=ZiiE8iVKlbg&list=OLAK5uy_n9-vK4dGZIev9pChKUUVLKZ_HdDSISbt4&index=2
Missa Malheur me bat
„Messe über das Lied Malheur me bat“ (wörtlich: „Unglück schlägt mich“)
Josquins Missa Malheur me bat gehört zu jenen Werken, in denen der Komponist die strukturellen Möglichkeiten des Kantus-firmus- und Parodiemotetten-Stils zu einer außerordentlich dichten polyphonen Architektur erweitert. Die Messe basiert auf der gleichnamigen Chanson „Malheur me bat“, einem bis heute nicht sicher identifizierten Lied, das in verschiedenen Fassungen (unter anderem von Jacob Obrecht und Johannes Martini) nachweisbar ist und möglicherweise selbst eine komplexe Überlieferungsgeschichte besitzt. Die Forschung geht davon aus, dass Josquin eine mehrstimmige, vermutlich dreiteilige Chansonvorlage benutzte, deren melodisches und rhythmisches Profil er in den gesamten Messverlauf hinein verwob.
Die Chanson Malheur me bat gehört zu den wichtigsten weltlichen Liedern, die für die musikalische Generation um 1480–1500 prägend wurden und später als Grundlage für Parodiemessen dienten. Die Zuschreibung ist lange umstritten gewesen, doch der heute wahrscheinlichste Autor sowohl von Text als auch Musik ist der in Ferrara und Mantua tätige frankoflämische Komponist Johannes Martini (ca. 1430/40–1497). Die Quellen überliefern das Werk häufig unter dem Titel Malheur me bat, während der eigentliche Text mit dem incipit „Douleur me bat…“ einsetzt. Das ist für Chansons des 15. Jahrhunderts typisch: der Titel bezeichnet das Werk allgemein, der Text beginnt mit einer abweichenden, poetisch motivierten ersten Zeile.
https://www.youtube.com/watch?v=KHwauZWStjM
Martinis dreistimmige Komposition zählt zu jener eleganten, transparenten Form der frankoflämischen Chanson, die sich durch klare Imitationen, fließende Melodieführung und eine feine Balance zwischen rhetorischer Einfachheit und polyphoner Kunstfertigkeit auszeichnet. Das Lied war so einflussreich, dass mehrere Komponisten der Zeit darauf zurückgriffen; am bedeutendsten ist die Parodiemesse Missa Malheur me bat von Josquin Desprez, die Motive und Strukturen der Chanson transformiert und zu einem großartigen polyphonen Architekturwerk erweitert. Besonders die charakteristischen fallenden Linien der Eröffnungsphrase und die rhythmischen Akzentuierungen finden sich bei Josquin auf subtile Weise wieder, oft verkleinert, gespiegelt oder imitatorisch verschränkt.
Die Überlieferung der Chanson ist komplex: In verschiedenen Manuskripten erscheint sie mit und ohne Text, manchmal Martini, manchmal Abertijne Malcourt, gelegentlich sogar Ockeghem zugeschrieben.
Johannes Ockeghem (um 1410–1497) hat die Chanson Malor me bat (Malheur me bat) in einer alternativen Fassung überliefert; diese gibt uns eine Vorstellung davon, wie das Stück im 15. Jahrhundert geklungen haben dürfte.
https://www.youtube.com/watch?v=oL2qlP1BdaM
Die textierte Fassung, die heute als am zuverlässigsten gilt und die auch moderne Ensembles singen, ist jedoch stabiler überliefert als viele lange angenommen haben. Sie lautet:
Originaltext (Mittelfranzösisch)
Douleur me bat et tristesse m’afolle,
Amour me nuyt et malheur me consolle,
Vouloir me suit, mais aider ne me peult,
Jouyr ne puis d’ung grant bien qu’on me veult,
De vivre ainsi, pour dieu, qu’on me décolle.
Deutsche Übersetzung
Schmerz schlägt mich nieder, und Trauer macht mich wirr.
Die Liebe verletzt mich, und das Unglück spendet mir Trost.
Der gute Wille folgt mir wohl, doch helfen kann er nicht;
ich darf mich nicht freuen an einem großen Glück, das man mir gönnt.
Wenn ich so leben muss – bei Gott, so schlage man mir den Kopf ab.
Dieser Text ist ein eindringliches Beispiel spätmittelalterlicher Liebesklage: der Sänger beschreibt einen Zustand existenzieller Zerrissenheit, in dem Schmerz, Liebe, Unglück und unerfülltes Verlangen ineinander greifen. Die paradoxe Wendung „Malheur me consolle“ („das Unglück tröstet mich“) zeigt jene bittre Ironie, die typisch für die höfische Dichtung der burgundisch-frankoflämischen Tradition ist. Die Schlusszeile ist nicht wörtlich als Todeswunsch zu lesen, sondern als hyperbolische Formel der Verzweiflung, die in der Dichtung dieser Epoche häufig vorkommt.
Musikhistorisch ist diese Chanson bedeutsam, weil sie sich hervorragend für polyphone Verarbeitung eignet: klare Motive, ein markanter melodischer Einstieg, scharfe Rhythmik und ein kraftvoller rhetorischer Ton. Genau diese Eigenschaften machten sie für Josquin so attraktiv. In seiner Messe wird die Chanson nicht als starre Cantus-firmus-Linie verwendet, sondern als Motivreservoir, aus dem er melodische und rhythmische Bausteine herauslöst, um sie im gesamten Werk variierend, spiegelnd, dehnend und eng imitierend zu verarbeiten. Dadurch entsteht jene unverwechselbare Architektur zwischen Durchsichtigkeit und motivischer Dichte, die die Missa Malheur me bat zu einem Höhepunkt seines frühen reifen Stils macht.
Für den Hörer und Musikhistoriker bildet die Chanson damit den poetischen und musikalischen Kern eines der wichtigsten Messzyklen Josquins und zugleich ein eindrucksvolles Beispiel jener polyphonen Liebesliedkultur, die zwischen Burgund, Ferrara und den frankoflämischen Zentren der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts blühte.
Die Entstehung der Messe dürfte in die späten 1480er oder frühen 1490er Jahre fallen – in jene Zeit, in der Josquin die kompositorischen Errungenschaften seiner frühesten Messen (etwa Ad fugam und Faisant regretz) hinter sich lässt und einen neuen Typus frei beweglicher, hochtexturierter Polyphonie entwickelt.
Der besondere Reiz dieser Messe liegt im kompositorischen Umgang mit der Vorlage. Josquin behandelt das Quellmaterial nicht als starre Cantus-firmus-Linie, sondern als Motivreservoir, aus dem er charakteristische Wendungen herauslöst, sie verkleinert, erweitert, imitatorisch versetzt, rhythmisch schärft oder kontrapunktisch überlagert. In dieser Technik zeigt sich bereits der voll entwickelte Josquin: ein Komponist, der nicht nur kontrapunktische Regeln beherrscht, sondern die motivische Arbeit als Mittel psychologisch-expressiver Gestaltung versteht. Die polyphone Faktur ist in allen Sätzen streng gearbeitet. Der imitatorische Einsatz wird häufig durch plötzliche, klar gestaltete duale Kontrapunktfelder unterbrochen, in denen zwei Stimmen besonders eng miteinander verschränkt werden und als Paar gegenüber den übrigen Stimmen hervortreten. Daraus entsteht eine feine Dramaturgie der Dichte und Entspannung, die sich durch die ganze Messe zieht.
Das Kyrie eröffnet Josquins architektonisches Konzept mit einem Satz, der auf den ersten Blick in seiner Linearität fast asketisch wirkt. Das Material der Chanson erscheint hier eher als verdeckte Struktur: verkleinerte Tonsegmente, eine charakteristische fallende Terz und bestimmte rhythmische Akzente, die sich wie Spuren durch den gesamten Satz ziehen. Das Christe bringt durch seine imitatorische Verdichtung ein Gefühl gesteigerter innerer Bewegung, ehe das abschließende Kyrie II das thematische Material noch klarer exponiert.
Im Gloria entfaltet Josquin eine kontrapunktische Transparenz, die gleichermaßen rhetorisch wie strukturell motiviert ist. Einzelne Abschnitte werden durch textbezogene Verfahren deutlich profiliert: syllabische Bündelungen im Domine Deus, imitatorische Ketten im Qui tollis, dann eine Aufhellung und Beschleunigung in der Schlussformel Cum Sancto Spiritu, die durch prägnante Sequenzen zusammengehalten wird. Der Chansonbezug wirkt hier nicht als melodische Dominante, sondern als prägendes Formprinzip, das die Satzorganisation und die Imitationsabstände bestimmt.
Das Credo ist traditionell der komplexeste Messabschnitt, und Josquin nutzt diese „große Tafel“ der Theologie, um ein breites Spektrum kontrapunktischer Verfahren zu zeigen. Das Credo in unum Deum bleibt streng imitatorisch, während Et incarnatus est plötzlich in eine zarte, beinahe kontemplative Reduktion übergeht, die auf die Worte „Et homo factus est“ eine eindringliche, musikalisch theologisch fundierte Zäsur setzt. Das anschließende Et resurrexit bricht mit machtvoller Energie hervor und lässt die charakteristischen Motive der Chanson-Vorlage nun deutlicher hervortreten. Besonders bemerkenswert ist die Art, wie Josquin am Schluss des Credos die motivische Substanz noch einmal bündelt und in eine strahlende Steigerung überführt.
