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Präzision und Glanz: Pollini formt Chopins Étuden

 

Maurizio Pollinis (1942–2024) Einspielung der Étuden op. 10 und op. 25 von Frédéric Chopin entstand im Herbst und Winter des Jahres 1972 in München für die Deutsche Grammophon. Der Pianist war damals 30 Jahre alt und bereits international anerkannt, nachdem er 1960 als überragender Sieger aus dem Internationalen Chopin-Wettbewerb in Warschau hervorgegangen war. Seine Interpretation der Étuden gilt bis heute als eine der maßstabsetzenden Aufnahmen dieses zentralen Klavierwerks und ist für viele die Idealgestalt des intellektuellen, strukturbewussten Chopin-Interpreten. Bewundert wird sie vor allem für ihre technische Perfektion, ihre analytische Schärfe und die Verbindung von Klarheit und kontrollierter Emotionalität, die Chopins musikalischer Architektur großen Respekt zollt.

 

In Fachkreisen ist bekannt, dass Pollini während der Aufnahmesitzungen jede Étude bis zu sechzehnmal einspielte. Dabei ging es ihm nicht um das Korrigieren technischer Fehler, sondern um das Erreichen eines idealen Ausdrucks, einer optimalen klanglichen Balance und einer bis ins Detail durchdachten Artikulation. Die Sitzungen erstreckten sich über mehrere Monate, wobei Pollini eng mit den Tonmeistern, insbesondere mit Klaus Scheibe (* 1936), zusammenarbeitete. Er war nicht nur Interpret, sondern in hohem Maße an der Auswahl und Gestaltung der endgültigen Schnittfassung beteiligt.

 

Die Aufnahme entstand nicht als durchgehender Konzertmitschnitt, sondern als sorgfältige Montage der jeweils gelungensten Passagen – ausschließlich aus echten Pollini-Einspielungen zusammengesetzt und ohne nachträgliche digitale Eingriffe. Das Ergebnis ist eine Aufnahme von absoluter technischer Souveränität, einem klaren, fast klassisch anmutenden Zugriff und einer gestalterischen Disziplin, die sie bis heute ideal für analytisches Hören und die musikwissenschaftliche Lehre macht.

 

Pollinis künstlerischer Ansatz meidet jede Form sentimentaler Überhöhung. Seine Interpretation ist analytisch, klar und von innerer Spannung getragen. Die Étuden erscheinen nicht als bloße Schaustücke pianistischen Könnens, sondern als strukturell geschlossene musikalische Gebilde, die trotz ihrer Brillanz nie dekorativ oder oberflächlich wirken. Er betont die Form, den klaren Aufbau und verzichtet konsequent auf unnötige Emotionalisierung. Seine Lesart wurde oft als klassizistisch beschrieben, nicht im Sinne kühler Distanz, sondern als Ausdruck einer uneitlen Noblesse, die aus tiefer Achtung vor dem Werk resultiert. In dieser Haltung zeigt er Chopin nicht als romantisch schwelgenden Träumer, sondern als präzise komponierenden Visionär, dessen Musik durchdachte und geschlossene architektonische Strukturen offenbart.

 

Diese Herangehensweise hat der Aufnahme einen besonderen Rang verschafft. Sie wurde von der internationalen Kritik einhellig gefeiert und vielfach wiederveröffentlicht, unter anderem als Teil der „Pollini Edition“ bei Deutsche Grammophon. Sie zählt zu den einflussreichsten Chopin-Einspielungen des 20. Jahrhunderts und ist bis heute ein fester Bezugspunkt im Konzert- und Studienbetrieb. In Hochschulen dient sie regelmäßig als Analysegrundlage, und in Kritikerumfragen, etwa im "BBC Music Magazine", rangiert sie regelmäßig unter den drei bedeutendsten Chopin-Étuden-Aufnahmen überhaupt. Zahlreiche führende Pianisten, darunter Krystian Zimerman (* 1956) und Piotr Anderszewski (* 1969), nennen Pollinis Chopin-Interpretationen als prägenden Einfluss. Kaum ein anderer Pianist hat Chopins Technik und Geist so verschmolzen wie Pollini in dieser Aufnahme, die bis heute als künstlerisches Dokument einer idealen Synthese von pianistischem Können, musikalischer Intelligenz und gestalterischer Verantwortung gilt.

 

Da ich die betreffende CD-Einspielung von Maurizio Pollini in den gängigen Katalogen – etwa bei jpc – derzeit nicht finde oder nicht finden kann, poste ich zur eindeutigen Identifikation den entsprechenden Link.

Die Etüde – ursprünglich als reines Übungsstück zur Entwicklung spezifischer pianistisch-technischer Fähigkeiten gedacht – erfährt durch Frédéric Chopin eine künstlerische Neugeburt. In seinen beiden großen Zyklen, den zwölf Étüden op. 10 (1833, veröffentlicht 1833) und op. 25 (1837), erhebt er diese Gattung zur vollwertigen Kunstform. Technik wird bei Chopin nie zum Selbstzweck, sondern zum Ausdrucksmittel tiefempfundener musikalischer Gedanken. Jeder Satz ist ein in sich geschlossener Mikrokosmos – virtuos, charaktervoll und emotional reich.

