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Messe de minuit à 4 voix, flûtes et violons, pour Noël

Die Messe de minuit à 4 voix, flûtes et violons, pour Noël, H. 9 gehört zu den eindrucksvollsten und zugleich originellsten geistlichen Werken von Marc-Antoine Charpentier (1643–1704). Entstanden um 1694, steht diese Mitternachtsmesse exemplarisch für Charpentiers besondere Fähigkeit, liturgische Würde mit klanglicher Anschaulichkeit und unmittelbarer Festlichkeit zu verbinden. Vermutlich wurde sie für die Weihnachtsliturgie der Pariser Jesuitenkirche Saint-Louis komponiert, wo Charpentier als musikalischer Leiter wirkte und über ausgezeichnete vokale und instrumentale Mittel verfügte.

https://www.youtube.com/watch?v=hFhoFZ1iRpA 

 

Das Besondere dieser Messe liegt in ihrer bewussten Einbindung traditioneller französischer Weihnachtslieder, der sogenannten noëls. Charpentier greift mehrere populäre Melodien auf, die im Frankreich des 17. Jahrhunderts weithin bekannt waren, und integriert sie kunstvoll in die festen Teile des Messordinariums. Diese Weisen erscheinen nicht bloß als dekorative Zitate, sondern werden motivisch verarbeitet, kontrapunktisch umgeformt und in den musikalischen Zusammenhang der jeweiligen Messteile eingebettet. So entsteht ein Werk, das einerseits tief in der Volksfrömmigkeit verwurzelt ist, andererseits aber höchsten kompositorischen Ansprüchen genügt.

 

Die Besetzung unterstreicht diesen Charakter. Vier Singstimmen – die je nach Aufführung solistisch oder chorisch eingesetzt werden können – werden von Flöten, Streichern und Continuo begleitet. Der helle Klang der Flöten, oft eng mit den Violinen verflochten, verleiht der Messe eine pastorale, beinahe lichtdurchflutete Farbigkeit, die besonders gut zur nächtlichen Weihnachtsliturgie passt. Trotz der vergleichsweise kammermusikalischen Anlage wirkt das Werk nie kleinformatig; vielmehr entfaltet es eine feierliche Ruhe, die sich aus der Klarheit der Linien und der ausgewogenen Proportionen speist.

 

Stilistisch steht die Messe de minuit in der Tradition der Parodiemesse, geht jedoch in ihrer Konzeption über das bloße Übertragen vorhandenen Materials hinaus. Charpentier gelingt es, den vertrauten Melodien eine neue geistliche Bedeutung zu verleihen, ohne ihren volkstümlichen Ursprung zu verleugnen. Gerade in dieser Spannung zwischen Bekanntem und Neuem, zwischen sakralem Rahmen und populärer Melodik liegt der nachhaltige Reiz des Werkes.

 

In der heutigen Aufführungspraxis zählt die Messe zu den beliebtesten französischen Weihnachtskompositionen des Barock. Sie wird regelmäßig von Ensembles der historischen Aufführungspraxis aufgeführt und hat sich als fester Bestandteil des weihnachtlichen Repertoires etabliert. Ihre Wirkung beruht weniger auf äußerer Pracht als auf einer stillen, leuchtenden Festlichkeit – einer Musik, die den Zauber der Christnacht ebenso einfängt wie die geistige Tiefe der liturgischen Feier.

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Marc-Antoine Charpentier

Magnificat in D-Dur, BWV 243

 

Johann Sebastian Bachs Magnificat in D-Dur, BWV 243, gehört zu den repräsentativsten geistlichen Werken seines Leipziger Schaffens und entstand in seiner endgültigen Fassung um 1733. Bach (1685–1750) wählte mit D-Dur bewusst eine festlich strahlende Tonart, die den Einsatz von Trompeten und Pauken erlaubt und dem Lobgesang Mariens aus dem Lukasevangelium eine geradezu triumphale Klanggestalt verleiht. Die Komposition gliedert den lateinischen Text in eine Folge klar charakterisierter Einzelsätze für Chor, Solisten und Ensemble, wobei affektive Differenzierung und textbezogene Rhetorik beispielhaft ineinandergreifen. Jubelnde Chorsätze wie Magnificat anima mea oder Gloria Patri stehen neben hochkonzentrierten, oft kammermusikalisch durchleuchteten Solonummern wie Quia respexit oder Esurientes, in denen Bach Demut, Innigkeit und geistliche Sammlung mit größter Ökonomie der Mittel gestaltet.

 

Obwohl der Text des Magnificat nicht unmittelbar zur Weihnachtsliturgie gehört, wurde Bachs Vertonung seit jeher eng mit dem Weihnachtsfest verbunden, da sie in Leipzig traditionell am ersten Weihnachtstag erklang und in ihrer festlichen D-Dur-Gestalt die theologische Freude über die Menschwerdung Christi klanglich vorwegnimmt.

https://www.youtube.com/watch?v=41blIyHQ0hs&list=RD41blIyHQ0hs&start_radio=1&t=132s  

 

In der Interpretation von Nikolaus Harnoncourt erscheint das Werk in seiner ganzen historischen und theologischen Spannung. Harnoncourt versteht das Magnificat nicht als bloßes festliches Schaustück, sondern als dramatische Auslegung eines biblischen Textes, der soziale Umkehr, göttliche Macht und menschliche Niedrigkeit gleichermaßen thematisiert. Seine historisch informierte Lesart zeichnet sich durch schlanke Tempi, scharfe Artikulation und eine konsequente Textverständlichkeit aus. Chor und Solisten agieren nicht ornamental, sondern sprachlich präzise; jede musikalische Geste ist auf den Sinngehalt des Textes bezogen. Besonders in den kontrastreichen Abschnitten – etwa zwischen Deposuit potentes und Esurientes – wird Bachs kompositorische Dialektik von Macht und Demut mit eindringlicher Klarheit erfahrbar.

 

Harnoncourts Deutung legt damit weniger Wert auf barocken Glanz als auf strukturelle Transparenz und geistige Durchdringung. Das Magnificat erscheint als ein Werk von großer innerer Beweglichkeit, in dem festliche Pracht und existenzielle Tiefe untrennbar verbunden sind – ganz im Sinne eines Bach, der musikalische Kunst stets als Auslegung des Wortes verstand.

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Johann Sebastian Bach

Heiligste Nacht

 

Mit dem Weihnachtsgesang "Heiligste Nacht" schuf Johann Michael Haydn (1737–1806) eines seiner innigsten und zugleich wirkungsvollsten geistlichen Werke zur Weihnachtszeit. Die Komposition entstand in Salzburg, wo Haydn über Jahrzehnte als Hof- und Domorganist wirkte und das musikalische Leben der Stadt entscheidend prägte. Anders als viele repräsentative Festmusiken richtet sich Heiligste Nacht nicht auf äußeren Glanz, sondern auf stille Betrachtung und erzählerische Nähe zum Weihnachtsgeschehen. 

 

Der Text führt in meditativer Sprache in die Nacht der Geburt Christi. Er verbindet lyrische Ruhe mit einer sanften Dramaturgie, die nicht auf Kontraste oder dramatische Zuspitzung zielt, sondern auf inneres Erleben. Michael Haydn greift diese Haltung musikalisch auf, indem er klare, sangliche Melodien mit einer transparenten, ausgewogenen Begleitung verbindet. Die Musik wirkt bewusst schlicht, doch niemals einfach: Jede Wendung ist sorgfältig gesetzt, jede harmonische Bewegung dient dem Text.

 

Charakteristisch für "Heiligste Nacht" ist Haydns Gespür für Zeit und Raum. Die musikalischen Abläufe sind weit gespannt, die Tempi ruhig, fast schreitend. Dadurch entsteht der Eindruck eines Innehaltens – als würde die Musik selbst den Atem anhalten vor dem Geheimnis der Menschwerdung. Besonders auffällig ist Haydns Fähigkeit, Wärme und Sanftheit zu erzeugen, ohne in Sentimentalität zu verfallen. Die Frömmigkeit bleibt zurückgenommen, ernsthaft und von leiser Freude getragen.

 

https://www.youtube.com/watch?v=KkO9xJLkdl8 

 

Stilistisch steht das Werk an der Schwelle zwischen Spätbarock und Klassik. Die klare Periodik und die ausgewogene Harmonik verraten den klassisch geschulten Komponisten, während die tiefe Textbindung und der kontemplative Charakter noch stark in der barocken Andachtstradition verwurzelt sind. Gerade diese Verbindung macht Heiligste Nacht so zeitlos: Die Musik spricht unmittelbar an, ohne historisch fern zu wirken.

 

Im Kontext der Weihnachtsmusik nimmt "Heiligste Nacht" eine besondere Stellung ein. Es ist kein Werk des lauten Jubels, sondern eines der stillen Vorbereitung – geeignet für den Abend vor dem Fest, für die Sammlung vor der Mitternachtsmesse oder für das private Hören. Michael Haydn zeigt hier eindrucksvoll, dass wahre Wirkung nicht aus Größe oder Lautstärke entsteht, sondern aus Maß, Klarheit und innerer Wahrhaftigkeit.

 

Heiligste Nacht ist damit ein Beispiel für jene leise Größe, die Michael Haydns geistliche Musik insgesamt auszeichnet: Musik, die nicht überwältigt, sondern begleitet – und gerade dadurch lange nachklingt.

 

Text

 

1.

Heiligste Nacht! Heiligste Nacht!

Finsternis weichet, es glänzet hienieden.

Harfen verbreiten den süssesten Klang.

Engel erscheinen, verkünden den Frieden,

lieblich ertönet ihr froher Gesang.

Christen, erwachet und kommet geschwind,

folget den Hirten, die eifriger sind,

eilet nach Bethlehem,

seht euer Diadem,

hier liegt das Kind.

 

2.

Göttliches Kind! Göttliches Kind!

Nacht ist vergangen, nun strahlt uns ein Morgen.

Gott hat sich unser in Liebe erbarmt.

Wir sind in Gnade und Güte geborgen,

Gott hat die Welt, hat die Menschen umarmt.

Geht nun zur Krippe und sehet das Kind,

sehet die Hirten, wie freudvoll sie sind.

Jubelt und singt dem Herrn,

den Welt und Himmel ehrn.

Halleluja!

 

CD-Vorschlag

 

Weihnachten in Wien,  Wiener Sängerknaben, Ambassade Orchester Wien, Leitung Gerald Wirth (* 1965), DECCA, 1999, Track 2.

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Johann Michael Haydn

Veni, veni Emmanuel

Veni, veni Emmanuel ist eine der eindringlichsten Antiphonen der Adventszeit und gehört zum ältesten Kernbestand der lateinischen Liturgie. Ihr Ursprung liegt im mittelalterlichen Gregorianischen Choral, vermutlich im 12. Jahrhundert. Der Text greift die sogenannten O-Antiphonen (17.–23. Dezember) auf, in denen Christus mit alttestamentlichen Hoheitstiteln angerufen wird. Die Antiphon bündelt diese Erwartung in einer einzigen, klagend-hoffenden Bitte: das Kommen des Erlösers.

 

Musikalisch ist Veni, veni Emmanuel von schlichter, archaischer Kraft. Die einstimmige Melodie bewegt sich in ruhigen, schmalen Intervallen und verzichtet auf jede äußerliche Zier. Gerade diese Zurückhaltung verleiht dem Gesang seine Tiefe: Die Trauer über die Gefangenschaft Israels und die Sehnsucht nach Erlösung werden nicht dramatisiert, sondern getragen und ausgehalten. Der wiederkehrende Ruf Gaude, gaude! wirkt dabei nicht als ausgelassener Jubel, sondern als verhaltene Verheißung – Freude, die noch nicht erfüllt, aber bereits gewiss ist.

 

Inhaltlich verbindet die Antiphon Exil und Hoffnung. Emmanuel – „Gott mit uns“ – wird als der Erwartete angerufen, der die Trennung zwischen Gott und Mensch überwindet. Der Text hält die Spannung des Advents exemplarisch fest: Klage und Trost, Dunkelheit und Verheißung stehen unaufgelöst nebeneinander. Genau darin liegt seine zeitlose Wirkung.

 

Bis heute bildet Veni, veni Emmanuel einen geistlichen Gegenpol zur weihnachtlichen Festlichkeit. Es ist Musik des Wartens, der Sammlung und der inneren Vorbereitung – nicht des erfüllten Festes, sondern der stillen Erwartung.

https://www.youtube.com/watch?v=xRi1GDoaQu4 

 

Deutsche Übersetzung

 

Komm, komm, Emmanuel,

erlöse dein gefangenes Israel,

das seufzt in der Verbannung

und der Nähe des Gottessohnes beraubt ist.

 

Komm, komm, o Herr,

der du deinem Volk auf dem Sinai

das Gesetz gegeben hast

in erhabener Herrlichkeit.

 

Komm, komm, o Spross aus der Wurzel Jesse,

der du als Zeichen für die Völker stehst;

vor dir werden die Könige verstummen,

dich werden die Nationen anflehen.

 

Komm, komm, o Schlüssel Davids,

der du öffnest und niemand schließt,

der du schließt und niemand öffnet;

komm und führe den Gefangenen aus dem Kerker,

der im Dunkel sitzt.

 

Komm, komm, o Aufgang aus der Höhe,

tröste uns durch dein Kommen,

vertreibe die Nebel der Nacht

und die finsteren Schatten des Todes.

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Veni, veni Emmanuel

Eintritt in den Klangraum

 

CD Orlando di Lasso, Choral Music, The Choir of Christ Church Cathedral, Oxford, Leitung Stephen Darlington (* 1952), Nimbus, 1987:

https://www.youtube.com/watch?v=LTQMrKMJpxM&list=OLAK5uy_kreGU3yRija6p5OlXnicOMppcBaTgvM18&index=2 

 

Diese Aufnahme gehört nicht zu jenen musikalischen Dokumenten, die sich dem Hörer anbieten, um Bewunderung einzufordern. Sie glänzt nicht, sie fordert nichts, sie tritt nicht vor.

Sie klingt, als wäre sie schon da – und wir dürften eintreten.

 

Wer diese Musik nur hört, um Polyphonie zu erleben, wird ihre Schönheit erfassen, aber nicht ihr Wesen. Denn diese Nimbus-CD ist keine Demonstration, keine Leistungsschau historischer Vokalkultur, sondern ein still gedeckter Tisch, auf dem etwas liegt, das nicht erklärt, sondern aufgenommen werden will.

 

Die Musik Lassos, so wie sie hier erklingt, will nicht beeindrucken – sie will atmen.

 

Sie geschieht nicht in der Absicht zu gefallen, sondern in der Haltung des Gebets, auch dort, wo der Text weltlich scheint. Der Klang erhebt sich nicht – er senkt sich in die Stille. Und der Hörer, der dies nicht konsumierend, sondern empfangend hört, bemerkt plötzlich,

dass Polyphonie nicht Klangfülle, sondern Raum für Gegenwart ist.

 

Man kann diese CD hören wie ein Konzert. Man kann sie aber auch nicht „anhören“, sondern mit ihr verweilen wie mit einer stillen Gemeinschaft. In diesem Hören wird Musik nicht mehr Werk, sondern Weg.

 

Wer nur Schönheit sucht, wird verweilen.

Wer Stille sucht, wird bleiben.

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Orlando di Lasso

Collegium Aureum

Die Collegium-Aureum-Edition vereint ein Repertoire, das den Kern der europäischen Musik des 17. und 18. Jahrhunderts abbildet. Vertreten sind unter anderem Claudio Monteverdi (1567–1643) und Heinrich Schütz (1585–1672) als Wegbereiter der barocken Klangsprache, Heinrich Ignaz Franz Biber (1644–1704), Johann Heinrich Schmelzer (ca. 1620–1680) und Georg Muffat (1653–1704) für den süddeutsch-österreichischen Raum, Arcangelo Corelli (1653–1713) und Antonio Vivaldi (1678–1741) für Italien, Jean-Baptiste Lully (1632–1687) und François Couperin (1668–1733) für Frankreich sowie Henry Purcell (1659–1695) für England. Einen zentralen Platz nehmen außerdem Georg Philipp Telemann (1681–1767), Georg Friedrich Händel (1685–1759) und Johann Sebastian Bach (1685–1750) ein, deren Werke hier in frühen, stilistisch wegweisenden historisch informierten Interpretationen begegnen.

 

Damit spannt die Edition einen großen Bogen von der frühbarocken Vokal- und Instrumentalmusik bis zur Hochblüte des Barock. Sie ist weniger eine Sammlung spektakulärer Einzelwerke als eine klug kuratierte musikalische Bibliothek, die stilistische Vielfalt, historische Tiefe und klangliche Noblesse auf exemplarische Weise verbindet – genau darin liegt ihr bleibender Wert.

https://www.youtube.com/watch?v=usPqzzHh280&list=OLAK5uy_nAIfoo18f_GrSYXrhZTQLYfbDW43Jz04o&index=2 

 

Das Collegium Aureum entstand Ende der 1960er-Jahre im Umfeld von Franzjosef Maier (1936–2014) und wurde vor allem durch seine Einspielungen für Deutsche Harmonia Mundi bekannt. Viele Aufnahmen dieser Edition entstanden in den 1970er- und frühen 1980er-Jahren und waren ihrer Zeit voraus: gespielt wurde auf historischen Instrumenten oder originalgetreuen Nachbauten, mit einem bewussten Blick auf Quellen, Besetzungsfragen und barocke Klangrhetorik – noch bevor sich die „HIP-Bewegung“ endgültig etabliert hatte.

 

Die 10-CD-Edition wirkt heute wie ein klingendes Kompendium: keine spektakuläre Virtuosität, kein demonstratives Tempo, sondern ein warmer, kultivierter Klang, große innere Ruhe und ein tiefes Verständnis für musikalische Architektur. Besonders beeindruckend ist die Selbstverständlichkeit, mit der sich französische, italienische und deutsch-österreichische Musik nebeneinander entfalten dürfen – stets getragen von stilistischer Disziplin und großer musikalischer Noblesse.

 

Für Hörer ist diese Box geradezu ideal: Sie ist keine Sammlung von „Hits“, sondern eine musikalische Bibliothek. Viele dieser Aufnahmen haben bis heute Referenzcharakter, nicht weil sie modern klingen, sondern weil sie musikalisch wahrhaftig sind. Man hört ihnen an, dass hier nicht Effekt, sondern Substanz gesucht wurde.

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Collegium Aureum

Cristóbal de Morales:  Motette Veni Domine, et noli tardare

 

Cristóbal de Morales (1500–1553) entfaltet in seiner Motette Veni Domine, et noli tardare ein polyphones Satzgewebe, das exemplarisch die hochentwickelte römisch-iberische Stilistik der mittleren Renaissance verkörpert. Die vierstimmige Faktur (SATB) basiert auf einem modal organisierten Tonsatz, der meist im dorischen Bereich verankert ist und durch eine kontinuierliche, streng kontrollierte Stimmführung geprägt wird. Morales arbeitet im eröffnenden Abschnitt Veni Domine mit einer charakteristischen Kopfmotivik: einer kurzen, aufwärts gerichteten Motivzelle, die unmittelbar in eine enggeführte Sekundbewegung mündet. Dieses Motiv erscheint imitatorisch versetzt zunächst im Sopran, dann im Alt, gefolgt vom Tenor und abschließend vom Bass; der imitatorische Abstand ist knapp bemessen, sodass früh ein dichtes kontrapunktisches Gefüge entsteht, das trotz seiner Polyphonie eine bemerkenswerte Textdeutlichkeit bewahrt. Die lineare Faktur ist bei Morales weniger gläsern und neutral als bei Palestrina: Die melodischen Konturen sind leicht asymmetrisch, die Intervalle häufig schrittweise geführt, doch bei rhetorisch signifikanten Textstellen mit kalkulierten Terz- und Quartgriffen versehen, wodurch die expressive Energie des adventlichen Gebets subtil gesteigert wird.

https://www.youtube.com/watch?v=dlvSw9EcVwY 

 

Der Abschnitt et noli tardare markiert eine polyphone Intensivierung, die Morales durch Engführungstechniken und gesteigerte Dissonanzfrequenz erreicht. Die Stimmen treten in engeren zeitlichen Abständen ein, die Zwischenräume zwischen den imitatorischen Kopfeinsätzen verkürzen sich, und die kontrapunktische Linienführung verdichtet sich zu einem beinahe kontinuierlichen Netz aus vorbereiteten und sofort aufgelösten Vorhaltsdissonanzen. Dieses Verdichtungsprinzip fungiert als klangliche Entsprechung zur semantischen Dringlichkeit des Textes („und zögere nicht“). Der folgende Vers relaxare fac vincula plebis tuae ist eines der eindrucksvollsten Beispiele für die rhetorische Textbehandlung Morales’: Die Intervalle verengen sich zunächst zu eng gesetzten Sekundreibungen, die musikalisch die „Fesseln“ (vincula) symbolisieren; darauf folgt eine deutliche Erweiterung des Tonsatzes, in dem sich die Stimmen voneinander lösen und der polyphone Raum wieder geweitet wird – ein kunstvolles musikalisches Bild des „Lösens“ und „Befreiens“.

 

Der zweite, dreigliedrige Teil – qui lapsus est, respice; et qui cecidit, erige; et qui errat, revoca – ist polyphon auf höchstem Niveau rhetorisch differenziert. Morales gestaltet die drei Bitten als sequenzielle Mikrostrukturen, die jeweils eine spezifische musikalische Kontur besitzen: Auf qui lapsus est („wer gefallen ist“) sinken die Stimmverläufe deutlich ab, oft in parallelen, schrittweisen Bewegungen der Mittelstimmen; auf et qui cecidit, erige („richte den Gestürzten auf“) kehrt er dieses Bewegungsprinzip vollständig um, indem er die Melodielinien mit aufwärts zielender Intervallspannung versieht, bevorzugt über Terz- und Quartschritte, welche die motivische Wiederaufrichtung hörbar beglaubigen. In et qui errat, revoca („führe den Irrenden zurück“) arbeitet Morales mit einer leicht oszillierenden, suchenden Linienführung, bei der die Stimmen den modalen Zentralton kurz verlassen und dann in enggeführter Imitation zu ihm zurückkehren. Diese klangliche Rückkehr ist nicht bloß ein kontrapunktisches Verfahren, sondern eine musikalische Metaphorik theologischer Heimführung – exemplarisch für die anthropologisch geprägte Ausdrucksästhetik der hispanischen Renaissance.

 

Der Schlussabschnitt realisiert eine graduelle Texturauflockerung: Die Dissonanzdichte nimmt ab, die Phrasen verlängern sich, und die Stimmen konvergieren zunehmend auf einen homorhythmisch stabilisierten Schlusspunkt. Morales verzichtet bewusst auf eine spektakuläre Kadenz; stattdessen führt er den modalen Satz in eine ruhige, beinahe kontemplative Ausgleichslage zurück, die der liturgischen Funktion der Motette vollkommen entspricht. Veni Domine, et noli tardare endet nicht in Erfüllung, sondern im Zustand einer geistlichen Erwartung, die musikalisch als balancierte Ruhe, theologisch jedoch als offener Adventsmodus zu verstehen ist.

 

Lateinischer Text

 

Veni, Domine, et noli tardare;

relaxare fac vincula plebis tuae.

Qui lapsus est, respice;

et qui cecidit, erige;

et qui errat, revoca.

 

Deutsche Übersetzung

 

Komm, o Herr, und zögere nicht;

löse die Fesseln deines Volkes.

Auf den Gefallenen blicke herab;

den Gestürzten richte wieder auf;

und den Irrenden führe zurück. 

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Cristóbal de Morales

Pavane pour une infante défunte

 

Maurice Ravel (1875–1937) komponierte seine Pavane pour une infante défunte 1899 zunächst für Klavier – ein elegisches Charakterstück, das bewusst an den höfischen Tanz der spanischen Renaissance anknüpft. Der Titel ist kein Hinweis auf ein reales Ereignis, sondern eine poetische Fantasie: Ravel wollte sich lediglich vorstellen, wie eine „Pavane für eine verstorbene Infantin“ klingen könnte. Das Werk lebt von seiner schwebenden Melancholie, von der feinen Schattierung der Dynamik und von einer Melodie, die in stiller Würde durch die weit ausgehörten Klangräume schreitet. Die Pavane verbindet klassische Klarheit mit impressionistischer Farbigkeit und gehört seit ihrer Entstehung zu Ravels populärsten Stücken.

 

https://www.youtube.com/watch?v=UIXe7H52UkA 

 

Seong-Jin Cho (* 1994) gilt seit seinem Sieg beim Internationalen Chopin-Wettbewerb 2015 als einer der markantesten Pianisten seiner Generation. Er verbindet technische Makellosigkeit mit einer Ästhetik, die gleichermaßen kontrolliert, poetisch und stilistisch präzise ist. Cho arbeitet bevorzugt mit transparentem Klang, subtilen Farben und einem beinahe kammermusikalischen Verständnis von Linie und Atem. Weltweit gefragt, hat er sich durch seine Einspielungen von Debussy, Ravel und Chopin als herausragender Interpret französischer Klangkunst etabliert.

 

In seiner Interpretation der Pavane pour une infante défunte nimmt Cho den elegischen Charakter des Stücks mit exemplarischer Ruhe auf. Der Klang bleibt stets weich modelliert, niemals schwer, und die innere Spannung entsteht aus feinsten Abstufungen des Tempos und der Phrasierung. Die Melodie wirkt wie eine schwebende Erinnerung, getragen von einer vollkommen kontrollierten, fast durchsichtigen Anschlagskultur. Cho zeigt, dass Ravel hier keine Trauermusik komponierte, sondern ein zartes, nostalgisches Portrait – ein musikalischer Blick zurück in eine Welt höfischer Anmut, den der Pianist mit großer Sensibilität einfängt.

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Maurice Ravel

Palestrinas Stabat Mater

Die zweichörige Motette Stabat Mater von Giovanni Pierluigi da Palestrina gehört zu den stillsten und zugleich eindrucksvollsten Klangikonen der römischen Renaissance. In acht Stimmen entfaltet sich eine feierlich-ruhige Klangarchitektur, in der zwei Chöre wie im Gebet aufeinander antworten und den Schmerz Marias unter dem Kreuz in reiner, strahlender Harmonie nachzeichnen. Das Werk, lange Zeit ein Geheimstück der Sixtinischen Kapelle und nur am Karfreitag gesungen, beeindruckt bis heute durch seine noble Schlichtheit und seine leuchtende, fast zeitlose Ruhe. Eine besonders eindrucksvolle moderne Interpretation bietet das Ensemble VOCES8, das die Transparenz und innere Ruhe dieser Musik mit außergewöhnlicher Klarheit und feinsinniger Balance zum Leuchten bringt.

 

https://www.youtube.com/watch?v=sLkLhZXCmmo 

 

Eine ausführlichere Darstellung dieser Motette – einschließlich Entstehung, Textfassung und stilistischer Einordnung – findet sich direkt bei Palestrina unter Motetten.