Das Sanctus zeigt die Kunst der gestaffelten Imitationen in besonders reiner Form. Die wiederholte Dreiteilung der Textabschnitte erlaubt Josquin eine hochgradig proportionierte Klangarchitektur: Eintrag der Stimmen in weiten Abständen, Aufleuchten einzelner Motivteile, schließlich eine polyphone Verdichtung im Pleni sunt caeli, die sich im Hosanna zu einem rhythmisch strahlenden Höhepunkt formt. Die Benedictus-Passage wirkt demgegenüber wie eine Insel klanglicher Feinheit: der Satz ist luftiger, mit subtilen Stimmintervallen und einem weich modellierten melodischen Fluss, der die Vorlage nur noch in feinen motivischen Schatten erkennen lässt.
Im Agnus Dei führt Josquin seine kompositorische Idee auf den Punkt. Traditionell wird das letzte Agnus erweitert oder besonders reich besetzt; Josquin nutzt diese Möglichkeit, um die Quellchanson am deutlichsten hervortreten zu lassen. Die Stimmen erscheinen enger verwoben, die imitatorischen Abstände werden kürzer, und aus der motivischen Arbeit entsteht ein ruhiger, aber machtvoller Schlussbogen, in dem sich die zuvor oft verdeckte Chanson-Melodik zu einem klaren strukturellen Rahmen verdichtet. Das abschließende Dona nobis pacem löst die zuvor gespannte Polyphonie in eine nahezu schwebende Harmonik auf, die dem Werk einen stillen, aber tief eindringlichen Abschluss gibt.
Zusammenfassend gehört die Missa Malheur me bat zu jenen Messen, in denen Josquin des Prez die kompositorische Freiheit der Parodiemesse neu definiert: keine reine Übernahme des Vorbilds, keine bloße Dekoration, sondern ein aktiver Dialog zwischen Vorlage und Neuschöpfung. Das Werk markiert einen entscheidenden Schritt hin zu jener polyphonen Ausdruckskultur, die Josquin in seinen Ferrara- und Rom-Jahren perfektionieren wird. Die Messe zeigt bereits alles, was den reifen Josquin auszeichnet: klangliche Balance, motivische Ökonomie, rhetorische Prägnanz und eine spirituelle Tiefe, die sich durch strengste kontrapunktische Disziplin vermittelt.
CD-Vorschlag
Josquin, Messas, Malheur me bat und Fortuna desparata, The Tallis Scholars, Leitung Peter Phillips (* 1953), Gimell Records, 2019, Tracks 1 bis 20:
https://www.youtube.com/watch?v=2UBmpvAf05c&list=OLAK5uy_nUBBYZnDfSBaBCsWE858mwkXwMwlqukxA&index=2
Missa Mater patris
Josquins Missa Mater patris gehört zu den ungewöhnlichsten und zugleich luzidesten Schöpfungen seines Spätwerks. Sie steht in enger Beziehung zur franko-flämischen Tradition, greift jedoch auf eine Quelle zurück, die in Josquins Œuvre singulär erscheint: die Kompositionen seines etwas älteren Landsmanns Jean Richafort (* um 1480 – † 1547) – möglicherweise sogar auf ein heute verschollenes Werk, das nur unter dem Incipit Mater patris überliefert ist.
Die Forschung bleibt daher vorsichtig: Das Material könnte ebenso gut aus einem unauffälligen, heute verschollenen Werk eines anderen franko-flämischen Komponisten stammen oder aus einer liturgischen Formel, die in regionalen Handschriften nicht erhalten ist. Gleichwohl bildet die mögliche Verbindung zu Richafort einen wichtigen Baustein der modernen Interpretation und verweist auf die enge stilistische Durchdringung der franko-flämischen Schulen im ersten Drittel des 16. Jahrhunderts.
Vieles spricht dafür, dass Josquin hier ein Thema aufgreift, das aus dem unmittelbaren Umfeld seiner letzten Lebensjahre stammte, und dieses mit der charakteristischen ökonomischen, beinahe gläsernen Satztechnik seiner späten Phase verbindet.
Die Messe ist ausschließlich vierstimmig besetzt, was in ihrer Zeit eher archaisch wirkt, zugleich aber eine neue Art von Linearität und Transparenz ermöglicht. Josquin verzichtet weitgehend auf die Verdichtungen des sechsstimmigen Satzes, die für einige seiner Messen der Ferrara-Zeit typisch sind, und schafft stattdessen ein Gefüge von bestechender Klarheit: Die Stimmen bewegen sich in langen, ausgeglichenen Linien, imitieren sich in fein austarierten Abständen und bilden ein kontrapunktisches Netz, das an die Leichtigkeit und Durchsichtigkeit der Motetten des frühen 16. Jahrhunderts erinnert. Schon der Eingang des Kyrie macht dies deutlich: Die Leitmotive werden nacheinander eingeführt, ohne Überladenheit, ohne monumentale Repräsentationsgeste, fast kammermusikalisch. Alles wirkt wie auf die Essenz konzentriert.
Das Besondere an dieser Messe ist die subtile Verwendung des fremden Modells. Josquin „zitiert“ nicht in der Weise, wie er es etwa in der Missa L’homme armé super voces musicales tut, sondern er übernimmt melodische Zellen und intervalische Konturen, die er dann in ein völlig neues Gefüge überführt. Die Herkunft der thematischen Substanz bleibt spürbar, jedoch nie aufdringlich: Das modellhafte Material wird transformiert, gestreckt, rhythmisch flexibilisiert und so in den polyphonen Satz integriert, dass es als Keimzelle der Struktur fungiert, nicht als äußeres Zitat. Man hat dies oft als Beispiel dafür bezeichnet, dass Josquin im Spätwerk weniger „konstruktiv“ als „organisch“ komponierte. Die Messe wirkt wie ein einziges, weit ausgespanntes Kontinuum, in dem motivische Erinnerungen unaufdringlich wiederkehren und die einzelnen Teile des Ordinariums miteinander verbinden.
Im Gloria und Credo verschärft sich dieser Eindruck noch. Dort öffnet Josquin den Satz an entscheidenden Textstellen durch homophone Passagen, deren Leuchtkraft gerade durch den zuvor herrschenden linearen Stil gesteigert wird. Besonders eindrucksvoll erscheint die Stelle „Et incarnatus est“, bei der die Stimmen enger zusammenrücken und eine konzentrierte, fast introvertierte Klanglichkeit herstellen. Das „Et resurrexit“ dagegen hebt sich durch einen plötzlichen Wechsel zu lebhafterer Rhythmik und gesteigerter Bewegungsenergie ab – ein dramaturgisches Prinzip, das Josquin mit größter Selbstverständlichkeit einsetzt, ohne je den strukturellen Zusammenhalt zu lösen.
Das Sanctus zeigt Josquin als Meister der fein eingesetzten Repetition. Der thematische Kern erscheint in verschiedenen Stimmen und Lagen, stets leicht variiert, und erzeugt ein Changieren zwischen Kontinuität und Erneuerung. Das Hosanna entfaltet eine fließende, fast tänzerische Energie, während das Benedictus gezielt zurücknimmt und der Musik einen Moment kontemplativer Ruhe verleiht. Im abschließenden Agnus Dei schließlich verdichtet Josquin das Material zu einer geschlossenen, ruhigen Geste, die weniger auf dramatische Spannung zielt als auf einen Ausgleich der Kräfte. Das dona nobis pacem wirkt wie eine endgültige Klärung der polyphonen Linien – der Schluss ist leuchtend und zugleich von einer fast asketischen Eleganz.
Die Missa Mater patris gilt heute als eines der reifsten Beispiele für Josquins Fähigkeit, fremdes musikalisches Material nicht nur zu adaptieren, sondern in einen völlig neuen Kontext zu stellen. Ihr Stil ist geprägt von ökonomischer Satztechnik, subtiler Motivarbeit und einer fast modernen Vorstellung von Transparenz. Sie gehört in dieselbe ästhetische Sphäre wie andere späte Werke, insbesondere die Missa Pange lingua, und wird daher oft als eines der letzten Zeugnisse seiner schöpferischen Kraft betrachtet. Gerade weil sie nicht auf monumentale Effekte ausgerichtet ist, sondern auf innere Logik und lineare Klarheit, zählt sie zu jenen Werken, die die Entwicklung der franko-flämischen Polyphonie um 1520 entscheidend geprägt haben.
CD-Vorschlag
Josquin - Bauldeweyn, Missa Mater patris - Missa Da pacem, The Tallis Scholars, Leitung Peter Phillips (* 1953), Gimell Records, 2019, Tracks 5 bis 21:
https://www.youtube.com/watch?v=d7caQKrs-oI&list=OLAK5uy_kKzDyDGRIjupDfZemsEad3KskvCXF3ttY&index=5
Missa N'auray je jamais („Missa Di dadi“)
„Messe über das Lied N’auray je jamais“, auch bekannt als „Würfelmesse“.
Titel, Herkunft und kompositorische Anlage
Josquins Messe trägt in der modernen Forschung zwei Titel, die denselben Kern bezeichnen, jedoch unterschiedliche Aspekte hervorheben. „Missa N’auray je jamais“ ist der musikalisch korrekte Titel, denn Josquin verwendet als Cantus firmus die Tenorlinie des gleichnamigen dreistimmigen Chansons N’auray je jamais mieulx („Nie werde ich etwas Besseres haben“) von Robert Morton (* um 1430 – † nach dem 13. März 1479).
