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Pierre de la Rue (um 1452–1518)

Pierre de la Rue zählt zu den herausragendsten Komponisten der franko-flämischen Schule an der Wende vom 15. zum 16. Jahrhundert. Geboren wurde er vermutlich in Tournai, einer Stadt mit reicher kirchlicher Tradition und einer angesehenen Chorschule. Über seine Jugendjahre ist wenig bekannt, doch es ist anzunehmen, dass er schon früh eine solide musikalische Ausbildung erhielt, möglicherweise in der Kathedrale seiner Heimatstadt. Frühere Dokumente nennen ihn unter verschiedenen Namensformen, was typisch für die Zeit ist und die Spurensuche nicht leicht macht. Erste belegte Stationen führen ihn als Sänger in die Kathedrale von Brüssel, danach nach Gent und Nieuwpoort.

Einen entscheidenden Wendepunkt markierte das Jahr 1492, als er in die Hofkapelle der Habsburger, die sogenannte Grande Chapelle, eintrat. Hier begann eine Karriere, die ihn in den Dienst mehrerer Generationen stellte: Maximilian I., Philipp der Schöne, Margarete von Österreich und schließlich Karl V. Seine Anstellung am Hof war ungewöhnlich stabil, denn anders als viele seiner Kollegen wechselte er nicht zwischen zahlreichen Höfen, sondern blieb über Jahrzehnte einem einzigen Zentrum treu. Dies bot ihm nicht nur ein gesichertes Auskommen, sondern auch die Möglichkeit, ein umfangreiches und vielfältiges Œuvre zu schaffen.

Mit der Hofkapelle nahm de la Rue an zahlreichen Reisen teil, die oft diplomatischen Zwecken dienten. Besonders bemerkenswert sind die Unternehmungen nach Spanien in den Jahren 1501–1502, die ihn in Berührung mit einer anderen musikalischen Tradition brachten. Diese Kontakte erweiterten seinen Horizont und hinterließen Spuren in seinem Werk, etwa in der Gestaltung von Melodielinien und im Umgang mit rhythmischer Vielfalt.

Sein kompositorisches Schaffen ist beeindruckend. Überliefert sind mehr als 30 Messen, eine Vielzahl von Motetten, Magnificat-Zyklen, Hymnen, geistliche Lieder und weltliche Chansons. Er gilt als einer der ersten, der ein vollständiges Magnificat-Zyklus hinterließ, und als früher Meister der polyphonen Requiem-Messe, möglicherweise komponiert zum Andenken an Philipp den Schönen. Die Musik de la Rues ist gekennzeichnet durch einen dunklen, vollen Klang, der oft durch eine ausgeprägte Bassführung getragen wird. Er liebte komplexe kontrapunktische Strukturen, besonders Kanons und Mensurkanons, die er mit technischer Brillanz einsetzte. Seine „L’homme armé“-Messen sind Musterbeispiele für diesen kunstvollen Stil.

De la Rue war kein Komponist der leichten, flüchtigen Effekte. Seine Musik verlangt vom Hörer Aufmerksamkeit und Offenheit für subtil aufgebaute Klangarchitekturen. In seinen Motetten verbinden sich kontemplative Tiefe und expressive Dichte, oft mit einer fast meditativen Ruhe. Zugleich wusste er, wie man aus einem gegebenen Thema über lange Strecken spannungsreiche Entwicklungen formt, ohne den inneren Fluss zu verlieren.

Ein weniger bekannter, aber aufschlussreicher Aspekt ist die enorme Präsenz seiner Werke in den prachtvollen Handschriften des habsburgischen Hofes. In manchen dieser Sammelbände ist er stärker vertreten als Josquin Desprez, was seine Bedeutung innerhalb des höfischen Musiklebens unterstreicht. Diese Verbreitung ist auch ein Indiz für das hohe Ansehen, das er bei seinen Auftraggebern genoss.