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Giovanni Pierluigi da Palestrina

Tomás Luis de Victoria (1548–1611)  –  O vos omnes

(Responsorium für Karsamstag, aus dem Officium Hebdomadae Sanctae, Rom 1585), Tenebrae – Leitung: Nigel Short (* 1965)

 

https://www.youtube.com/watch?v=n0NyxdS4Zhw 

 

Victorias O vos omnes gehört zu jenen kurzen, aber tief eindringlichen Responsorien der Karwochenliturgie, die ihr ganzes Gewicht aus der Intensität weniger Takte schöpfen. In der Interpretation des Ensembles Tenebrae unter Nigel Short erhält die Komposition jene schwebende Transparenz, die Victorias Handschrift besonders auszeichnet: eine archaisch wirkende Klarheit, die dennoch von tiefer Emotion getragen ist. Der Satz lebt von ruhigen Stimmverläufen, langen Atemzügen und jenem typisch iberischen Ausdruck des Leidens, der nie in Dramatik ausbricht, sondern sich innerlich verdichtet.

 

Die Musik beginnt mit einer fast unbewegten Akkordfolge, die den Blick der Hörenden unmittelbar auf den Text lenkt: den Aufruf an die Vorübergehenden, für einen Augenblick stehen zu bleiben und das Leiden des Gerechten zu betrachten. Victoria gestaltet diese Worte mit einer Mischung aus asketischer Strenge und einer fast körperlichen Wärme des Klanges. Besonders berührend ist der Moment, in dem die Stimmen den zentralen Satz Si est dolor similis sicut dolor meus umkreisen: Die Harmonik wird dichter, die Intervalle enger, als würde das Leid zu einem einzigen, in sich versenkten Atemzug.

 

Tenebrae formt diesen Satz mit großer Ruhe, vollkommen kontrollierter Dynamik und einem geradezu überirdischen Legato. Die Linien verschmelzen zu einer Klangfläche, die nicht drückt, sondern trägt. Dadurch entfaltet sich jene spirituelle Intensität, für die Victoria berühmt ist: Eine Traurigkeit, die zugleich Trost spendet; ein Schmerz, der nicht schreit, sondern bittet, verstanden zu werden.

 

Lateinischer Text 

 

O vos omnes,

qui transitis per viam,

attendite et videte,

si est dolor similis sicut dolor meus.

 

Deutsche Übersetzung 

 

O ihr alle,

die ihr des Weges kommt,

bleibt stehen und schaut hin:

ob irgendein Schmerz dem meinen gleicht.

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Tomás Luis de Victoria

Georg Friedrich Händel (1685–1759): The Coronation Anthems – festliche englische Kirchenmotetten (HWV 258–261)

 

Als Georg Friedrich Händel (1685–1759) im Jahr 1727 die Aufgabe erhielt, für die Krönung von King George II (1683–1760) vier großangelegte Anthems zu komponieren, war dies eine der bedeutendsten öffentlichen Auftragskompositionen seiner Karriere. Die Feierlichkeiten am 11. Oktober 1727 in der Westminster Abbey verlangten Musik, die gleichermaßen königliche Pracht, religiöse Erhabenheit und festliche Anrufung ausdrücken konnte. Händels Antwort war ein Werkzyklus von monumentaler Klangfülle, der bis heute als Inbegriff britischer Krönungsmusik gilt und seit 1727 bei nahezu jeder Krönung wieder erklang. Die Kombination aus strahlender Orchesterbesetzung, machtvollem Chor und der Verwendung biblischer Texte aus dem First Book of Kings sowie aus den Psalmen lassen die Anthems wie eine musikalische Apotheose monarchischer Würde und sakraler Erhebung erscheinen.

 

Die Einspielung mit The Sixteen unter Harry Christophers (* 1953) gehört zu den künstlerisch eindrucksvollsten modernen Interpretationen. Sie verbindet vokale Klarheit, flexible Tempi, raffiniert gewichtete Klangbalance und ein überwältigendes Verständnis für Händels dramaturgische Architektur:

 

https://www.youtube.com/watch?v=vAyVVqseYZo 

 

1. Zadok the Priest, HWV 258

 

Kein anderes Werk Händels hat eine vergleichbare ikonische Wirkung entfaltet wie dieses Anthem, dessen orchestraler Auftakt mit langsam wachsender Spannung und anschließender Chorexplosion längst zu einem musikalischen Symbol britischer Staatlichkeit geworden ist. Händel entfaltet aus einem scheinbar unbeweglichen Klangfeld heraus eine gewichtige Harmoniefläche; das Orchester steigert sich schrittweise, bis der Chor mit der Macht eines akustischen Donners einsetzt: Zadok the priest, and Nathan the prophet anointed Solomon king.

Die Musik evoziert die Salbung des Königs als göttlich legitimierten Akt und verbindet alttestamentliche Würde mit barocker Festlichkeit. In den folgenden Abschnitten steigert sich das Werk zu einem Jubelstrom, der sich in der vielgeteilten Schlussformel Amen, alleluia zu höchster musikalischer Strahlkraft verdichtet.

 

Englischer Text

 

Zadok the priest

And Nathan the prophet

Anointed Solomon king.

And all the people rejoiced, and said:

God save the King!

Long live the King!

God save the King!

May the King live forever.

Amen, amen, alleluia, alleluia, amen.

 

Deutsche Übersetzung

 

Zadok, der Priester,

und Nathan, der Prophet,

salbten Salomo zum König.

Und das ganze Volk jauchzte und rief:

Gott schütze den König!

Lang lebe der König!

Gott schütze den König!

Der König lebe für immer.

Amen, amen, Halleluja, Halleluja, amen.

 

2. Let Thy Hand Be Strengthened, HWV 259

 

Dieses zweite Anthem besitzt einen stärker kontemplativen, aber dennoch festlichen Ton. Händel betont die theologische Dimension königlicher Macht: Stärke, Gerechtigkeit, Barmherzigkeit und Wahrheit erscheinen nicht als weltliche Eigenschaften, sondern als göttliche Gaben.

Der musikalische Satz ist von eleganter Strenge, klare melodische Linien stehen im Vordergrund, und die Chorpolyphonie wird von kraftvollen homophonen Passagen durchbrochen. Das abschließende Alleluia ist kurz, aber strahlend – wie eine bündige Bekräftigung der göttlichen Legitimation königlicher Herrschaft.

 

Englischer Text

 

Let thy hand be strengthened,

and thy right hand be exalted.

Let justice and judgment

be the preparation of thy seat.

Let mercy and truth go before thy face.

Alleluia.

 

Deutsche Übersetzung

 

Es werde deine Hand gestärkt

und deine Rechte erhoben.

Gerechtigkeit und Gericht

seien das Fundament deines Thrones.

Barmherzigkeit und Wahrheit

gehen vor deinem Angesicht her.

Halleluja.

 

3. The King Shall Rejoice, HWV 260

 

Das dritte Anthem ist musikalisch das glänzendste der vier und verbindet triumphale Kraft mit feiner orchestraler Eleganz. Händel greift Worte aus Psalm 21 auf und zeichnet ein idealisiertes Bild des Königs, dessen Freude aus göttlicher Stärke und Schutz erwächst.

Der Chor jubiliert im eröffnenden Satz The King shall rejoice, während das Orchester mit festlich tanzenden Gesten antwortet. Besonders eindrucksvoll ist die Passage Thou hast set a crown of pure gold upon his head: Ein majestätischer Klangraum entsteht, der förmlich die goldene Krone hörbar macht. Das abschließende Alleluia entfaltet sich mit voller, unerschütterlicher Klangpracht.

 

Englischer Text

 

The King shall rejoice in thy strength, O Lord;

and exceeding glad shall he be of thy salvation.

Thou hast given him his heart’s desire

and hast not withholden the request of his lips.

Glory and great worship hast thou laid upon him.

Thou hast prevented him with the blessings of goodness

and hast set a crown of pure gold upon his head.

Alleluia.

 

Deutsche Übersetzung

 

Der König freut sich über deine Stärke, o Herr,

und sehr froh ist er über deine Rettung.

Du hast ihm seines Herzens Wunsch erfüllt

und das Verlangen seiner Lippen nicht abgewiesen.

Ehre und Würde hast du auf ihn gelegt.

Du bist ihm mit dem Segen des Guten entgegengekommen

und hast ihm eine Krone reinen Goldes auf das Haupt gesetzt.

Halleluja.

 

4. My Heart Is Inditing, HWV 261

 

Das vierte Anthem ist das längste und zugleich lyrischste. Händel verwendet Verse aus Psalm 45, einem „Hochzeitspsalm“, der die königliche Braut beschreibt. Dieses Anthem wurde während der Zeremonie beim Einzug der Königin gesungen, weshalb der Text die weibliche Würde besonders hervorhebt.

Die Musik ist anmutig, farbenreich und melodisch opulent. Händel entfaltet eine warm leuchtende Klangsprache, die die königliche Braut in majestätischem Licht erscheinen lässt. Besonders eindrucksvoll ist der Abschnitt Upon thy right hand did stand the Queen in vesture of gold, in dem der Chor wie ein musikalischer Hofstaat klingt. Der spätere Vers Kings shall be thy nursing fathers erhält eine ruhige, nach innen gewandte Deutung, in der Händel die Vorstellung königlicher Schutzpflicht in eine zarte, beinahe pastoral anmutende Klangwelt versetzt.

 

Englischer Text

 

My heart is inditing of a good matter:

I speak of the things which I have made unto the King.

Kings’ daughters were among thy honourable women.

Upon thy right hand did stand the Queen

in vesture of gold and all glorious within.

Hearken, O daughter; consider, incline thine ear.

The King shall have pleasure in thy beauty.

Kings shall be thy nursing fathers,

and queens thy nursing mothers.

 

Deutsche Übersetzung

 

Mein Herz dichtet von einer schönen Sache:

Ich spreche von dem, was ich dem König bereitet habe.

Königstöchter standen unter deinen edlen Frauen.

Zu deiner Rechten stand die Königin,

in goldener Gewandung und innerlich strahlend.

Höre, o Tochter, bedenke und neige dein Ohr.

Der König wird Gefallen an deiner Schönheit haben.

Könige werden deine nährenden Väter sein,

und Königinnen deine pflegenden Mütter.

 

CD-Vorschlag:

G. F. Händel: Coronation Anthems.

The Sixteen unter der Leitung von Harry Christophers (* 1953).

CORO, COR16066, ℗ 2009 The Sixteen Productions Ltd., erschienen am 02.02.2009. (Tracks 2 bis 5, 10 bis 14 und 16 bis 18)

 

https://www.youtube.com/watch?v=cfQuWlfRmq0&list=OLAK5uy_nzUPah-9VRU8z9TJ9oKBtipzhJ9UYqEys&index=1 

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Georg Friedrich Händel

William Byrds Motette „Ne irascaris, Domine - Civitas sancti tui“

William Byrd (* um1543 – † 5. Juli 1623) zählt zu den schöpferisch eindrucksvollsten und zugleich widersprüchlichsten Gestalten der englischen Renaissance. Er wuchs in einer Epoche konfessioneller Umbrüche auf und fand dennoch eine eigene musikalische Sprache von außergewöhnlicher geistiger Intensität und struktureller Kühnheit. Als Gentleman der Chapel Royal stand er im Dienst der Krone, doch sein künstlerisches Herz schlug weiterhin für den verbotenen katholischen Ritus. In diesem Spannungsfeld zwischen öffentlicher Loyalität und privater Glaubensüberzeugung entstanden seine bedeutendsten Werke: die großen lateinischen Motetten, die er – oft unter ernsten persönlichen Risiken – für die im Untergrund lebenden katholischen Gemeinden schrieb.

 

Byrds Musik lebt von einer seltenen Verbindung aus Feinheit des Satzes, rhetorischer Klarheit und emotionaler Schärfe. Seine Motetten greifen häufig auf biblische Texte zurück, die das Leiden eines verfolgten Volkes beschreiben – Texte, die in seiner Zeit als verschlüsselte Selbstinterpretation der bedrängten englischen Katholiken verstanden wurden. Keine andere englische Musik des 16. Jahrhunderts spiegelt so deutlich die inneren Brüche, Hoffnungen und Ängste dieser Gemeinschaft wider wie die seine.

 

Die Motette „Ne irascaris, Domine - Civitas sancti tui“ gehört zu seinen bekanntesten und am häufigsten aufgeführten. Sie erschien erstmals 1589 in der Sammlung Cantiones Sacrae I.

 

https://www.youtube.com/watch?v=Wo8qfyK9c3c 

 

Der Text stammt aus dem Alten Testament (Jesaja 64, 9) und spricht von Zorn, Sühne, Verlassenheit – Bild für das Exil Israels nach dem Untergang Jerusalems. Für die katholische Untergrundgemeinde im England Byrds war dieser Text zugleich Anklage und Klage über das Schicksal ihrer Kirche.

 

Latein (Vulgata)

 

Ne irascaris, Domine, satis,

et ne ultra memineris iniquitatis nostrae.

Ecce, respice: populus tuus omnes nos.

 

Civitas sancti tui facta est deserta.

Sion deserta facta est,

Jerusalem desolata est.

 

Zeitgemäße deutsche Übersetzung:

 

„Sei nicht übermäßig zornig, Herr,

und gedenke nicht länger unserer Schuld.

Sieh doch hin: wir alle sind dein Volk.

 

Die Stadt deines Heiligen ist zur Wüste geworden.

Zion wurde zur Öde,

Jerusalem liegt verwüstet.“

 

Musikalisch ist die Motette ein Meisterwerk expressiver Zurückhaltung: Der Beginn führt mit dunklen, tiefen Stimmen und erinnert in Stimmung und Stimmungslage an eine getragene Trauer.

 

Eine homophone Stelle bei „Ecce“ („Sieh!“) richtet die Aufmerksamkeit eindringlich auf das Volk in Elend; anschließend setzt imitierender Satz ein für „populus tuus omnes nos“ („dein Volk sind wir alle“).

 

Der Übergang zur zweiten Hälfte („Civitas sancti tui …“) beginnt ruhig und unscheinbar, steigert sich aber zu einem dramatischen Ausdruck innerer Verlassenheit: Der Choral verdichtet sich – gerade auch durch eine lange Sequenz verzweifelter „desolata est“-Wiederholungen – zu einem Klangbild von Ruinen und Exil.

 

Trotz (oder gerade wegen) der zurückhaltenden, nahezu kontemplativen Tonsprache – ohne starke Dissonanzen und ohne explizite Moll-Kadenz – gelingt Byrd eine eindrückliche musikalische Darstellung des Textschlusses, die mit ihrer stillen, resignativen Stimmung bis heute tief berührt.

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William Byrd

Konzert für zwei Violinen in d-Moll

Johann Sebastian Bachs (1685–1750) Konzert für zwei Violinen in d-Moll, BWV 1043 gehört zu den kostbarsten Schöpfungen seines instrumentalen Œuvres. Seine Berühmtheit verdankt es nicht allein der vollendeten Balance zwischen polyphoner Strenge und melodischer Innigkeit, sondern vor allem dem einzigartigen Dialog zweier Violinen, die einander in ständig wechselnden Konstellationen begegnen: einmal als gleichberechtigte Partner, dann wieder als kontrastierende Charaktere, oder schließlich als zwei Stimmen, die sich zu einer einzigen Klanggestalt verweben. Besonders im zweiten Satz, dem largo ma non tanto, erreicht Bach eine Tiefe und Innigkeit, die innerhalb der barocken Konzertliteratur ihresgleichen sucht. Über einem unablässig schreitenden, beinahe meditativen Continuo entfalten die beiden Violinen eine kantable, in sich kreisende Melodik, die den Hörer unmittelbar in einen Zustand zarter, fast zeitlos wirkender Kontemplation versetzt.

Eine der bedeutendsten und bis heute exemplarischen Interpretationen stammt von Yehudi Menuhin (1916–1999) und David Oistrach (1908–1974), zwei Giganten des 20. Jahrhunderts, deren künstlerische Welten eigentlich unterschiedlicher kaum sein könnten. Menuhin verkörperte den suchenden, spirituell weit geöffneten Musiker, der aus jedem Ton eine innere Wahrheit herauszuhören versuchte; Oistrach hingegen stand für technische Vollendung, warme Klangfülle und jenes souveräne Gleichmaß, das aus tief empfundener Musikalität erwuchs. Wenn sich diese beiden Temperamente im Doppelkonzert begegnen, entsteht ein Spannungsbogen zwischen Expressivität und Ruhe, zwischen luzider Linienführung und großzügigem Gesangston, der das Werk in einer Weise aufschließt, die weit über den historischen Konzertstil hinausreicht.

https://www.youtube.com/watch?v=DJh6i-t_I1Q 

 

Ihre gemeinsame Einspielung – entstanden im Rahmen der legendären Zusammenarbeit zwischen sowjetischen und westlichen Musikern in den 1960er-Jahren – ist nicht nur ein musikalisches Dokument von höchstem Rang, sondern auch ein Symbol einer seltenen künstlerischen Begegnung. Der Klang beider Violinen verbindet sich zu einer nahezu idealen Verschmelzung: Menuhin mit seinem silbrigen, fast ätherischen Timbre, Oistrach mit seiner goldenen, warmen Tongebung. Im ersten Satz entsteht daraus eine lebendige, von spontaner Energie getragene Polyphonie, deren Stimmen sich mit spielerischer Eleganz in- und umeinander bewegen. Der langsame Satz wird zum Herzstück: ein Dialog des Atmens, des Hörens, des Antwortens, getragen von großer innerer Ruhe. Der Finalsatz schließlich zeigt beide Solisten in vollendeter Virtuosität, jedoch stets im Dienste der Musik, ohne jede äußerliche Brillanz.

Diese Aufnahme gilt nicht zufällig als Referenz für Generationen von Hörern und Geigern. Sie vereint zwei völlig verschiedene Persönlichkeiten zu einer Interpretation, die von tiefer gegenseitiger Wertschätzung getragen ist und so einen besonderen Zauber entfaltet. Für jede Sammlung und jede Webseite, die sich seriös mit Klassik befasst, gehört diese Einspielung des Doppelkonzerts ohne Einschränkung zu den unverzichtbaren Empfehlungen.

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Johann Sebastian Bach

Auf dem Gebirge

 

Heinrich Schütz (1585–1672) steht wie eine monumentale Gestalt an der Schwelle zwischen Renaissance und Barock, als ein Musiker, der die Ausdruckskraft der deutschen Sprache in der Musik neu definierte. Sein Lebensweg beginnt in Kassel, wo man seine außergewöhnliche Begabung früh erkannte und ihn gefördert hat. Entscheidend wurde jedoch seine Ausbildung in Venedig, zunächst bei Giovanni Gabrieli (ca. 1554–1612), später unter dem Einfluss Claudio Monteverdis (1567–1643). Dort lernte er, wie Wort, Klang und Affekt eine innere Einheit bilden können – ein Gedanke, der ihn sein ganzes Leben begleitet und sein Werk wie eine geistige Signatur durchzieht.

 

Als Kapellmeister in Dresden wirkte Schütz über Jahrzehnte hinweg in politisch unruhigen Zeiten, geprägt vom Dreißigjährigen Krieg, materieller Not und menschlichem Verlust. Seine Musik ist daher nicht nur Kunst, sondern oft Trostschrift und geistige Bewältigung. Sie zeigt, dass wahre Größe nicht in äußerer Pracht liegt, sondern in der Fähigkeit, menschliche Erfahrung in ihrer ganzen Tiefe hörbar zu machen. Schütz bleibt bis heute der Komponist, der Schmerz, Glauben, Hoffnung und das metaphysische Dunkel des Daseins mit einer Reinheit des Ausdrucks verbindet, die ihresgleichen sucht.

 

Die Komposition „Auf dem Gebirge“ aus der Geistlichen Chormusik Nr. 28 von 1648 gehört zu den eindrucksvollsten Zeugnissen dieser inneren Welt. Schütz arbeitet hier ohne instrumentale Begleitung, ausschließlich mit Stimmen, die in einem empfindlichen Gleichgewicht zwischen Nähe und Distanz wirken. Der verwendete Text aus dem Buch Jeremia beschreibt Rahels Klage über ihre getöteten Kinder – ein biblisches Bild des Leidens, das zugleich persönlich und universell ist.

 

Schütz verwandelt diesen Text nicht in ein dramatisches Tableau, sondern in eine Art seelisches Mikroskop: Jede Stimme trägt einen Faden des Schmerzes, und doch ist es niemals bloß Ausdruck, sondern ein Sprechen nach innen, ein meditatives Betreten eines Raumes, der weder Trost kennt noch Trost sucht. Wenn die Musik die Worte „sie wollte sich nicht trösten lassen“ gestaltet, schwebt sie in einer Zeitlosigkeit, als ob die Stimmen selbst den Atem anhalten müssten, um nicht in Gefühlsausbruch zu verfallen. Diese Zurückhaltung ist ein Zeichen von Schütz’ Größe – er formuliert Trauer nicht als Dramatik, sondern als Zustand.

 

Besonders eindringlich ist der Schluss: „Denn es war aus mit ihnen.“ Hier bricht nichts zusammen, es ertönt kein Pathos. Stattdessen zieht sich die Musik zurück wie ein Licht, das plötzlich kleiner wird, bis nur noch ein Rest Glimmen übrig bleibt. Diese Schlichtheit ist erschütternder als jede laute Geste. Sie zeigt, dass Leid eine Form der Erkenntnis sein kann: die Einsicht, dass es Erfahrungen gibt, die sich nicht wandeln lassen, und dass Musik sie nicht auflösen, aber hörbar machen kann.

 

In der Aufnahme mit Iestyn Davies (* 1979) und Hugh Cutting (* 1997), begleitet vom Gambenconsort Fretwork, gewinnt dieses Werk eine zusätzliche Dimension:

https://www.youtube.com/watch?v=4cR2mw0r488 

 

Die beiden Countertenöre lösen den Satz aus jeder Schwere und schaffen einen Klang, der zugleich schattenhaft und leuchtend wirkt. Ihre Stimmen sind wie zwei filigrane Linien, die sich an manchen Stellen berühren, an anderen wieder voneinander entfernen – ein vokales Bild von Nähe und Verlust. Fretwork fügt sich mit seinen Violen da Gamba nicht als Ornament ein, sondern als untergründige Resonanz, die den affektiven Kern der Komposition trägt: weich, dunkel, atmend.

 

Diese Interpretation lebt von ihrer Zurückhaltung. Sie versucht nichts hinzuzufügen, was nicht im Werk liegt, und öffnet gerade dadurch einen Raum, in dem man die geistige Nacktheit dieser Musik unmittelbar spürt. Man hört nicht einfach einen Chorsatz des 17. Jahrhunderts; man hört den Klang einer Klage, die Jahrhunderte überdauert, weil sie jenseits der Zeit steht. Die Aufnahme besitzt jene seltene Fähigkeit, Stille nicht als Leere, sondern als Form des Ausdrucks wirken zu lassen. Man hält unwillkürlich den Atem an – nicht, weil etwas Spektakuläres geschieht, sondern weil die Musik das Unsagbare berührt.

 

In dieser Verbindung von Schütz’ kompositorischer Tiefenschärfe und der interpretatorischen Feinheit der britischen Musiker wird „Auf dem Gebirge“ zu einer existentiellen Erfahrung. Das Werk zeigt, dass große geistliche Musik nicht Trost spenden muss, um wahr zu sein. Sie zeigt den Menschen so, wie er ist: verletzlich, suchend und doch fähig, im Schmerz eine Würde zu finden, die sich nur in Klang ausdrücken lässt.

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Heinrich Schütz

Franz Liszt (1811–1886):

Legenden- Legende Nr. 1, S. 175

 

St. Francois d'Assise: La prédication aux oiseaux

(„Heiliger Franz von Assisi: Die Predigt an die Vögel")

 

Klavier: Leslie Howard (1893–1943):

https://www.youtube.com/watch?v=Q1DK0MLxZQQ 

 

Liszt komponierte die erste Legende von Franziskus von Assisi († 1226), der zu den Vögeln predigt, im Jahr 1863. Er versuchte das berühmte Kapitel der "Fioretti" in klingende Bilder umzusetzen. Der Komponist hat den Heiligen um "Vergebung dafür gebeten, den wunderbaren Ausdruck des Textes verarmt zu haben".

Die „Fioretti di San Francesco“ oder „Blümlein des Hl. Franziskus“ sind ein in 53 kurze Kapitel eingeteiltes Florilegium über das Leben des Franz von Assisi. Ein Florilegium war eine im Mittelalter gebräuchliche Form, die Auszüge aus Schriften antiker und mittelalterlicher Autoren, meist Versdichtern, umfasste. Der anonyme italienische Text des späten 14. Jahrhunderts, geschrieben vermutlich von einem toskanischen Autor, ist eine Version des lateinischen „Actus beati Francisci et sociorum eius“, dessen ältestes erhaltenes Manuskript von 1390 stammt.

 

Die Komposition ist ein Funkeln von Klängen, das durch schnelle Triller und Fragmente von Tonleitern und Arpeggien erzeugt wird.

Hier wird beabsichtigt, den Gesang und das Flattern der Vögel heraufzubeschwören; während das Wechseln dieser Muster mit kurzen melodischen Phrasen wie ein Rezitativ das musikalische Äquivalent der Rede des Heiligen darstellen soll. Auf den ersten Teil des Stücks, der eher beschreibend und farbenfroh ist, folgt ein ausgedehntes, singbares Zwischenspiel, das zu einem intensiven Crescendo führt. Der Abschluss erfolgt mit der Rückkehr zur anfänglichen Atmosphäre.

Da sie lange nach dem Tod des Franz von Assisi entstanden sind, gelten die „Fioretti“ im Allgemeinen nicht als wichtige Quelle für sein Leben, sind aber die beliebteste Legendensammlung für ein breites Publikum geworden.

 

Legenden – Legende II, S. 175

 

„San Francesco di Paola che cammina sulle onde“ (Fantasia quasi Sonata in E - Dur)

(„Der heilige Franz von Paola, der auf den Wellen geht.")

 

Klavier: Leslie Howard (1893–1943):

 

https://www.youtube.com/watch?v=WpIu5vEE-OM 

 

Komposition: 1863

Verlag: Rózsavőlgyi, Budapest, 1866

Widmung: Tochter Cosima Liszt von Bülow (1837–1930)

 

Die Legende von Franz von Paola (1416–1505), der über die Wellen geht, bezieht sich auf das Wunder, das der Heilige vollbracht hat, als einige Bootsleute sich weigerten, ihn auf ihrem Boot mitzunehmen, und er die Straße von Messina überquerte, indem er ruhig über die Wellen ging.

 

Die Komposition wurde von einem Gemälde des österreichischen Malers Edward von Steinle (1810–1888) inspiriert, das die Episode darstellt und von der Lebensgefährtin von Franz Liszt, der Prinzessin Carolyne zu Sayn-Wittgenstein (1819–1887), Liszt geschenkt wurde.

 

Im Gegensatz zu dem anderen Stück, das als impressionistisch bezeichnet werden kann, ist dieses Stück auf die Entwicklung oder besser gesagt "Ausdehnung" des Hauptthemas gerichtet, das zu Beginn der Komposition in den Bässen dargelegt wird. Der aufsteigende, agogische und dynamische Charakter dieser melodischen Figur wird gegen Ende von einer neuen Idee unterbrochen, die kurz in einem langsamen, rezitativischen Stil dargelegt wird. Das Hauptthema wird dann in fortissimo wieder aufgenommen.