Das Chanson N’auray je jamais mieulx
Das dreistimmige Chanson N’auray je jamais mieulx („Nie werde ich etwas Besseres haben“) stammt sehr wahrscheinlich von Robert Morton, einem franko-flämischen Komponisten, der in den 1460er- und 1470er-Jahren an der burgundischen Hofkapelle tätig war. Das Lied gehört zu den sogenannten bergerettes bzw. rondeaux, also zu den populären höfischen Formen des 15. Jahrhunderts, in denen eleganter Melodismus und klare Textdeklamation im Vordergrund stehen.
https://www.youtube.com/watch?v=4cdkPDCC8JM
Musikalisch zeichnet sich das Stück durch eine ausdrucksvolle, klagende Oberstimme aus, die über einem ruhigen, fast meditativen Tenor geführt wird. Die Harmonik ist typisch für Morton: reich, aber durchsichtig, häufig durch Terz- und Sextparallelen aufgehellt. Der Text spricht von unglücklicher Liebe und von der resignierten Einsicht, dass der Sprecher in der Liebe niemals etwas Besseres finden werde; diese elegische Grundstimmung erklärt, warum das Chanson später als Cantus firmus einer Messe verwendet werden konnte. Josquin übernimmt den Tenor nahezu wörtlich und verwandelt ihn in eine architektonische Keimzelle seiner polyphonen Satzkunst.
Originaltext des Chansons (Mittelfranzösisch)
N’auray je jamais mieulx
Que j’aye? Hélas! Je meurs de dueil.
Pour quoy me fault-il tant de dueil porter?
D’Amours vienent mes maulx.
Deutsche Übersetzung
Nie werde ich je etwas Besseres haben,
als das, was ich verloren habe. Ach! Ich vergehe vor Kummer.
Warum muss ich so viel Leid ertragen?
Von der Liebe stammen all meine Schmerzen.
Der zweite Name, „Missa Di dadi“ („Würfelmesse“), entstammt der außergewöhnlichen visuellen Gestaltung der Cantus-firmus-Partien in mehreren Sätzen der Messe: Neben den Tenorstimmen erscheinen kleine, gezeichnete Würfelaugen (dadi), die wie Spielwürfel aussehen und bestimmte Zahlenverhältnisse anzeigen. Streng genommen heißt das Werk also Missa N’auray je jamais; die Bezeichnung Missa Di dadi ist eine spätere, aber traditionsreiche Notnamenbezeichnung, die sich aufgrund ihrer Anschaulichkeit eingebürgert hat. Eine wörtlich korrekte Übersetzung wäre: „Messe ‘Nie werde ich je haben’“ bzw. „Würfelmesse“ für den späteren Beinamen.
Der Kern der Messe ist die gelehrte, zugleich spielerisch-symbolische Behandlung des Cantus firmus. In den Partbüchern finden sich über dem Tenor Würfelsymbole mit Zahlenwerten wie „2–1“, „3–1“ oder „6–1“. Diese geben an, in welchem proportionalen Verhältnis der Cantus firmus gegen die übrigen Stimmen geführt werden soll. Josquin erschafft damit ein polyphones Gewebe, in dem die strukturelle Langsamkeit oder Beschleunigung des Tenors unmittelbar aus einem ikonographischen Zeichen hervorgeht. Das Würfelmotiv hat in der Forschung seit dem 19. Jahrhundert zahlreiche Deutungen provoziert: Es wurde als reine Spielerei, als musikalisches „Glücksspiel“, als symbolische Aussage über göttliche Vorsehung oder als Hinweis auf aristokratische Freizeitkultur gedeutet. Die wahrscheinlichste Deutung bleibt jedoch eine Notations- und Kompositionshilfe, deren spielerischer Charakter Josquin mit Absicht sichtbar macht. Der Komponist setzt damit die damals verbreitete Proportionsnotation mit besonderer Eleganz und zugleich mit humorvoller Anschaulichkeit ins Bild.
Die Messkomposition selbst ist ein Musterbeispiel für Josquins Fähigkeit, technische Strenge mit expressiver Klarheit zu verbinden. Der Kyrie-Satz eröffnet mit einer ausgewogenen Vierstimmigkeit, der Cantus firmus tritt zunächst zurückhaltend in seinen langen Werten hervor. Die Proportion „2–1“ sorgt dafür, dass der Tenor im Verhältnis zur Oberstimme in halbem Tempo läuft und so eine ruhige Grundfläche schafft, über der sich die übrigen Stimmen frei entfalten. Im Gloria führt Josquin den Cantus firmus mit der Proportion „3–1“ ein, was zu einer spürbaren rhythmischen Straffung führt: Die Melodie schreitet schneller, die Oberstimmen reagieren mit imitatorischen Linien, die den Satz stärker gliedern. Diese dynamische Veränderung der Temporelationen gehört zu den Besonderheiten der Messe, denn sie lässt den Hörer – trotz fehlender Tempobezeichnungen – eine klare dramaturgische Entwicklung erleben.
Im Credo nutzt Josquin die Würfelnotation am intensivsten. Die Proportion „6–1“ zeigt eine extreme Dehnung des Tenors an, der nun fast wie ein unverrückbarer Klangpfeiler durch den Satz schreitet. Die übrigen drei Stimmen winden sich mit kunstvoller Linearität darum, was an die isorhythmische Tradition der Motette erinnert. Gerade hier zeigt sich Josquins Meisterschaft: Die Satzdichte ist hoch, die Harmonik reich, und dennoch bleibt die Textdeklamation klar und durchsichtig, vor allem in den zentralen Christologieteilen des Credo.
Das Sanctus wirkt freier und lyrischer. Der Cantus firmus erscheint erst im „Pleni sunt caeli“ in einer erneuten Proportion. Die Oberstimmen entfalten kantable Linien, die den Text „gloria tua“ mit einer für Josquin typischen, feierlichen Weite versehen. In den Hosanna-Rufen verdichtet sich der Satz, und die Proportionierung des Tenors dient weniger einer strengen architektonischen Ordnung als einer subtilen Akzentuierung des klanglichen Grundpulses.
Das Agnus Dei schließlich führt die großen Linien der Messe zusammen. Josquin lässt den Cantus firmus hier ruhiger und breiter erscheinen; der Würfelbezug ist im Vergleich zu den vorherigen Sätzen weniger prominent, doch bleibt die Vorstellung eines strukturell verankerten, kontinuierlichen Tenors präsent. Besonders eindrucksvoll ist der Abschluss: Der polyphone Satz öffnet sich zu einer ausdrucksstarken, nahezu meditativen Kadenz, die in der Forschung oft als einer der feierlichsten Schlusseffekte in Josquins Messen bezeichnet wird.
Insgesamt gehört die Missa N’auray je jamais zu den Werken, in denen Josquin nicht nur als Meister polyphoner Verflechtung erscheint, sondern auch als Erfinder einer visuell hörbaren Kompositionsidee. Die Integration von Würfelproportionen macht die Messe zu einem faszinierenden Beispiel für die Verbindung von Notationskunst, spielerischem Geist und theologischer Tiefe. Ihr Platz innerhalb von Josquins Schaffen ist singulär: Keine andere seiner Messen greift mit solcher Konsequenz auf bildliche Proportionierung zurück, und keine andere bindet ein weltliches Chanson so elegant in eine komplexe liturgische Architektur ein.
Der „wahre“ Name des Werkes bleibt daher Missa N’auray je jamais, nach dem verwendeten Chanson; die Bezeichnung Missa Di dadi ist ein späterer, aber legitimer Zusatzname, der die Besonderheit der Notation hervorhebt.
CD-Vorschlag
Josquin, Messas, Di dadi und Une mousse de Biscaye, The Tallis Scholars, Leitung Peter Phillips (* 1953), Gimell Records, 2016, Tracks 1 bis 18:
https://www.youtube.com/watch?v=jZv_HUtc7kM&list=OLAK5uy_k7SzgWciaZhsdbei-2nm0w1AO1YxyDiNs&index=2
Missa Une mousse de Biscaye
Josquin Desprez’ Missa Une mousse de Biscaye zählt zu den frühesten messgebundenen Experimentierfeldern des Komponisten und gehört zu jener Werkgruppe, die seine Auseinandersetzung mit mehrstimmigen weltlichen Vorlagen dokumentiert. Die Messe beruht auf einem heute fragmentarisch überlieferten französischen Chanson, dessen Titel auf eine „mousse“ – im spätmittelalterlichen Sprachgebrauch eine junge Frau, manchmal auch ein Mädchen aus der Biskaya – verweist; zugleich erinnert der Name an regional koloriertes Liedgut aus Südwestfrankreich. Obwohl der vollständige Chanson-Satz nicht erhalten ist, lässt sich seine melodische Kontur aus den in der Messe zitierten Motiven rekonstruieren. Die Vorlage scheint durch rhythmische Lebhaftigkeit, synkopische Energie und kleine, kecke Intervallbewegungen geprägt gewesen zu sein – musikalische Signaturen eines Liedes mit tänzerischer Grundstimmung und kühner Profilierung, die Josquin in den polyphonen Zusammenhang der Messe transformiert.
In ihrer Anlage verrät die Messe noch den Stil des jungen Josquin, der die Techniken des cantus-firmus-Komponierens, der motivischen Durchimitation und der strukturellen Reduktion zur klanglichen Klarheit erprobt. Die Musik bewegt sich häufig in enger Stimmführung, bevorzugt klare motivische Konturen und zeigt einen zugespitzten Sinn für kontrapunktische Prägnanz. Die Chanson-Melodie erscheint nicht als durchgehender cantus firmus, sondern wird – typisch für Josquins frühe Experimente – in einzelne, wiedererkennbare Partikel zerlegt, die als melodische Kristallisationspunkte in den Stimmen wandern. Gerade diese Technik der „motivischen Zerstreuung“, die den Hörer die Herkunft des Materials nur erahnen lässt, gibt dem Werk seine besondere Spannung: Die Messe steht zwischen mittelalterlicher Bindung an ein vorgegebenes Modell und der neuen Renaissance-Idee eines organischen, thematisch vernetzten Satzes.