 

Mit diesen Werken setzte Chopin neue Maßstäbe für Generationen von Pianisten. Sie gelten bis heute als Prüfsteine pianistischer Reife und musikalischer Gestaltungskraft.

 

Die beiden Sammlungen tragen bedeutende Widmungen:

 

– Opus 10 ist dem Freund und Rivalen Franz Liszt (1811–1886) gewidmet,

– Opus 25 der Schriftstellerin und Liszts Lebensgefährtin Marie d’Agoult (1805–1876).

 

Étüden op. 10

 

 

1. C-Dur (Allegro) – „Wasserfall-Étüde“

Ein rauschender Strom von Arpeggien über das gesamte Register. Sie fordert absolute Kontrolle der rechten Hand, insbesondere der Fingersätze. Klanglich entsteht der Eindruck eines perlenden Kaskadenlaufs – technisch raffiniert und klanglich brillant.

 

 

2. a-Moll (Allegro) – „Chromatic“

Chromatische Skalen in der rechten Hand in hohem Tempo, während die linke eine ruhige harmonische Basis bildet. Sie schult Präzision, Geläufigkeit und Gleichgewicht zwischen Bewegung und Ruhe.

3. E-Dur (Lento ma non troppo) – „Tristesse“

Eine gesangliche, melancholische Etüde, in der Technik dem Ausdruck vollkommen untergeordnet ist. Die Herausforderung liegt im Legatospiel, der Phrasierung und der Fähigkeit, die Melodie quasi vokal zu gestalten. Ein Lieblingsstück Chopins selbst.

 

4. cis-Moll (Presto) – „Torrent“

Ein Sturmlauf aus Sechzehnteltriolen – motorisch, rastlos, präzise. Die Etüde verlangt eiserne Gleichmäßigkeit, stählerne Fingertechnik und blitzartige Reaktionen.

 

5. Ges-Dur (Vivace) – „Schwarze Tasten“

Fast ausschließlich auf den schwarzen Tasten gespielt, entwickelt diese Etüde einen federnden, spielerischen Charakter. Die Pentatonik verleiht ihr einen exotischen Anstrich. Leichtigkeit, Eleganz und klangliche Farbigkeit sind gefragt.

 

 

6. es-Moll (Andante) – „Lament“

Ein verborgenes Kleinod. Die melodische Linie liegt in der linken Hand, während die rechte mit zarten Figurationen begleitet. Innige Klangrede und klangliche Transparenz stehen im Mittelpunkt.

 

7. C-Dur (Vivace) – „Toccata“

Motorische, in Oktaven geführte Bewegungen der rechten Hand bei gleichmäßiger, begleitender Linken. Eine Übung in Ausdauer, Koordination und Schlagtechnik des Handgelenks.

 

 

8. F-Dur (Allegro) – „Sunshine“

Ein tänzerisch anmutendes Stück mit weit gespannten Sechzehntelläufen, die eine perfekte Fingerkontrolle und Unabhängigkeit voraussetzen. Klanglich ist ein luftiges Legato gefordert.

 

9. f-Moll (Allegro molto agitato)

Eine dramatisch aufgeladene Etüde mit akzentuierten Synkopen. Sie verlangt entschlossene Artikulation und präzise Koordination beider Hände.

 

10. As-Dur (Vivace assai) – „Harfe"

Raffiniert rhythmisiert, mit einem Wechselspiel zwischen thematischen Fragmenten und Begleitfiguren. Technisch wie musikalisch anspruchsvoll, mit Fokus auf die Kontrolle über kleine rhythmische Einheiten.

 

 

 

11. Es-Dur (Allegretto) – „Arpeggio-Étüde“

Weit gespannte Arpeggien fordern Flexibilität, Spannkraft und die Fähigkeit zu gleichmäßigem Spiel über große Intervalle. Trotz virtuoser Anforderungen bleibt der Charakter schwebend.

12. c-Moll (Allegro con fuoco) – „Revolutionsetüde“

Ein musikalischer Aufschrei: aufgewühlte, donnernde Passagen, inspiriert vom polnischen Novemberaufstand 1830/31. Gewaltige Energie, Expressivität und dynamischer Spannungsbogen machen dieses Werk zu einem Höhepunkt pianistischer Dramatik.

 

Étüden op. 25

 

 

1. As-Dur (Allegro sostenuto) – „Aeolsharfen-Étüde“

Ein Klanggewebe wie ein wehender Windhauch. Arpeggierte Figuren fließen wie Harfenklänge dahin, während eine innere Melodie sich durch die Textur windet. Klangliche Transparenz und Phrasierungsbewusstsein sind entscheidend.

 

 

2. f-Moll (Presto) – „The Bees“

Kurze, staccatierte Noten in beiden Händen, die extreme Leichtgängigkeit, rhythmische Genauigkeit und blitzschnelle Reaktionsfähigkeit erfordern. Klanglich fast perkussiv.