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Franz Liszt

Jacobus Gallus (1550–1591): Ecce quomodo moritur iustus

 

Diese Motette gehört zu den eindringlichsten und bekanntesten Werken von Jacobus Gallus (eigentlich Jacob Handl), dem aus dem heutigen Slowenien stammenden Komponisten der Spätrenaissance. Sie erschien 1587 im zweiten Band seines monumentalen „Opus Musicum“ innerhalb der Gruppe „De Passione Domini nostri Iesu Christi“ und nimmt ihren Text aus Jesaja 57,1–2 der Vulgata, einem Abschnitt, der in der christlichen Liturgie mit dem Tod Christi, aber auch ganz allgemein mit dem Sterben der Gerechten verbunden ist. In der vortridentinischen Tenebrae-Liturgie der Karwoche wurde „Ecce quomodo moritur iustus“ als Responsorium des Karsamstags gesungen; das Stück hat seither seinen festen Platz im Karfreitags- und Begräbnisrepertoire gefunden und wurde über Konfessionsgrenzen hinweg geschätzt.

https://www.youtube.com/watch?v=BB_Qnbz9gpw

 

Musikalisch arbeitet Gallus mit vierstimmigem Chorsatz (SATB) und verbindet knappe, syllabische Textdeklamation mit dichtem imitatorischem Satz. Die Motette ist relativ kurz, aber von großer Konzentration: gleich zu Beginn legt Gallus auf „moritur iustus“ gewichtige Akkorde und expressive Vorhalte, so dass der Hörer den Moment des Sterbens des Gerechten nahezu körperlich spürt. Die folgenden Zeilen „et nemo percipit corde…“ sind meist homophon gesetzt; Gallus lässt die Stimmen hier gemeinsam sprechen, als wollte er die Blindheit der Menschen gegenüber dem Leid der Gerechten musikalisch als kollektive, schwerfällige Bewegung hörbar machen. Besonders eindrucksvoll ist „a facie iniquitatis sublatus est iustus“: hier nutzt er Dissonanzen und eng geführte Imitation, um die Bedrohung durch die „iniquitas“ zu schildern, bevor sich der Satz auf „et erit in pace memoria eius“ in ruhigere, leuchtende Harmonien löst. Die zweite Hälfte „In pace factus est locus eius…“ wirkt wie eine klangliche Verklärung: die Harmonik klärt sich, die Intervalle werden weiter, und der Chor findet zu einer Atmosphäre des versöhnten Friedens, in der der Gerechte seinen Ort und seine Wohnung auf Sion gefunden hat. Gerade in Aufführungen in Kirchen – etwa in der Jakobskirche in Ljubljana – entfaltet diese Musik eine eindringliche, kontemplative Wirkung, die zwischen Passion, Trauermusik und stiller Auferstehungshoffnung vermittelt.

 

In dieser Aufführung verwendet der Chor eine historisch orientierte lateinische Aussprache, wie sie in der mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Kirchenmusik üblich war.

 

Lateinischer Text

 

Ecce quomodo moritur iustus

et nemo percipit corde.

Viri iusti tolluntur

et nemo considerat.

A facie iniquitatis sublatus est iustus

et erit in pace memoria eius.

 

In pace factus est locus eius,

et in Sion habitatio eius,

et erit in pace memoria eius.

 

Deutsche Übersetzung

 

Siehe, wie der Gerechte stirbt,

und niemand nimmt es sich zu Herzen.

Gerechte Menschen werden hinweggenommen,

und niemand bedenkt es.

Vor dem Angesicht der Bosheit ist der Gerechte weggenommen,

und sein Gedächtnis wird in Frieden sein.

 

In Frieden ist seine Stätte bereitet,

und auf Sion ist seine Wohnung,

und sein Gedächtnis wird in Frieden sein.

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Jacobus Gallus

Jean-Philippe Rameau (1683–1764): „Forêts paisibles“ aus Les Indes galantes – Magali Léger, Laurent Naouri, Les Musiciens du Louvre, Marc Minkowski

 

In diesem Konzertmitschnitt entfaltet sich eines der poetischsten und zugleich charakteristischsten Bilder des französischen Barock: der Rondeau „Forêts paisibles“ aus der vierten Entrée Les Sauvages von Jean-Philippe Rameaus Les Indes galantes, jenem 1735 uraufgeführten Opéra-ballet, das wie kaum ein anderes Werk die weite Fantasie- und Ideallandschaft des französischen 18. Jahrhunderts eröffnet. Der Ausschnitt wird von der Sopranistin Magali Léger (* 1976) und dem Bariton Laurent Naouri (* 1964) gemeinsam mit Les Musiciens du Louvre, geleitet von Marc Minkowski (* 1962), mit einer Feinheit und Klangkultur gestaltet, die den besonderen Geist dieser Musik vollkommen zur Geltung bringt.

 

Les Indes galantes trägt seinen poetischen Kern nicht in dramatischer Zuspitzung, sondern in der Kraft der Bilder und Stimmungen. Die Oper besteht aus einem Prolog und vier in sich geschlossenen Entrées, die jeweils exotische Schauplätze in symbolischer Überhöhung darstellen. Die vierte Entrée, Les Sauvages, spielt in Nordamerika, und sie ist zugleich jene, in der Rameau die Vorstellung des „natürlichen Menschen“ am eindringlichsten musikalisch formt. In einer Welt, die im Pariser 18. Jahrhundert von gesellschaftlicher Rivalität, höfischer Glätte und sozialen Masken geprägt war, steht dieser Abschnitt für ein Gegenbild – für eine Natur, die reine Empfindung erlaubt und die verletzliche Harmonie des Herzens schützt.

 

 

https://www.youtube.com/watch?v=RKvd4tMkFHc 

 

Genau hier setzt der Rondeau „Forêts paisibles“ an. Zima und Adario besingen gemeinsam die friedliche Ruhe der Wälder, deren Stille und Klarheit kein eitler Wunsch zu stören vermag. In diesen Versen verdichtet sich das zentrale Ideal der Entrée: dass wahres Glück dort entsteht, wo äußere Ambitionen schweigen und wo die Natur selbst den Takt eines einfachen, aber vollkommenen Lebens vorgibt. Die Stimmen von Léger und Naouri verweben sich in einem beinahe schwerelosen Dialog, der von Minkowskis Ensemble mit zarter Bewegtheit getragen wird. Die Musik bleibt stets im Schwebezustand zwischen Tanz und Arie – leicht, atmend, durchsichtig – und wirkt dadurch wie ein musikalischer Atemzug, der aus einer Welt jenseits der höfischen Manieriertheit stammt.

 

Der Chor der „Sauvages“ übernimmt die Worte der beiden Solisten und verstärkt sie zu einem ruhigen, aber eindrucksvollen Klangbild. Rameau zeichnet diesen Moment nicht als exotische Kulisse, sondern als moralische Landschaft. Seine Musik erhebt keinen Anspruch auf ethnographische Echtheit, sondern entfaltet ein französisches Ideal: die Suche nach Unschuld, Frieden und natürlicher Reinheit. Dass dieses Idealmusikstück zugleich in einer Entrée endet, deren Abschluss die berühmte „Danse du Grand Calumet de la Paix“ bildet – später oft einfach „Danse des Sauvages“ genannt –, unterstreicht die dramaturgische Idee, dass Fest, Tanz und Harmonie untrennbar zusammengehören.

 

In der Interpretation Minkowskis, eines der prägenden Dirigenten der historisch informierten Aufführungspraxis in Frankreich, wird diese Szene zu einer längst vergangenen, aber vollkommen gegenwärtigen Vision. Les Musiciens du Louvre verleihen dem Rondeau jene Eleganz und Klarheit, die Rameaus Klangsprache auszeichnet: die feine Feder der Traversflöten, die warmen Bordunfarben der Streicher, das perlende Spiel der Oboen und das genaue, nie überzeichnete rhythmische Fundament. Nichts drängt sich vor; alles fügt sich zu jenem musikalischen Gefüge, das Rameaus Bühnenstil seit jeher auszeichnet – ein Tanz, der atmet, und eine Melodie, die sich aus Licht und Luft zu formen scheint.

 

Der Rondeau „Forêts paisibles“ ist nicht nur einer der bekanntesten, sondern auch einer der tiefsten Momente in Les Indes galantes. Er zeigt, wie Rameau jenseits äußerer Effekte eine innere Welt erschafft – eine Welt, in der Glück, Natur und Wahrheit miteinander verschmelzen. Die hier eingefangene Interpretation besitzt jene Mischung aus Zartheit und innerer Ruhe, die die besten Darbietungen französischer Barockmusik auszeichnet, und ist zugleich ein ideales Beispiel dafür, wie Konzert und Bühne sich berühren können, ohne einander zu widersprechen. Sie lässt einen Ort entstehen, an dem Musik das Versprechen eines friedlichen Waldes tatsächlich einlöst.

 

Deutsche Übersetzung

 

Zima, Adario

Friedliche Wälder,

niemals stört ein eitler Wunsch hier unsere Herzen.

Sind sie empfänglich für Gefühle,

so kommt das Glück nicht als Preis deiner Gunst, o Fortuna.

 

Chor der „Wilden“

Friedliche Wälder,

niemals stört ein eitler Wunsch hier unsere Herzen.

Sind sie empfänglich für Gefühle,

so kommt das Glück nicht als Preis deiner Gunst, o Fortuna.

 

Zima, Adario

In unseren stillen Rückzugsorten

soll Größe niemals erscheinen

und ihre trügerischen Reize bieten.

Himmel, du hast sie geschaffen

für Unschuld und für den Frieden.

Lasst uns in unseren Zufluchtsstätten

die stillen Güter genießen.

Ach – kann man glücklich sein,

wenn im Herzen schon andere Wünsche entstehen? 

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Jean-Philippe Rameau

Eine Einladung auf eine musikalische Pilgerreise nach Italien, auf den Spuren von Francesco Petrarca (1304 - 1374) und Dante Alighieri (1265 – 1321), geführt durch den jungen koreanischen Pianisten, der schon mit 16 Jahren die Tiefe der Seele von Liszt erreicht hat. (Ein ganzes Konzert)

 

Franz Liszt (1811 - 1886):

"Années de pèlerinage" (Pilger Jahre),

"Deuxième année: Italie" (Das zweite Jahr: Italien), S.161, S.162/2 und S.158, komponiert ca. 1839 – 1846, veröffentlicht 1846

Klavier: Yunchan Lim (* 2004) – der Pianist aus Südkorea ist 16 Jahre alt (Oktober 2020)

https://www.youtube.com/watch?v=GFjtI3ggpFc 

 

00:00 Titel

00:09 Sposalizio – Vermählung – nach Raffaels Gemälde „Vermählung Mariä“ (S.161/1)

07:38 Il penseroso – Der Nachdenkliche – nach einer Statue Michelangelos in der Florentiner Medici-Kapelle (S.161/2)

11:43 Canzonetta del Salvator Rosa (S.162/2)

14:17 Sonett 47 von Petrarca (S.158/1)

20:08 Sonett 104 von Petrarca (S.158/2)

26:46 Sonett 123 von Petrarca (S.158/3)

33:37 Nach der Lektüre von Dante („Dante-Sonate“), Fantasie quasi Sonate (S.161/7)

 

Der Titel "Années de pèlerinage" bezieht sich auf Goethes berühmten Entwicklungsroman "Wilhelm Meisters Lehrjahre". Wie Wilhelm Meister seinen Charakter auf seiner Reise entwickelt, nimmt der Komponist Liszt seine Reiseerfahrungen zum Anlass für neue Kompositionen. Mehrfach zitiert Liszt Byrons "Childe Harold’s Pilgrimage". Er knüpft aber auch an andere Autoren an, wie Dante, Petrarca, Schiller oder Senancour.

 

Aufnahme: Kumho Art Hall, Theater in Seoul, Südkorea, 29. Oktober 2020

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Franz Liszt

Josquin Desprez (* nach 1450 – † am 27. August 1521): "La déploration de Jehan Ockeghem"

 „La déploration de Jehan Ockeghem“, auch bekannt unter dem Anfangsvers „Nymphes des bois“, ist Josquin Desprez’ ergreifende Totenklage auf den Tod seines verehrten Lehrers und Vorgängers Johannes Ockeghem (* nach 1420 – † 6. Februar 1497).

https://www.youtube.com/watch?v=2on2P7syDzQ

 

Das Werk zählt zu den bedeutendsten musikalischen Trauerstücken der Renaissance und ist ein Schlüsselwerk für das Verständnis von Josquins persönlichem Stil und seinem Selbstverständnis als Teil einer musikalischen Tradition.

 Der Text stammt vom Dichter Jean Molinet (1435 - 1507) und ist eine Elegie in französischer Sprache, die in der Form eines poetischen Klagelieds verfasst ist. Josquin vertont diesen Text in einer kunstvollen fünfstimmigen Motette, wobei er in der unteren Stimme das „Requiem aeternam dona eis, Domine“ als liturgisches Cantus-firmus-Zitat einfügt. Diese gleichzeitige Verwendung von französischem Trauergedicht und lateinischer Totenmesse ist ein eindrucksvolles Symbol: Die weltliche Trauer wird mit dem kirchlichen Gebet für die Verstorbenen verbunden – eine Verbindung von Kultur und Liturgie, von Gefühl und Glaube.

 Der Text beschwört die Trauer der Musen und Nymphen, die aus den Wäldern herbeieilen, um gemeinsam mit den berühmten Komponisten jener Zeit – namentlich Agricola, Compère, Brumel und Josquin selbst – den Tod Ockeghems zu betrauern. Die Verse sind reich an poetischen Bildern und zugleich sehr konkret im historischen Bezug. Die Musik trägt diesen Charakter auf subtile Weise: Der Beginn ist ruhig, fast stockend – als müsse sich die Trauer erst artikulieren. Die Stimmen setzen nacheinander ein und verschmelzen allmählich zu einem dichten, klagenden Klangbild. Dabei wird der Cantus firmus des Requiem-Gebets langsam und würdevoll durch den Bass geführt – ein musikalisches Fundament der Trauer, auf dem sich die klagenden Stimmen aufbauen.

 Josquin gelingt in diesem Werk eine tiefe musikalische Empfindung, ohne dass er zu Pathos oder Überladenheit greift. Die Kunst der Polyphonie wird hier ganz in den Dienst des Ausdrucks gestellt. Besonders eindrucksvoll ist, wie jede Strophe des französischen Gedichts eine neue klangliche Farbe annimmt – mal eindringlich flehend, mal resignativ, mal fast liturgisch entrückt.

 Das Hilliard Ensemble interpretiert diese „Déploration“ mit großer Würde und Ernsthaftigkeit. Die Stimmen sind sorgfältig ausbalanciert, jede Stimme fügt sich in das große Ganze ein. Paul Hillier lässt die Musik ruhig atmen, wahrt den zeremoniellen Charakter und bringt zugleich die zarte Emotionalität des Werkes zum Leuchten. Der Requiem-Cantus firmus wird dabei mit besonderer Zurückhaltung hervorgehoben – ein leises, stetiges Gebet unter dem Klang der trauernden Stimmen.

 

Hier ein Ausschnitt aus dem Text von Jean Molinet in Originalsprache und Übersetzung.

Mittelfranzösisch:

 "Nymphes des bois, déesses des fontaines,

Chantres experts de toutes nations,

Changez vos voix claires et hautaines

En cris tranchants et lamentations.

Car Atropos, très terrible satrape,

A Ockeghem attrappé en sa trappe…"

 

Deutsch (sinngemäß):

Nymphen der Wälder, Göttinnen der Quellen,

Sänger aus allen Ländern,

wandelt eure hellen und stolzen Stimmen

in scharfe Schreie und Klagelieder.

Denn Atropos, die grausame, unerbittliche,

hat Ockeghem in ihre Falle gelockt,

den treuen Diener, der stets bereit war,

vor allen anderen seinem Herrn zu dienen.

Er ist tot, er ruht in kühler Erde –

der wahre Bass, das Fundament der Musik,

der Meister, ohnegleichen in seiner Kunst.

 

Lasst nun Brumel, Compère und Josquin

in schwarzem Kleid und mit Trauerflor

die Totenmesse singen, die er selbst verfasste.

Sie sollen ihre Stimmen senken und in Tränen

den großen Ockeghem beweinen.

Er ist dahin – unser Licht, unser Stern.

Musik, du wirst ihn nie ersetzen.

Möge Gott seine Seele in Frieden ruhen lassen. Amen.

 „La déploration de Jehan Ockeghem“ ist ein musikalisches Denkmal – nicht nur ein persönlicher Abschied Josquins von seinem Lehrer, sondern ein Ausdruck von Kontinuität, von musikalischer Brüderlichkeit und spirituellem Respekt. Es ist das feierliche Finale dieser CD – und zugleich ein stilles Gebet für die Toten.

CD The Hilliard Ensemble,  Josquin Desprez – Motets und Chansons,

Leitung: Paul Hillier (* 1959), Label: EMI Reflexe (oder auch Ausgabe über Virgin Veritas), Erstveröffentlichung: 1983 / 84, Aufnahme vom 14.–16. Februar 1983 im Temple Church, London, Track 13

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Josquin Desprez

John Browne (* 1453 – † nach 1505): Salve Regina

 

Unter den Werken des berühmten Eton Choirbook nimmt John Brownes monumentales Salve Regina eine herausragende Stellung ein. Diese Marienantiphon, wahrscheinlich um 1490 entstanden, zählt zu den eindrucksvollsten Beispielen englischer Polyphonie an der Schwelle zwischen Mittelalter und Renaissance. Browne, der vermutlich mit dem Magdalen College in Oxford verbunden war und später als „gentleman“ der Chapel Royal diente, gehört zu jener Generation englischer Komponisten, die den klanglichen Reichtum und die spirituelle Glut der spätgotischen Kathedralmusik auf ihren Höhepunkt führten.

 

 

https://www.youtube.com/watch?v=9b5Vlba9Oj0 

 

Das Salve Regina ist sechsstimmig angelegt (SSATTB) und zeigt in exemplarischer Weise die für den Eton Choirbook typische klangliche Pracht: ein dichtes, fast schwebendes Gewebe aus langen melismatischen Linien, die sich kunstvoll verschränken und doch immer auf die Wortausdeutung bezogen bleiben. Browne verbindet hier die hohe Kunst kontrapunktischer Beherrschung mit einer ausgeprägt expressiven, fast mystischen Klangsprache. Der Beginn – „Salve, Regina, mater misericordiae“ – entfaltet sich in ruhigen, weitgespannten Bögen; die Stimmen treten nacheinander ein, bis sich ein strahlender Gesamtklang formt. Besonders eindrucksvoll ist der Abschnitt „Eia ergo, advocata nostra“, in dem Browne durch weite Registersprünge und Wechselwirkungen der Stimmgruppen ein Gefühl demütiger Anrufung erzeugt. Der Schluss mit „O clemens, O pia, O dulcis Maria“ steigert sich zu einem geradezu überirdischen Klangrausch, in dem sich Kunstfertigkeit und Andacht zu einer Einheit verbinden.

 

Brownes Vertonung ist nicht nur ein liturgisches Gebet, sondern ein klingendes Symbol jener englischen Marienfrömmigkeit, die durch die Reformation bald unterbrochen wurde. Die Musik spiegelt eine Welt, in der Klang als Ausdruck des Göttlichen verstanden wurde – ein Klang, der zwischen Himmel und Erde schwebt.

 

Lateinischer Text

 

Salve, Regina, mater misericordiae,

vita, dulcedo, et spes nostra, salve.

Ad te clamamus, exsules filii Hevae.

Ad te suspiramus, gementes et flentes

in hac lacrimarum valle.

 

Eia ergo, advocata nostra,

illos tuos misericordes oculos

ad nos converte.

 

Et Jesum, benedictum fructum ventris tui,

nobis post hoc exsilium ostende.

O clemens, O pia,

O dulcis Maria.

 

Deutsche Übersetzung

 

Sei gegrüßt, o Königin, Mutter der Barmherzigkeit,

unser Leben, unsere Süße und unsere Hoffnung, sei gegrüßt.

Zu dir rufen wir, die verbannten Kinder Evas.

Zu dir seufzen wir, klagend und weinend

in diesem Tal der Tränen.

 

Wohlan denn, unsere Fürsprecherin,

wende deine barmherzigen Augen

uns zu.

 

Und Jesus, die gesegnete Frucht deines Leibes,

zeige uns nach diesem Exil.

O gütige, o fromme,

o milde Maria.

 

Musikalischer Vorschlag

Empfohlene Aufnahme:

John Browne – Salve Regina

The Tallis Scholars, Leitung: Peter Phillips (* 1953)

Label: Gimell, aufgenommen 1990 in der Kirche St. Peter and Paul, Salle (Norfolk).

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John Browne

Henry Purcell (1659–1695): Hear my prayer, O Lord (Höre mein Gebet, o Herr), Z. 15


Gesungen von VOCES8

Henry Purcells kurze, aber ergreifende Motette Hear my prayer, O Lord (Höre mein Gebet, o Herr) gehört zu den eindrucksvollsten A-cappella-Kompositionen der englischen Barockmusik. Der nur achtstimmige Satz auf den ersten Vers von Psalm 102 nach hebräischer Zählung (Psalm 101 in der Vulgata) – „Hear my prayer, O Lord, and let my crying come unto thee“ („Domine, exaudi orationem meam, et clamor meus ad te veniat“ – „Höre mein Gebet, o Herr, und lass mein Rufen zu dir kommen“) – ist ein Musterbeispiel für Purcells Fähigkeit, mit wenigen Mitteln eine außerordentliche emotionale Spannung zu erzeugen. Entstanden vermutlich um 1682, also in der Zeit, als Purcell als Organist an der Chapel Royal wirkte, entfaltet das Werk eine klangliche Dichte, die weit über seine Kürze hinausgeht.

https://www.youtube.com/watch?v=OISUntqbXvc 

 

Der Aufbau ist streng linear: Von einem anfänglich schlichten, beinahe flehenden Beginn („Hear my prayer“) aus verdichtet sich die Polyphonie schrittweise zu einem erdrückenden Klanggefüge. Purcell verzichtet dabei fast vollständig auf Kadenzierungen oder rhythmische Entlastungen. Stattdessen steigern sich die Stimmen in eng geführten Dissonanzen („and let my crying come unto thee“ – „und lass mein Rufen zu dir kommen“), die eine beklemmende Intensität erzeugen und das Wort „crying“ gleichsam hörbar machen. Die Spannung kulminiert in einem expressiven Höhepunkt, der sich erst am Ende in einen schweren, resignativen Schlussakkord auflöst.

Musikwissenschaftlich ist bestätigt, dass das Werk unvollendet geblieben sein könnte. Der erhaltene Autograph befindet sich in der British Library (Add. MS 30930) und bricht genau nach diesem einzigen Vers ab. Mehrere Forscher – unter anderem Peter Holman (* 1946) und Bruce Wood (* 1944) – vermuten, dass Purcell ursprünglich eine vollständige Vertonung des gesamten Psalms oder mehrerer Verse beabsichtigte. Holman, Professor emeritus an der University of Leeds und Spezialist für englische Musik des 17. Jahrhunderts, verweist auf die untypisch monumentale Anlage des Werkes im Verhältnis zu seinem geringen Textumfang. Bruce Wood, ebenfalls Professor emeritus und langjähriger Herausgeber der Purcell Society Edition, sieht darin ein Anzeichen dafür, dass Hear my prayer, O Lord als Einleitung zu einem größeren liturgischen Zyklus gedacht gewesen sein könnte.

Dafür sprechen die ungewöhnlich monumentale Anlage des Beginns, die schrittweise Erweiterung des Stimmgeflechts und die fehlende Kadenz am Schluss. Gleichwohl wirkt die Komposition in ihrer heutigen Gestalt vollkommen abgeschlossen – eine in sich geschlossene, architektonisch vollkommene Miniatur von überwältigender Ausdruckskraft.

Musikhistorisch betrachtet steht Hear my prayer, O Lord (Höre mein Gebet, o Herr) in der Tradition der anglikanischen Anthem, greift aber harmonisch und expressiv bereits weit in das 18. Jahrhundert voraus. Purcell verbindet hier den strengen Satz der alten englischen Kathedralmusik mit einer zutiefst persönlichen, fast opernhaften Expressivität. Man hat dieses Werk oft als „Miniatur eines Oratoriums“ bezeichnet – eine Verdichtung des Gebets in reine Klangsprache.

In der Interpretation von VOCES8 offenbart sich die ganze spirituelle Wucht dieser Komposition. Der Ensembleklang bleibt dabei transparent und kontrolliert, jede Dissonanz wird als Ausdruck seelischer Spannung hörbar gemacht. Das Ensemble gestaltet die Steigerung von der stillen Bitte („Hear my prayer“) bis zum eruptiven Ausbruch („and let my crying come unto thee“) mit geradezu architektonischer Präzision. Besonders eindrucksvoll ist die Reinheit der Intonation im dichten, clusterartigen Mittelteil, die den Schmerz des Textes in fast überirdische Klangreinheit verwandelt.

Ein Werk von kaum vier Minuten Dauer – und doch ein Abgrund aus Klang und Empfindung. Purcells Hear my prayer, O Lord (Höre mein Gebet, o Herr) ist weniger ein Gebet als ein Aufschrei der Seele, der im Schweigen verhallt.

Originaltext (Psalm 102:1 nach hebräischer Zählung / Psalm 101:2 in der Vulgata):


Hear my prayer, O Lord,
and let my crying come unto thee.

Lateinische Fassung (Vulgata):


Domine, exaudi orationem meam,
et clamor meus ad te veniat.

Deutsche Übersetzung:


Höre mein Gebet, o Herr,
und lass mein Rufen zu dir kommen.

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Henry Purcell

Der Hurrianische Hymnus Nr. 6 an Nikkal – die älteste notierte Musik der Welt

Die älteste vollständig rekonstruierbare Musiküberlieferung der Menschheit stammt nicht aus Ägypten oder Griechenland, sondern aus dem bronzezeitlichen Ugarit, dem heutigen Ras Schamra an der syrischen Mittelmeerküste. Dort entdeckten Archäologen in den 1950er Jahren eine Gruppe von rund drei Dutzend Tontafeln mit Keilschriftinschriften in hurritischer Sprache. Eine dieser Tafeln, heute im Nationalmuseum von Damaskus aufbewahrt, enthält den sogenannten Hurrianischen Hymnus Nr. 6 an die Göttin Nikkal, der um 1400 v. Chr. entstanden ist. Sie gilt als die älteste weitgehend vollständige musikalische Notation der Welt.

Die drei Bruchstücke der Tafel (Katalognummern RS 15.30, 15.49 und 17.387) wurden zunächst getrennt inventarisiert, bevor sie der französische Hethitologe Emmanuel Laroche (1914–1991) als zusammengehörig erkannte und 1955 sowie 1968 publizierte. In seinem Korpus der Textes hourrites en cunéiformes syllabiques trug er sie als h.6 ein. Der Hymnus ist Nikkal, der Gemahlin des Mondgottes, gewidmet und verbindet poetischen Text mit einer Reihe musiktheoretischer Anweisungen.