Ein besonderes Merkmal der Messe ist die Neigung zu kompakter, fugenähnlich strukturierter Polyphonie. In den Auftaktsätzen, insbesondere im Kyrie und im Gloria, wird die Vorlage in konzentrierte Imitationskerne verwandelt, die nacheinander die Stimmen durchlaufen. Diese zyklische Imitationsweise verleiht der Musik eine kristalline Strenge, die zugleich aber von auffallender Leichtigkeit geprägt ist – einer jener kontrapunktischen Balanceakte, die man später zu Josquins Signaturen zählen wird: strukturelle Klarheit ohne Schwere, Kunstgriff und Kantabilität in eins gedacht.
Im Credo zeigt sich der junge Josquin besonders experimentierfreudig. Während die liturgischen Proportionen traditionell weit ausladend sind, meidet er ausufernde Phrasen und bevorzugt eine fast nüchterne Durchdeklinierung der Glaubensartikel. Die Chanson-Partikel tauchen hier als kurze, prägnante Motive auf, die den langen Text gliedern und ihm eine innere architektonische Ordnung geben. Der „Et incarnatus“-Abschnitt steht wie so oft im Zeichen klanglicher Transparenz: die Polyphonie tritt zurück, zugunsten eines schlankeren Satzes, der Textverständlichkeit und meditativen Ausdruck verbindet. Am „Et resurrexit“ bricht dann die musikalische Energie auf, als wollte die weltliche Chansonvorlage, die im Hintergrund mitgeführt wird, plötzlich neue Vitalität entfalten.
Das Sanctus ist einer der Höhepunkte des zyklischen Werks. Die Eröffnung wirkt wie ein weiträumig gespannter Akkordbogen, in dem sich die Chanson-Motive mit einer neuen, geradezu archaischen Reinheit präsentieren. Die Osanna-Abschnitte entfalten eine gesteigerte Beweglichkeit und zeigen, wie Josquin aus einem kleinen motivischen Kern polyphone Dynamik schöpft. Im Benedictus setzt er auf eine Zweistimmigkeit, die der Musik einen intimen, fast kammermusikalischen Charakter gibt; das Osanna greift das frühere Material auf und führt es in einer straff geführten Schlusssteigerung zusammen.
Im Agnus Dei sammelt Josquin die technischen Fäden der Messe und löst sie in einer feierlichen, ruhigen Dichte auf. Das erste Agnus wirkt zart und kantabel, das zweite gewinnt an imitativer Komplexität. Das abschließende dritte Agnus – traditionell der glanzvollste Schlusspunkt – erweitert die Stimmzahl und erzeugt damit einen breiteren, festlicheren Resonanzraum. Diese Steigerung wirkt jedoch nie schwer, sondern bleibt durch die unterschwellige tänzerische Energie der Chansonvorlage elastisch. Gerade im Schluss des Werks zeigt sich Josquins Fähigkeit, ein vermeintlich triviales weltliches Motiv in ein klangliches Symbol geistlicher Erhebung zu verwandeln.
Die Missa Une mousse de Biscaye steht somit exemplarisch für die frühe Entwicklungsphase Josquins, in der er noch mit den Möglichkeiten und Grenzen des parodistischen und paraphrasierenden Messensetzens experimentiert, gleichzeitig aber schon eine Handschrift erkennen lässt, die später zu seiner unverwechselbaren Signatur wird. Sie ist weniger monumental als seine berühmten Spätmessen, dafür beweglicher, kantabler, direkter und in ihrer jungenhaften Frische von einer besonderen Modernität. Ihre polyphone Architektur verbindet Strenge und Lebensfreude, gelehrte Kunst und weltliche Energie – ein klingendes Dokument des Übergangs von der mittelalterlichen Modellbindung zu einer neuen, genuin renaissancetypischen Vorstellung musikalischer Kohärenz.
CD-Vorschlag
Josquin, Messas, Di dadi und Une mousse de Biscaye, The Tallis Scholars, Leitung Peter Phillips (* 1953), Gimell Records, 2016, Tracks 19 bis 34:
https://www.youtube.com/watch?v=UfUe7-4Pvxw&list=OLAK5uy_k7SzgWciaZhsdbei-2nm0w1AO1YxyDiNs&index=19
Motets et Chansons
CD Josquin Desprez, Motets et Chansons. Die CD ist nicht mehr erhältlich. Auf einem japanischen YouTube-Kanal habe ich die Einspielung entdeckt – allerdings mit einem Schönheitsfehler: Es fehlt Track Nr. 7, „El grillo“. Trotzdem versuche ich, diese schöne und originelle CD zu beschreiben.
Komplette Version der gleichen CD auf einem anderen YouTube-Kanal:
https://www.youtube.com/watch?v=lh_WD_cLrRY
Die CD Motets et Chansons von Josquin Desprez, interpretiert vom Hilliard Ensemble unter der Leitung von Paul Hillier, (* 1949) gilt als eine herausragende Aufnahme der Renaissance-Vokalmusik. Ursprünglich 1987 bei EMI veröffentlicht, umfasst sie sowohl geistliche Motetten als auch weltliche Chansons und bietet einen umfassenden Einblick in Desprez' vielfältiges Schaffen.
Kritiken und Rezensionen:
Die Aufnahme wird für ihre klare Artikulation, präzise Intonation und das ausgewogene Zusammenspiel der Stimmen gelobt. Das Hilliard Ensemble bringt die polyphone Struktur von Desprez' Kompositionen eindrucksvoll zur Geltung.
Die CD bietet eine ausgewogene Mischung aus bekannten und weniger bekannten Werken, darunter das berühmte „Ave Maria, gratia plena“ und die humorvolle Chanson „El grillo“. Diese Vielfalt ermöglicht es dem Hörer, die Bandbreite von Desprez' musikalischem Ausdruck zu erleben.
Trotz des Alters der Aufnahme ist die Klangqualität hervorragend. Die Transparenz und Detailtreue der Aufnahme tragen dazu bei, die Komplexität der Musik klar hörbar zu machen.
Track 1: Ave Maria, gratia plena ... virgo serena
https://www.youtube.com/watch?v=O16_dwmKpjo
„Ave Maria ... virgo serena“ ist eine vierstimmige Motette, wahrscheinlich in den 1470er- Jahren entstanden. Sie gilt als ein Paradebeispiel für Josquins Meisterschaft in der Vokalpolyphonie.
Die Struktur des Werks folgt dem Text in Abschnitten – jeder Teil ist einem Titel Mariens oder einem Aspekt ihres Lebens gewidmet. Die Musik reflektiert den Text durch sorgfältig gestaltete Imitationen, Homophonie, motivische Entwicklung und eine klare Textverständlichkeit.
Das Werk beginnt mit einem feierlichen Kanon („Ave Maria, gratia plena“), in dem jede Stimme nacheinander das Thema aufgreift – ein kunstvolles Abbild marianischer Erhabenheit. Im weiteren Verlauf werden die Abschnitte freier und expressiver, was der Frömmigkeit und Emotionalität des Textes entspricht.
Die Motette beginnt mit einer kunstvoll gestalteten Durchimitation, in der jede Stimme nacheinander das Thema aufgreift. Dieses Verfahren verleiht dem Eingang eine feierliche Würde und lässt den marianischen Charakter des Textes auf eindrucksvolle Weise hörbar werden.
Im weiteren Verlauf setzt Josquin gezielt Kontraste zwischen imitierenden und homophonen Abschnitten ein, wodurch er dem Text eine lebendige und zugleich meditative Tiefe verleiht. Die Musik bleibt dabei stets klanglich ausgewogen, nie überladen, sondern transparent und dem Wortlaut verpflichtet. Besonders eindrucksvoll ist der Moment, in dem die Bitte „O Mater Dei, memento mei“ in langsamer Homophonie erklingt – eine Passage von stiller Innigkeit und kontemplativer Kraft, die zu den bewegendsten Augenblicken der Renaissance-Vokalmusik zählt.
Das Hilliard Ensemble interpretiert dieses Werk mit großer Klarheit, schlanker Stimmführung und makelloser Intonation. Unter der Leitung von Paul Hillier wird jede Stimme fein abgestimmt und die polyphone Struktur mit höchster Präzision zum Klingen gebracht. Die Textverständlichkeit bleibt stets gewahrt, was besonders bei einem Werk wie diesem von zentraler Bedeutung ist, da Text und Musik bei Josquin untrennbar miteinander verwoben sind.
Der lateinische Text des Stücks lautet:
Ave Maria, gratia plena, Dominus tecum,
benedicta tu in mulieribus,
et benedictus fructus ventris tui, Jesus.
O Maria, virgo serena,
virgo gloriosa, virgo coelestia,
mater Dei, ora pro nobis tuum Filium,
dele nostra peccamina,
et da nobis gloriam sempiternam.
O Mater Dei, memento mei. Amen.
Ins Deutsche übersetzt:
"Gegrüßet seist du, Maria, voll der Gnade,
der Herr ist mit dir,
du bist gebenedeit unter den Frauen,
und gebenedeit ist die Frucht deines Leibes, Jesus.
O jungfräuliche Maria,
Ruhmwürdige, Erhabene,
immer heilige Mutter Gottes,
bitte für uns deinen geliebten Sohn,
unsere Sünden zu tilgen
und uns der himmlischen Glorie teilhaftig zu machen.
O Mutter Gottes, gedenke meiner. Amen."