Pierre de la Rue starb am 20. November 1518 in Kortrijk. Er wurde in der dortigen Kirche Sankt Michael bestattet. Sein Lebensweg und sein Werk stehen beispielhaft für die Verbindung von künstlerischer Kontinuität, technischer Meisterschaft und tiefer Verwurzelung im geistlichen wie weltlichen Musikleben der Renaissance. Bis heute fasziniert seine Musik durch die Balance zwischen formaler Strenge und klanglicher Wärme – ein Vermächtnis, das den Hörer in eine Welt führt, in der Zeit und Raum im Geflecht polyphoner Linien ineinanderfließen.

Requiem

Pierre de la Rues Requiem gehört zu den frühesten vollständig erhaltenen polyphonen Totenmessen und ist ein Werk von seltener Geschlossenheit und klanglicher Tiefe. Entstanden vermutlich zwischen 1503 und 1506 im Umfeld der habsburgischen Hofkapelle, steht es wahrscheinlich in unmittelbarem Zusammenhang mit den Trauerfeierlichkeiten für Philipp den Schönen (1478–1506). Philipp der Schöne war Herzog von Burgund ab 1482 und regierte als König von Kastilien von 1504 bis zu seinem Tod 1506. Philipp starb am 25. September 1506 in Burgos, Kastilien, vermutlich an Typhus.

 

Die Vertonung folgt der vortridentinischen Fassung der Totenmesse, die in Textgestalt und liturgischem Ablauf von der späteren, nach dem Konzil von Trient verbindlich gewordenen Ordnung abweicht. Auffällig ist das Fehlen der Sequenz „Dies irae“, was dem Werk einen stärker kontemplativen Charakter verleiht. Von der ersten bis zur letzten Note zeigt sich de la Rues Vorliebe für tiefe Register und einen sonoren, warmen Gesamtklang. Die Besetzung ist überwiegend vierstimmig mit Sopran, Alt, Tenor und Bass, wobei der Bass nicht nur harmonisches Fundament ist, sondern aktiv in den motivischen Fluss eingebunden wird. In einzelnen Abschnitten – etwa im Offertorium – erweitert er das Ensemble zu fünf Stimmen, um den Mittellagen besondere Fülle zu verleihen. Die tonale Grundlage bildet fast durchgehend der dorische Modus auf d, gelegentlich aufgehellt durch Ausweichungen in den mixolydischen Bereich oder subdominantische Klangfelder.

 

Der Introitus „Requiem aeternam dona eis Domine“ eröffnet das Werk mit einem ruhig fließenden Satz, in dem der Cantus firmus im Tenor in langen Halben erscheint, während die übrigen Stimmen in weichen Imitationen umspielen. Die harmonischen Wendungen sind sparsam, was der Musik eine zeitlose Ruhe verleiht und den Eindruck eines stetigen Gebets schafft. Das anschließende Kyrie ist streng imitatorisch gearbeitet, wobei jede der drei Bitten – Kyrie, Christe, Kyrie – ihre eigene Gestalt behält. Die dunkle Klangfarbe des dorischen Modus wird hier durch die Moll-Terz-Schattierung verstärkt, was der Bitte um Erbarmen eine besondere Eindringlichkeit verleiht.

Im Graduale kehrt das „Requiem aeternam“ zurück, diesmal ergänzt um den Vers „In memoria aeterna erit iustus“. Der Tenor bringt den Cantus firmus nun in kürzeren Werten, was zu einer Verdichtung der Imitationen führt und den Satz spürbar intensiviert. Der Tractus „Absolve Domine“ ist von gleichmäßigen, langen Linien geprägt und vermeidet schnelle Bewegungen. Die strenge modale Bindung an den dorischen Modus und die parallelen Kontrapunktmuster verleihen ihm einen fast archaischen Ernst, der die Bitte um Loslösung der Seelen aus den Banden der Sünde eindringlich unterstreicht.

Das Offertorium „Domine Jesu Christe“ bildet einen Höhepunkt der Messe. Die fünfstimmige Besetzung mit zwei Altstimmen schafft eine außergewöhnliche Klangfülle in der Mittellage. Zu Beginn werden die Worte homophon vorgetragen, um die Anrufung des Herrn klar hervorzuheben, bevor imitatorische Passagen den Satz beleben. Im Abschnitt „sed signifer sanctus Michael“ hellt sich die Harmonik auf, und die Oberstimmen steigen in parallelen Sexten und Quarten aufwärts, als würde der Erzengel selbst die Seelen ins himmlische Licht führen.