Der Aufbau der Tafel folgt einer klaren Ordnung: Oben steht der vierzeilige hurritische Liedtext, darunter – durch eine Doppellinie abgesetzt – finden sich akkadische Zeichenkombinationen aus Intervallbezeichnungen und Zahlen. Eine einfache Abschlusslinie trennt den sogenannten Kolophon, der in akkadischer Sprache lautet: „Dies ist ein Lied in der nitkibli-Stimmung, ein zaluzi [= Kultgesang]; niedergeschrieben von Ammurabi.“ Der Schreiber trägt einen semitischen Namen, der Komponist, dessen Name bei anderen Tafeln überliefert ist, bleibt hier unbekannt.

Die Bezeichnungen in der Notation gehören zu einem System, das bereits aus älteren babylonischen musiktheoretischen Texten bekannt ist. Sie beziehen sich auf Intervalle zwischen bestimmten Saiten eines neunsaitigen Instruments, wahrscheinlich einer Lyra. Die „Stimmung“ (nitkibli bzw. nid qabli – „Fall der Mitte“) definiert die spezifische Tonordnung, innerhalb derer gespielt wurde. Somit repräsentiert der Hymnus nicht nur einen Kultgesang, sondern auch eine angewandte Theorie der Tonbeziehungen, deren Terminologie Jahrhunderte vor der griechischen Musiktheorie ausgeprägt war.

Seit den 1970er Jahren bemühten sich verschiedene Forscherinnen und Forscher um eine Übertragung der Zeichen in moderne Notenschrift. David Wulstan (1937–2017) interpretierte die Zeichenfolgen zunächst als konkrete Tonhöhenabfolge. Anne Draffkorn Kilmer (geb. 1928), amerikanische Assyriologin, schlug 1974 eine alternative Lesart vor, bei der die Silben des Textes mit den Zahlenwerten der Notation synchronisiert wurden. Sie deutete die Einheiten als Dyaden – Zweiklänge aus einer gesungenen und einer instrumentalen Stimme. Marcelle Duchesne-Guillemin (1910–2017), belgische Musikologin und Orientalistin, kritisierte Kilmers Deutung und legte 1984 eine eigene Rekonstruktion vor, die sich stärker an der mesopotamischen Stimmungstheorie orientierte und Parallelen zu späteren syrisch-chaldäischen Gesängen herstellte. Manfried Dietrich (geb. 1935) und Oswald Loretz (geb. 1935) überprüften 1975 die Lesung der Zeichen philologisch. Weitere Beiträge stammen von Hans Gustav Güterbock (1908–2000), der den musikalischen Charakter der Texte als Erster erkannte, sowie von Hans-Jochen Thiel (1932–1994) und Theo J. H. Krispijn (geb. 1946), die die Textstruktur und den Sprachgebrauch neu analysierten. Eine umfassende musiktheoretische Neubewertung erfolgte 1994 durch den britischen Klassischen Philologen Martin L. West (1937–2015), der die Terminologie der babylonischen Intervalllehre systematisch mit der Notation von h.6 verglich.

Aus musikwissenschaftlicher Sicht ist entscheidend, wie man den Status dieses Stückes bestimmt. Der Hymnus an Nikkal ist keine „Melodie“ im modernen Sinn, die sich einfach eins zu eins auf ein Notensystem des 19. Jahrhunderts übertragen ließe. Die Tafel dokumentiert vielmehr das Zusammenwirken von kultischer Dichtung, spezialisierter Spielpraxis auf einem neunsaitigen Saiteninstrument und einer systematischen Terminologie für Intervalle und Stimmungen. Die Kombination aus lyrischem Text, exakt formuliertem Kolophon und geordneten musikalischen Anweisungen macht h.6 mit guten Gründen zum ältesten substantiell vollständig überlieferten Werk mit notierter Musik, das wir kennen; alle späteren Beispiele wie das Seikilos-Epitaph oder die delphischen Hymnen stehen zeitlich mindestens ein Jahrtausend dahinter zurück und gehören bereits einem anderen kulturhistorischen Horizont an. Dass heutige Einspielungen – wie die von dir genannte Rekonstruktion – sehr unterschiedlich klingen, ist kein Zeichen von Beliebigkeit, sondern Ausdruck der Tatsache, dass die Tafel einen Rahmen vorgibt, innerhalb dessen mehrere plausible Lesarten möglich sind. Jede seriöse Interpretation muss offenlegen, auf welchem Modell von Stimmung, Intervalldeutung und Text-Melodie-Bezug sie beruht und an welchen Punkten sie notwendige Hypothesen einführt.

Trotz der unterschiedlichen Ansätze herrscht heute weitgehende Einigkeit darüber, dass die Tafel einen in sich geschlossenen Kultgesang enthält, der aus Text, gesungener Linie und instrumentaler Struktur besteht. Die Kombination aus poetischem Inhalt und musikalischer Anweisung macht den Hymnus Nr. 6 zum ältesten vollständig überlieferten Beispiel bewusster kompositorischer Organisation. Die Tatsache, dass moderne Rekonstruktionen unterschiedlich klingen, spiegelt nicht Unsicherheit, sondern den Reichtum der möglichen Lesarten innerhalb des überlieferten Systems wider.

In musikhistorischer Perspektive steht der Hymnus an Nikkal am Beginn einer langen Linie, die von den altorientalischen Klangsystemen über die griechische Theorie bis zu den mittelalterlichen Modi führt. Er zeigt, dass Musik bereits in der Spätbronzezeit eine bewusste Struktur, ein eigenes Fachvokabular und eine Verbindung von Religion, Dichtung und Klang besaß. Wer diesen Gesang hört, hört nicht bloß einen archäologischen Fund, sondern den frühesten greifbaren Ausdruck dessen, was Menschen unter „komponierter Musik“ verstanden haben.

Die Musik:

 

https://www.youtube.com/watch?v=tAc2KDNHEw4 

 

Eine plausible Gesangs-Rekonstruktion des Hurrian Hymn Nr. 6 an Nikkal:

 

https://www.youtube.com/watch?v=w8tfBLvlN98 

 

Der in dieser Aufnahme verwendete Text ist authentisch und beruht auf der originalen hurritischen Überlieferung, doch die musikalische Umsetzung selbst – also Melodie, Harmonik und Klanggestaltung – ist eine moderne Rekonstruktion, die dem historischen Original nur angenähert werden kann. Der charakteristische Hintergrundklang gehört nicht zur ursprünglichen Musik, sondern ist eine zeitgenössische Interpretation

Hurrianischer Text (nach Laroche 1968 und Kilmer 1974)

tigi šaššate uštamari
ḫe … nikkal wašaššani
ḫe … ḫaššu urukatti
… tigi nikkal
ḫe … wašaššani
ḫe … ḫaššu
ḫe … ḫe nikkal

Diese Transkription folgt der auf den Tontafeln erkennbaren Silbenstruktur; zerstörte Zeichen sind mit Auslassungspunkten markiert.

Sinngemäße deutsche Übersetzung (nach Kilmer, Duchesne-Guillemin, Krispijn)

Erhebe, o Göttin Nikkal, deine Stimme,
nimm an die Opfergaben,
die wir vor dir niederlegen.
Fruchtbarkeit spende dem Garten,
und lasse die Bäume gedeihen.
Segne das Leben des Königs,
und empfange unseren Gesang.

Diese Übersetzung ist nicht wortgetreu im philologischen Sinn, sondern stellt eine rekonstruierte inhaltliche Annäherung dar. Der Hymnus verbindet offenbar die Bitte um Fruchtbarkeit der Obstbäume (Nikkal ist die Göttin der Gärten und Früchte) mit einer kultischen Opferhandlung und der Bitte um göttlichen Schutz. Der häufige Wechsel zwischen dem Anruf „ḫe … Nikkal“ („O Nikkal“) und Verben der Darbringung oder des Segens weist auf einen rituellen Gesang, vermutlich in einem sakralen Kontext mit Tanz oder Prozession, hin.

Die Wiederholung der letzten sieben Silben jeder Zeile am Anfang der nächsten – ein Verfahren, das Laroche zunächst als Schreibhilfe, andere Forscher als Refrain interpretierten – könnte eine musikalische Wiederholung markieren. Das Lied dürfte also strophisch mit Refrain aufgebaut gewesen sein.

Quellen und Literatur

Emmanuel Laroche: Ugaritica V. Textes hourrites en cunéiformes syllabiques. Mission de Ras Shamra, Paris 1968.
Hans Gustav Güterbock: Musical Notation in Ugarit. In: Revue d’Assyriologie 64 (1970), 95–98.
David Wulstan: The Earliest Musical Notation. In: Music & Letters 52 (1971), 365–382.
Anne Draffkorn Kilmer: The Cult Song with Music from Ancient Ugarit: Another Interpretation. In: Revue d’Assyriologie 68 (1974), 69–82.
Manfried Dietrich / Oswald Loretz: Kollationen zum Musiktext aus Ugarit. In: Ugarit-Forschungen 7 (1975), 521–522.
Marcelle Duchesne-Guillemin: A Hurrian Musical Score from Ugarit: The Discovery of Mesopotamian Music. In: Sources from Ancient Near East 2/2 (1984), 5–32.
Hans-Jochen Thiel: Zur Deutung der hurritischen Lieder aus Ugarit. In: Ugarit-Forschungen 9 (1977), 287–297.
Theo J. H. Krispijn: Studies in Hurrian and Urartian Grammar and Lexicon II. Leiden 2001.
Martin L. West: The Babylonian Musical Notation and the Hurrian Melodic Texts. In: Music & Letters 75 (1994), 161–179.

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Georg Friedrich Händel (1685–1759): Dixit Dominus, HWV 232


English Baroque Soloists – Monteverdi Choir
Leitung: Sir John Eliot Gardiner (* 1943)
Aufnahme: Juni 2014

https://www.youtube.com/watch?v=dS65-ZvUSSM 

 

Unter den frühen Werken Georg Friedrich Händels nimmt das Dixit Dominus HWV 232 eine herausragende Stellung ein. Es entstand im Jahr 1707 während seines Aufenthalts in Rom – jener Zeit, in der der junge, aus Halle stammende Komponist die italienische Sprache, den römischen Kirchenstil und den Glanz des päpstlichen Barock in sich aufnahm. Die Komposition über den 109. Psalm (Dixit Dominus Domino meo: Sede a dextris meis...) gilt als Händels erstes vollständig erhaltenes großdimensioniertes Chorwerk und ist zugleich ein virtuoses Bekenntnis seiner neuentdeckten Meisterschaft im polyphonen und dramatischen Stil.

Die Musik ist von überwältigender Energie, Kühnheit und Ausdrucksvielfalt. Händel verzichtet auf die kontemplative Strenge des stile antico und entfesselt stattdessen eine geradezu theatralische Klangsprache, die bereits den Opernkomponisten erkennen lässt. Schon der eröffnende Chor Dixit Dominus Domino meo steigert sich zu einem vokalen Sturm von rhythmischer Vitalität und kontrapunktischer Brillanz. In den anschließenden Sätzen wechselt Händel zwischen inniger Empfindsamkeit (Virgam virtutis tuae), strahlender Triumphgeste (Tecum principium in die virtutis tuae) und tief empfundener Andacht (De torrente in via bibet). Dabei zeigt sich der junge Komponist als Erbe der römischen Tradition, wie sie durch Corelli, Alessandro Scarlatti und Colonna geprägt war, zugleich aber als ein Künstler von eigenständiger Handschrift, der bereits in diesen Jahren über Italien hinauszudenken begann.

Das Werk ist in seiner formalen Architektur außergewöhnlich dicht gearbeitet. Händel lässt Solistenensembles und Chor in ständigem Wechsel agieren, verbindet fugierte Passagen mit homophonen Kulminationen und erreicht im abschließenden Gloria Patri eine überwältigende Apotheose – eine mehrschichtige Doxologie, die das gesamte Werk in leuchtender C-Dur-Pracht beschließt. Trotz seiner Entstehung im katholischen Rom bleibt das Dixit Dominus kein bloßes liturgisches Stück, sondern eine leidenschaftliche geistliche Kantate, die den ekstatischen Ausdruck der italienischen Barockkunst in den protestantisch-nordischen Geist Händels überführt.

Sir John Eliot Gardiner, einer der bedeutendsten Vertreter der historisch informierten Aufführungspraxis, hat Händels Dixit Dominus vielfach interpretiert – stets mit jener elektrisierenden Mischung aus Präzision, rhetorischer Klarheit und expressiver Intensität, die seine Arbeit auszeichnet. Die hier genannte Aufführung aus dem Juni 2014 mit den English Baroque Soloists und dem Monteverdi Choir zählt zu den eindrucksvollsten modernen Realisationen des Werkes. Sie verbindet vokale Brillanz mit stilistischer Reinheit, das Feuer des jungen Händel mit der reifen Erfahrung eines Dirigenten, der diese Musik bis in ihre theologische und emotionale Tiefe hinein versteht.

Die Einblendung des deutschen Textes im Video macht dieses Erlebnis noch zugänglicher: sie führt den Hörer Satz für Satz durch das lateinische Original, lässt die Wucht der Psalmworte im eigenen Sprachraum nachklingen und verdeutlicht, dass Händels Musik aus der Verbindung von Text, Glaube und Affekt ihre überwältigende Wirkung zieht.

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Georg Friedrich Händel

Tomás Luis de Victoria (1548 – 1611): Tenebrae Responsories

 

Ensemble Tenebrae – Leitung: Nigel Short (* 1965)

Aufnahme 2012 – Signum Records (SIGCD 301, 2013)

 

Die Responsoria pro Hebdomada Sancta („Responsorien - Antwortgesänge - für die Heilige Woche“) sind Victorias großartigste Meditation über das Leiden Christi – 18 Vertonungen der nächtlichen Tenebrae-Offizien des Gründonnerstags, Karfreitags und Karsamstags, veröffentlicht 1585 in Rom im Rahmen des monumentalen Officium Hebdomadae Sanctae. Jede Gruppe von drei Responsorien gehört zu einem Nocturn des jeweiligen Tages; sie wurden in der Dunkelheit der Nacht gesungen, während nach und nach die Kerzen gelöscht wurden – Sinnbild für das Erlöschen der Welt im Tod des Erlösers.

 

Nigel Short und sein Ensemble Tenebrae haben 2012 diese Gesänge mit beispielhafter Klarheit und glühender Innerlichkeit aufgenommen. Der Chor singt in reiner Intonation, schlanker Polyphonie und fast körperloser Klangbalance – eine Interpretation, die auf Zurücknahme statt Effekt zielt und dadurch die tiefe Spiritualität dieser Musik freilegt.

 

https://www.youtube.com/watch?v=wcHZAxrnkGk&list=OLAK5uy_nyLmyYK-dP4kOUc01sVjrkO3ondcOv9Z4&index=1 

Die Aufnahme gliedert sich in die drei Tage des Triduum Sacrum:

 

Gründonnerstag – Nocturn II und III

Der Verrat und die beginnende Passion.

 

Amicus meus osculi me tradidit signa – „Mein Freund hat mir mit einem Kuss das Zeichen des Verrats gegeben.“ Ein leises Drama aus schmerzvoller Zärtlichkeit und innerem Schrecken.

 

Iudas mercator pessimus – Der „schlechteste Kaufmann“ verkauft den Herrn für Silber; Victoria formt den Text zu einem unruhig zuckenden Dialog.

 

Unus ex discipulis meis tradet me hodie – „Einer meiner Jünger wird mich heute verraten.“ Die Stimmen kreuzen sich in ängstlicher Verflechtung, Symbol der verwirrten Gemeinde.

 

Eram quasi agnus innocens – „Ich war wie ein unschuldiges Lamm.“ Ein Lamento von erstaunlicher Stille und Weite.

 

Una hora non potuistis vigilare mecum – „Nicht eine Stunde konntet ihr mit mir wachen.“ Der Klang verlangsamt sich bis zum Stillstand – Müdigkeit und Verlassenheit.

 

Seniores populi consilium fecerunt – Die Ältesten beschließen den Tod Jesu; Victoria lässt die Stimmen in unheilvollem Gleichmaß kreisen – eine musikalische Vorahnung der Kreuzigung.

 

Karfreitag – Nocturn II und III

Das Leiden und Sterben Christi.

 

Tamquam ad latronem existis – „Wie gegen einen Räuber seid ihr ausgezogen.“ Ein Ausbruch empörter Würde – Christus wird unschuldig ergriffen.

 

Tenebrae factae sunt – „Finsternis breitete sich aus.“ Der Zentralpunkt des Zyklus: scharfe Dissonanzen, lang gehaltene Töne, ein Bild kosmischer Erschütterung.

 

Animam meam dilectam – „Meine geliebte Seele gab ich den Feinden preis.“ Schmerzlich verlöschend, mit unfassbarer Zärtlichkeit.

 

Tradiderunt me in manus impiorum – „Sie haben mich in die Hände der Gottlosen gegeben.“ Eine Klage voll bitterer Wehmut.

 

Iesum tradidit impius summis principibus – „Der Gottlose übergab Jesus den Hohenpriestern.“ Der Chor schichtet die Linien zu einem kalten Schweigen am Ende.

 

Caligaverunt oculi mei – „Meine Augen sind verdunkelt vor Tränen.“ Der Trauergesang der Mutter, der Jünger, der Kirche.

 

Karsamstag – Nocturn II und III

Der Tod und die Grabesruhe – der Beginn der Hoffnung.

 

Recessit pastor noster – „Unser Hirt ist dahingegangen.“ Ein Lied der Grabesruhe, ruhig und schwebend.

 

O vos omnes – „O ihr alle, die ihr des Weges zieht, schaut, ob ein Schmerz ist wie mein Schmerz.“ Victoria verdichtet das Leiden in zarter Klangtransparenz.

 

Ecce quomodo moritur iustus – „Seht, wie der Gerechte stirbt.“ Ein Abschied voll Frieden – die Welt hält den Atem an.

 

Astiterunt reges terrae – „Die Könige der Erde erhoben sich gegen den Herrn.“ Ein kurzer, ernster Aufschrei vor der Stille.

 

Aestimatus sum cum descendentibus in lacum – „Ich bin gezählt unter die, die in die Grube hinabsteigen.“ Ein fast erstarrtes Lamento, reine Chorpolyphonie ohne Trostakkorde.

 

Sepulto Domino – „Nachdem der Herr begraben war.“ Die letzte Musik des Officiums: sanftes Verlöschen, ein Hauch von Licht am Rand der Finsternis.

 

Diese Aufnahme des Ensembles Tenebrae unter Nigel Short ist ein Meisterwerk der Gegenwart. Sie verbindet technische Perfektion mit meditativer Innerlichkeit, bewahrt den lateinischen Klang in klarer Aussprache und gestaltet jeden Satz als eigenes geistiges Bild. Wo Harry Christophers (The Sixteen) noch feierlicher und heller klingt, ist Short intimer, mystischer, ernster. Die Stille zwischen den Sätzen wird zum Teil des Gebets.

 

In seiner geschlossenen Gestalt zeigt dieser Zyklus, dass Victoria am Ende des 16. Jahrhunderts die Grenze zwischen Kunst und Andacht aufgehoben hat. Die Tenebrae Responsories gehören zu den kostbarsten Schätzen der Renaissance, und diese Aufnahme macht ihren stillen Glanz hörbar wie kaum eine andere.

 

Siehe auch Tomás Luis de Victoria: Officium Hebdomadae Sanctae (1585)

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Tomás Luis de Victoria

Johann Sebastian Bach (1685–1750): Konzert a-Moll für vier Cembali und Streicher, BWV 1065

 

Unter den Konzerten Johann Sebastian Bachs nimmt das a-Moll-Konzert für vier Cembali BWV 1065 eine Sonderstellung ein. Es ist das einzige Werk des Komponisten, das gleich vier Soloinstrumente einsetzt, und zugleich ein eindrucksvolles Beispiel für seine schöpferische Auseinandersetzung mit dem venezianischen Konzertstil Antonio Vivaldis (1678–1741). Bach übernahm als Vorlage Vivaldis Konzert h-Moll für vier Violinen und Streicher, RV 580, das 1711 in der Sammlung L’Estro armonico, op. 3, erschienen war – einer jener Zyklen, die den jungen Bach tief beeindruckten und seine Entwicklung als Konzertkomponist nachhaltig beeinflussten.

 

In seiner Weimarer und späteren Leipziger Zeit studierte Bach Vivaldis Werke intensiv, schrieb sie teils für Tasteninstrumente um und machte sie so im deutschen Raum bekannt. Das Konzert BWV 1065 ist dabei weit mehr als eine bloße Übertragung. Es ist eine Art kompositorischer Dialog zwischen zwei Genies: Bach übernimmt die formale Architektur und thematische Substanz des italienischen Originals, verwandelt sie aber durch seinen polyphonen Denkstil, seine harmonische Kühnheit und seine unerschöpfliche kontrapunktische Phantasie in ein Werk eigener Handschrift.

 

Bereits der erste Satz (ohne Tempobezeichnung) zeigt, wie Bach den konzertanten Wechsel von Soli und Tutti in ein dichtes, spannungsvoll verwobenes Gewebe verwandelt. Wo Vivaldi auf klare, virtuos geführte Linien setzt, schafft Bach ein Netzwerk aus imitatorischen Einsätzen und rhythmischen Überlagerungen, das die vier Cembali in einen lebhaften, beinahe orchestralen Dialog treten lässt. Die Stimmen kreuzen sich, antworten einander, verschmelzen zu einem hellen, flirrenden Klang – ein technisches Wunderwerk und zugleich ein Spiel mit der Klangidentität des Tasteninstruments, das hier fast zu atmen scheint.

 

Das Largo in a-Moll (3/4-Takt) steht in starkem Kontrast zu den äußeren Sätzen. Hier tritt der expressive, fast gesangliche Charakter des Cembalos hervor. Über einem ruhig schreitenden Bass entfalten sich die Stimmen in einem feinen, melancholischen Dialog, der die Empfindsamkeit des mittleren 18. Jahrhunderts bereits vorwegnimmt. Die Musik scheint still zu kreisen, wie in einer kontemplativen Zwiesprache zwischen vier gleichgesinnten Partnern.

 

Das abschließende Allegro (6/8-Takt) bringt den zyklischen Bogen zum Abschluss mit unbändiger Energie. Bach gestaltet Vivaldis lebhaften Kehraus mit noch größerer kontrapunktischer Dichte, schärferer Rhythmik und einer Fülle an harmonischen Wendungen. Er fügt sogar einen zusätzlichen Takt ein – eine kleine, aber bedeutende Geste, die das Gleichgewicht des Satzes subtil verändert und den musikalischen Verlauf noch spannungsvoller macht.

 

Vergleicht man beide Fassungen, so erscheint Vivaldis Original als ein funkelndes, impulsives Meisterwerk jugendlicher Erfindungskraft, während Bachs Bearbeitung den reifen Geist eines Komponisten offenbart, der aus dem Material des Italieners ein Kunstwerk von architektonischer Geschlossenheit und geistiger Tiefe formt. Aus dem Konzert der vier Violinen wird ein Konzert der vier Geister – ein klingender Beweis für Bachs Fähigkeit, fremdes Gedankengut zu verwandeln, zu durchdringen und ihm eine neue Dimension zu geben.

 

Das Konzert BWV 1065 gehört heute zu den faszinierendsten Zeugnissen jener fruchtbaren Begegnung zwischen italienischer Virtuosität und deutscher Gelehrsamkeit, die das barocke Musikleben so entscheidend prägte. In Bachs Händen wird Vivaldis Feuer zu einem kristallklaren, geistvollen Glanz – ein Beispiel dafür, wie schöpferische Aneignung zur höchsten Form des Respekts werden kann.

 

Johann Sebastian Bach: Konzert a-Moll für vier Cembali und Streicher, BWV 1065

Siebe Henstra – Menno van Delft – Pieter-Jan Belder – Tineke Steenbrink, Cembali

Netherlands Bach Society, aufgenommen am 16. April 2016 in Utrecht (Ottone)

 

https://www.youtube.com/watch?v=emkJ0A7IfkY 

In der Aufnahme der Netherlands Bach Society entfaltet sich Bachs Konzert in jener Klangwelt, für die es geschaffen wurde – der silbrig funkelnden, zugleich präzisen Artikulation des Cembalos. Vier Solisten, alle erfahrene Interpreten der historischen Aufführungspraxis, treten in einen Dialog, der so sehr von geistiger Wachheit wie von kammermusikalischer Disziplin lebt. Siebe Henstra, Menno van Delft, Pieter-Jan Belder und Tineke Steenbrink gestalten das Zusammenspiel mit vollendeter Klarheit: kein Virtuosenwettlauf, sondern ein fein gewebtes Netz aus Stimmen, das sich mit den begleitenden Streichern zu einer vibrierenden Klangarchitektur verbindet.

 

Der erste Satz wirkt wie ein lebendiges Mosaik: jede Phrase, jeder Einsatz erhält Gewicht, und das Wechselspiel der vier Cembali erzeugt ein faszinierendes Flimmern. Im Largo wird die Musik zu einer stillen Zwiesprache – das Instrument, oft als „unempfindlich“ bezeichnet, zeigt hier seine lyrische Seite in zarten, perlenden Linien. Das abschließende Allegro schließlich lässt die barocke Spielfreude triumphieren: rhythmisch federnd, brillant und mit jener feinen Balance zwischen Strenge und tänzerischer Leichtigkeit, die typisch ist für die beste niederländische Bach-Tradition.

 

Diese Aufnahme überzeugt nicht durch Pathos, sondern durch Reinheit, Präzision und Transparenz. Sie zeigt, dass vier Cembali kein klanglicher Exzess sein müssen, sondern – in Bachs Händen – eine polyphone Lichtarchitektur, in der jede Stimme ihren Platz und jede Geste Bedeutung hat.

 

und

 

Johann Sebastian Bach: Konzert a-Moll für vier Klaviere und Orchester, BWV 1065

Martha Argerich – Evgeny Kissin – James Levine – Mikhail Pletnev, Klaviere

Verbier Festival, 22. Juli 2002

https://www.youtube.com/watch?v=tJ49G2-Chhs 

Diese legendäre Aufführung aus dem Verbier Festival 2002 ist ein Ereignis von ganz anderer Art – eine pianistische Sternstunde. Vier der größten Künstler unserer Zeit begegnen einander in einem Werk, das ursprünglich für Cembali gedacht war, und verwandeln es in ein Feuerwerk klanglicher Energie und Temperamente. Martha Argerich, Evgeny Kissin, James Levine und Mikhail Pletnev sitzen nebeneinander an vier Konzertflügeln – eine Konstellation, die schon durch ihre physische Wucht elektrisiert.

 

Was hier entsteht, ist keine historisierende Rekonstruktion, sondern eine Hommage an Bach durch die Sprache des modernen Klaviers. Die kraftvolle Sonorität der Flügel lässt das Werk in orchestraler Pracht erstrahlen, während die vier Pianisten mit spontaner Lebendigkeit und gegenseitiger Wachheit agieren. Argerichs flackernde Impulsivität trifft auf Kissins Präzision, Levines dirigierendes Bewusstsein auf Pletnevs aristokratische Gelassenheit – und aus dieser Spannung entsteht ein Rausch aus Bewegung und Klang.