Track 2: "Absalon, fili mi" (attrib.)
https://www.youtube.com/watch?v=rjwH_euvWUg
Das zweite Stück auf der CD „Motets et Chansons“ trägt den Titel „Absalon, fili mi“, ein Werk von großer emotionaler Dichte, das lange Zeit Josquin Desprez zugeschrieben wurde, dessen Autorschaft heute jedoch umstritten ist. Einige Musikwissenschaftler vermuten, dass die Motette aus dem Umkreis Josquins stammt, etwa von Pierre de La Rue (um 1460 - 1518) oder einem anderen franko-flämischen Komponisten der Generation um 1500. Die Zuschreibung an Josquin basiert vor allem auf der überlieferten Qualität und dem Ausdrucksgehalt, doch stilistische Analysen sprechen für eine andere Hand.
Die Motette ist vierstimmig gesetzt und von düsterem, fast klagendem Charakter. Sie vertont den berühmten Ausruf aus dem Alten Testament, mit dem König David den Tod seines aufständischen Sohnes Absalom betrauert. Der biblische Text wird hier erweitert und poetisch ausformuliert, wodurch ein geistliches Klagelied von großer Tiefe und Würde entsteht. Die Musik steht ganz im Dienst dieses Ausdrucks: in einer dunklen Tonlage gehalten, mit tief liegenden Stimmen und einem getragenen Tempo, das den Schmerz und die Verzweiflung des Vaters musikalisch eindringlich verkörpert.
Im musikalischen Aufbau zeigt sich eine enge Verknüpfung von Text und musikalischer Geste. Die Linien entfalten sich langsam, fast zögerlich, und werden immer wieder von Pausen durchzogen, die wie Seufzer wirken. Die Harmonien sind von einer gravitätischen Dichte, die sich dennoch nie ins Undurchsichtige verliert. Besonders hervorzuheben ist die Art, wie die tiefen Stimmen ein Fundament der Trauer legen, über dem die Oberstimmen wie wehklagende Rufe schweben. Die polyphone Arbeit ist kunstvoll, doch nie vordergründig; sie dient ganz dem Ausdruck einer rituellen, fast liturgischen Trauer.
Das Hilliard Ensemble trifft den Ton dieser Motette mit großer Sorgfalt. Die dunkle Klangfarbe der Männerstimmen verleiht der Musik eine eindringliche Tiefe. Paul Hillier lässt dem Werk viel Raum zur Entfaltung, wodurch jeder Akkord, jede Wendung und jede Generalpause ihre volle Wirkung entfalten kann. Die Interpretation vermeidet jede Theatralik und setzt stattdessen auf eine stille, würdevolle Darstellung, die dem spirituellen Gehalt des Stücks gerecht wird.
Der lateinische Text lautet:
"Absalon, fili mi, quis det ut moriar pro te?
O fili mi Absalon!
Heu, me, fili mi Absalon!
Si in foveam descendam,
fili mi Absalon!
Parce mihi, Domine,
nihil enim sunt dies mei."
Ins Deutsche übersetzt:
"Absalom, mein Sohn, wer gibt, dass ich für dich sterbe?
O mein Sohn Absalom!
Weh mir, mein Sohn Absalom!
Wenn ich hinabsteige ins Grab,
mein Sohn Absalom!
Erbarme dich meiner, Herr,
denn nichts sind meine Tage."
Track 3: Motette "Veni Sancte Spiritus"
https://www.youtube.com/watch?v=DNd6572KWsE
Die Motette, das dem Pfingstfest gewidmet ist und auf der berühmten Sequenz "Veni Sancte Spiritus" basiert, ist dem Heiligen Geist als göttlicher Lebensspender gewidmet. In der Tradition der liturgischen Musik nimmt diese Pfingstsequenz eine herausragende Stellung ein, und Josquin Desprez – dem das Werk zumeist zugeschrieben wird – greift den Text in einer vertonten Form auf, die sowohl von kontemplativer Andacht als auch von kompositorischer Raffinesse geprägt ist.
Die Motette entfaltet sich in ruhigem, meditativen Tempo. Von Anfang an entsteht eine feierliche Atmosphäre, die durch die gleichmäßige Bewegung der Stimmen und die weiten Intervalle eine gewisse Transzendenz vermittelt. Der Anfang ist von einem zurückhaltenden, fast schwebenden Klangcharakter geprägt, der ganz im Zeichen der Anrufung des Heiligen Geistes steht. Josquin – oder der anonyme Komponist dieser Motette – gestaltet die Musik als feierliches Gebet, das in seiner klaren polyphonen Struktur die Worte des liturgischen Textes ausdeutet.
Musikalisch lebt das Stück von der engen Imitation der Stimmen, die jedoch nie in formale Starrheit verfällt, sondern stets flexibel auf den Text reagiert. Zwischen den imitierenden Passagen treten immer wieder homophone Momente auf, in denen alle Stimmen gemeinsam die Anrufung verstärken. Dabei bewahrt die Musik stets eine gewisse Innigkeit. Die Klangbalance ist sorgfältig austariert: keine Stimme dominiert, vielmehr ergibt sich ein gleichmäßiges, ruhiges Klanggewebe. Die Musik scheint weniger auf dramatische Höhepunkte hinzuzielen als vielmehr auf eine durchgehende Atmosphäre der Sammlung und des inneren Gebets.
Der lateinische Text der Sequenz lautet in der Motettenfassung:
Veni, Sancte Spiritus,
et emitte caelitus
lucis tuae radium.
Veni pater pauperum,
veni dator munerum,
veni lumen cordium.
Ins Deutsche übersetzt:
"Komm, Heiliger Geist,
und sende vom Himmel her
den Strahl deines Lichtes.
Komm, Vater der Armen,
komm, Spender der Gaben,
komm, Licht der Herzen."
Track 4: Motette "De profundis clamavi"
https://www.youtube.com/watch?v=fVVQLrrjdDA
Die Motette „De profundis clamavi“ ist eine Vertonung des Psalmverses: "Aus der Tiefe rufe ich, Herr, zu dir..."
Dieser Text aus Psalm 130 gehört zu den sogenannten „Bußpsalmen“ und ist in der christlichen Tradition tief verwurzelt, insbesondere im liturgischen Kontext der Totenmesse oder der Fastenzeit. Die Vertonung, die Josquin Desprez zugeschrieben wird, spiegelt die existenzielle Dringlichkeit dieses Psalmwortes auf eindringliche Weise wider.
Von der ersten Note an herrscht eine klangliche Tiefe, die durch die tiefe Lage der Stimmen – insbesondere der Bassstimmen – eine besondere Schwere verleiht. Die Musik entfaltet sich langsam und feierlich, fast tastend, als käme der Ruf tatsächlich „aus der Tiefe“. Die Stimmen setzen nacheinander ein, meist in freier Imitation, wodurch ein dichter, aber klar strukturierter polyphoner Klang entsteht. Der Ausdruck ist zurückhaltend, nie aufgesetzt, sondern getragen von innerer Ernsthaftigkeit.
m Verlauf der Motette verleiht Josquin – oder ein anonymer Komponist aus seinem Umfeld – dem Text durch kontrastierende musikalische Mittel Gestalt. Einzelne Worte wie „clamavi“ oder „exaudi“ werden hervorgehoben, ohne dass sie überbetont würden. Besonders wirkungsvoll ist die Passage „Fiant aures tuae intendentes“, in der die Musik sich fast flehend nach oben öffnet, als wolle sie sich aus der Tiefe emporheben – ein Moment intensiver musikalischer Gebetssprache.
Das Hilliard Ensemble gestaltet diese Motette mit großer Innerlichkeit. Die Stimmen bleiben stets transparent, die Phrasierung ist subtil und sehr bewusst auf den Ausdruck des Textes abgestimmt. Paul Hillier achtet auf eine gleichmäßige Dynamik, sodass das Stück seine fast kontemplative Ruhe bewahrt. Dabei entsteht eine Atmosphäre schlichter Größe, die nicht von äußeren Effekten lebt, sondern von der Wirkung des schlichten, ernsten Klangs.
Der lateinische Text lautet:
De profundis clamavi ad te, Domine.
Domine, exaudi vocem meam.
Fiant aures tuae intendentes
in vocem deprecationis meae."
Ins Deutsche übersetzt:
"Aus der Tiefe rufe ich, Herr, zu dir.
Herr, höre meine Stimme.
Lass deine Ohren merken
auf die Stimme meines Flehens."
Track 5: "Scaramella va alla guerra and Scaramella fa la galla"
https://www.youtube.com/watch?v=1JsFR8xbXA8
Der fünfte Track der CD vereint zwei kurze und heitere Chansons, die unter dem Namen „Scaramella va alla guerra“ und „Scaramella fa la galla“ bekannt sind. Diese Stücke stehen in deutlichem Kontrast zu den vorhergehenden ernsten Motetten und zeigen eine andere, spielerische Seite des Repertoires – eine Musik, die sich an der Grenze zwischen Volkslied und Kunstlied bewegt. Die Zuschreibung an Josquin Desprez ist in beiden Fällen nicht unumstritten, wird aber vielfach für wahrscheinlich gehalten.
„Scaramella va alla guerra“ („Scaramella zieht in den Krieg“) ist eine lebendige, fast tänzerische Komposition, die ein burleskes Bild eines Soldaten zeichnet, der sich zum Krieg rüstet – nicht ohne Ironie. Der Name „Scaramella“ deutet auf eine komische Figur hin, möglicherweise eine frühe literarische oder volkstümliche Gestalt, die sich durch Prahlerei, Tollpatschigkeit oder Übermut auszeichnet. Die Musik spiegelt diesen Charakter wider: Der Rhythmus ist markant, fast marschartig, mit pulsierenden Wiederholungen und einer eingängigen Melodik, die an die Tradition des italienischen frottole-Stils erinnert. Die Struktur ist einfach und strophisch, mit klarer Gliederung und häufigem Einsatz syllabischer Textvertonung, was zur Verständlichkeit des Textes beiträgt.