Das Sanctus entfaltet sich in feierlichen, weit gespannten Bögen. Der mixolydische Tonrahmen auf g verleiht dem Satz eine hellere Klangfarbe, ohne den gravitätischen Grundcharakter zu verlieren. Die Hosanna-Rufe wirken belebter, ihre Imitationen sind enger geführt und verleihen dem Lobpreis eine raumgreifende Weite. Das Agnus Dei kehrt zum dorischen Modus zurück und steigert sich über die drei Wiederholungen nicht in Lautstärke, sondern in innerer Dichte. Die Stimmen rücken enger zusammen, der Bass erhält mehr melodische Bewegung, und die Schlussbitte „dona eis requiem sempiternam“ klingt in langen Halben wie ein sanftes Ausatmen aus.

In der Communio „Lux aeterna“ schließt sich der Kreis zum Eröffnungsbild des ewigen Lichts. Der Satz ist imitatorisch angelegt, der Cantus firmus wandert zwischen den Stimmen, und die abschließenden „quia pius es“-Phrasen kehren zu einer fast homophonen Einfachheit zurück. Die Musik klingt aus wie ein letztes, stilles Leuchten.

Historisch steht dieses Requiem an einer bedeutenden Schnittstelle. Johannes Ockeghems berühmte „Missa pro defunctis“ aus den 1460er-Jahren ist zwar ein direkter Vorläufer, wirkt aber in ihrer modalen Strenge und linearen Führung noch stärker mittelalterlich geprägt. De la Rue übernimmt zwar Ockeghems Ernst und die Konzentration auf tiefe Register, geht aber in der strukturellen Durcharbeitung und der kontrapunktischen Verdichtung weiter. Im Vergleich zu späteren Requiem-Vertonungen wie jener von Jean Richafort – komponiert 1532 als musikalisches Epitaph für Josquin Desprez – fehlt bei de la Rue noch der humanistisch geprägte, textbezogene Affektausdruck. Stattdessen herrscht eine in sich geschlossene, liturgisch gebundene Klangsprache vor, die den Hörer in einen gleichmäßigen, meditativen Fluss zieht.

Gerade diese Verbindung von modaler Strenge, reicher kontrapunktischer Arbeit und einer unverwechselbaren, tiefen Klangfarbe macht Pierre de la Rues Requiem zu einem der eindrucksvollsten Werke seiner Zeit. Es ist nicht nur eine klingende Totenklage für einen Herrscher, sondern auch ein musikalisches Zeugnis einer Epoche, in der der Glaube an die Ruhe und das ewige Licht das Bild des Todes bestimmte. In seiner klaren, feierlichen Ruhe hat dieses Werk bis heute nichts von seiner suggestiven Kraft verloren.

Lateinischer Text:

Introitus


Requiem aeternam dona eis Domine
et lux perpetua luceat eis
Te decet hymnus Deus in Sion
et tibi reddetur votum in Jerusalem
exaudi orationem meam
ad te omnis caro veniet
Requiem aeternam dona eis Domine
et lux perpetua luceat eis

Kyrie

Kyrie eleison
Christe eleison
Kyrie eleison

Graduale

 

Requiem aeternam dona eis Domine
et lux perpetua luceat eis
In memoria aeterna erit iustus
ab auditione mala non timebit

Tractus


Absolve Domine animas omnium fidelium defunctorum
ab omni vinculo delictorum
et gratia tua illis succurente
mereantur evadere iudicium ultionis
et lucis aeternae beatitudine perfrui

Offertorium

 

Domine Jesu Christe, Rex gloriae
libera animas omnium fidelium defunctorum
de poenis inferni et de profundo lacu
libera eas de ore leonis
ne absorbeat eas tartarus
ne cadant in obscurum
sed signifer sanctus Michael
repraesentet eas in lucem sanctam
Quam olim Abrahae promisisti et semini eius
Hostias et preces tibi Domine laudis offerimus
tu suscipe pro animabus illis
quarum hodie memoriam facimus
fac eas Domine de morte transire ad vitam
Quam olim Abrahae promisisti et semini eius

Sanctus

 