 

Im Largo verlangsamt sich die Zeit: die vier Flügel verschmelzen zu einem atmenden Organismus, und der Klang erhält jene weiche, gläserne Tiefe, die auf dem Cembalo nur zu ahnen ist. Das Allegro hingegen entfesselt Virtuosität pur – ein musikalischer Dialog auf höchstem Niveau, zugleich festlich, übermütig und kontrolliert.

 

Diese Aufführung ist kein Gegenentwurf, sondern eine Verwandlung: Sie beweist, dass Bachs Musik in jedem Jahrhundert neu geboren werden kann – sei es auf Cembali, sei es auf Steinways. Wo die niederländische Aufnahme die Reinheit des barocken Ideals sucht, feiert Verbier die Vitalität und Freiheit der Moderne. Beide Interpretationen – jede in ihrer eigenen Sprache – zeigen, wie unerschöpflich Bachs Geist bleibt.

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Johann Sebastian Bach

Jakub Józef Orliński (Countertenor) – „Anima Sacra“

Il Pomo d’Oro – Leitung: Maxim Emelyanychev

Erato / Warner Classics, 2018

https://www.youtube.com/watch?v=pbHFv_m9Jis&list=OLAK5uy_mGm3y_W9jBGcc1na7tvxnvN79dCZWh6v0&index=1 

 

Mit seinem Debütalbum „Anima Sacra“ hat der polnische Countertenor Jakub Józef Orliński (* 1990) ein künstlerisches Zeichen gesetzt, das weit über den bloßen Effekt jugendlicher Virtuosität hinausgeht. Begleitet vom herausragenden Ensemble Il Pomo d’Oro unter der Leitung des russischen Dirigenten und Cembalisten Maxim Emelyanychev (* 1988), widmet sich Orliński hier geistlichen Arien des 18. Jahrhunderts – Werken von Komponisten, die heute nur selten auf den Konzertpodien zu hören sind.

 

Das Repertoire, aus Archiven und Bibliotheken mit akribischer Sorgfalt zusammengetragen, vereint Namen wie Nicola Fago (1677–1745), Johann David Heinichen (1683–1729), Francesco Feo (1691–1761), Domenico Natale Sarro (1679–1744), Gaetano Maria Schiassi (1698–1754), Johann Adolf Hasse (1699–1783) und Jan Dismas Zelenka (1679–1745).

 

Diese Auswahl offenbart eine bislang kaum beachtete Klangwelt zwischen neapolitanischem Spätbarock und deutscher Sakraltradition, in der empfindsame Linienführung, kontrapunktische Kunst und vokale Virtuosität zu einer bewegenden Einheit verschmelzen. Orliński gestaltet die Arien mit makelloser Technik, schlankem, silbrig schimmerndem Timbre und einer emotionalen Intensität, die das Sakrale zu etwas zutiefst Menschlichem werden lässt. Besonders eindrucksvoll gelingt ihm dies in Zelenkas ergreifender Arie “S’una sol lagrima”, in der Mitleid und Glauben zu einer einzigen Klage verschmelzen, oder in Schiassis “L’agnelletta timidetta”, wo zarte Empfindsamkeit und barocke Ausdrucksfülle in vollkommener Balance stehen.

 

Il Pomo d’Oro, eines der führenden Ensembles für historische Aufführungspraxis, erweist sich als idealer Partner: Die Musiker reagieren mit federnder Leichtigkeit, expressiver Dynamik und einem feinen Gespür für Farbe und Atmung auf jede vokale Nuance. Unter Emelyanychevs präziser und zugleich atmender Leitung entsteht ein kammermusikalischer Dialog von seltener Intensität.

 

„Anima Sacra“ – die heilige Seele – ist damit nicht nur ein programmatischer Titel, sondern auch eine künstlerische Haltung. Das Album verbindet musikalische Entdeckungsfreude mit spiritueller Innerlichkeit und zeigt, dass auch abseits der bekannten Meisterwerke der Barockzeit eine ganze Welt verborgen liegt: eine Welt, in der die menschliche Stimme als Ausdruck göttlicher Empfindung verstanden wird.

 

Track 1:

 

Komponist: Nicola Fago (1677–1745)

Werk: Il Faraone sommerso (Oratorium, Neapel, um 1710)

Arie: Alla gente a Dio diletta

 

Deutsche Übersetzung:

 

Dem von Gott geliebten Volk

wird Hilfe gesandt aus der Höhe.

Der Himmel neigt sich voll Erbarmen,

und die Hand des Höchsten rettet die Gerechten

aus den Fluten der Bedrängnis.

 

Track 2:

 

Komponist: Nicola Fago

Werk: Confitebor tibi Domine (Psalmvertonung, Neapel, um 1715)

Satz I: Confitebor tibi Domine

 

Deutsche Übersetzung:

 

Ich will dich preisen, o Herr,

von ganzem Herzen,

vor dem Rate der Gerechten

und in der Gemeinde.

Groß sind die Werke des Herrn,

erforschbar für alle, die sie lieben.

 

Track 3:

 

Komponist: Nicola Fago

Werk: Confitebor tibi Domine

Satz II: Memoriam fecit – Escam dedit

 

Deutsche Übersetzung:

 

Er hat ein Gedächtnis gestiftet seiner Wunder,

gnädig und barmherzig ist der Herr.

Er gibt Speise denen, die ihn fürchten;

für immer gedenkt er seines Bundes.

 

Track 4:

 

Komponist: Nicola Fago

Werk: Confitebor tibi Domine

Satz III: Fidelia omnia mandata ejus

 

Deutsche Übersetzung:

 

Treu sind alle seine Gebote,

sie stehen fest für immer und ewig,

geschaffen in Wahrheit und Gerechtigkeit.

 

Track 5:

 

Komponist: Nicola Fago

Werk: Confitebor tibi Domine

Satz IV: Sanctum et terribile

 

Deutsche Übersetzung:

 

Heilig und ehrfurchtgebietend ist sein Name.

Der Anfang der Weisheit ist die Furcht des Herrn;

klug sind alle, die danach handeln.

Sein Lob bleibt ewig bestehen.

 

Track 6:

 

Komponist: Nicola Fago

Werk: Confitebor tibi Domine

Satz V: Initium sapientiae timor Domini

 

Deutsche Übersetzung:

 

Die Furcht des Herrn ist der Anfang der Weisheit;

klug sind alle, die danach handeln.

Sein Lob bleibt ewig bestehen.

 

Track 7:

 

Komponist: Nicola Fago

Werk: Confitebor tibi Domine

Satz VI: Intellectus bonus omnibus – Gloria

 

Deutsche Übersetzung:

 

Einsicht haben alle, die seine Gebote befolgen;

sein Lob bleibt ewig bestehen.

 

Ehre sei dem Vater und dem Sohn

und dem Heiligen Geist,

wie es war im Anfang,

so auch jetzt und allezeit

und in Ewigkeit. Amen.

 

Track 8:

 

Komponist: Nicola Fago

Werk: Confitebor tibi Domine

Satz VII: Sicut erat in principio – Amen

 

Deutsche Übersetzung:

 

Wie es war im Anfang,

so auch jetzt und allezeit

und in Ewigkeit.

Amen.

 

Track 9:

 

Komponist: Johann David Heinichen (1683–1729)

Werk: Alma Redemptoris Mater, S. 22 (um 1710)

Satz I: Alma Redemptoris Mater

 

Deutsche Übersetzung:

 

Milde Mutter des Erlösers,

du stets offene Pforte des Himmels

und Stern des Meeres,

komm dem gefallenen Volk zu Hilfe,

das sich bemüht, aufzustehen.

Du, die du den Schöpfer der Welt

zur Geburt gebracht hast

und dabei ewig Jungfrau bliebest,

nimm dich der Sünder an.

 

Track 10:

 

Komponist: Johann David Heinichen

Werk: Alma Redemptoris Mater, S. 22

Satz II: Tu quae genuisti

 

Deutsche Übersetzung:

 

Du, die du den Schöpfer geboren hast,

und doch ewig Jungfrau geblieben bist,

Maria, nimm dich der Sünder an.

 

Track 11:

 

Komponist: Johann David Heinichen

Werk: Alma Redemptoris Mater, S. 22

Satz III: Gabrielis ab ore

 

Deutsche Übersetzung:

 

Du hast durch Gabriels Botschaft

den Gruß empfangen

und den Schöpfer der Welt geboren;

erbarme dich unser,

bitte für uns, o Jungfrau Maria.

 

Track 12:

 

Komponist: Domènec Terradellas (1713–1751)

Werk: Dixit Dominus

Satz: Donec ponam

 

Deutsche Übersetzung:

 

Bis ich deine Feinde hinlege

zum Schemel deiner Füße.

Der Herr wird das Zepter deiner Macht

vom Zion her aussenden:

Herrsche inmitten deiner Feinde.

 

Track 13:

 

Komponist: Nicola Fago

Werk: Tam non splendet sol creatus (Motette, Neapel, frühes 18. Jahrhundert)

Satz I: Tam non splendet sol creatus

 

Deutsche Übersetzung:

 

Nicht so hell erstrahlt die erschaffene Sonne,

wie das göttliche Licht erglänzt,

das in der Jungfrau wohnt,

von der das wahre Licht der Welt geboren wird.

 

Track 14:

 

Komponist: Nicola Fago

Werk: Tam non splendet sol creatus

Satz II: O nox clara?

 

Deutsche Übersetzung:

 

O klare Nacht,

die heller leuchtet als der Tag!

In deinem Schweigen ward geboren

der Herr des Himmels,

der der Welt das wahre Licht gebracht hat.

 

Track 15:

 

Komponist: Nicola Fago

Werk: Tam non splendet sol creatus

Satz III: Dum infans iam dormit

 

Deutsche Übersetzung:

 

Während das Kind schon schläft,

wachen die Engel in Jubelgesang,

und die Hirten beten voll Staunen an,

denn in der Schwachheit des Fleisches

ruht die Macht des Himmels.

 

Track 16:

 

Komponist: Nicola Fago

Werk: Tam non splendet sol creatus

Satz IV: Alleluia

 

Deutsche Übersetzung:

 

Halleluja!

Lobpreis und Ehre sei Gott in der Höhe,

der uns durch die Geburt seines Sohnes

das Licht des Heils geschenkt hat.

Halleluja!

 

Track 17:

 

Komponist: Domenico Natale Sarro (1679–1744)

Werk: Messa a 5 voci

Satz: Laudamus te

 

Deutsche Übersetzung:

 

Wir loben dich,

wir preisen dich,

wir beten dich an,

wir verherrlichen dich.

 

Track 18:

 

Komponist: Francesco Feo (1691–1761)

Werk: Dies irae

Satz: Juste Judex ultionis

 

Deutsche Übersetzung:

 

Gerechter Richter der Vergeltung,

verleihe mir die Gnade der Vergebung,

noch ehe der Tag der Abrechnung kommt.

 

Track 19:

 

Komponist: Jan Dismas Zelenka (1679–1745)

Werk: Gesù al Calvario, ZWV 62 (1735)

Arie: Smanie di dolci affetti …

 

Deutsche Übersetzung:

 

Sehnsüchte süßer Gefühle

durchdringen mein Herz mit Schmerz und Liebe.

Zwischen Furcht und Hoffnung

zittert meine Seele,

denn die Liebe kämpft mit dem Leiden,

und das Mitleid verzehrt mich ganz.

 

Track 20:

 

Komponist: Jan Dismas Zelenka

Werk: Gesù al Calvario, ZWV 62 (1735)

Arie: S’una sol lagrima

 

Deutsche Übersetzung:

 

Wenn nur eine einzige Träne

aus mitleidsvollem Herzen flösse,

würde sie schon genügen,

um den Zorn des Himmels zu besänftigen.

Doch wer kann weinen,

wenn Schmerz und Liebe

die Seele zugleich bezwingen?

 

Track 21:

 

Komponist: Johann Adolf Hasse (1699–1783)

Werk: Mea tormenta, properate! (Arie aus einer Kantate oder Oratorium, Dresden, um 1730)

 

Deutsche Übersetzung:

 

Eilt herbei, ihr Qualen,

kommt, vollendet mein Leiden!

Wenn Schmerz mich töten soll,

so sterb’ ich willig —

denn mein Herz sehnt sich nach dem Himmel,

wo das Leid sich in Trost verwandelt.

 

Track 22:

 

Komponist: Gaetano Maria Schiassi (1698–1754)

Werk: Maria Vergine al Calvario (Oratorium, Bologna, um 1730)

Arie: L’agnelletta timidetta

 

Deutsche Übersetzung:

 

Wie ein zaghaftes Lämmchen

folgt sie den blutigen Spuren des Sohnes,

zitternd vor Schmerz und Liebe.

Ihr Herz vergeht in Trauer,

doch ihr Glaube bleibt standhaft

unter dem Kreuz des Herrn.

 

Track 23:

 

Komponist: Francesco Durante (1684–1755)

Werk: Messa a 5 voci

Satz: Domine Fili unigenite

 

Deutsche Übersetzung:

 

Herr, eingeborener Sohn,

Jesus Christus,

Herr Gott, Lamm Gottes,

Sohn des Vaters,

du nimmst hinweg die Sünden der Welt,

erbarme dich unser. 

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Jakub Józef Orliński
Sergei Rachmaninow

Sergei Rachmaninow (1873–1943): Klavierkonzert Nr. 2 in c-Moll op. 18

Klavier: Krystian Zimerman (* 1956)

Boston Symphony Orchestra, Leitung: Seiji Ozawa (1935–2024)

Deutsche Grammophon, Aufnahme: Dezember 2000

 

https://www.youtube.com/watch?v=DZTAXk2NOdc 

 

Rachmaninows Zweites Klavierkonzert gehört zu den unvergänglichen Meisterwerken der Spätromantik – ein Werk, das zwischen Melancholie und triumphaler Kraft schwebt. Nach einer tiefen schöpferischen Krise, ausgelöst durch das Scheitern seiner ersten Sinfonie, fand der Komponist mit diesem Konzert zu sich selbst zurück. Die Entstehung zwischen 1900 und 1901 fiel in eine Zeit, in der Rachmaninow durch hypnotherapeutische Sitzungen mit Dr. Nikolai Dahl (1860–1939) neuen Mut schöpfte – und die Musik dieses Konzerts atmet förmlich den Aufbruch aus Dunkelheit ins Licht.

 

Der eröffnende Satz beginnt ungewöhnlich: mit einer Reihe von geheimnisvoll anschwellenden Akkorden des Solisten, die wie aus der Tiefe des Herzens steigen, bis das Orchester den dramatischen Hauptgedanken entfaltet. Zimerman gestaltet diesen Beginn mit einem idealen Gleichgewicht aus Spannung und innerer Ruhe – kraftvoll, aber nie laut, von einer klanglichen Noblesse, die an große russische Traditionen erinnert. Ozawa und das Boston Symphony Orchestra antworten mit einem satten, fein abgestuften Klangbild, das Rachmaninows weitgespannten Bogen organisch trägt.

 

Im zweiten Satz, dem Adagio sostenuto, öffnet sich eine der schönsten lyrischen Seiten der gesamten Klavierliteratur. Über einem zarten Puls der Streicher schwebt eine melancholische Melodie, die sich mit dem Klavier zu einem stillen Dialog verbindet – voll Sehnsucht und zeitloser Schönheit. Zimermans Anschlag bleibt dabei von größter Delikatesse, jede Phrase ist modelliert wie ein Atemzug.

 

Das Finale schließlich führt vom energischen c-Moll zum strahlenden C-Dur. Hier verschmelzen Virtuosität und emotionale Größe: das heroische Thema, die wogenden Klavierfiguren, das immer wiederkehrende Aufbäumen – alles kulminiert in einer Apotheose, die Zimerman und Ozawa mit packender Dramatik, aber auch mit leuchtender Klarheit gestalten.

 

Diese Einspielung gilt als eine der vollkommensten modernen Interpretationen des Werkes. Zimermans makellose Technik, seine Kontrolle über Klangfarben und Tempo, sowie Ozawas einfühlsame, weiträumige Orchesterführung verbinden sich zu einer Darbietung, die zugleich von Noblesse, Leidenschaft und tiefem Respekt vor der Partitur geprägt ist. Eine Aufnahme, die Rachmaninows Musik nicht sentimental verklärt, sondern in ihrer emotionalen Wahrhaftigkeit erstrahlen lässt – zweifellos hörenswert.

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Tomás Luis de Victoria (1548–1611): Requiem a 6 (Officium Defunctorum, 1605)

 

The Tallis Scholars, Leitung: Peter Phillips (* 1953)

https://www.youtube.com/watch?v=RI_U6o7tAzk 

 

 

Das Officium Defunctorum, Victorias letztes und vollendetstes Werk, entstand 1603 zum Gedenken an Kaiserin Maria von Österreich (1528–1603), die im Madrider Kloster der Descalzas Reales verstarb. Zwei Jahre später wurde es in Madrid gedruckt und gilt bis heute als Höhepunkt der spanischen Vokalpolyphonie. In dieser sechsstimmigen Totenmesse erreicht Victoria eine einzigartige Verbindung von kontrapunktischer Meisterschaft, innerer Ruhe und spiritueller Klarheit. Keine theatralischen Gesten, keine äußeren Wirkungen – nur reine Klangarchitektur, die sich über der Erde zu erheben scheint.

 

Die Einspielung der Tallis Scholars unter Peter Phillips gehört zu den eindrucksvollsten und reinsten Interpretationen. Ihre Stimmen verschmelzen zu einem transparenten, schwebenden Gesamtklang, der den meditativen Charakter dieser Musik in vollendeter Form spürbar macht. In der YouTube-Aufnahme entfaltet sich die erhabene Ruhe des Werkes in feierlicher Klarheit.

 

Text

 

Introitus: Requiem aeternam dona eis, Domine, et lux perpetua luceat eis.

 

Herr, gib ihnen die ewige Ruhe, und das ewige Licht leuchte ihnen.

 

Te decet hymnus, Deus, in Sion, et tibi reddetur votum in Jerusalem: exaudi orationem meam, ad te omnis caro veniet.

 

Dir gebührt das Lob, o Gott, auf dem Zion, und dir wird das Gelübde erfüllt in Jerusalem. Erhöre mein Gebet; zu dir kommt alles Fleisch.

 

Kyrie eleison. Christe eleison. Kyrie eleison.

 

Herr, erbarme dich. Christus, erbarme dich. Herr, erbarme dich.

 

Offertorium: Domine Jesu Christe, Rex gloriae, libera animas omnium fidelium defunctorum de poenis inferni et de profundo lacu.

 

Herr Jesus Christus, König der Herrlichkeit, erlöse die Seelen aller verstorbenen Gläubigen von den Strafen der Hölle und dem tiefen Abgrund.

 

Sed signifer sanctus Michael repraesentet eas in lucem sanctam.

 

Doch der heilige Michael, der Bannerträger, möge sie in das heilige Licht führen.

 

Quam olim Abrahae promisisti et semini eius.

 

Wie du es einst Abraham und seinen Nachkommen verheißen hast.

 

Sanctus, Sanctus, Sanctus Dominus Deus Sabaoth. Pleni sunt caeli et terra gloria tua. Hosanna in excelsis.

 

Heilig, heilig, heilig ist der Herr, Gott der Heerscharen. Himmel und Erde sind erfüllt von deiner Herrlichkeit. Hosanna in der Höhe.

 

Agnus Dei, qui tollis peccata mundi, dona eis requiem sempiternam.

 

Lamm Gottes, das du hinwegnimmst die Sünden der Welt, gib ihnen die ewige Ruhe.

 

Communio: Lux aeterna luceat eis, Domine, cum sanctis tuis in aeternum, quia pius es.

 

Das ewige Licht leuchte ihnen, o Herr, mit deinen Heiligen in Ewigkeit, denn du bist barmherzig.

 

Alonso Lobo (1555–1617): Versa est in luctum

 

Diese Motette, 1598 für die Exequien von König Philipp II. (1527–1598) komponiert, steht in enger geistiger Verwandtschaft zu Victorias Requiem. Sie erklingt in der Tallis-Scholars-Aufnahme unmittelbar nach dem Lux aeterna und führt das Thema der stillen Klage weiter – schlicht, ergreifend und voller Demut.

https://www.youtube.com/watch?v=fZ_FeBMsIlw 

 

Text

 

Versa est in luctum cithara mea, et organum meum in vocem flentium.

Parce mihi, Domine, nihil enim sunt dies mei.

 

Meine Harfe ist in Klage verwandelt, und mein Spiel in die Stimme der Weinenden.

Verschone mich, o Herr, denn ein Nichts sind meine Tage.

 

Responsory: Libera me, Domine, de morte aeterna in die illa tremenda, quando caeli movendi sunt et terra. Dum veneris iudicare saeculum per ignem.

 

Befreie mich, Herr, vom ewigen Tod an jenem schrecklichen Tag, wenn Himmel und Erde beben werden, wenn du kommst, die Welt durch Feuer zu richten.

 

Tremens factus sum ego et timeo, dum discussio venerit atque ventura ira. Dies illa, dies irae, calamitatis et miseriae, dies magna et amara valde.

 

Ich zittere und fürchte mich, bis das Gericht kommt und der Zorn erscheint. Jener Tag, der Tag des Zorns, des Unglücks und des Elends, der große und überaus bittere Tag.

 

Dona eis requiem. Amen.

 

Gib ihnen die Ruhe. Amen.

 

Diese Aufnahme aus der Kapelle des Merton College in Oxford zeigt The Tallis Scholars unter der Leitung von Peter Phillips auf dem Höhepunkt ihrer Kunst. In vollkommener Intonation, klarer Linienführung und fast überirdischer Ruhe wird Victorias Officium Defunctorum zu einem Gebet aus Klang – ein stiller Triumph der Reinheit und ein bleibendes Zeugnis für die spirituelle Größe der spanischen Renaissance.

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Alonso Lobo
Tomás Luis de Victoria

Festum Omnium Sanctorum

 

Am 1. November, feiert die katholische Kirche das Hochfest Allerheiligen (Festum Omnium Sanctorum), an dem aller Heiligen gedacht wird.

 

Aus diesem Anlass sei an ein erhabenes Werk von Jan Dismas Zelenka (1679–1745) erinnert: die „Missa Omnium Sanctorum“, ZWV 21, komponiert um 1741 in Dresden. Sie ist Zelenkas letzte vollendete Messvertonung und zeichnet sich durch eine außergewöhnliche Tiefe, kontrapunktische Meisterschaft und zugleich bewegende Expressivität aus. In dieser Messe verschmelzen festliche Strahlkraft und innige Frömmigkeit zu einem musikalischen Denkmal des Glaubens – ein würdiger Beitrag zum heutigen Hochfest aller Heiligen.

 

 

 

https://www.youtube.com/watch?v=RZNYtML_Zrg 

 

 

Genaue Beschreibung - siehe Jan Dismas Zelenka,  „Missa Omnium Sanctorum“, ZWV 21 

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Jan Dismas Zelenka

Johannes Brahms (1833–1897): „Die Meere“ op. 20 Nr. 3

Text: Wilhelm Müller (1794–1827), nach einer italienischen Vorlage

 

Die frühe Liedkomposition „Die Meere“ gehört zu jenen Werken, in denen Johannes Brahms die poetische Welt der Romantik mit einer neuen, tief innerlichen Tonsprache verbindet. Entstanden um 1860, also in der Zeit seines reifen Liedschaffens, ist dieses Stück Teil des Opus 20, das ursprünglich für Frauenstimmen mit Klavierbegleitung konzipiert wurde. Der Text stammt tatsächlich von Wilhelm Müller, dem bekannten Dichter der Schubert-Zyklen Die schöne Müllerin und Winterreise, der hier eine italienische Vorlage in eine zart melancholische, von Sehnsucht und Naturbildern durchzogene Sprache überträgt.

 

Auf YouTube liegt eine eindrucksvolle Interpretation des Liedes vor, in der Steinaunn Soffia Skjenstadt (Sopran, Island), Judith Thielsen ( Mezzosopran, Deutschland) und Mariana Popova (Klavier, Bulgarien) mit feinem stilistischen Gespür den stillen Zauber dieses Werkes entfalten. Das Wechselspiel zwischen den beiden Frauenstimmen lässt die Linien ineinanderfließen wie Lichtreflexe auf Wasser, während Popova am Klavier mit gedämpfter Intensität den Atem der See und das unergründliche Sehnen des Herzens spürbar macht.

https://www.youtube.com/watch?v=LqQo56vUFkQ 

Brahms gestaltet das Gedicht „Alle Winde schlafen“ mit feinem Sinn für Atmosphäre. Schon die erste Zeile wird von einer weichen, wiegenden Begleitung getragen, die das ruhige Atmen des Meeres suggeriert. Über diesem klanglich schimmernden Grund bewegt sich eine schlichte, weit gespannte Melodie, die an ein Wiegenlied erinnert. Das Meer ist hier nicht bedrohlich, sondern ein Gleichnis für Ruhe und Einkehr. In den tiefen Registern des Klaviers fließt das Wasser träge dahin, während in den hohen Lagen die zarten Wellenlichter des Mondes aufblitzen.

 

Doch Brahms wäre nicht Brahms, wenn diese Ruhe nicht zugleich ein Spiegel innerer Unruhe wäre. Das dritte und vierte Verspaar („Alles, alles stille / auf dem weiten Meer! / Nur mein Herz will nimmer / mit zu Ruhe gehn“) bildet den seelischen Wendepunkt des Liedes. Plötzlich bricht das weite Klangbild zusammen, die Harmonik wird dunkler, der Rhythmus stockt, und das bisher friedvolle Meer verwandelt sich in ein Sinnbild des ruhelosen Herzens. In diesen Takten offenbart sich jene psychologische Tiefe, die Brahms’ Lieder weit über die bloße Naturstimmung hinaushebt: Das Meer schläft – aber der Mensch, der liebt, findet keine Ruhe.

 

Im Schlussabschnitt („In der Liebe Fluten / treibt es her und hin“) erreicht die Komposition ihren emotionalen Höhepunkt. Das Klavier gerät in Bewegung, die harmonischen Farben verdichten sich, und die Melodie steigt zu einem schmerzlichen Aufschwung an, bevor sie in resignativer Müdigkeit verklingt. Der letzte Vers „bis der Nachen sinkt“ endet in einem sanften, aber unerbittlichen Ritardando – ein Gleichnis für das Verlöschen der Hoffnung im endlosen Wellenspiel der Gefühle.

 

Die poetische Schönheit von Müllers Text entfaltet sich bei Brahms mit einer fast impressionistischen Klangempfindung, die ihrer Zeit voraus ist. Die „kühlen Schatten des Abends“, das „Schleiertuch der Luna“, das „schwebende Wasser“ – all diese Bilder setzt er mit einer Raffinesse um, die sowohl Naturdarstellung als auch seelische Spiegelung ist. Man spürt in jeder Wendung die Verwandtschaft zu Schumann, doch zugleich auch Brahms’ unnachahmliche Handschrift: eine kontrollierte Leidenschaft, ein Schmerz, der sich in nobler Zurückhaltung äußert.