Das zweite Stück, „Scaramella fa la galla“ („Scaramella gibt an“ oder auch „tut vornehm“), setzt die burleske Erzählung fort. Hier steht der komische Aspekt noch deutlicher im Vordergrund: Scaramella scheint sich nach seinen Kriegserfahrungen aufzuspielen oder in lächerlicher Weise zur Schau zu stellen. Auch musikalisch ist diese Chanson tänzerisch angelegt, mit betonten Rhythmen, lebendiger Dynamik und einem fast improvisatorischen Charakter. Die Stimmen imitieren sich nur gelegentlich; im Vordergrund steht vielmehr der rhythmisch gefasste Textfluss, der mit Witz und Energie vorgetragen wird.
Das Hilliard Ensemble bringt beide Stücke mit viel Leichtigkeit und Charme zur Geltung. Die Sänger bewahren eine gewisse stilistische Strenge, lassen aber gleichzeitig Raum für eine ironische Note in der Interpretation. Paul Hillier gelingt es, diesen leichten, volkstümlichen Ton genau zu treffen, ohne ins Parodistische zu verfallen. Die Artikulation ist präzise, die rhythmische Gestaltung lebendig, und die Freude an der Musik spürbar – ein Moment des musikalischen Schmunzelns mitten in einem ansonsten eher kontemplativen Repertoire.
Die Originaltexte dieser beiden Chansons sind größtenteils volkstümlich und in einfachem, norditalienischem Idiom gehalten. Hier eine sinngemäße Annäherung an den Inhalt von „Scaramella va alla guerra“:
Scaramella zieht in den Krieg,
mit Schild und Lanze, wohl bewaffnet.
Er marschiert mit stolzem Schritt,
und niemand ist so tapfer wie er.
Und zu „Scaramella fa la galla“:
"Scaramella gibt an,
tut, als wär er ein großer Herr.
Doch wer genau hinsieht,
merkt: er ist nur ein Aufschneider."
Beide Stücke sind kleine Kabinettstücke humorvoller Vokalpolyphonie – kurze, eingängige Werke, die das Repertoire der Renaissance mit einer fröhlichen Note bereichern.
Track 6: "In te Domine speravi, per trovar pietà"
https://www.youtube.com/watch?v=DDqhUeqxBcw
Der sechste Track der CD vereint auf eindrucksvolle Weise geistliche und weltliche Sphären: „In te Domine speravi, per trovar pietà“ ist ein kunstvoller Doppeltextsatz, in dem zwei verschiedene Texte – einer auf Latein, einer auf norditalienisch – gleichzeitig vertont werden. Diese Kompositionstechnik war im 15. Jahrhundert ein beliebtes Mittel, um vielschichtige Aussagen musikalisch zu gestalten. Die Zuschreibung an Josquin Desprez ist nicht ganz gesichert, doch viele stilistische Merkmale sprechen für seine Urheberschaft oder zumindest für seine Schule.
Der lateinische Text „In te Domine speravi“ stammt aus Psalm 30 und ist ein klassisches Gebet um göttlichen Beistand: „Auf dich, o Herr, habe ich gehofft“. Der italienische Text „Per trovar pietà“ – was sinngemäß „um Erbarmen zu finden“ bedeutet – ist hingegen eine klagende, weltliche Bitte um Liebe oder Gnade, wie sie aus der höfischen Liebeslyrik bekannt ist. Durch die Kombination beider Texte entsteht eine vieldeutige Botschaft: Das Vertrauen auf göttlichen Beistand und die Sehnsucht nach menschlicher Zuwendung stehen hier kunstvoll nebeneinander – vielleicht sogar als Ausdruck spiritueller wie emotionaler Bedürftigkeit.
Musikalisch ist das Stück äußerst raffiniert. Die Stimmen, die den lateinischen Text singen, bewegen sich eher ruhig und getragen; sie entfalten die Bitte um göttliche Hilfe mit großer Ernsthaftigkeit und kontemplativer Tiefe. Die italienischen Textzeilen hingegen sind lebendiger, manchmal fast dringlich – als drängten sie sich gegen das statuarische Gebet des lateinischen Teils. Josquin (oder ein Komponist seines Umfelds) gelingt es, beide Ebenen kunstvoll miteinander zu verweben, ohne dass die Verständlichkeit oder Klarheit verloren geht. Dabei entsteht ein polyphones Gewebe von großer Dichte und Ausdruckskraft.
Das Hilliard Ensemble meistert diese anspruchsvolle Text- und Stimmverflechtung mit bewundernswerter Transparenz. Die Stimmen bleiben jederzeit differenziert hörbar, selbst dort, wo die rhythmische Bewegung dichter wird. Paul Hillier achtet darauf, dass der geistliche Ton des lateinischen Textes erhalten bleibt, während die italienische Linie mit leichter expressiver Färbung versehen wird. Die Wirkung ist von großer innerer Spannung – zwischen Bitte und Verzweiflung, zwischen himmlischer Hoffnung und irdischer Sehnsucht.
Hier ein Auszug aus dem lateinischen Text:
In te, Domine, speravi, non confundar in aeternum:
in justitia tua libera me.
(Auf dich, o Herr, habe ich gehofft, ich werde in Ewigkeit nicht zuschanden werden; in deiner Gerechtigkeit befreie mich.)
Und aus dem italienischen Text (sinngemäß):
Per trovar pietà, chiamo e sospiro:
la mia speranza è morta".
(Um Erbarmen zu finden, rufe ich und seufze; meine Hoffnung ist gestorben.)
Dieses Stück gehört zu den feinsten Beispielen doppelbödiger Renaissancemusik – ein Werk, das gleichermaßen meditative Tiefe wie subtile Emotion transportiert.
Track 7: „El grillo“ („Die Grille“) - nicht vorhanden auf den japanischen YouTube-Kanal; dafüt poste ich die gleiche Version des Liedes, aus anderen CD, auch von Hilliard Ensemble.
https://www.youtube.com/watch?v=UOUSestsfbEv
Dieses Stück zählt zu den bekanntesten weltlichen Werken Josquin Desprez’ und ist ein Paradebeispiel für die italienische Frottola – eine populäre Liedform des frühen 16. Jahrhunderts.
„El grillo“ ist ein vierstimmiges, syllabisch vertontes Lied, das durch seine rhythmische Lebendigkeit und lautmalerische Gestaltung besticht. Josquin imitiert darin das Zirpen einer Grille, indem er kurze, wiederholte Notenfolgen verwendet, die das charakteristische Geräusch des Insekts nachahmen. Die Stimmen bewegen sich in enger Homophonie, was dem Stück eine tänzerische Leichtigkeit verleiht.
Ein markantes Merkmal ist die Verwendung von Repetitionen und Onomatopoesie, durch die die Musik den Text humorvoll unterstreicht. Die Struktur des Liedes folgt einem einfachen Refrain-Strophen-Muster, das typisch für die Frottola ist.
Der Text übersetzt ins Deutsche:
El grillo – Die Grille
"Die Grille ist ein guter Sänger,
sie hält ihre Töne lang.
Gib ihr zu trinken – sie singt weiter.
Doch sie macht’s nicht wie andre Vögel,
die, kaum haben sie ein wenig gesungen,
sich schon an einen anderen Ort verdrücken.
Die Grille bleibt standhaft und treu,
und wenn die Hitze am größten ist,
dann singt sie – einzig aus Liebe."
Track 8: Chanson "Mille regretz" a 4
https://www.youtube.com/watch?v=1fSZ7sTYNTM
Der schlichte, eindringliche Text und die reduzierte, aber tief ausdrucksvolle musikalische Gestaltung haben dieses Stück zu einem der meistrezipierten Lieder der Renaissance gemacht. Obwohl die Autorschaft nicht mit letzter Sicherheit bestätigt ist, galt „Mille regretz“ bereits im 16. Jahrhundert weithin als Josquins Werk – unter anderem durch den Verweis von Kaiser Karl V. (150 - 1558, Kaiser von 1529), der das Stück als sein Lieblingslied bezeichnete.
Der frühfranzösische Text ist knapp und konzentriert, aber von großer emotionaler Dichte. Er lautet:
Frühfranzösisch:
Mille regretz de vous abandonner
et d'eslonger vostre fache amoureuse.
Jay si grand dueil et paine douloureuse,
qu'on me verra brief mes jours definer."
Deutsch (sinngemäß):
"Tausendfacher Schmerz, Euch zu verlassen
und fern zu sein von Eurem lieblichen Angesicht.
Ich empfinde so großen Kummer und schmerzhafte Pein,
dass man mich bald sterben sehen wird."
Die Musik steht ganz im Dienst dieser schlichten, aber herzzerreißenden Botschaft. Das Chanson beginnt mit einer zarten, fast resignativen Melodie, die in allen Stimmen in enger Imitation erscheint. Die musikalische Textur ist durchsichtig, fast fragil. Der klagende Ton wird nicht durch expressive Ausbrüche, sondern durch die Zurückhaltung und die sparsame Verwendung musikalischer Mittel erzeugt. Die Harmonien bewegen sich langsam und mit großer Vorsicht, fast als müsste jede Wendung abgewogen werden. Diese musikalische Sparsamkeit macht das Stück besonders eindrucksvoll: Es wirkt wie ein leiser, verhaltener Abschied.