Sanctus, Sanctus, Sanctus
Dominus Deus Sabaoth
Pleni sunt caeli et terra gloria tua
Hosanna in excelsis
Benedictus qui venit in nomine Domini
Hosanna in excelsis

Agnus Dei

Agnus Dei, qui tollis peccata mundi, dona eis requiem
Agnus Dei, qui tollis peccata mundi, dona eis requiem
Agnus Dei, qui tollis peccata mundi, dona eis requiem sempiternam

 

Communio

 

Lux aeterna luceat eis Domine
cum sanctis tuis in aeternum
quia pius es

 

Requiem aeternam dona eis Domine
et lux perpetua luceat eis
cum sanctis tuis in aeternum
quia pius es

Deutsche Übersetzung:

Introitus


Herr, gib ihnen die ewige Ruhe
und das ewige Licht leuchte ihnen
Dir gebührt Lobgesang, o Gott, auf dem Zion
und dir wird ein Gelübde erfüllt in Jerusalem
Erhöre mein Gebet
zu dir wird alles Fleisch kommen
Herr, gib ihnen die ewige Ruhe
und das ewige Licht leuchte ihnen

Kyrie


Herr, erbarme dich
Christus, erbarme dich
Herr, erbarme dich

Graduale


Herr, gib ihnen die ewige Ruhe
und das ewige Licht leuchte ihnen
Der Gerechte wird in ewiger Erinnerung bleiben
er wird sich nicht fürchten vor böser Kunde

Tractus


Löse, o Herr, die Seelen aller verstorbenen Gläubigen
von jedem Band der Sünden
und lass sie, durch deine Gnade unterstützt,
dem Gericht der Vergeltung entrinnen
und sich der Seligkeit des ewigen Lichtes erfreuen

Offertorium


Herr Jesus Christus, König der Herrlichkeit
befreie die Seelen aller verstorbenen Gläubigen
von den Strafen der Hölle und aus dem tiefen Abgrund
befreie sie aus dem Rachen des Löwen
damit sie der Höllenschlund nicht verschlinge
damit sie nicht in die Finsternis fallen
sondern der heilige Zeichenführer Michael
führe sie ins heilige Licht
Wie du einst Abraham und seinem Samen verheißen hast
Dir, Herr, bringen wir Opfergaben und Gebete des Lobes dar
nimm sie an für jene Seelen
deren wir heute gedenken
Lass sie, o Herr, vom Tod hinübergehen zum Leben
Wie du einst Abraham und seinem Samen verheißen hast

Sanctus


Heilig, heilig, heilig
Herr Gott der Heerscharen
Himmel und Erde sind erfüllt von deiner Herrlichkeit
Hosanna in der Höhe
Gesegnet sei, der da kommt im Namen des Herrn
Hosanna in der Höhe

Agnus Dei


Lamm Gottes, das du hinwegnimmst die Sünden der Welt, gib ihnen Ruhe
Lamm Gottes, das du hinwegnimmst die Sünden der Welt, gib ihnen Ruhe
Lamm Gottes, das du hinwegnimmst die Sünden der Welt, gib ihnen ewige Ruhe

Communio


Das ewige Licht leuchte ihnen, o Herr
mit deinen Heiligen in Ewigkeit
denn du bist gütig
Herr, gib ihnen die ewige Ruhe
und das ewige Licht leuchte ihnen
mit deinen Heiligen in Ewigkeit
denn du bist gütig

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Kaum ein Komponist des frühen 16. Jahrhunderts ist so reich überliefert und zugleich so wenig im allgemeinen Bewusstsein präsent wie Pierre de la Rue (um 1452–1518). Seine Werke bilden das klangliche Rückgrat der burgundisch-habsburgischen Hofkapelle, deren Repertoire in den prachtvollen, heute in Leuven, Brüssel, Wien, Jena, München und anderswo aufbewahrten Alamire-Chorbüchern festgehalten ist. Diese großformatigen Codices gehören zu den vornehmsten Musikhandschriften ihrer Zeit. Sie zeichnen sich durch kunstvolle Zierinitialen, sorgfältige Rubrizierung und eine klare, luxuriöse Notation aus, die eindrucksvoll belegt, welchen Rang La Rue als Komponist am Hof hatte.