 

Der Text

"Alle Winde schlafen
auf dem Spiegel der Flut;
kühle Schatten des Abends
decken die Müden zu.

Luna hängt sich Schleier
über ihr Gesicht,
schwebt in dämmernden Träumen
über die Wasser hin.

Alles, alles stille
auf dem weiten Meer!
Nur mein Herz will nimmer
mit zu Ruhe gehn.

In der Liebe Fluten
treibt es her und hin,
wo die Stürme nicht ruhen
bis der Nachen sinkt."

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Johannes Brahms

Klavierkonzert d-Moll KV 466

Wolfgang Amadeus Mozart (1756–1791): Klavierkonzert d-Moll KV 466 – Mitsuko Uchida (* 1948), Camerata Salzburg (Mozarteum, 2.–4. März 2001, Dirigat und Klavier: Mitsuko Uchida, Veröffentlichung: Deutsche Grammophon 2006)

 

Das Klavierkonzert Nr. 20 in d-Moll KV 466 gehört zu den Werken Mozarts, die einen fast metaphysischen Rang innerhalb seines Schaffens besitzen. 1785 in Wien komponiert und von Mozart selbst am 11. Februar desselben Jahres in der „Mehlgrube“ uraufgeführt, markiert es einen entscheidenden Wendepunkt in der Entwicklung des klassischen Konzerts. Das Werk, eines der wenigen Mollkonzerte Mozarts, ist von dramatischer Intensität, düsterer Energie und harmonischer Kühnheit durchzogen, die in der Musikgeschichte bis zu Beethoven nachhallt. Beethoven schätzte dieses Konzert so sehr, dass er seine eigene Kadenz dazu schrieb – ein Zeichen der tiefen Verehrung, die er für Mozarts tragische Tonwelt empfand.

 

 

https://www.youtube.com/watch?v=yM8CFR01KwQ 

Der erste Satz, Allegro, eröffnet mit pochenden Synkopen und dunklem, orchestralem Sturm, der unaufhaltsam vorwärtsdrängt. Hier betritt Mozart das Reich des tragischen Dramas, das eher an die Oper als an ein klassisches Konzert erinnert. Das Klavier tritt nicht als bloß solistischer Gegenpart, sondern als handelnde Stimme in einem seelischen Dialog auf. Mitsuko Uchida gestaltet diesen Beginn mit jener feinen Balance zwischen Klarheit und Leidenschaft, die ihre Mozart-Interpretationen unverwechselbar macht. Ihr Anschlag ist gläsern, durchsichtig, doch von innerer Glut erfüllt. Die linke Hand bleibt stets federnd und lebendig, nie schwer oder vordergründig. Als Dirigentin formt sie das Orchester mit präziser Geste und kluger Ökonomie: die Camerata Salzburg klingt unter ihrer Leitung kammermusikalisch präzise, ohne Härte, die Streicher zeichnen kantige Akzente, das Blech bleibt dezent, die Holzbläser entfalten ihre lyrische Melancholie in feinem Gleichgewicht.

 

Der zweite Satz, Romanze in B-Dur, bildet den emotionalen Gegenpol. In einem fast entrückten, traumartigen Gesang hebt das Klavier an – ein Moment reiner Innigkeit, wie ein Blick in eine friedvolle, private Welt. Uchida spielt hier mit schwebender Zeitlosigkeit, ihr Legato scheint aus einem Atem zu fließen. Der Mittelteil jedoch, in g-Moll, öffnet plötzlich eine dunkle Klage, fast ein Aufschrei des Schmerzes. Diese Rückkehr in Moll ist wie ein Schatten, der den Frieden bedroht, bevor das Hauptthema in verklärtem Glanz wiederkehrt. In Uchidas Händen wirkt dieser Moment wie eine spirituelle Reinigung: der Schmerz wird nicht verdrängt, sondern in Schönheit verwandelt.

 

Im Finale, Allegro assai, entlädt sich die angestaute Energie in einem wilden, stürmischen Rondo. Das Orchester schwingt sich zu dramatischen Akzenten auf, das Klavier antwortet mit schneidender Brillanz. Uchida wahrt auch hier den klaren Kopf einer Architektin, nicht den Gestus einer Virtuosin. Jede Phrase ist geformt, jede dynamische Welle logisch entwickelt. Besonders beeindruckend ist, wie sie das Orchester zu einem lebendigen Atemorgan verschmilzt: kein Gegensatz zwischen Solistin und Ensemble, sondern ein einziger, atmender Körper. Das Finale mündet in den hellen D-Dur-Schluss, der nach der langen Nacht des d-Moll wie eine Apotheose wirkt – kein billiges Happy End, sondern eine schwer errungene Katharsis.

 

Diese 2001 im Salzburger Mozarteum entstandene Aufnahme gehört zu den exemplarischen Deutungen des Konzerts. Uchida verbindet hier die Erfahrung einer Pianistin, die Mozarts Klangsprache von innen her versteht, mit der Souveränität einer Dirigentin, die die strukturellen Spannungen des Werkes zu gestalten weiß. Ihre Lesart ist frei von romantischer Überwucherung, aber erfüllt von emotionaler Wahrhaftigkeit. Die Camerata Salzburg begleitet mit durchsichtiger Textur und federnder Rhythmik, jedes Detail ist klar hörbar, jeder Dialog durchsichtig und belebt.

 

Was diese Interpretation besonders auszeichnet, ist ihr Sinn für Balance: zwischen Licht und Schatten, zwischen analytischer Präzision und menschlicher Wärme. Das d-Moll-Konzert wird hier nicht als theatralische Tragödie gespielt, sondern als seelisches Drama, das seine Wahrheit in der Stille des Hörens findet. Man spürt die Energie einer Musikerin, die nicht zwischen Pianistin und Dirigentin unterscheidet, sondern beide Rollen in einer einzigen geistigen Bewegung vereint.

 

In Mitsuko Uchidas Salzburger Aufnahme offenbart sich Mozart als ein Komponist, der im Leid die Schönheit sucht – und sie findet.

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Wolfgang Amadeus Mozart

Sinfonia „Il giorno onomastico“

Antonio Salieri (1750–1825) komponierte seine Sinfonia „Il giorno onomastico“ im Jahr 1775, wie die autograph überlieferte Partitur belegt. Sie trägt den aufschlussreichen Vermerk „eseguita in un giardino nel mese d’agosto dell’anno suddetto“ – „aufgeführt in einem Garten im Monat August des genannten Jahres“. Damit ist eindeutig festgehalten, dass es sich um eine im Freien veranstaltete Feier handelte, wahrscheinlich ein sommerliches Fest im aristokratischen Rahmen, das dem Namenstag einer bedeutenden Persönlichkeit gewidmet war. Der Titel „Il giorno onomastico“ – „Der Namenstag“ – verweist auf den festlichen Anlass, während die Tonart D-Dur, die Besetzung mit Trompeten und Pauken sowie der heitere, repräsentative Charakter auf eine Feier von besonderem Rang schließen lassen.

 

In diesem Zusammenhang erscheint die Vermutung überzeugend, dass Salieri die Sinfonie im Auftrag oder zu Ehren einer adeligen Gönnerin schrieb. Als plausible Adressatin gilt Maria Wilhelmine Gräfin von Thun und Hohenstein (1744–1800), eine der herausragenden Mäzeninnen der Wiener Klassik, deren Haus in Wien ein kulturelles Zentrum ersten Ranges war. Die Gräfin stand in enger Verbindung zu Joseph Haydn (1732–1809), Wolfgang Amadeus Mozart (1756–1791) und auch zu Antonio Salieri (1750–1825), den sie schätzte und förderte. Ihr Namenstag, das Fest Mariä Himmelfahrt am 15. August, fällt genau in den Zeitraum, den Salieri in seiner Partitur nennt. Ein Gartenkonzert an diesem Tag wäre für ihre musikalischen Zirkel ebenso typisch wie standesgemäß – ein gesellschaftliches Ereignis, bei dem sich Kunst, Repräsentation und private Frömmigkeit verbanden.

 

Dass Salieri auf eine ausdrückliche Widmung verzichtete, erklärt sich durch seine Stellung am Wiener Hof: Als kaiserlicher Komponist verhielt er sich gegenüber adeligen Auftraggebern zurückhaltend und wahrt in seinen Manuskripten eine gewisse formale Distanz. Gleichwohl zeigt der festlich-helle Tonfall der Sinfonie, dass sie mit besonderer Sorgfalt komponiert wurde – möglicherweise als musikalische Huldigung an eine der einflussreichsten Frauen des Wiener Kulturlebens. Eine direkte Widmung wäre in Salieris Position am Hof zwar unüblich gewesen, doch vieles spricht dafür, dass er das Werk als „verdeckte Hommage“ an die Gräfin verstand – ein Akt feiner musikalischer Diplomatie, der persönlichen Dank mit höfischer Etikette verband.

 

CD Antonio Salieri, Symphonies Overtures & Variations, London Mozart Players unter der Leitung von Matthias Bamert,  Chandos Records, 2001, Tracks 10 bis 13:

 

https://www.youtube.com/watch?v=Wlng-OJnrpQ&list=OLAK5uy_lazCK62stpBcaZW9s2eWrQhYt7BsXIqV4&index=10 

In der Einspielung der London Mozart Players unter Matthias Bamert (* 1942), erschienen 2001 bei Chandos Records, entfaltet dieses Werk seine ganze Eleganz und heitere Noblesse. Bamert, der sich mit seiner Reihe Contemporaries of Mozart um die Wiederentdeckung der Wiener Klassik jenseits Mozarts verdient gemacht hat, lässt die orchestrale Transparenz und die feine Balance zwischen Glanz und Geist besonders plastisch hervortreten. Das Eröffnungs-Allegro spiritoso wirkt wie eine musikalische Begrüßung der Festgesellschaft, das Andante cantabile entfaltet ein lyrisches Arioso von großer Zartheit, und das Presto-Finale schließt mit tänzerischer Brillanz – ganz im Sinne einer Gartenmusik, die zwischen höfischer Würde und geselligem Vergnügen schwebt. In dieser Interpretation wird Salieris Il giorno onomastico zu dem, was es wahrscheinlich immer war: eine klingende Hommage an eine „Maria“ von Rang – vielleicht an Maria Wilhelmine von Thun, vielleicht an Maria Theresia selbst –, jedenfalls ein funkelndes Beispiel für den Glanz der Wiener Musik im Zeitalter der Aufklärung.

 

Alles spricht dafür, dass Antonio Salieri seine Sinfonie als Huldigung für eine hochgestellte aristokratische Persönlichkeit schrieb – mit größter Wahrscheinlichkeit für Maria Wilhelmine Gräfin von Thun und Hohenstein (1744–1800). Die auffällige Kombination von Datierung, der Vermerk einer Aufführung „in un giardino nel mese d’agosto“, die Tonart D-Dur mit festlichem Trompetenklang, der Anlass eines Namenstages und die nachweisliche Nähe Salieris zum Kreis der Gräfin lassen kaum einen anderen Schluss zu. Ihr Namenstag, das Hochfest Mariä Himmelfahrt (15. August), fällt exakt in den genannten Zeitraum und war im gesellschaftlichen Kalender der Wiener Aristokratie ein Ereignis ersten Ranges.

 

Dass Salieri keine ausdrückliche Widmung vermerkte, erklärt sich aus seiner Stellung als kaiserlicher Hofkomponist, der gegenüber adeligen Auftraggebern Diskretion und Zurückhaltung wahren musste. Eine öffentliche Dedikation an eine Gräfin wäre am Hof Maria Theresias († 1780) diplomatisch heikel gewesen, da solche Gesten leicht als parteiliche Gefälligkeit hätten gedeutet werden können. Umso wahrscheinlicher ist, dass Salieri seine Sinfonie als „verdeckte Hommage“ komponierte – ein Werk, das zugleich persönlichen Dank, gesellschaftliche Etikette und musikalische Exzellenz vereinte. Im Licht dieser Indizien erscheint "Il giorno onomastico" nicht als zufällige Festmusik, sondern als klangvolles Porträt einer außergewöhnlichen Mäzenin, deren Salon das geistige Zentrum der Wiener Klassik bildete. Es ist das musikalische Spiegelbild jener Verbindung von Würde, Anmut und innerer Noblesse, die Maria Wilhelmine von Thun auszeichnete – und damit ein stilles, aber sprechendes Zeugnis der Dankbarkeit Antonio Salieris gegenüber seiner aristokratischen Unterstützerin.

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Antonio Salieri

Am 28. Oktober 1639, starb Stefano Landi

Stefano Landi (1587–1639) war einer der bedeutendsten italienischen Komponisten der frühen Barockzeit, ein Meister des Übergangs von der Spätrenaissance zur neuen Ästhetik des stile moderno. Seine Musik verbindet die expressive Klarheit des römischen Frühbarock mit der Eleganz höfischer Tanzformen und einer tiefen, oft melancholischen Spiritualität. Besonders berühmt wurde Landi durch seine Oper "Il Sant’Alessio" (1632), die zu den ersten großen Bühnenwerken mit durchkomponierter Handlung zählt und bereits Züge des musikalischen Dramas trägt, das wenig später von Monteverdi zur Vollendung geführt wurde.

 

Unter seinen geistlichen und weltlichen Werken nimmt die "Passacaglia della Vita" einen besonderen Platz ein – ein Stück von schlichter, aber durchdringender Schönheit, das seit Jahrhunderten immer wieder neu entdeckt wird. Ihr melancholischer Refrain “Bisogna morire” („Man muss sterben“) macht sie zu einem Memento mori von zeitloser Kraft. Über einem sich stetig wiederholenden Bassmotiv entfaltet sich ein gesungener Dialog zwischen Leben und Tod, Ironie und Erkenntnis, Weltlust und Vergänglichkeit. Der gleichförmige Rhythmus der Passacaglia spiegelt den unerbittlichen Lauf des Lebens, während die ornamentierten Gesangslinien einen schwebenden, fast tänzerischen Charakter behalten – als wollte der Komponist sagen, dass selbst im Wissen um den Tod das Leben seine Musik nicht verliert.

 

https://www.youtube.com/watch?v=n-p9fLEHckI 

 

In der Interpretation des Ensembles Apollo’s Fire unter der Leitung von Jeannette Sorrell (* 1962) – hier in der Aufnahme “Passacaglia della Vita” aus dem Album “Allure: The Three Amandas” – wird dieses Gleichgewicht zwischen barocker Theatralik und existenzieller Innigkeit meisterhaft getroffen. Die amerikanischen Musiker verbinden historische Spielweise mit sinnlicher Wärme und verleihen der Musik einen fast magischen Glanz. Die Stimmen des Vokalensembles The Three Amandas – von leuchtender Klarheit und doch von sanfter Melancholie durchzogen – lassen die Zeilen nicht als Predigt, sondern als poetische Meditation erklingen.

 

Die "Passacaglia della Vita" ist kein bloßes Lied über den Tod, sondern eine Aufforderung zur Achtsamkeit, ein Spiegel barocker Lebensweisheit. Sie erinnert daran, dass die Zeit verrinnt wie der sich wiederholende Bass, dass aber jeder Ton, jede Silbe, jedes Atemholen ein Teil des Tanzes des Lebens ist – und dass man, solange man noch tanzt, wirklich lebt.

 

Vor 386 Jahren, am 28. Oktober 1639, starb Stefano Landi in Rom.

 

Deutsche Übersetzung des italienischen Textes

 

"O wie gütig bist du,
du schöne, sanfte Tod!
Nicht mehr grausam scheinst du,
sondern anmutig und schön.
Sterben muss man, sterben muss man.

Wer mag da noch Ja sagen,
wer mag da noch Nein sagen?
Wer mag da noch Ja sagen,
wer mag da noch Nein sagen?
Sterben muss man, sterben muss man.

Das Leben verrinnt, das Leben verrinnt,
das Leben verrinnt – und der Tod naht.
Sterben muss man, sterben muss man.

Alle müssen sterben, alle müssen sterben,
alle müssen wir sterben,
die einen früher, die anderen später.
Sterben muss man, sterben muss man.

Der tapfere Mann, die holde Frau,
der Greis und das Kind in der Wiege,
der Reiche und der Bettler, der Edle und der Geringe,
der Tor und der Weise, der Schöne und der Missgestaltete –
sterben muss man, sterben muss man.

Und gerade dann, wenn wir’s am wenigsten denken,
kommt der Tod und ruft uns –
sterben muss man, sterben muss man."

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Stefano Landi

Joseph-Nicolas-Pancrace Royer

 

„Le Vertigo“ ist eines der brillantesten und zugleich eigenwilligsten Stücke aus dem "Premier livre de pièces de clavecin " (1746), der einzigen veröffentlichten Sammlung des französischen Komponisten Joseph-Nicolas-Pancrace Royer (1703–1755). Schon der Titel deutet auf das hin, was den Hörer erwartet: „Vertigo“ – der Schwindel, das Taumeln, die Bewegung zwischen Ordnung und Kontrollverlust. In dieser Musik spürt man den Atem der Bühne, das theatralische Temperament eines Mannes, der in der Oper ebenso zu Hause war wie am Cembalo. Royer, der in Versailles und Paris wirkte und die Königlichen Opern leitete, überträgt in diesem Werk die Ausdrucksformen des Dramas auf die Tastatur und schafft eine Musik, die gleichermaßen elegant, kühn und modern wirkt.

https://www.youtube.com/watch?v=8PxZSN-B6uI 

 

„Le Vertigo“ steht am Übergang von der höfisch-galanten Cembalotradition Couperins zu einer neuen, virtuosen und dramatisch aufgeladenen Schreibweise, wie sie später bei Rameau oder Duphly Gestalt annahm. Das Stück entfaltet sich in unaufhaltsamer Bewegung: kräftige, oft wiederholte Akkorde, plötzliche dynamische Kontraste und kaskadenartige Figuren schaffen den Eindruck eines musikalischen Wirbelsturms. Zwischen diesen eruptiven Gesten erscheinen ruhigere Passagen, die das Gleichgewicht kurz wiederherstellen, bevor der Strudel der Klänge den Hörer erneut erfasst. Diese dialektische Spannung zwischen Ruhe und Raserei, zwischen Kontrolle und Überschwang, macht den eigentlichen Reiz des Stücks aus. Es ist keine höfische Tanzsuite mehr, sondern ein Caprice mit programmatischem Charakter – eine musikalische Vision des Taumels, des berauschenden Schwindels, der sich zwischen Leidenschaft und Spiel bewegt.

In Marco Mencobonis (* 1961) Interpretation auf dem Cembalo wird dieser innere Gegensatz besonders eindrucksvoll erfahrbar. Sein Zugriff ist theatralisch, aber nie übertrieben: Die eruptiven Akkordblöcke gewinnen durch präzise Artikulation plastische Schärfe, während die ruhigeren Abschnitte mit einer fast gesanglichen Linienführung gespielt werden. Mencoboni nutzt die Register des Instruments, um die klanglichen Schattierungen der Komposition deutlich hervortreten zu lassen, und verwandelt so die Partitur in eine kleine Szene voller dramatischer Bewegung. Gerade in dieser Darbietung wird spürbar, dass Royer weniger an dekorativer Virtuosität interessiert war als an Ausdruck, Bewegung und Gestalt – an jener Musik, die das Gleichgewicht herausfordert, um Schönheit im Moment der Erschütterung zu finden.

Royer selbst, ein Zeitgenosse und gelegentlicher Konkurrent Jean-Philippe Rameaus, zählte zu den modernsten Tastenkomponisten seiner Epoche. Seine 1746 gedruckte Sammlung, aus der „Le Vertigo“ stammt, ist zugleich die einzige authentische Quelle seines Cembalowerks – viele andere Kompositionen sind verloren gegangen. Die Druckausgabe zeigt eine ungewöhnlich differenzierte Schreibweise, reich an rhythmischen Feinheiten und klanglichen Effekten. Sie belegt, dass Royer die expressive Kraft des Cembalos in einer Weise auslotete, die ihrer Zeit weit voraus war.

Heute gilt „Le Vertigo“ als Musterbeispiel jener französischen Cembalomusik, die nicht mehr im Schatten höfischer Etikette steht, sondern den dramatischen Ausdruck, die Affekte und das Virtuosentum in den Mittelpunkt rückt. Das Werk ist zugleich Tanz und Drama, Technik und Theater, Form und Ekstase. Es fasziniert, weil es die Balance zwischen Kontrolle und Auflösung wagt – ein musikalisches Sinnbild für den Schwindel selbst. In der Interpretation Marco Mencobonis erhält dieses Stück seine ganze magnetische Energie zurück: ein Wirbel aus Klang und Bewegung, der das Ohr fesselt und die Fantasie entzündet – und ein eindrucksvolles Zeugnis dafür, dass Pancrace Royer zu den kühnsten und originellsten Komponisten des französischen Barock gehörte.

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Pancrace Royer

Solokantate "Filiae Maestae Jerusalem"

 

Antonio Vivaldi (1678–1741): Solokantate "Filiae Maestae Jerusalem", RV 638 – Arie  „Sileant Zephyri“

Philippe Jaroussky (Countertenor, * 1978) · Ensemble Artaserse

Aus der CD Vivaldi: Pietà. Sacred Works for Alto (Warner Classics/Erato, 2014)

https://www.youtube.com/watch?v=zIxXMIie9XI 

 

In diesem ergreifenden Werk („Die betrübten Töchter Jerusalems“), das vermutlich in den frühen 1720er Jahren während Vivaldis Tätigkeit am Ospedale della Pietà in Venedig entstand, offenbart sich die ganze Ausdruckskraft des „prete rosso“ als Schöpfer geistlicher Musik von intensiver Affektgestaltung. Filiae Maestae Jerusalem ist eine Solokantate, in der Vivaldi Schmerz, Demut und innige Glaubensinnigkeit zu einem leuchtenden Klanggebilde verschmilzt.

 

Die Arie „Sileant Zephyri“ („Mögen die sanften Westwinde verstummen“ - im poetischen Kontext steht das Bild für das Erstarren der Natur im Angesicht des Leidens Christi: selbst die milden Lüfte sollen schweigen, während die Welt trauert) steht im Zentrum des Werkes: eine Meditation über den Tod Christi, getragen von elegischer Schönheit und einer geradezu metaphysischen Ruhe.

 

Diese Arie ist eine der eindrucksvollsten Eingebungen Vivaldis im Bereich der geistlichen Musik. In einem langsamen, von zarten Streichern getragenen 12/8-Takt entfaltet sich eine Klanglandschaft voll erhabener Trauer und meditativer Stille. Der Komponist lässt Naturbilder – Wind, Wasser, Sonne, Mond – erstarren, um das kosmische Ausmaß des Todes Christi zu verdeutlichen. Das innere Zentrum ist die Frage: „et cor nostrum non frangit vis doloris?“ – „und unser Herz zerbricht nicht unter der Wucht des Schmerzes?“

 

Philippe Jaroussky gestaltet diese Musik mit vollkommener Ruhe, feinstem Legato und einer spirituellen Intensität, die den Text in reine Klangtranszendenz verwandelt. Die Arie wird so zu einem stillen Gebet, in dem Vivaldis Affektdramatik und Jarousskys ätherische Stimme zu einer fast mystischen Einheit verschmelzen.

 

Das Ensemble Artaserse begleitet mit diskreter Noblesse und sensibler Artikulation; jedes Detail – die ruhigen Streicherfiguren, die fein schwebenden Harmonien – fügt sich in eine Atmosphäre kontemplativer Trauer. Diese Aufnahme zählt zweifellos zu den Höhepunkten moderner Vivaldi-Interpretation, nicht zuletzt wegen der Balance zwischen Virtuosität und Demut, die Jaroussky mustergültig wahrt.

 

Diese Musik entfaltet sich in feierlicher Stille, als stünde die Welt für einen Augenblick still. Vivaldis Linien atmen Wehmut und Andacht, zugleich kündigt sich darin das Licht der Auferstehung an. Jarousskys Interpretation erreicht eine Reinheit, die fast überirdisch wirkt – ein Gebet in Tönen, das dem Schmerz Gestalt und der Hoffnung Klang verleiht.

 

Lateinischer Text

 

"Sileant Zephyri,

rigeant prata,

unda amata,

frondes, flores non satientur.

Mortuo flumine,

proprio lumine luna

et sol etiam priventur.

 

Sed tenebris diffusis

obscuratus est sol,

scinditur quoque velum,

ipsa saxa franguntur,

et cor nostrum non frangit vis doloris?

At dum satis non possumus dolere,

tu nostri, bone Jesu, miserere."

 

Deutsche Übersetzung

 

"Mögen die Zephyre schweigen,

mögen die Wiesen erstarren,

die geliebten Wasser,

Blätter und Blumen sollen nicht mehr erblühen.

Da der Strom des Lebens versiegt ist,

entbehrt selbst der Mond seines Lichtes,

und auch die Sonne soll sich verdunkeln.

 

Doch siehe: in verbreiteter Finsternis

wird die Sonne verdunkelt,

auch der Tempelvorhang zerreißt,

die Felsen selbst zerspringen –

und unser Herz sollte nicht brechen

unter der Wucht dieses Schmerzes?

Doch da wir nicht genug zu leiden vermögen,

erbarm dich unser, gütiger Jesus."

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Antonio Vivaldi

Herr, sei nicht mehr zornig

William Byrd (um 1540–1623) war einer der bedeutendsten englischen Komponisten der Renaissance und gilt neben Thomas Tallis (um 1505–1585) als Begründer der englischen Vokalpolyphonie. Als Katholik im protestantischen England Elisabeths I. (1533–1603, Königin von 1558 bis 1603) führte er ein widersprüchliches Leben: Er war zugleich Komponist des Hofes und überzeugter Angehöriger des verfolgten alten Glaubens. Diese Zerrissenheit spiegelt sich in vielen seiner geistlichen Werke wider, insbesondere in den Cantiones sacrae (1589 und 1591), die trotz ihrer lateinischen Sprache und liturgischen Thematik als Ausdruck des inneren Exils und der religiösen Sehnsucht verstanden werden können. Byrds Musik verbindet strenge kontrapunktische Kunst mit einer unvergleichlichen Expressivität, in der jedes dissonante Intervall und jede melodische Wendung seelische Bedeutung gewinnt.

Das Werk „Ne irascaris Domine“ ("Herr, sei nicht mehr zornig)" entstammt der Sammlung Cantiones sacrae I von 1589 und zählt zu Byrds ergreifendsten Kompositionen. Der Text stammt aus dem Buch Jesaja (Jes 64,9–10) und wird als ein Gebet des Exils interpretiert. Es ist kaum zu bezweifeln, dass Byrd in den Worten des Propheten die Situation der englischen Katholiken seiner Zeit wiedererkannte: ein Volk, das seines Gottes beraubt scheint, dessen Heiligtümer verwüstet und dessen Glaube verboten sind. Die Musik entfaltet sich in ruhiger, kontemplativer Bewegung, doch unter der Oberfläche brodelt schmerzhafte Spannung. Der erste Teil (Ne irascaris Domine) ist ein eindringlicher Bittgesang um göttliche Nachsicht; der zweite Teil (Civitas sancti tui) steigert sich zu einer Klage über das zerstörte Jerusalem, das Byrd als Symbol der verfolgten Kirche verstand. Das Werk endet in leiser, resignierter Wiederholung des Wortes Jerusalem, als verhallte die Hoffnung in der Ferne.

https://www.youtube.com/watch?v=Z-6C46zi0Yg 

 

Die Interpretation durch Stile Antico (Harmonia Mundi, 2008) gehört zu den erlesensten Einspielungen dieser Motette. Der Ensembleklang bleibt transparent und atmend, die Stimmen entfalten sich mit fast mystischer Klarheit. Besonders beeindruckend ist die subtile Dynamik, die aus innerer Bewegung entsteht: kein Pathos, sondern kontemplative Trauer – Musik als Gebet im Geheimen.