Besonders berührend ist die Vertonung des Ausdrucks „dueil et paine douloureuse“ – der Schmerz ist hier nicht laut oder theatralisch, sondern von einer fast sprachlosen Tiefe. Die Stimmen sinken ab, die Bewegung wird langsamer, die Harmonien dunkler. Der letzte Vers deutet die eigene Sterblichkeit an – und auch hier folgt die Musik dieser Idee, indem sie sich nach und nach in die Tiefe zurückzieht.
Das Hilliard Ensemble gestaltet dieses zarte Meisterwerk mit größter Zurückhaltung und einer beinahe kammermusikalischen Intimität. Die Stimmen sind perfekt aufeinander abgestimmt, der Ausdruck nie übertrieben, sondern ganz auf innere Anteilnahme konzentriert. Paul Hillier vermeidet jede Überinterpretation und lässt die Wirkung der Musik aus sich selbst heraus entstehen. Das Ergebnis ist eine Interpretation von großer Würde und stiller Kraft – ein idealer Ausdruck des melancholischen Geistes dieses Chansons.
„Mille regretz“ ist ein musikalisches Kleinod, das trotz seines schlichten Umfangs eine ganze Welt von Trauer, Sehnsucht und Abschied in sich trägt – ein leiser, aber eindringlicher Höhepunkt der gesamten CD.
Track 9: Chanson „Petite camusette“
https://www.youtube.com/watch?v=BJPI0Kz1X2A
„Petite camusette“, ein kurzes, leichtes und äußerst charmantes Lied, das wahrscheinlich Josquin Desprez zuzuschreiben ist, auch wenn die Quellenlage – wie bei vielen weltlichen Werken jener Zeit – nicht eindeutig ist. Das Stück steht ganz in der Tradition der spätmittelalterlichen französischen Liebesdichtung, ist dabei aber von einer entwaffnenden Schlichtheit und Melodiosität geprägt, die es zu einem wahren Kleinod der Renaissance-Kunstliedtradition machen.
Der Text richtet sich an ein junges Mädchen – die „kleine Camusette“, ein Kosename, der sich vermutlich vom mittelfranzösischen camus ableitet, was so viel bedeutet wie „mit Stupsnase“ oder allgemein „lieblich, zierlich“. Gemeint ist also eine zarte, möglicherweise etwas scheue junge Frau, der der Sprecher in liebevoller, beinahe kindlicher Sprache seine Zuneigung erklärt.
Musikalisch ist „Petite camusette“ ein typisches dreistimmiges Chanson, das sich durch rhythmische Lebendigkeit und eingängige Melodieführung auszeichnet. Die Stimmen bewegen sich in enger Verzahnung, imitieren sich jedoch nicht streng polyphon, sondern wechseln zwischen kurzen imitatorischen Phrasen und homophonen, fast liedhaften Abschnitten. Die Musik ist eher syllabisch und leichtfüßig, was der scherzhaften, zärtlichen Grundhaltung des Textes sehr entgegenkommt. Die Melodie bleibt im Ohr – sie ist tänzerisch und gleichzeitig zärtlich zurückhaltend. Anders als viele ernste Chansons der Zeit steht hier das Vergnügen an der melodischen Linie und der kleinen Form im Vordergrund.
Das Hilliard Ensemble bringt diese verspielte Leichtigkeit mit feinem Gespür für Balance und Klangfarbe zur Geltung. Die Sänger lassen ihre Stimmen sanft miteinander verschmelzen, wobei jeder Ton artikuliert und dennoch natürlich wirkt. Paul Hillier wahrt dabei einen Ton, der nie ins Übertrieben-Komische kippt, sondern dem Stück eine feine Eleganz verleiht – als handele es sich um eine musikalische Miniatur, die mit einem Lächeln vorgetragen wird.
Der Text des Stücks lautet im Original:
Mittelfranzösisch:
Petite camusette
Ma mignonne brunette
Je vous doy bien aimer.
Car sans point de faintise
Votre gente franchise
Me fait reconforter.
Deutsche Übersetzung:
"Kleine Stupsnase,
meine hübsche Dunkelhaarige,
ich muss Euch wirklich lieben.
Denn ohne jede Falschheit
bringt eure anmutige Offenheit
mir Trost und Freude."
„Petite camusette“ ist ein lyrischer Moment voller Anmut – zart, verspielt, innig und mit einem leichten Augenzwinkern versehen. Innerhalb des Programms der CD bietet dieses Stück einen liebenswerten Kontrast zu den ernsten Motetten und beweist, wie souverän sich Josquin auch im kleineren, intimen Format des Chansons ausdrücken konnte.
Track 10: Chanson "Je me complains"
https://www.youtube.com/watch?v=d0rSkYJxkAc
Track 10: Chanson "Je me complains"
„Je me complains“, ein Werk voller Melancholie und innerer Zerrissenheit, das exemplarisch für die emotional tiefgründige Seite der französischen Liedkunst des späten 15. Jahrhunderts steht. Die Komposition wird häufig Josquin Desprez zugeschrieben, obgleich – wie bei vielen seiner Chansons – die Autorschaft nicht vollkommen gesichert ist. Stilistisch jedoch spricht vieles für seine Hand: die feine melodische Linienführung, die dichte, aber klare Polyphonie und die tief empfundene Textausdeutung.
„Je me complains“ bedeutet wörtlich: „Ich beklage mich“, oder freier übersetzt: „Ich klage mein Leid.“ Der Sprecher richtet seine Worte an eine geliebte Person, der er sich anvertraut – in einer Sprache, die zart, zurückhaltend, beinahe schüchtern wirkt. Die Klage ist nicht laut, nicht verzweifelt, sondern von einem leisen, anhaltenden Schmerz durchzogen. Das Thema des unerwiderten oder missverstandenen Liebens war in der höfischen Dichtung jener Zeit allgegenwärtig – hier aber wird es mit besonderer Innigkeit behandelt.
Musikalisch bewegt sich das Stück in einem mittleren Tempo, mit fließender rhythmischer Bewegung. Die Stimmen imitieren sich nicht streng, sondern greifen melodische Motive locker auf und geben sie weiter. Immer wieder finden sich kurze homophone Passagen, die wie kleine Seufzer wirken – fast als würde sich der Sprecher in seiner Klage kurz sammeln, bevor er erneut seine Gedanken in Bewegung bringt. Die Harmonik ist schlicht, aber wirkungsvoll; sie unterstreicht die Stimmung der resignierten Trauer, ohne in Schwermut zu versinken.
Das Hilliard Ensemble bringt diesen Charakter mit besonderer Sensibilität zur Geltung. Der Gesang bleibt transparent und fein phrasiert, die Linien sind weich miteinander verbunden. Paul Hillier führt die Stimmen mit ruhiger Hand durch die empfindsame Polyphonie, wobei stets das Gefühl im Vordergrund steht – nicht das kunstvolle Gefüge, sondern der innere Ausdruck. So entsteht eine Interpretation, die tief anrührt, ohne jemals sentimental zu werden.
Der Text des Chansons lautet:
Mittelfranzösisch:
Je me complains piteusement
D'une tres belle amoureuse,
Qui me fait vivre heureusement
Et mourir de mort douloureuse.
Deutsche Übersetzung:
"Ich klage mich in tiefem Schmerz
über eine wunderschöne Liebende,
die mich glücklich leben lässt
und doch an einem schmerzlichen Tod sterben macht."
„Je me complains“ ist ein Lied von stiller Tragik – von der Schönheit der Liebe und dem Leiden, das sie mit sich bringt. Josquin (oder der anonyme Meister) hat diesen Gefühlszustand in Musik verwandelt, die auch heute noch unmittelbar berührt – gerade weil sie auf große Gesten verzichtet und in der Zurückhaltung ihre ganze Kraft entfaltet.
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Track 11: Chansons "En I'ombre d'ung buissonet"
https://www.youtube.com/watch?v=JDABRHcbI3w
„En l’ombre d’ung buissonet“ übersetzt bedeutet: „Im Schatten eines kleinen Gebüschs“. Dieses französische Chanson ist ein typisches Beispiel für die höfische Natur- und Liebesdichtung des späten Mittelalters und der frühen Renaissance – ein lyrisches Kleinbild voller Andeutungen, Sehnsüchte und leiser Melancholie. Die Urheberschaft ist nicht eindeutig belegt, doch wurde das Stück seit dem 16. Jahrhundert verschiedentlich Josquin Desprez zugeschrieben, möglicherweise aufgrund seiner fein gearbeiteten musikalischen Struktur.
Der Text ist ein klassisches Pastorale-Motiv: Ein Sprecher zieht sich in die Natur zurück – unter einen kleinen Strauch –, um nachzudenken, zu trauern oder über sein Liebesleid zu klagen. Der Rückzug in die Einsamkeit der Natur ist dabei nicht nur Ausdruck von Resignation, sondern auch ein Ort der inneren Sammlung und Selbstbetrachtung. Dieser Topos war in der spätmittelalterlichen Lyrik besonders beliebt, etwa bei Charles d’Orléans oder Alain Chartier, und wurde in der Musik vielfach aufgegriffen.
Musikalisch zeichnet sich „En l’ombre d’ung buissonet“ durch eine zarte, liedhafte Struktur aus. Die Komposition ist dreistimmig und bewegt sich in einem fließenden, fast sprechenden Duktus. Es gibt keine aufwendige Imitation oder kontrapunktische Komplexität – vielmehr steht die Klarheit des Textes im Vordergrund. Die Melodie ist schlicht, aber einprägsam, und ruht harmonisch in sich. Sie spiegelt die Stimmung des Textes auf behutsame Weise wider: Es ist keine dramatische Klage, sondern eine stille Reflexion, getragen von stiller Melancholie und der Suche nach innerem Trost.