 

Doch im merkwürdigen Gegensatz zu dieser überwältigenden Überlieferung steht die moderne Rezeption: Viele seiner vierstimmigen Messen sind wissenschaftlich gut erschlossen, wurden aber jahrhundertelang kaum aufgeführt und existieren diskographisch – wenn überhaupt – nur in wenigen schwer zugänglichen Spezialaufnahmen. Manche seiner bedeutenden Zyklen waren ausschließlich in vergriffenen französischen Produktionen erhältlich, andere nur in universitären Projekten, die nie den Weg in internationale Kataloge fanden. Gerade deshalb gewinnen die vier hier eingespielten Messen eine besondere Bedeutung. Die Missa almana, die Missa de Sancto Antonio, die Missa Puer natus est nobis und die Missa Tous les regretz decken nahezu das ganze Spektrum von La Rues vierstimmigem Messenschaffen ab – von frühen, motivisch verdichteten Werken über liturgisch gebundene Cantus-firmus-Kompositionen bis zu den reifen Parodiemessen der späten Phase.

 

Die Beauty-Farm-Aufnahmen, 2017 in der Kartause Mauerbach entstanden und 2018 veröffentlicht, stellen die erste moderne, klanglich homogene und wissenschaftlich informierte Erschließung dieser vier Zyklen dar und eröffnen damit eine neue Perspektive auf einen Komponisten, dessen Rang zwar in den Quellen überall sichtbar, in der heutigen Hörpraxis aber noch immer erstaunlich begrenzt ist.

https://music.apple.com/de/album/la-rue-masses/1383389290 

 

Die vier vierstimmigen Messen, die das Ensemble Beauty Farm in zwei Fra-Bernardo-Doppelalben aufgenommen hat, öffnen einen außergewöhnlich tiefen Blick in das Messenschaffen von Pierre de la Rue, einem der bedeutendsten und zugleich in der modernen Rezeption unterschätzten franko-flämischen Meister um 1500. Obwohl La Rue zu Lebzeiten als Komponist von besonderem Rang galt, als Mitglied der Hofkapelle der Habsburg-Burgunder ein herausragendes Amt bekleidete und in prachtvollen Alamire-Chorbüchern überliefert ist, blieb sein vierstimmiges Messenschaffen über Jahrhunderte kaum präsent. Die Quellen sind luxuriös, die Musik hochkomplex und innerlich geschlossen, doch die Diskographie ist erstaunlich dünn. Viele Messen existieren nur in Spezialaufnahmen, oft in kleinen französischen Produktionen, die schwer greifbar oder vergriffen sind. In diesem Kontext gewinnen die Beauty-Farm-Aufnahmen eine besondere Bedeutung: Sie bieten zum ersten Mal eine moderne, einheitliche, klanglich klare und wissenschaftlich fundierte Gesamtdarstellung von vier zentralen vierstimmigen Messzyklen, die bislang nur selten öffentlich erklangen.

 

Die vielzitierte Bezeichnung „Weltersteinspielung“, die mit der Produktion beworben wurde, ist nur teilweise zutreffend. Die Missa Puer natus est nobis wurde bereits 2003 von Ars Antiqua de Paris unter Michel Sanvoisin eingespielt, zusammen mit der Missa de Sancta Cruce.

 

https://www.amazon.de/Christmas-Mass-Pierre-Antiqua-Paris/dp/B004NIHMRY 

 

Auch die Missa Tous les regretz wurde von demselben Ensemble in einer früheren französischen Produktion aufgenommen. Die Missa de Sancto Antonio ist in einer Aufnahme des University of New Hampshire Chamber Choirs unter William Kempster dokumentiert. Tatsächlich neu ist vor allem die vollständige Missa almana, auch Missa Pourquoy non genannt, die vor Beauty Farm nie in einer modernen, vollständigen CD-Einspielung öffentlich zugänglich war. Dennoch bleibt entscheidend: Erst durch Beauty Farm werden diese vier Messen einem internationalen Publikum in einer klanglich homogenen, wissenschaftlich informierten Interpretation zugänglich, die das Repertoire grundlegend neu erschließt.