Lateinischer Text

Ne irascaris, Domine, satis,
et ne ultra memineris iniquitatis nostrae.
Ecce, respice, populus tuus omnes nos.

Civitas sancti tui facta est deserta.
Sion deserta facta est,
Jerusalem desolata est.

Deutsche Übersetzung

Zürne nicht länger, o Herr,
und gedenke nicht mehr unserer Missetaten.
Sieh her und schau: wir sind allesamt dein Volk.

Die Stadt deines Heiligtums ist zur Wüste geworden.
Zion ist verwüstet,
Jerusalem liegt in Trümmern.

Diese Motette gehört zu den ergreifendsten Zeugnissen geistlicher Musik der Spätrenaissance. Byrd gelingt es, durch die unaufdringliche Intensität seiner Harmonik und die gedämpfte Bewegung der Stimmen eine Atmosphäre zu schaffen, die zwischen Buße und Hoffnung schwebt. In ihr wird Musik zu einer Form des stillen Widerstands – zu einem Akt des Glaubens, der im Klang weiterlebt, wenn das Wort schon verstummt ist.

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William Byrd

Beata viscera

 

Die Aufnahme auf dem Label Glossa (2012) unter der Leitung von Hervé Niquet (* 1957) mit dem Ensemble Le Concert Spirituel stellt einen stilistisch sehr gewichtigen Beitrag zur Renaissancemusik dar, in dem die monumentale Messe Missa sopra Ecco sì beato giorno von Striggio das Zentrum bildet. Die CD kombiniert diese zentrale Messe mit weiteren religiösen Werken der Renaissance italienischer Herkunft (u. a. von Orazio Benevolo und Francesco Corteccia) und das ergibt ein Programm, das sowohl stilistisch als auch klanglich reichhaltig ist: Man erlebt kleinere Werke zur Einstimmung (z. B. „Beata viscera“) und steigert sich hin zur spektakulären Großbesetzung mit 40 bzw. sogar 60 Stimmen in Striggio.

 

https://www.youtube.com/watch?v=Buxu0cE4jLI&list=OLAK5uy_l7RI_lIC7GXOcMx9bMjUGhDdW2hronisY&index=1

 

Diese CD ist ein musikalisches Ereignis, das den Hörer in die prachtvolle Klangwelt der Spätrenaissance führt. Zentrum des Programms bildet Alessandro Striggios (ca. 1536/37 – 1592) monumentale Missa sopra Ecco sì beato giorno, eine Messe, die durch ihre außerordentliche Besetzung – zunächst für 40, im abschließenden Agnus Dei sogar für 60 Stimmen – zu den erstaunlichsten Klangschöpfungen des 16. Jahrhunderts zählt. Um dieses kolossale Werk, das an den Florentiner Hof der Medici gebunden ist und als Symbol höfischer Macht und göttlicher Ordnung gelten darf, gruppiert Niquet Kompositionen anderer Meister der italienischen Hochrenaissance – Werke von Orazio Benevolo (1605–1672), Francesco Corteccia (1502–1571) und einem anonymen Meister. Das Ergebnis ist eine dramatisch aufgebaute geistliche Reise, die mit einem schlichten Mariengesang beginnt, sich über prachtvolle Psalmvertonungen steigert und in Striggios überwältigendem Klangdom gipfelt.

Den Auftakt bildet das anonyme Beata viscera, ein kurzes, innig leuchtendes Stück marianischer Frömmigkeit, das gleichsam den Ton des ganzen Programms vorgibt. Der Text, vermutlich aus dem 13. Jahrhundert, lautet:

Beata viscera


Beata viscera Mariae virginis,
quae portaverunt aeterni Patris Filium.
Alleluia.

Glückselig ist der Schoß


Glückselig ist der Schoß der Jungfrau Maria,
die den Sohn des ewigen Vaters getragen hat.
Halleluja.

Es ist eine schlichte, fast mystische Verehrung des weiblichen Schoßes, der das Göttliche in sich trug – eine kontemplative Einführung in das Licht und die Reinheit, die später in Striggios Messe in monumentaler Form wiederkehren.

 

https://www.youtube.com/watch?v=Buxu0cE4jLI&list=OLAK5uy_l7RI_lIC7GXOcMx9bMjUGhDdW2hronisY&index=1

 

Es folgt Orazio Benevolos Laetatus sum, eine prachtvolle Vertonung des Psalm 121 (122) Laetatus sum in his quae dicta sunt mihi („Ich freute mich, als man mir sagte: Wir ziehen zum Hause des Herrn“). Der Text, aus der Vulgata überliefert, lautet in Auszügen:

Laetatus sum


Laetatus sum in his quae dicta sunt mihi:
in domum Domini ibimus.
Stantes erant pedes nostri in atriis tuis, Ierusalem.
Ierusalem, quae aedificatur ut civitas,
cuius participatio eius in idipsum.
Illuc enim ascenderunt tribus, tribus Domini:
testimonium Israel ad confitendum nomini Domini.

Ich freute mich


Ich freute mich über die, die zu mir sagten:
Wir ziehen zum Hause des Herrn.
Unsere Füße stehen in deinen Toren, Jerusalem,
du Stadt, wohlgefügt und fest gefügt,
wohin die Stämme des Herrn hinaufziehen,
ein Zeugnis Israels, um den Namen des Herrn zu preisen.

Benevolo setzt diesen Text mit jener für ihn typischen römischen Pracht um – große Vokalgruppen, festlich im Wechsel, eine Musik, die das Ideal der maestà verkörpert. Die Freude, in das Haus Gottes zu treten, wird zu einem leuchtenden Bild sakraler Gemeinschaft.

 

https://www.youtube.com/watch?v=YTN5ddGLESA&list=OLAK5uy_l7RI_lIC7GXOcMx9bMjUGhDdW2hronisY&index=2

 

Das anschließende Miserere von demselben Komponisten – Benevolos groß angelegte Bußpsalmvertonung nach Psalm 50 (51) Miserere mei Deus – steht in vollkommenem Kontrast dazu. Hier herrscht keine triumphierende Klangfülle, sondern eine feierliche Demut. Der lateinische Text beginnt:

Miserere


Miserere mei, Deus, secundum magnam misericordiam tuam:
et secundum multitudinem miserationum tuarum dele iniquitatem meam.
Amplius lava me ab iniquitate mea,
et a peccato meo munda me.

Erbarme dich meiner


Erbarme dich meiner, o Gott, nach deiner großen Barmherzigkeit;
und tilge nach der Fülle deiner Erbarmungen meine Missetat.
Wasche mich völlig rein von meiner Schuld
und reinige mich von meiner Sünde.

Benevolo entfaltet daraus eine Musik, die zwischen persönlicher Reue und sakraler Erhebung schwankt – das Bittgebet des Einzelnen wird durch die Vielstimmigkeit zur Stimme der ganzen Menschheit.

 

https://www.youtube.com/watch?v=TCYEdvOrEvU&list=OLAK5uy_l7RI_lIC7GXOcMx9bMjUGhDdW2hronisY&index=3

 

Francesco Corteccia, der Kapellmeister der Medici, ist mit zwei prachtvollen Psalmvertonungen vertreten: Bonum est confiteri Domino und Gloria Patri. Beide Werke verbinden kontrapunktische Strenge mit einer sanften Helligkeit, die typisch für den florentinischen Stil der 1540er Jahre ist.

Bonum est confiteri


Bonum est confiteri Domino,
et psallere nomini tuo, Altissime:
ad annuntiandum mane misericordiam tuam,
et veritatem tuam per noctem.

Gut ist es


Gut ist es, dem Herrn zu danken
und deinem Namen zu singen, du Höchster,
am Morgen deine Gnade zu verkünden
und in der Nacht deine Treue.

In Bonum est confiteri zeigt Corteccia eine helle, klare Polyphonie, die sich im Klang allmählich öffnet – das Lob Gottes als täglicher Rhythmus zwischen Licht und Nacht.

 

https://www.youtube.com/watch?v=BkvJknZjnBU&list=OLAK5uy_l7RI_lIC7GXOcMx9bMjUGhDdW2hronisY&index=4

 

Gloria Patri


Gloria Patri, et Filio, et Spiritui Sancto:
sicut erat in principio, et nunc, et semper,
et in saecula saeculorum. Amen.

Ehre sei


Ehre sei dem Vater
und dem Sohn
und dem Heiligen Geist,
wie im Anfang, so auch jetzt und allezeit
und in Ewigkeit. Amen.

Dieses Gloria Patri wird zu einem reinen Klanggebet, dessen zarte Linien sich wie Lichtfäden verweben. Corteccia erreicht hier eine meditative Ruhe, die später im monumentalen Striggio ihre Erfüllung findet.

 

https://www.youtube.com/watch?v=b9yf2vwKPjs&list=OLAK5uy_l7RI_lIC7GXOcMx9bMjUGhDdW2hronisY&index=5

 

Dann beginnt das Herzstück der CD: Striggios Missa sopra Ecco sì beato giorno. Der Komponist nimmt als Grundlage ein eigenes Madrigal gleichen Namens, das von einem selig-selbstvergessenen „glücklichen Tag“ handelt, und verwandelt dessen Musik in eine ausgedehnte Messvertonung. Das Kyrie erhebt sich aus zarten Anrufen – zunächst acht Stimmen, die wie von weitem ertönen – und wächst im Gloria zu einer polyphonen Kathedrale aus 40 Stimmen. Jede neue Sektion bringt eine Steigerung der Klangpracht, bis im Agnus Dei III schließlich alle 60 Stimmen gemeinsam erklingen. Diese Musik ist keine bloße Demonstration der technischen Möglichkeiten, sondern eine Vision des Himmels: eine Architektur aus Klang, Licht und Glauben.

Striggios Messe ist nicht nur ein Monument der Mehrstimmigkeit, sondern auch ein Meisterwerk architektonischer Klangordnung. Ihre Struktur beruht auf fünf Chören zu je acht Stimmen – SATTB mit Verdopplungen und Varianten –, die Striggio in wechselnder Kombination einsetzt. Diese polychorale Anlage, vermutlich für einen weitläufigen Kirchenraum wie die Florentiner Kathedrale oder eine repräsentative Medici-Kapelle gedacht, lässt die Musik gleichsam kreisen: Klang antwortet auf Klang, Raum auf Raum. Besonders eindrucksvoll ist die Art, wie Striggio den Hörer Schritt für Schritt an die gewaltige Klangfülle heranführt. Im Kyrie wählt er eine zurückhaltende Besetzung – nur ein Teil der Chöre singt –, wodurch der Eindruck eines fernen, sich nähernden Lichtes entsteht. Erst im Gloria und Credo öffnet sich der gesamte klangliche Horizont: Die Chöre treten in Dialog, spiegeln sich in rhythmisch differenzierten Gruppen, und die Harmonie entfaltet sich über einen gewaltigen Ambitus.

Der Cantus firmus des Werkes ist eng mit Striggios eigenem Madrigal Ecco sì beato giorno verbunden, das als thematische Grundlage dient. Aus den sanften melodischen Linien des Madrigals entsteht in der Messe ein zyklisches Geflecht, in dem Motive und rhythmische Figuren über die Chöre hinwegwandern. Trotz der immensen Besetzung bleibt die Textverständlichkeit überraschend klar – ein Beweis für Striggios Erfahrung als Theatermusiker und sein untrügliches Gespür für vokale Balance.

Der Höhepunkt liegt im Agnus Dei, wo Striggio die Besetzung von 40 auf 60 Stimmen erweitert – fünf Chöre zu je zwölf Stimmen. Diese Verdichtung wirkt nicht als Übertreibung, sondern als Apotheose: Der Klang scheint sich über den Raum hinaus auszudehnen, als wolle er die Grenzen der Akustik sprengen. Davitt Moroney, der das Werk 2005 wiederentdeckte und herausgab, hat gezeigt, dass Striggio eine ungewöhnlich präzise Architektur der Intervalle entwarf, die auf spiralförmigen Tonbewegungen basiert. So entsteht ein musikalischer Aufbau, der an die Ordnung gotischer Kathedralen erinnert – jede Stimme hat ihre Funktion, jede Linie dient der Stabilität des Ganzen.

Musikalisch gehört die Messe zur gleichen Ideensphäre wie Thomas Tallis’ Spem in alium, das kurz nach Striggios Aufenthalt in England (1567) entstand. Es gilt als nahezu sicher, dass Tallis Striggios Werk kannte und darauf reagierte. Beide Kompositionen teilen das Prinzip der Mehrchörigkeit, doch während Tallis eine spirituelle Innerlichkeit entfaltet, bleibt Striggio auf majestätische Repräsentation gerichtet – seine Messe ist ein Klangdenkmal des Glaubens und der Macht, zugleich ein Abbild des universalen Kosmos, in dem menschliche Stimme und göttliche Ordnung eins werden.

Hervé Niquet lässt sie mit großartiger Transparenz und räumlicher Dimension erblühen, so dass der Hörer die Stimmen wie wandernde Lichter wahrnimmt, die sich in einem imaginären Kirchenraum begegnen.

 

https://www.youtube.com/watch?v=MLjvJC0t2_U&list=OLAK5uy_l7RI_lIC7GXOcMx9bMjUGhDdW2hronisY&index=6

 

Nach diesem Höhepunkt führt Benevolos Magnificat (Track 10) zurück in das Innere. Der Lobgesang Mariens aus dem Lukasevangelium, hier in lateinischer Fassung, beginnt:

Magnificat


Magnificat anima mea Dominum,
et exsultavit spiritus meus in Deo salutari meo.
Quia respexit humilitatem ancillae suae:
ecce enim ex hoc beata me dicent omnes generationes.

Meine Seele preist


Meine Seele preist den Herrn,
und mein Geist jubelt über Gott, meinen Retter.
Denn er hat die Niedrigkeit seiner Magd angesehen;
siehe, von nun an preisen mich selig alle Geschlechter.

Benevolos Musik ist von einer andächtigen Festlichkeit: die Linien sind klar, der Klang weit und friedvoll. Es ist der Gesang der Demut, der nach der überwältigenden Architektur Striggios die menschliche Stimme wieder ins Zentrum stellt.

 

https://www.youtube.com/watch?v=JMO-PCWJv5I&list=OLAK5uy_l7RI_lIC7GXOcMx9bMjUGhDdW2hronisY&index=10

 

Am Ende der Messe, nach dem dreifachen Agnus Dei und dem abschließenden Friedenswunsch, lässt Hervé Niquet mit Corteccias Tu puer propheta Altissimi und Striggios Motette Ecce beatam lucem das Programm in leuchtender Ruhe ausklingen.

Tu puer propheta


Tu puer propheta Altissimi vocaberis:
praeibis enim ante faciem Domini
parare vias eius.

Du aber, Kind


Du aber, Kind, wirst Prophet des Höchsten genannt werden;
denn du wirst vor dem Angesicht des Herrn hergehen,
seine Wege zu bereiten.

Dieser Satz, der dem Benedictus des Zacharias entstammt, steht für die Verkündigung und Erwartung – ein stilles Vorausleuchten der Gnade. Corteccia formt daraus ein helles, von Diatonik getragenes Klangbild, fast wie eine Renaissance-Vision des kommenden Lichts.

 

https://www.youtube.com/watch?v=2zB9inqiIks&list=OLAK5uy_l7RI_lIC7GXOcMx9bMjUGhDdW2hronisY&index=16

 

Das abschließende Ecce beatam lucem von Striggio, ursprünglich eigenständige Motette, ist zugleich Epilog und Apotheose des Ganzen:

Ecce beatam lucem


Ecce beatam lucem;
Ecce bonum sempiternum,
vos turba electa celebrate Jehovam eiusque natum
aequalem Patri deitatis splendorem.

Seht das Licht


Seht das gesegnete Licht;
Seht das ewige Gut;
ihr auserwählte Schar, preiset Jehova und seinen Sohn,
den dem Vater gleichen Glanz der Gottheit.

Diese Motette ist eine Hymne auf das himmlische Licht, die jenseitige Freude und das göttliche Paradies – Striggios Musik wird hier zu einem reinen Abbild der Seligkeit, einer Musik, die nicht mehr an Raum oder Zeit gebunden ist.

 

https://www.youtube.com/watch?v=pzgK1rltFBk&list=OLAK5uy_l7RI_lIC7GXOcMx9bMjUGhDdW2hronisY&index=17

 

So schließt die CD mit einem Eindruck von leuchtender Ewigkeit. Was mit dem schlichten Beata viscera begann, steigert sich zu einer Erfahrung der transzendenten Klangpracht. Alessandro Striggio, der Diplomat und Klangarchitekt der Medici, Orazio Benevolo, der römische Meister der Mehrchörigkeit, und Francesco Corteccia, der feinsinnige Florentiner Kapellmeister, begegnen sich in dieser Aufnahme wie Glieder einer großen geistigen Familie. Hervé Niquet entfacht aus ihren Stimmen ein Denkmal der Renaissance – majestätisch und erhaben, zugleich durchdrungen von innerem Licht, als würde die Musik selbst das Wort der Schöpfung verkünden: Ecce beatam lucem („Siehe das selige Licht“). 

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Orazio Benevolo
Francesco Corteccia
Alessandro Striggio

Minsoo Sohn (* 1976 in Südkorea): Goldberg-Variationen, BWV 988 (Erstdruck: 1741)

 

https://www.youtube.com/watch?v=BLElZaqQxE4

 

Prof. Minsoo Sohns Interpretation der Goldberg-Variationen von Johann Sebastian Bach zeigt seine außergewöhnliche Sensibilität und Virtuosität als Pianist. Die Aufnahme beeindruckt durch ihre klare Struktur und die Feinheit der dynamischen Abstufungen. Sohn bringt eine intime und zugleich kraftvolle Lesart dieses monumentalen Werks, das in seiner Bandbreite von Kontrasten und Variationen eine perfekte Symbiose aus technischer Präzision und emotionaler Tiefe bietet. Besonders bemerkenswert ist die Balance zwischen der meditativ ruhigen Musikalität der Arien und der lebhaften, teils verspielten Energie der Variationen. Diese Einspielung ist eine wertvolle Ergänzung für jeden Liebhaber der Goldberg-Variationen und eine hörenswerte Auseinandersetzung mit Bachs Meisterwerk.

 

Wenn ich meine Bewertung abgeben darf, würde ich sagen, dass Minsoo Sons Leistung von Anfang bis Ende eine zurückhaltende Schönheit besitzt, Schönheit, die nicht so einfach zu übertreffen ist.

 

Das Konzert fand am 2. 05. 2022 in der Myeongdong-Kathedrale statt. (Meyondong ist ein Orteil von Seoul.)

 

Die berühmte Einspielung von Glenn Gould (1932 -1982) aus dem Jahr 1955 ist mir zu schnell und die aus dem Jahr 1982 zu langsam.

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Johann Sebastian Bach

Abendlied

 

Josef Gabriel Rheinbergers (1839–1901) „Abendlied“ gehört zu den edelsten geistlichen Miniaturen der deutschen Romantik. In seiner Schlichtheit und inneren Ruhe entfaltet dieses Werk eine fast überirdische Klangreinheit. Der Text „Bleib bei uns, denn es will Abend werden“ (nach Lukas 24,29 - Worte der Jünger an den auferstandenen Christus auf dem Weg nach Emmaus) ist ein leises Gebet um Trost und Licht in der Dunkelheit – sowohl wörtlich als auch symbolisch verstanden. Das Werk steht in Es-Dur und entfaltet in ruhigen, homophonen Linien eine Atmosphäre tiefen Friedens. Rheinberger schrieb es ursprünglich 1855 im Alter von nur 15 Jahren und überarbeitete es später (Fassung von 1858/59). 

 

https://www.youtube.com/watch?v=TGc__HGwdxk 

 

In der Interpretation der Cambridge Singers unter John Rutter (* 1945) erreicht das Stück eine besondere Klarheit und Transparenz: Die Stimmen verschmelzen in sanftem Gleichgewicht, jede Phrase atmet, als ob sie selbst ein stilles Gebet wäre. Die zurückhaltende Dynamik, das fast schwerelose Legato und die makellose Intonation verleihen Rheinbergers sechsstimmigem Satz eine entrückte Schönheit, die zugleich tröstlich und zeitlos wirkt.

Diese Aufnahme steht exemplarisch für den englischen Chorklang – hell, rein, spirituell – und lässt die Musik in jenem goldenen Abendlicht erstrahlen, das der Komponist in Klang zu verwandeln suchte.

Der Text

"Bleib bei uns, denn es will Abend werden
Und der Tag hat sich geneiget
O bleib bei uns, denn es will Abend werden
Und der Tag hat sich geneiget
O bleib bei uns, denn es will Abend werden"

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Josef Gabriel Rheinsberger

CD Michael Haydn: Symphonies 18 und 25 – Divertimento

Die CD Michael Haydn: Symphonies 18 and 25 – Divertimento, P. 8 (CPO, 2013) präsentiert drei Werke eines Komponisten, der lange im Schatten seines berühmten Bruders Joseph stand und doch eine unverwechselbare eigene Handschrift besaß. Johann Michael Haydn (1737–1806) war ein stiller Meister, ein Künstler ohne große Geste, der seine Musik nicht für Ruhm oder Hofgunst, sondern aus innerem Bedürfnis schrieb. Zeitgenossen berichteten, er habe „die Musik für sich selbst komponiert“ – ein Satz, der seine Haltung treffend beschreibt. In Salzburg, wo er den größten Teil seines Lebens wirkte, entwickelte er einen Stil von feiner Geistigkeit, melodischer Reinheit und tief empfundener Religiosität, der auf Komponisten wie Mozart (1756–1791) und Schubert (1797–1828) nachhaltig wirkte.

Die vorliegende Einspielung mit dem Slowakischen Kammerorchester unter Bohdan Warchal (1930–2000) lässt diese Qualitäten auf eindrucksvolle Weise lebendig werden. Warchal, der für seinen warmen, schlanken Streicherklang und sein präzises Gespür für klassische Formverläufe bekannt war, trifft den lyrisch-nachdenklichen Tonfall dieser Musik vollkommen.

Die Sinfonie Nr. 18 in C-Dur, P. 13 (MH 252) zeigt Michael Haydn auf dem Höhepunkt seiner klassischen Reife. Schon das eröffnende Allegro strahlt eine frische, natürliche Heiterkeit aus, die an den jungen Mozart erinnert. Das Andante bringt eine liedhafte Innigkeit, fast wie ein instrumentales Gebet, während das abschließende Presto mit seinem transparenten Satz und den spielerisch verschlungenen Themen an eine kleine musikalische Feier erinnert. Hier zeigt sich Haydn als Meister der Balance – leicht, aber niemals oberflächlich.

 

https://www.youtube.com/watch?v=SO--8p3aLsM&list=OLAK5uy_lyqyS1grbQYE6PQMCsqGH3nfe5pH2OI98&index=2

 

Leider wird auf YouTube nur die Sinfonie Nr. 18 aus der CD präsentiert und  Allegro con spirito, der erste Satz der Sinfonie Nr. 25. in G-Dur, P. 16. Die ganzen Aufnahmen der Sinfonie Nr. 25. und das Divertimento in C-Dur, P. 8 aus der CD sind anderseitig zu hören. Die ganze CD ist auf Spotify zu finden.

 

Ganz anders die Sinfonie Nr. 25 in G-Dur, P. 16 (MH 334): Sie ist kraftvoller, kontrastreicher, manchmal sogar dramatisch in der Anlage. Im Eröffnungssatz überrascht ein energischer Duktus, der von kräftigen Akzenten und rhythmischer Spannung lebt. Das Adagio entfaltet eine stille Schönheit, die von Haydns tiefer Religiosität zeugt, während das Finale – ein lebhaftes Presto – mit einer fast tänzerischen Vitalität endet. Hier begegnet man dem Michael Haydn, der trotz Bescheidenheit eine ausgeprägte individuelle Stimme besaß und die klassischen Formen mit einer sehr persönlichen Ausdruckskraft füllte.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

https://www.youtube.com/watch?v=gpn0t3i74YY

 

Das abschließende Divertimento in C-Dur, P. 8 (MH 27) führt in eine frühere Schaffensphase und zeigt den Komponisten von seiner heiteren Seite. Es ist ein Werk voller Anmut und kammermusikalischer Delikatesse – geschrieben nicht für die großen Säle, sondern für die gepflegte häusliche Musikpflege des 18. Jahrhunderts. Die melodische Erfindung, die feine Instrumentation und die spielerische Leichtigkeit machen dieses Divertimento zu einem wahren Kleinod klassischer Unterhaltungsmusik im besten Sinn des Wortes.

https://www.youtube.com/watch?v=vgrMgJDsy9Q 

 

Diese Aufnahme erinnert daran, dass Michael Haydn kein Epigone war, sondern ein stiller Erneuerer der klassischen Sinfonie – ein Komponist, der die Klarheit, Innigkeit und geistige Tiefe der Musik als Selbstzweck verstand. Unter Bohdan Warchals feinfühliger Leitung erklingen seine Werke mit jener Transparenz und Wärme, die sie verdienen: unaufdringlich, echt und von bleibender Schönheit.

Die ganze CD kann man sich anhören auf Music Apple:

 

https://music.apple.com/us/album/michael-haydn-symphonies-18-and-25-divertimento-p-8/681235954

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Michael Haydn

Thomas Tallis

Unter der Leitung von Nigel Short (* 1965) entfaltet das Ensemble Tenebrae in Thomas Tallis’ (um 1505–1585) „If Ye Love Me“ eine musikalische Andacht von tiefer innerer Sammlung und fast transparentem Klangbewusstsein. Dieses Werk gehört zu jenen frühen englischen Stücken, die nach der Einführung der Landessprache in der Liturgie unter Edward VI. (1537–1553) entstanden, in einer Zeit, in der die Kirchenmusik Englands ihre Gestalt grundlegend änderte. Unter dem alten, lateinischen Ritus herrschte die feierliche Klangarchitektur der Antiphon „Si diligitis me“, die wie Weihrauch über der Gemeinde schwebte.

 

Mit dem Book of Common Prayer änderte sich das Verständnis liturgischer Musik:

 

Der Text sollte nicht mehr hinter polyphonem Glanz verschwinden, sondern als geistliches Wort in das Ohr und das Bewusstsein der Hörenden dringen. Tallis, der bereits unter Heinrich VIII. (1491–1547) am Hof wirkte, die Rückkehr zu lateinischen Gesängen unter Maria Tudor (1516–1558) erlebte und unter Elisabeth I. (1533–1603) erneut in englischer Sprache komponierte, war nicht nur Zeuge, sondern stiller Gestalter dieser inneren Umwandlung.