3. F-Dur (Allegro) – „The Horseman“

Ein Dialog zwischen einer gesanglichen Oberstimme und harmonisch aufsteigenden Akkorden. Erfordert strukturelle Balance, Phrasierungskunst und dynamische Kontrolle.

4. a-Moll (Agitato) – „Paganini“

Unruhige, sprunghafte Figurationen – virtuos, dabei aber strukturell präzise. Herausfordernd in Tempo, Dynamik und rhythmischer Punktierung.

5. e-Moll (Vivace) – „Wrong Note Étüde“

Die scheinbar „falschen“ Töne – oft chromatische Durchgänge – dienen der Verfeinerung ungewöhnlicher Grifftechniken und klanglicher Differenzierung. Die Herausforderung liegt im Klangfarbenwechsel und der Kontrolle über dissonante Übergänge.

6. gis-Moll (Allegro) – „Thirds“

Sexten, Terzen und rasche Repetitionen dominieren das Bild. Die harmonische Dichte verlangt ein Höchstmaß an Gleichgewicht, während die melodische Linie dennoch durchhörbar bleiben muss.

 

7. cis-Moll (Allegro sostenuto) – „Cello“

Ein melancholisches Thema in der Oberstimme, getragen von polyphoner Begleitung in der linken Hand. Die Phrasierungskunst und polyphone Klanggestaltung sind essenziell.

8. Des-Dur (Vivace) – „Sixths“

Ein rhythmisch verzwicktes Stück mit schnellen Repetitionen und abrupten Bewegungen. Koordination, Fingerfestigkeit und rhythmische Intelligenz werden auf die Probe gestellt.

9. Ges-Dur (Allegro assai) – „Butterfly“

In Walzerform geschrieben, verlangt diese Etüde tänzerische Leichtigkeit, Eleganz und eine subtil schwebende Artikulation. Pedaleinsatz und rhythmisches Feingefühl sind zentral.

 

 

10. h-Moll (Allegro con fuoco) – „Oktavenetüde“

Kaskaden chromatischer Sechzehntelläufe, die sich in große Bögen entwickeln. Der dramatische Gestus verlangt sowohl klangliche Klarheit als auch große Energie.

11. a-Moll (Lento) – „Winter Wind“

Eine Etüde von meditativer Tiefe. Die parallele Melodieführung in beiden Händen erzeugt eine intime Zwiesprache. Langes Atemholen und sängerische Gestaltung sind gefragt.

12. c-Moll (Molto allegro con fuoco) – „Ozeanetüde“

Ein eruptives Finale. Schnelle, kraftvolle Oktaven verlangen größte physische Ausdauer, Präzision und klangliche Kontrolle. In ihrer Wucht und Dramatik ein pianistisch-athletisches Meisterstück.

 

Die Widmungen im Kontext

 

Franz Liszt (1811–1886), dem op. 10 gewidmet ist, war nicht nur ein enger Bekannter Chopins, sondern auch einer der ersten, der dessen Genie früh erkannte. Die Widmung ist eine Geste der Anerkennung zwischen zwei Giganten des romantischen Klaviers.

 

Marie d’Agoult (1805–1876), Liszts Lebensgefährtin und unter dem Pseudonym Daniel Stern als Schriftstellerin tätig, war Chopin ebenfalls verbunden. Die Widmung von op. 25 an sie kann auch als Hommage an die kulturelle und geistige Elite der Zeit verstanden werden, in der Chopin sich bewegte.

 

Bedeutung der Étüden

 

Die beiden Etüden-Zyklen bilden nicht nur das Fundament der modernen Klaviertechnik, sondern sind auch Ausdruck einer einzigartigen musikalischen Welt. Sie verlangen vom Interpreten weit mehr als virtuose Beherrschung – nämlich das Vermögen, Klang und Ausdruck zu gestalten, Struktur zu erfassen und Emotionen zu vermitteln.

 

Der französische Pianist Alfred Cortot (1877–1962), Herausgeber einer bis heute einflussreichen Chopin-Ausgabe mit präzisen Fingersätzen und tiefgehenden Kommentaren, formulierte es mit Nachdruck:

 

„In den Étüden liegt die Essenz seiner Kunst – wer sie zu spielen vermag, begreift Chopin.“

 

Der russische Klavierpädagoge Heinrich Neuhaus (1888–1964) – Lehrer von Emil Gilels (1916–1985) und Swjatoslaw Richter (1915–1997) – äußerte sich in ähnlicher Weise:

 

„Die Étüden sind ein Prüfstein – sie offenbaren nicht nur Technik, sondern auch das musikalische Verständnis eines Pianisten.“

 

Und in der heutigen Fachliteratur findet sich oft die paraphrasierende Einsicht:

 

„Wer Chopins Étüden nicht nur technisch bewältigt, sondern musikalisch durchdringt, versteht Chopin.“

 

Diese Werke sind somit nicht bloß Etüden im traditionellen Sinne – sie sind Klanggedichte, seelische Reflexionen, technische Glanzstücke und künstlerische Selbstbekenntnisse in einem. In ihnen offenbart sich die ganze Tiefe von Chopins musikalischem Denken.

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