 

Die Aufnahme der vier La-Rue-Messen mit Beauty Farm ist im regulären Handel erhältlich und wird von Fra Bernardo weltweit vertrieben. Sie ist zudem auf allen großen Streaming-Plattformen zugänglich, darunter Spotify und Apple Music. Damit steht diese bedeutende Edition sowohl als physische Doppel-CD als auch digital in hervorragender Klangqualität zur Verfügung.

 

Den Auftakt des Zyklus bildet die Missa almana a 4, ein Werk, das am Übergang zwischen La Rues früher und seiner voll entwickelten Phase steht. In Honey Meconis provisorischer Chronologie wird sie als erste sicher zugeschriebene Messe eingeordnet. Die Messe erscheint in den Quellen unter mehreren Namen: Missa almana, Missa Pourquoy non und Missa sexti ut fa. Der anglo-kanadische Musikwissenschaftler William Kempster, Herausgeber einer vollständigen Aufführungsausgabe sämtlicher Werke La Rues, hat überzeugend dargelegt, dass die Messe auf La Rues eigener Chanson „Pourquoy non“ basiert:

 

https://www.youtube.com/watch?v=gNWzEC92CBQ

 

Der mittelfranzösische Text (in leicht modernisierter Schreibung) lautet:

 

Pourquoi non, ne veuil je mourir?

Pourquoi non, ne dois je quérir

La fin de ma dolente vie,

Quand j’aime qui ne m’aime mie

Et sers sans guerdon acquérir.

 

Eine wörtlich-sinngetreue deutsche Übersetzung dazu:

 

Warum denn nicht – warum sollte ich nicht sterben wollen?

Warum denn nicht – sollte ich nicht suchen

das Ende meines schmerzensreichen Lebens,

da ich doch den liebe, der mich überhaupt nicht liebt,

und ihm diene, ohne irgendeinen Lohn zu erlangen.

 

Der Titel „almana“ ist ein rätselhafter, historisch gewachsener Name ohne eindeutige Bedeutung. Entscheidend ist die motivische Struktur: Die Chanson beginnt mit einer markanten aufsteigenden Quarte, gefolgt von einem Sekundschritt. Dieses kurze Motiv ist der Keim, aus dem La Rue die gesamte Messe entwickelt.

 

Bereits das Kyrie zeigt, wie La Rue dieses Motiv imitatorisch durch alle Stimmen führt. Die Einsätze folgen einander in ruhiger, gleichmäßiger Abfolge, wodurch ein kompakter, aber niemals schwerer Satz entsteht. Die Polyphonie wirkt organisch, homogen, fast atmend. Nichts drängt, nichts stürmt voran, und doch entfaltet sich eine beeindruckende kontrapunktische Dichte. Die musikalische Oberfläche bleibt klar, fast schlicht, aber unter dieser Ruhe liegt eine kunstvolle Verzahnung der Stimmen, die die Essenz von La Rues Stil vorwegnimmt: dunkle Färbung, tief liegende Stimmen, sanfte Dissonanzvorhalte und ein stetiger, ruhiger Puls.

 

Im Gloria reagiert La Rue deutlich auf die Struktur des liturgischen Textes. Lange Abschnitte wie „Gratias agimus tibi“ oder „Domine Deus“ werden durch kurze Duos entlastet. Die motivische Arbeit tritt zugunsten der Textdeklamation etwas in den Hintergrund, bleibt aber stets hörbar. Besonders eindrucksvoll ist der Abschnitt „Qui tollis peccata mundi“, in dem La Rue die Stimmführung verdichtet und die harmonische Spannung leicht erhöht, bevor sich der Satz zum feierlichen „Cum Sancto Spiritu“ öffnet, das jedoch nicht jubelnd, sondern würdevoll wirkt.

 

Das Credo ist der längste und vielleicht eindrucksvollste Satz des Zyklus. Hier zeigt La Rue seine Fähigkeit, große musikalische Bögen zu spannen. Das Material der Chanson rückt stärker in die unteren Stimmen, häufig im Bass oder Tenor, während die Oberstimmen längere Linien darüberlegen. Der Abschnitt „Et incarnatus est“ wirkt wie eine Verlangsamung der Zeit: Die Harmonik wird weich, die melodischen Linien scheinen sich tastend zu umkreisen, bevor das „Et resurrexit“ mit einer sanften inneren Aufhellung wieder zu strömen beginnt. Es ist kein Durchbruch, keine Explosion; es ist ein stilles, aber deutliches Öffnen.