Das Hilliard Ensemble begegnet diesem Stück mit feinem Gespür für Klangbalance und Phrasierung. Die Stimmen sind leicht, fast schwebend geführt, ohne jede Überzeichnung. Paul Hillier lässt die Musik ganz natürlich fließen, wodurch eine Atmosphäre entsteht, die zwischen Traurigkeit und stiller Schönheit oszilliert. Besonders eindrucksvoll ist, wie das Ensemble die Schlichtheit des Liedes als Stärke ausspielt – nichts wird forciert, und gerade dadurch entsteht ein Gefühl großer Innerlichkeit.
Der Text lautet im Original (Mittelfranzösisch):
En l’ombre d’ung buissonet
A l’entrée d’une journée,
Me suis pourpensé eté,
Ma dolente fortune
Et mon cueur plein de regret.
Deutsche Übersetzung (sinngemäß):
"Im Schatten eines kleinen Gebüschs,
in der Frühe eines Tages,
habe ich nachgedacht
über mein trauriges Schicksal
und mein Herz voll Reue."
„En l’ombre d’ung buissonet“ ist ein leises Lied, das von innerer Bewegung erzählt – von Rückzug, Einsamkeit und der leisen, nach innen gewandten Trauer über unerfüllte Liebe. In seiner Einfachheit liegt eine stille, zeitlose Schönheit, die vom Hilliard Ensemble eindrucksvoll zum Klingen gebracht wird.
Track 12: „Je ne me puis tenir d’aimer“
https://www.youtube.com/watch?v=uRKYRcARtIs
Chanson „Je ne me puis tenir d’aimer“, lässt sich etwa mit „Ich kann mich nicht vom Lieben abhalten“ übersetzen. Dieses kurze, aber ausdrucksstarke Lied ist ein typisches Beispiel für die französische Liebeslyrik am Übergang vom Mittelalter zur Renaissance. Die Urheberschaft ist nicht zweifelsfrei gesichert, wird aber häufig mit Josquin Desprez in Verbindung gebracht – nicht zuletzt wegen der klanglichen Eleganz und der klar strukturierten Stimmführung.
Der Text bringt in knapper Form eine innere Zerrissenheit zum Ausdruck: Der Sprecher ist von der Liebe geradezu überwältigt, kann sich ihr nicht entziehen – auch wenn sie offenbar Leid oder Schwierigkeiten mit sich bringt. Es geht um die Macht der Leidenschaft, die sich dem Willen entzieht. Dieses Thema ist typisch für die fin’amor-Tradition, wird hier jedoch nicht mit höfischem Idealismus, sondern mit fast schlichter Direktheit vorgetragen.
Musikalisch ist das Stück dreistimmig angelegt und bewegt sich im Spannungsfeld zwischen polyphoner Imitation und syllabischer Klarheit. Die Stimmen greifen Motive auf, reichen sie weiter, verweilen aber nicht lange bei kunstvollen Entwicklungen. Vielmehr entsteht ein durchsichtiger, fließender Klang, der sich ganz dem emotionalen Gehalt des Textes unterordnet. Die Musik bleibt schlank und folgt einer regelmäßigen Phrasierung, wobei sich die Zeilen in ihrer melodischen Anlage deutlich voneinander abheben. Dadurch bleibt der Text gut verständlich, was die unmittelbare Wirkung des Liedes unterstützt.
Das Hilliard Ensemble gestaltet „Je ne me puis tenir d’aimer“ mit feinem Gespür für diese Balance aus schlichter Form und innerer Spannung. Die Stimmen sind zurückhaltend geführt, die Interpretation wirkt ruhig und konzentriert. Paul Hillier lässt dem Lied den Raum, den es braucht, um seine zarte Melancholie entfalten zu können, ohne es zu überdehnen oder zu dramatisieren. Es entsteht eine Atmosphäre der stillen Hingabe – als würde der Sänger den Zwiespalt zwischen Vernunft und Gefühl mit leiser Stimme gestehen.
Hier der Text im Original:
Mittelfranzösisch:
Je ne me puis tenir d’aimer,
Si m’est grief quant faut deporter.
Mon cueur ne se puet refrener,
Ne son penser reconforter.
Deutsche Übersetzung:
"Ich kann mich nicht vom Lieben abhalten,
so schwer ist es, auf Trost zu verzichten.
Mein Herz vermag sich nicht zu zügeln
noch seinen Gedanken Trost zu spenden."
„Je ne me puis tenir d’aimer“ ist ein intimes, fast zerbrechliches Stück über das Ausgeliefertsein an die Liebe – eine musikalische Miniatur von stiller Intensität. Das Hilliard Ensemble trifft genau diesen Ton: zurückgenommen, klar, voller innerer Bewegung. Ein leiser, aber bewegender Moment innerhalb des Programms.
Track 13: "La déploration de Jehan Ockeghem"
https://www.youtube.com/watch?v=Bs1gqPcRbygccc
„La déploration de Jehan Ockeghem“, auch bekannt unter dem Anfangsvers „Nymphes des bois“, ist Josquin Desprez’ ergreifende Totenklage auf den Tod seines verehrten Lehrers und Vorgängers Johannes Ockeghem (* nach 1420, † 6. Februar 1497).
Das Werk zählt zu den bedeutendsten musikalischen Trauerstücken der Renaissance und ist ein Schlüsselwerk für das Verständnis von Josquins persönlichem Stil und seinem Selbstverständnis als Teil einer musikalischen Tradition.
Der Text stammt vom Dichter Jean Molinet (1435 - 1507) und ist eine Elegie in französischer Sprache, die in der Form eines poetischen Klagelieds verfasst ist. Josquin vertont diesen Text in einer kunstvollen fünfstimmigen Motette, wobei er in der unteren Stimme das „Requiem aeternam dona eis, Domine“ als liturgisches Cantus-firmus-Zitat einfügt. Diese gleichzeitige Verwendung von französischem Trauergedicht und lateinischer Totenmesse ist ein eindrucksvolles Symbol: Die weltliche Trauer wird mit dem kirchlichen Gebet für die Verstorbenen verbunden – eine Verbindung von Kultur und Liturgie, von Gefühl und Glaube.
Der Text beschwört die Trauer der Musen und Nymphen, die aus den Wäldern herbeieilen, um gemeinsam mit den berühmten Komponisten jener Zeit – namentlich Agricola, Compère, Brumel und Josquin selbst – den Tod Ockeghems zu betrauern. Die Verse sind reich an poetischen Bildern und zugleich sehr konkret im historischen Bezug. Die Musik trägt diesen Charakter auf subtile Weise: Der Beginn ist ruhig, fast stockend – als müsse sich die Trauer erst artikulieren. Die Stimmen setzen nacheinander ein und verschmelzen allmählich zu einem dichten, klagenden Klangbild. Dabei wird der Cantus firmus des Requiem-Gebets langsam und würdevoll durch den Bass geführt – ein musikalisches Fundament der Trauer, auf dem sich die klagenden Stimmen aufbauen.
Josquin gelingt in diesem Werk eine tiefe musikalische Empfindung, ohne dass er zu Pathos oder Überladenheit greift. Die Kunst der Polyphonie wird hier ganz in den Dienst des Ausdrucks gestellt. Besonders eindrucksvoll ist, wie jede Strophe des französischen Gedichts eine neue klangliche Farbe annimmt – mal eindringlich flehend, mal resignativ, mal fast liturgisch entrückt.
Das Hilliard Ensemble interpretiert diese „Déploration“ mit großer Würde und Ernsthaftigkeit. Die Stimmen sind sorgfältig ausbalanciert, jede Stimme fügt sich in das große Ganze ein. Paul Hillier lässt die Musik ruhig atmen, wahrt den zeremoniellen Charakter und bringt zugleich die zarte Emotionalität des Werkes zum Leuchten. Der Requiem-Cantus firmus wird dabei mit besonderer Zurückhaltung hervorgehoben – ein leises, stetiges Gebet unter dem Klang der trauernden Stimmen.
Hier ein Ausschnitt aus dem Text von Jean Molinet in Originalsprache und Übersetzung:
Mittelfranzösisch:
Nymphes des bois, déesses des fontaines,
Chantres experts de toutes nations,
Changez vos voix claires et hautaines
En cris tranchants et lamentations.
Car Atropos, très terrible satrape,
A Ockeghem attrappé en sa trappe…
Deutsch (sinngemäß):
"Nymphen der Wälder, Göttinnen der Quellen,
Sänger aus allen Ländern,
wandelt eure hellen und stolzen Stimmen
in scharfe Schreie und Klagelieder.
Denn Atropos, die grausame, unerbittliche,
hat Ockeghem in ihre Falle gelockt,
den treuen Diener, der stets bereit war,
vor allen anderen seinem Herrn zu dienen.
Er ist tot, er ruht in kühler Erde –
der wahre Bass, das Fundament der Musik,
der Meister, ohnegleichen in seiner Kunst.
Lasst nun Brumel, Compère und Josquin
in schwarzem Kleid und mit Trauerflor
die Totenmesse singen, die er selbst verfasste.
Sie sollen ihre Stimmen senken und in Tränen
den großen Ockeghem beweinen.
Er ist dahin – unser Licht, unser Stern.
Musik, du wirst ihn nie ersetzen.
Möge Gott seine Seele in Frieden ruhen lassen. Amen."
„La déploration de Jehan Ockeghem“ ist ein musikalisches Denkmal – nicht nur ein persönlicher Abschied Josquins von seinem Lehrer, sondern ein Ausdruck von Kontinuität, von musikalischer Brüderlichkeit und spirituellem Respekt. Es ist das feierliche Finale dieser CD – und zugleich ein stilles Gebet für die Toten.
