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Jean Richafort (* um 1480 – † 1547)

Jean Richafort war ein franko-flämischer Komponist der Renaissance. Er zählt zur zweiten Generation der franko-flämischen Schule nach Josquin Desprez. Sein Schaffen umfasst vor allem geistliche Musik, darunter Messen, Motetten, Magnificat-Vertonungen und Hymnen, daneben auch einige weltliche Chansons. Besonders bekannt ist seine „Missa pro defunctis“ (Requiem), die vermutlich als Totenmesse zu Ehren Josquins komponiert wurde – eines der frühesten Requiems in durchkomponierter polyphoner Form. Richaforts Musik ist durch reiche kontrapunktische Strukturen und eine klare textliche Durchhörbarkeit gekennzeichnet, was ihn zu einem wichtigen Vertreter des Übergangs von der spätmittelalterlichen Polyphonie zur Hochrenaissancemusik macht. Er wirkte vermutlich in den burgundisch-habsburgischen Niederlanden und stand zeitweise im Dienst der französischen Könige sowie des habsburgischen Hofes.

1. Emendemus in melius (2 pars)

Fol. 44v–47 —4 Stimmen


Lateinischer Text:


Emendemus in melius quae ignoranter peccavimus,
ne subito praeoccupati die mortis
quaeramus spatium poenitentiae
et invenire non possimus.
Attende, Domine, et miserere,
quia peccavimus tibi.

Deutsche Übersetzung:


Bessern wir in Güte, was wir unwissend gesündigt haben,
damit wir nicht plötzlich vom Tag des Todes ereilt werden,
dann Zeit zur Buße suchen
und sie nicht finden.
Achte auf uns, o Herr, und erbarme dich,
denn wir haben gegen dich gesündigt.

 

Die Antiphon Emendemus in melius gehört zu den eindringlichsten Texten der Fastenzeit. Ihr schlichter Wortlaut ist eine Mahnung zur Umkehr, die Gläubigen sollen ihre Verfehlungen erkennen und noch rechtzeitig Buße tun, bevor der Tod sie unvorbereitet trifft. Der kurze Text entfaltet in den großen polyphonen Vertonungen des 16. Jahrhunderts – etwa bei William Byrd (um 1540–1623) oder Cristóbal de Morales (1500–1553) – eine ungeheure musikalische Intensität.

Aus den wenigen Verszeilen entsteht ein weitgespanntes Klanggewebe: der eröffnende Ruf Emendemus in melius wird mit gedehnten Linien und sich überlagernden Imitationen ausgestaltet, als wolle die Musik den Hörer unentrinnbar an die Dringlichkeit des Appells binden. Der Mittelteil (ne subito praeoccupati die mortis...) steigert die Spannung durch eine eng geführte kontrapunktische Dichte, die das Bild der plötzlich hereinbrechenden Todesstunde fast körperlich spürbar macht. Wenn schließlich die Worte Attende, Domine, et miserere, quia peccavimus tibi erklingen, hellt sich die Harmonik auf, und die Stimmen flehen gleichsam gemeinsam um Erbarmen.

So wird aus dem knappen liturgischen Text eine beinahe neuneinhalbminütige geistliche Meditation. Die Komponisten der Hochrenaissance verstanden es, die Kürze der Vorlage durch musikalische Dehnung, Wiederholung und kunstvolle Stimmführung in ein spirituelles Erlebnis zu verwandeln. Das Werk ist damit nicht nur Bußgesang, sondern auch ein eindrucksvolles Beispiel für die Kraft polyphoner Rhetorik, die den Hörer in einen Zustand innerer Sammlung und ernsthafter Reflexion führt.

 

2. Veni sponsa Christi

Fol. 43v–145 — 4 Stimmen

 

 

 

 

 

 

 

 

 


Lateinischer Text:


Veni, sponsa Christi, accipe coronam,
quam tibi Dominus praeparavit in aeternum
pro quo sanguinem tuum fudisti.
Alleluia.

Deutsche Übersetzung:


Komm, Braut Christi, empfange die Krone,
die der Herr dir in Ewigkeit bereitet hat,
für den du dein Blut vergossen hast.
Halleluja.

 

Die Antiphon Veni sponsa Christi gehört zum Offizium der Heiligen Jungfrauen und wird in der Liturgie etwa am Gedenktag von Märtyrerinnen oder Ordensfrauen gesungen. Der Text ist geprägt von der Bildsprache des Hohenlieds und deutet die jungfräuliche Braut als Sinnbild der Seele, die Christus als himmlischen Bräutigam empfängt.

In den musikalischen Fassungen des 16. Jahrhunderts – unter anderem bei Giovanni Pierluigi da Palestrina (1525–1594) oder in zahlreichen anonymen Quellen – erscheint Veni sponsa Christi als erhabener Gesang, der das Triumphale ebenso wie das Innige verbindet. Der Eröffnungsruf Veni sponsa Christi wird mit feierlichen Akkorden oder imitatorischen Einsätzen hervorgehoben, als feierlicher Einzug der Braut in den himmlischen Hochzeitssaal. Der anschließende Abschnitt, in dem sie mit dem Siegeskranz der Gerechtigkeit geschmückt wird, entfaltet sich in schwebenden Linien, die den Glanz des ewigen Lebens musikalisch ausmalen.

Die Komponisten lassen die Stimmen im letzten Teil zu einem harmonischen Einklang finden, wenn das Bild des unvergänglichen Kranzes (accipies coronam...) und des unsterblichen Lebens (quod tibi donavit in aeternum) erscheint. So wird das Werk zu einer klingenden Apotheose der Reinheit, des Martyriums und der ewigen Belohnung.

In der musikalischen Ausdeutung verbindet sich die knappe Antiphon mit der polyphonen Pracht der Renaissancekunst. So erhält die liturgische Formel eine zeitlose Strahlkraft: Sie ist zugleich Bekenntnis der Kirche und poetisches Sinnbild für den Sieg des Glaubens über Leid und Tod.

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