 

Im Sanctus lebt La Rue seine Vorliebe für imitatorische Dichte aus, jedoch ohne die feierliche Ruhe zu gefährden. Die Stimmen setzen nacheinander ein, bilden weite, harmonisch glatte Felder, und das „Hosanna“ bleibt in derselben meditativen Atmosphäre wie die übrigen Sätze. Das Benedictus ist ein kurzes Trio, ein lichtes Fenster im dichten Satzgefüge, bevor das Hosanna den Kreis schließt.

 

Das Agnus Dei fasst die Messe zu einem letzten Bild von innerer Ruhe zusammen. Das Chansonmotiv erscheint besonders klar im Bass, fast wie ein Grundton des ganzen Werks. Das abschließende „dona nobis pacem“ ist breit ausgesponnen, lange ausgehalten und lässt die Messe in einer stillen, fast asketischen Klangwelt enden. Die Missa almana ist damit ein frühes, aber bereits erstaunlich geschlossenes Werk, das La Rues Gespür für meditative Polyphonie demonstriert. Die Ruhe des Satzes ist kein Mangel an Energie, sondern eine Form von Konzentration. In der Stille liegt die Stärke dieses Zyklus, und die Beauty-Farm-Aufnahme zeigt diese Qualität in einer Reinheit, die dem Werk vollkommen entspricht.

 

Die Missa de Sancto Antonio a 4 entstammt einem anderen Bereich von La Rues Schaffen. Sie ist eine liturgisch geprägte Cantus-firmus-Messe und basiert auf der Vesperantiphon „O sacer Anthoni“, die dem bedeutsamen Wüstenvater Antonius dem Großen gewidmet ist. Diese Antiphon ist unter anderem im Antiphonale Pataviense von 1519 überliefert und findet sich dort als zentrale Melodie für das Fest des Heiligen am 17. Januar. Die Cantus-firmus-Linie erscheint bei La Rue meist im Tenor, in langen Notenwerten, um die sich die übrigen Stimmen gruppieren. Die Messe wirkt dadurch besonders ausgeglichen und licht.

 

Diese liturgische Verankerung wird durch eine höfische Dimension ergänzt. Der Heilige Antonius war der Patron des burgundischen Hochadeligen Antoine de Bourgogne, des berühmten „Bastards von Burgund“ und engen Vertrauten Philipps des Guten. Die Messe ist daher sowohl als Ausdruck klösterlicher Frömmigkeit als auch als Teil höfischer Repräsentationskultur zu verstehen, eingebettet in die Spiritualität der Habsburg-Burgunder.

 

Musikalisch ist sie von einer besonderen Klarheit geprägt. Die Stimmen sind breiter gefächert als in der Missa almana, die Textur öffnet sich häufiger, und die Stimmgeflechte wirken transparenter. In vielen Passagen reduzieren sich die Stimmen auf ein Duo oder Trio, wobei die übrigen ruhen und dem Cantus firmus Raum geben. Dadurch entsteht ein nahezu architektonisches Klangbild: ein abwechselnd dichter und lichter Satz, der immer wieder neue Perspektiven eröffnet. Der Ton ist heller als in der Missa almana, weniger erdig, aber ebenso konzentriert. Die Aufnahmegeschichte dieser Messe ist schmal; neben der modernen Aufnahme von Beauty Farm spielte vor allem die Einspielung unter William Kempster eine Rolle.

 

Die Missa Puer natus est nobis a 4 führt das weihnachtliche Thema in polyphoner Form weiter. Der Introitus „Puer natus est nobis“ ist der Eingangsgesang der dritten Messe am Weihnachtstag und wurde von zahlreichen Komponisten als Cantus firmus verwendet. Die berühmteste Vertonung ist jene von Thomas Tallis, doch La Rues Messe steht in einer eigenen, sehr eleganten Tradition. Die Quellen nennen sie auch Missa de nativitate Christi. Honey Meconi ordnet sie als Nr. 5 in die frühe Phase ein. Die Introitus-Melodie erscheint bei La Rue in paraphrasierter Form: nicht als starre Linie, sondern als motivisches Material, das zwischen den Stimmen wandert.

 

In der Alamire-Forschung wurde ein bemerkenswertes Detail im Gloria beschrieben: Der Bass ist an einer Stelle so tief geführt, dass eine seltene doppelte Hilfslinie erforderlich war – ein Zeichen für La Rues Vorliebe für sonoren Klang. Ein weiterer Beitrag zur Musica ficta analysiert das Sanctus und zeigt, wie La Rue Vorzeichen wie das b-molle einsetzt, um melodische Linien zu glätten oder bewusst zu färben. Das Kyrie wirkt hell, ruhig und klar, das Gloria durch klare Textabschnitte gegliedert, das Credo entfaltet sich in langen Linien und konzentriert sich im „Et incarnatus est“ auf eine verhangene Harmonik, die sich zum „Et resurrexit“ öffnet. Das Sanctus ist feierlich, aber nicht pompös, das Benedictus zart und intim, das Agnus Dei innig und friedvoll. Diskographisch war das Werk lange kaum präsent; außer einem isolierten Kyrie von Capilla Flamenca und der vergriffenen französischen Produktion blieb die Missa Puer natus est nobis praktisch unzugänglich. Beauty Farm macht sie nun vollständig hörbar.

 

Die Missa Tous les regretz a 4 schließlich gilt als eines der reifsten Meisterwerke La Rues. Sie basiert auf seiner eigenen Chanson „Tous les regretz“, einem melancholischen Liebeslied, das in zahlreichen Quellen belegt ist. Die Messe ist eine Parodiemesse im wahren Sinn des Wortes: La Rue übernimmt strukturelle Elemente der Chanson und überführt sie in einen geistlichen Kontext, ohne die weltliche Melancholie ungebrochen zu übernehmen. In mehreren Alamire-Handschriften erscheint die Messe mit reich ornamentierten Initialen. Besonders die Kyrie-Initiale in Grisaille-Technik verdeutlicht den Rang des Werks im höfischen Umfeld. Die  amerikanische Musikwissenschaftlerin Prof. Dr. Honey Meconi ordnet es als Nr. 24 in die späte Phase ein. Es zeichnet sich durch dichte lineare Verzahnung, subtile Dissonanzbehandlung und eine gleichmäßige Glut aus, die La Rues Spätstil ausmacht. Das Kyrie entfaltet die charakteristischen Intervalle der Chanson in zarten imitativen Linien. Das Gloria nutzt die Parodiemotive in strukturierenden Abschnitten. Das Credo ist ein Meisterstück weiter Bögen und subtiler motivischer Verwandlung. Das Sanctus öffnet sich in weite, ruhige Felder, das Benedictus ist ein stilles Trio, das Agnus Dei bündelt die melancholische Ruhe des Zyklus. Diskographisch ist die Messe wenig vertreten; eine ältere Produktion von Ars Antiqua de Paris koppelte sie mit der Missa Nunca fue pena mayor. Die Aufnahme des Huelgas-Ensembles bezieht sich auf Lassos Missa Tous les regretz, die nicht auf La Rues Chanson basiert. Beauty Farm legt erstmals eine klare, moderne Interpretation der La-Rue-Fassung vor.

 

In ihrer Gesamtheit zeigen die vier Messen ein panoramaartiges Bild von La Rues kompositorischem Können. Die Missa Puer natus est nobis atmet das Cantus-firmus-Denken der frühen Phase. Die Missa almana zeigt die motivische Kraft eines jungen, aber reifen polyphonen Stils. Die Missa de Sancto Antonio verbindet liturgische Strenge und höfische Konnotation mit klanglicher Klarheit. Die Missa Tous les regretz zeigt die reife Meisterschaft eines Komponisten, der die Parodietechnik als strukturelles Prinzip versteht. Die Beauty-Farm-Aufnahmen verleihen diesen Messen eine gemeinsame klangliche Sprache und erschließen einen großen, lange vernachlässigten Teil von La Rues Werk.

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