 

„If Ye Love Me“ ist die musikalische Antwort auf diese Umbruchsituation: kein prunkvolles Zeremoniell mehr, sondern eine Klangform des geistigen Gesprächs. Die Stimmen setzen zunächst homophon ein, als spreche eine Gemeinde mit geeinter Stimme, und gehen dann in sanfte Imitationen über, die nicht als polyphone Zierde, sondern als geistiges Echo verstanden werden müssen – als innere Bewegung des Wortes im Raum der Seele. Tallis gestaltet diese Musik wie ein Atemgebet: Die Worte verharren nicht in Erregung, sondern ruhen in einer Haltung des Einverständnisses. Die Wiederholung der Zeile „that he may abide with you for ever“ ist nicht bloß musikalische Struktur, sondern geistliche Handlung – der Geist kommt nicht als dramatisches Feuer, sondern als bleibende, stille Gegenwart. Wer hören möchte, wie sich dieses stille Bleiben des Geistes im Klang verkörpert, der möge an dieser Stelle auf die Interpretation des Ensembles Tenebrae unter Nigel Short lauschen – sie steht hier als klingende Entsprechung dessen, was Tallis in Tönen eingeschrieben hat:

 

https://www.youtube.com/watch?v=HI5Y9l2NHIo 

 

In dieser Aufnahme wird nichts überhöht oder zugespitzt; die Stimmen gleiten wie ein einziger Atem über den Raum, und jede kleine Verzögerung, jede Zäsur wirkt wie ein inneres Lauschen, als müsse der Geist erst Raum finden, bevor er wohnt. So wird dieses kurze Anthem, geboren im Spannungsfeld von Umsturz und Erneuerung, zu einem stillen Mikrokosmos christlicher Gegenwartserfahrung: nicht laut, nicht triumphierend, sondern bleibend.

 

Deutsche Übersetzung

 

Wenn ihr mich liebt, so bewahrt meine Gebote;
Und ich werde den Vater bitten,
Und er wird euch einen anderen Tröster geben,
Damit er bei euch bleibe in Ewigkeit;
Auch den Geist der Wahrheit;
Damit er bei euch bleibe in Ewigkeit;
Auch den Geist der Wahrheit. 

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Thomas Tallis

„Vedrò con mio diletto“ – Arie des Giustino aus Vivaldis Il Giustino (RV 717)

In Antonio Vivaldis (1678 – 1741) Oper Il Giustino (1724), die den wundersamen Aufstieg eines unscheinbaren Bauern zum Herrscher über Byzanz erzählt, erscheint die Arie „Vedrò con mio diletto“ wie ein stiller, innerer Monolog, bevor das äußere Schicksal seinen Lauf nimmt. Giustino steht noch nicht im Licht des Ruhms, sondern am Rand des Geschehens, erfüllt von einem leisen, fast unsicheren Glauben an eine mögliche Erfüllung.

 

Bevor die Handlung in heroische Szenen und politische Konflikte übergeht, hält die Musik inne und öffnet einen Raum des Innehaltens. Hier beginnt die poetische Dimension dieser Oper, und genau an dieser Stelle sollte der Hörer innehalten – so wie Giustino selbst. In der Aufnahme mit Philippe Jaroussky (* 1978) wird dieser Moment mit einer Intensität gestaltet, die nichts mit großer Geste zu tun hat, sondern mit der Kunst des Zurücknehmens. Jaroussky gestaltet die Stimme wie eine innere Erinnerung, kaum greifbar, und doch mit einer Präsenz, die tief unter die Oberfläche dringt.

​​

https://youtu.be/9zQX2XqAE8c?t=45

Deutsche Übersetzung

Ich werde mit meinem Geliebten schauen,

wie meine Seele wieder gestärkt wird,

und auf dem vertrauten Antlitz

wird immerdar der Friede zurückkehren.

Und wenn in seiner Brust

meine Treue angenommen wird,

ach, wie das Herz zwischen Freude und Zärtlichkeit

noch bebend schlägt.

 

In dieser zarten Sprache, die mehr ahnt als bekennt, entfaltet Philippe Jaroussky die ganze innere Spannung dieser Arie. Jeder Ton scheint aus einem Zustand des Lauschens zu kommen. Die Stimme tritt nicht nach außen, sie bleibt nach innen gewendet und schwebt über den sanft pulsierenden Streichern wie ein Atemzug, der sich nur zögerlich in Klang verwandelt. Die Melodielinie wird nicht deklamiert, sondern geführt wie ein Faden, der nicht reißen darf. Die Verzierungen im Da-capo-Teil erscheinen nicht als barocke Zierde, sondern als leise Erinnerung, als Wiederholung dessen, was im Herzen noch einmal, aber nicht auf die gleiche Weise, erlebt wird. So verwandelt sich diese Arie – die in weniger inspirierten Interpretationen leicht zu einer bloßen Belcanto-Betulichkeit werden kann – in einen inneren Zustand der Sehnsucht, fast wie ein Gebet, das nicht ausgesprochen, sondern nur empfunden wird.

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Antonio Vivaldi

Modest Mussorgski (1839–1881): Boris Godunow – Pimens erste Erzählung („Ночью на развалинах сраженья…“)

Mit der Figur des Mönchs Pimen führt Modest Mussorgski in Boris Godunow einen der eindrucksvollsten Basscharaktere der Operngeschichte ein. Pimen ist kein handelnder Akteur im politischen Drama, sondern der ruhende Fixpunkt, ein Chronist der Wahrheit, der die Ereignisse der russischen Geschichte mit fast klösterlicher Nüchternheit protokolliert. Seine erste große Szene erscheint im ersten Akt: In einer spärlich beleuchteten Klosterzelle sitzt er bei Nacht über seinen Aufzeichnungen, wenn der junge Mönch Grigorij (der spätere falsche Dimitri) eintritt. Pimen berichtet von Schlachten, von vergangener Glorie – und schließlich von dem dunklen Wendepunkt, dem Mord am Zarewitsch Dimitri, der später das Reich ins Chaos stürzen wird.

Diese Erzählung ist keine Arie im konventionellen italienischen Sinn – es ist vielmehr eine in Klang gefasste Chronik, ein Rezitativ, das sich über lange melodische Linien erhebt, getragen vom schweren Atem der russischen Sprache. Mussorgski komponiert hier eine Musik, die nicht glänzen will, sondern sprechen, mahnen, erinnern. Das Orchester bleibt zurückgenommen, wie eine kalte Ikone im Hintergrund, während die Stimme Pimens wie eine brennende Kerze in der Dunkelheit steht. Diese Szene markiert den geistigen Beginn des Dramas: Nicht der Zar, nicht die Bojaren eröffnen das Spiel der Macht, sondern einer, der nichts besitzt außer der Wahrheit.

In dieser Rolle erreichte Boris Christoff (1914–1993) eine seiner größten Verkörperungen. In der Aufnahme von 1951 mit dem Philharmonia Orchestra unter Nicolai Malko (1883–1961), später 1992 remastert, klingt sein Bass wie aus der Tiefe russischer Erde gehoben – dunkel, von metallischer Würde, getragen von der Sprache selbst. Bei Christoff ist kein Ton bloß gesungen, jede Silbe scheint in ikonischer Strenge geformt. Die russische Sprache wird hier nicht nur Medium, sondern Klangkörper: wie Italienisch bei Mozart oder Tschechisch bei Janáček, so ist hier das Russische ein tragendes musikalisches Element, untrennbar verbunden mit dem inneren Atem der Musik.

 

https://www.youtube.com/watch?v=Y8a9oAmuqTE

 

Deutsche Übersetzung (nach dem gehörten Gesang)

Noch eine, die letzte Erzählung –

dann ist meine Chronik vollendet.

Vollendet ist das Werk, das Gott

mir, dem Sünder, anvertraut hat.

Nicht vergeblich hat der Herr mich

so viele Jahre zum Zeugen bestellt.

Einst wird ein fleißiger Mönch

meine eifrige, namenlose Arbeit finden;

er wird, wie ich, seine Lampe entzünden

und, den Staub der Jahrhunderte von den Blättern schüttelnd,

die wahrhaftigen Erzählungen neu abschreiben,

damit die Nachkommen der Orthodoxen

das vergangene Geschick des Vaterlandes erkennen.

Im Alter durchlebe ich alles von Neuem:

Das Vergangene zieht an mir vorüber,

aufgewühlt wie Meer und Ozean.

 

Die Geschichte, die Pimen erzählt — Der Zeuge Gottes im Werk Mussorgskis

Der alte Mönch Pimen ist kein Held dieser Oper, kein Spieler im Machtkampf um den Zarenthron – er ist der Zeuge, der alles gesehen hat und schweigend niederschreibt, damit die Wahrheit nicht stirbt. Während Russland im Dunkel der Gewalt zittert, sitzt er allein bei einer kleinen klösterlichen Lampe und hält die Feder in der Hand wie ein geistliches Schwert. Sein Blick reicht zurück über Jahre voller Blut und Verrat.

In seiner ersten großen Erzählung berichtet er, wie er als Soldat Zeuge der Kämpfe war, wie Männer starben, wie die Erde russisches Blut trank. Nicht in glühender Anklage, sondern in kühler, fast heiliger Nüchternheit schreibt er: Die Geschichte ist kein Lobgesang, sondern ein Buch der Schuld. Er glaubt fest daran, dass jedes Verbrechen, auch das größte, einmal vor Gott benannt werden muss, damit die Seele des Volkes heilen kann. Er sagt nicht: Ich klage an, sondern: Ich bezeuge.

Später, im zweiten großen Bericht – der mit den Worten endet: „Boris Godunov…“ – wird sein Wort zur geistigen Anklage. Er spricht von dem Tag, an dem das Reich vom Tod des jungen Zarewitsch erschüttert wurde, jenes Kindes Dimitri, letzter legitimer Erbe des Thrones. Die Chroniken berichten – so sagt Pimen – dass der Knabe im Schlaf erstochen wurde, und dass die Tat im Namen Boris Godunows geschah. Niemand wagte zu sprechen, die Schuld wurde verschwiegen, das Volk betäubt. Nur die Feder des Mönchs rührte sich.

Pimen nennt keinen Hass, er schreit nicht – er setzt ein Wort über den anderen, wie ein Mönch Stein über Stein auf ein Grab. Und als der Name „Boris Godunov“ aus seinem Mund fällt, klingt er nicht wie ein politischer Satz – sondern wie ein kirchliches Urteil: „Er war der Mörder des jungen Zarewitsch.“ In diesem Moment wird nicht gebrüllt – es wird aufgeschrieben. Und in Mussorgskis Welt ist das Wort mächtiger als die Krone.

Pimen glaubt nicht an Aufstand, nicht an Aufruhr. Er glaubt an das Gedächtnis. Darin liegt das Erschütternde dieser Figur: Er ist kein Rebell, sondern ein Archivar Gottes. Was er schreibt, ist kein Buch – es ist ein spätes Jüngstes Gericht, das eines Tages, wenn alle Stimmen schweigen, geöffnet werden wird. Und wer dann darin steht, wird nicht mehr König oder Mörder genannt – sondern einfach bei seinem wahren Namen.

 

Die zweite Erzählung des Pimen, die einen Wunder am Grab des Zarewitsch Dmitri berichtet, „Einst, zur Abendstunde“ (Однажды, в вечерний час):

 

 

https://www.youtube.com/watch?v=q5dbbUeQIBM

 

Deutsche Übersetzung nach dem gesungenen Wortlaut (nach Gehör erstellt)

Einst, zur Abendstunde,
kam eine alte Frau zu mir,
unsere Nachbarin, und sprach:
„Komm, Vater, wir wollen nach Uglitsch gehen,
zum Grab des Zarewitsch Dimitri;
dort hat sich ein Wunder ereignet!“
Ich ging mit ihr.
Aus allen Richtungen strömte das Volk herbei.
Ich sah – auf den Knien, im Staub,
lag ein Blinder.
Er rief, unter Tränen:
„Herr, vergib mir meine Sünden!
Erhöre die Stimme des Unwürdigen!“
Und siehe, als die Sänger sangen
und der Weihrauch zum Himmel stieg,
da schrie er plötzlich auf
und, die Augen auftuend, rief er:
„Ich sehe das Licht! Ich sehe das heilige Bild!“
Das Volk fiel nieder,
alle weinten und priesen den Herrn.
Ich aber stand und betete in der Stille.
Und da erinnerte ich mich des unschuldigen Leidenden,
des ermordeten Knaben –
und in meinem Herzen erklang der Name:
Boris Godunow.

 

Diese Szene ist das Gewissen der ganzen Oper.

Was Pimen hier erzählt, ist kein politischer Bericht, sondern eine geistige Offenbarung. Der Blinde, der durch das Wunder sehend wird, steht für ein ganzes Volk, das endlich die Wahrheit erkennt. Das göttliche Licht fällt nicht nur auf den Heiligen, sondern auf die Schuld: der Name, den Pimen am Ende ausspricht, ist kein Ruf der Anklage – es ist das Läuten des göttlichen Gerichts.

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Modest Mussorgski

Heinrich Schütz: 440. Geburtstag

 

Heinrich Schütz (1585–1672), dessen Geburtstag wir heute nach gregorianischer Zählung am 18. Oktober 1585 begehen – genau vierhundertvierzig Jahre nach seiner Geburt – hat mit seiner Motette „Selig sind die Toten“, SWV 391, aus der 1648 erschienenen Sammlung Geistliche Chormusik eines jener Werke geschaffen, in denen sich seine ganze geistige Reife und seine innere Haltung zum Thema Tod und Erlösung konzentriert. Diese Komposition, geschrieben für sechs Stimmen – meist in der Besetzung SSATTB, wahlweise mit oder ohne Generalbass – steht stilistisch in einem faszinierenden Spannungsfeld zwischen der strengen, linearen Polyphonie der Renaissance und der auf Textausdruck zielenden geistlichen Musik des frühen Barock.

 

Wer hören möchte, wie diese Musik heute in stiller Tonstrenge und klarer seelischer Haltung klingen kann, dem sei die Interpretation von VOCES8 empfohlen: 

https://www.youtube.com/watch?v=ulEl9k9bZdc 

Schütz verstand den Tod nicht als dramatischen Zusammenbruch, sondern als Übergang in eine andere Form von Ruhe, und genau diese Deutung prägt den musikalischen Charakter des Stückes von der ersten Note an.

Der Text aus der Offenbarung des Johannes – „Selig sind die Toten, die in dem Herren sterben“ – wird nicht wie ein dogmatischer Lehrsatz verkündet, sondern wie eine intime, würdevoll gesprochene Wahrheit. Die Musik beginnt getragen und ruhig, fast wie ein kollektives Einatmen, als würde der Chor sich über den Text neigen und ihn mit großer Sorgfalt ausbreiten. Die Stimmen setzen zunächst homophon ein, wie eine schlichte Bestätigung des göttlichen Wortes, doch schon nach wenigen Takten lösen sie sich in eine fein gesponnene Imitation auf. Die Bewegung ist ruhig, aber nicht statisch – sie atmet, sie öffnet sich, als wolle sie den Begriff der Seligkeit nicht definieren, sondern erfahrbar machen. Schütz lässt die Worte „die in dem Herren sterben“ in längeren Phrasen ausschwingen, als wolle er den Moment des Übergangs musikalisch dehnen. Hier klingt kein Schrecken, kein Aufruhr – eher eine Art leiser Trost, der nicht laut verkündet werden muss.

Wenn die Stimmen dann „Von nun an“ singen, scheint die Zeit selbst kurz stillzustehen. Dieser Einschub ist kein dekoratives Detail, sondern ein Kommentar: Der Gedanke, dass das Sterben im Herrn nicht in eine Leere führt, sondern in eine neue Wirklichkeit, wird wie eine Zäsur gesetzt, fein, aber spürbar. Dann folgt einer der markantesten Momente: „Ja, der Geist spricht.“ Plötzlich wird der Klang dichter, etwas irdischer, beinahe wie eine Bestätigung aus menschlicher Stimme. Schütz markiert diese Stelle mit einer leichten Steigerung, als wolle er hörbar machen, dass hier nicht nur zitiert, sondern bezeugt wird. Die Musik bekommt Gewicht. Sie tritt aus der abstrakten Betrachtung heraus und formuliert eine Gewissheit.

Darauf folgt der wohl anrührendste Teil der Komposition: „Sie ruhen von ihrer Arbeit.“ Hier wechseln die Linien in eine weichere, gedehnte Bewegung. Der Satz scheint sich fast zu verlangsamen, als lege sich die Müdigkeit der Welt auf die Stimmen, um sich gleich darauf in Ruhe aufzulösen. Man hört förmlich, wie sich der Atem senkt. In vielen Aufführungen, besonders in jener von VOCES8, entsteht an dieser Stelle ein zarter Moment der Stille im Klang selbst, eine innere Pause, die mehr sagt als jede Betonung. Die Stimmen verweilen auf einzelnen Silben, als wollten sie den Begriff „Ruhen“ nicht nur erklären, sondern verkörpern.

Dann aber folgt mit „Und ihre Werke folgen ihnen nach“ ein feiner Wandel. Ohne dramatischen Bruch, aber mit spürbarer Energie beginnen die Stimmen, sich lebhafter zu bewegen. Die Musik wird dichter, der Kontrapunkt gewinnt an innerem Schwung. Damit stellt Schütz musikalisch dar, dass das Leben eines Menschen nicht mit dem Tod verschwindet, sondern nachwirkt, sich fortsetzt als geistige Spur, als Echo, das weiterklingt. Die Werke, also das, was ein Mensch war und tat, werden hier nicht als Bilanz verstanden, sondern als lebendige Bewegung, die über das Individuum hinausreicht. Dieser Gedanke wird im Klang zu einer Art musikalischer Nachschrift des Lebens.

Der Schluss führt diese Motive zusammen, ohne Pathos, ohne Triumph. Keine jubelnde Coda, kein monumentaler Abschluss. Schütz beschließt die Motette mit derselben gesammelten Würde, mit der sie begann. Der Chor klingt aus, nicht wie ein Ende, sondern wie ein Hineingleiten in eine andere Stille. In dieser Zurückhaltung liegt Größe. Nichts wird überhöht, nichts sentimentalisiert – und doch, wenn die letzte Stimme verstummt, hat man das Gefühl, dass etwas ausgesprochen wurde, das weder schreiend verkündet noch apologetisch verteidigt werden muss.

Wer diese Motette hört, besonders in einer so fein austarierten Interpretation wie jener von VOCES8, erlebt keinen theologischen Vortrag, sondern eine geistige Geste. Schütz führt den Hörer nicht an eine Kanzel, sondern an einen stillen Ort. Er zeigt, dass Musik trösten kann, ohne sentimental zu sein, und dass in der Sprache der Polyphonie ein Raum entsteht, in dem der Tod nicht als Katastrophe, sondern als Verwandlung verstanden werden kann. In dieser Haltung liegt das Vermächtnis Heinrich Schützens – eines Komponisten, der wusste, dass wahre Tiefe nicht in Lautstärke, sondern in innerer Klarheit liegt.

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Heinrich Schütz

CD Bruno de Sá „Mille affetti“

Es gibt Alben, die nicht nur Musik präsentieren, sondern eine innere Dramaturgie entfalten, die über das Repertoire hinausreicht und ein Konzept spürbar macht. „Mille affetti“ bedeutet „tausend Empfindungen“, und dieses Programm wird von Bruno de Sá (* 1989 in Santo André, Brasilien; lebt in Berlin), einem der wenigen natürlichen männlichen Soprane unserer Zeit, nicht nur gesungen, sondern verkörpert. Seine Stimme, hell, silbrig und von fast unirdischer Leichtigkeit, ist kein falsettartiger Kunstgriff, sondern ein tatsächlich organisch geführter Sopran, der unmittelbar an die Klangwelt einer empfindsamen, rhetorisch geprägten Spätaufklärung erinnert. Begleitet wird er von der Wrocławska Orkiestra Barokowa (Wrocław Baroque Orchestra) unter der Leitung von Jarosław Thiel (geb. in Poznań), die mit feiner stilistischer Klarheit und elegantem Atemfluss agiert. Der Titel des Albums verweist nicht nur auf Luigi Carusos (1754 - 1823) Arie „In mezzo a mille affanni“, sondern auch auf die Idee der Affektenlehre, in der Musik nicht Unterhaltung ist, sondern eine Rede der Seele an die Seele, eine Folge innerer Zustände, die durch Ton, Farbe und Geste erfahrbar gemacht werden. In diesem Spannungsfeld – zwischen empfindsamer Innerlichkeit, dramatischer Geste, geistlicher Sammlung und virtuoser Glut – entfaltet sich das Album wie ein einziger weitergezogener Atem.

CD Mille affetti, Bruno de Sá und Wrocławska Orkiestra Barokowa unter der Leitung von Jarosław Thiel (* 1974):

 

 

 

 

 

 

 

https://www.youtube.com/watch?v=MSXuY9lDNMg&list=OLAK5uy_lK4ZPsBaZ5NWeoaFf0pMPYkOzp-6mzvrs&index=2

 

Track 1: Luigi Cherubini (1760–1842), Il Mesenzio, rè d’Etruria, Akt 1: „No, non cercar per ora – La gran vendetta ancora“ (Lauso).

Herkunft: frühe Opera seria Cherubinis auf ein Sujet um den Etruskerkönig Mezentius; der junge Held beschwört Zurückhaltung und kündigt große Rache an.

 

Deutsche Übersetzung

Nein, forsche jetzt noch nicht

Nach dem, was mein Herz verbirgt.

Noch ist diese Seele nicht geöffnet,

Denn der Schmerz ist tief verschleiert.

Schweig, denn zuerst, im Dunkel

Meiner heimlichen Qualen,

Will ich die Kräfte sammeln

Und die Täuschungen ersticken.

Die große Rache

Ist noch nicht reif.

Die Ehre bebt in mir,

Doch sie schweigt,

Bis das Herz selbst spricht.

Nein, suche jetzt nicht

Zu ergründen, was mein Herz verbirgt…

 

Track 2: Wolfgang Amadeus Mozart (1756–1791), Mitridate, rè di Ponto, KV 87, Akt 2: „Lungi da te, mio bene“ (Sifare). Herkunft:

Serenissima-Arie des edlen Sifare, mit typisch jugendlich-empfindsamem Tonfall der Mailänder Jahre.

https://www.youtube.com/watch?v=LtqZd6YHmA0&list=OLAK5uy_lK4ZPsBaZ5NWeoaFf0pMPYkOzp-6mzvrs&index=2 

 

Deutsche Übersetzung

Fern von dir, mein Lieb,

Fern von dir, mein Herz,

Finde ich keinen Frieden mehr,

Und all meine Kraft verlässt mich.

Jegliche Freude ist erloschen,

Jedes meiner Begehren erstirbt,

Und doch weicht aus meinen Gedanken nicht

Der Blick, den du mir einst schenktest.

Ach, mein Atem ist zum Weinen geworden,

Die Seele klagt in Liebe,

Und nur der Tod vermag

Meinem Schmerz Ruhe zu schenken.

Fern von dir, mein Lieb,

Fern von dir, mein Herz…

 

Track 3:  Wolfgang Amadeus Mozart: Exsultate, jubilate, KV 165

Satz I: „Exsultate, jubilate“

https://www.youtube.com/watch?v=VJWMh1oniW4&list=OLAK5uy_lK4ZPsBaZ5NWeoaFf0pMPYkOzp-6mzvrs&index=3 

 

Deutsche Übersetzung

Jauchzet, frohlocket,

Ihr seligen Seelen!

Singt süße Lieder,

Feiert die festlichen Tage,

Spielt, musiziert,

Spielt, musiziert!

Halleluja.

Track 4: Wolfgang Amadeus Mozart: Exsultate, jubilate, KV 165,Satz II: „Tandem advenit hora“ (Rezitiv / Accompagnato)

 

https://www.youtube.com/watch?v=mg50e4rA22Y&list=OLAK5uy_lK4ZPsBaZ5NWeoaFf0pMPYkOzp-6mzvrs&index=4 

Deutsche Übersetzung

 

Endlich ist die Stunde gekommen,

Die uns Freude bereitet.

Möge die Trauer weichen, mögen klagende Seufzer verstummen,

Jauchzet nun, ihr Freuden!

Denn der freundliche Tag erstrahlt,

Und der Herr hat uns erlöst.

Darum lasst uns alle singen

Und fröhlich sein in Gott!

 

Track 5 (Einzelnennung): „Tu virginum corona“ – hier als eigenes Track-Highlight geführt; es ist der innige Mittelsatz (Andante) der Motette vor dem finalen Alleluja.

https://www.youtube.com/watch?v=u73uDkMwMHA&list=OLAK5uy_lK4ZPsBaZ5NWeoaFf0pMPYkOzp-6mzvrs&index=5 

Deutsche Übersetzung

Du, Krone aller Jungfrauen,

Du, schenke uns den Frieden;

Du, tröste unsere Gefühle,

Von denen das Herz seufzt.

 

Track 6: Alleluia (Finalsatz aus Exsultate, jubilate)

https://www.youtube.com/watch?v=eYguveAyXpw&list=OLAK5uy_lK4ZPsBaZ5NWeoaFf0pMPYkOzp-6mzvrs&index=6 

Track 7: Franz Ignaz Beck (1734–1809), ein Zeitgenosse der frühen Mannheimer Schule, schrieb seine Ouverture zu L’isle déserte im Geist der französischen comédie lyrique, wobei der Titel – „Die verlassene Insel“ – bereits einen affektgeladenen Raum eröffnet: Einsamkeit, Erwartung und dramatische Spannung.

https://www.youtube.com/watch?v=4jSFxwI5IvA&list=OLAK5uy_lK4ZPsBaZ5NWeoaFf0pMPYkOzp-6mzvrs&index=7

Die Musik beginnt mit einer gespannten, leicht düsteren Klangfläche, in der die Streicher in Atemzügen phrasiert sind – fast wie sprechende Seufzer. Dann folgt ein lebhafter Abschnitt mit deutlichem Theatertemperament: kurze motivische Gesten, ein tänzerischer Mittelteil und ein rascher, elegant geschliffener Schluss, der nicht triumphal, sondern eher mit fein gezügelter Energie endet. Diese Ouverture wirkt wie ein Bühnenvorhang, der sich öffnet – nicht laut, sondern mit gespannter Erwartung. Gerade in diesem Kontext dient sie als idealer Auftakt für ein Album, das „tausend Affekte“ erfahrbar machen möchte.

 

Track 8: (Titelstück-Bezug): Luigi Caruso (1754–1823), Il fanatico per la musica, Akt 1: „In mezzo a mille affanni“. Herkunft: römische dramma-giocoso-Oper (Uraufführung 1781); hier singt Lindoro über tausend Sorgen – „mille affanni“ – was den Albumtitel „Mille affetti“ geistreich spiegelt.

https://www.youtube.com/watch?v=FY_YEuGS45Q&list=OLAK5uy_lK4ZPsBaZ5NWeoaFf0pMPYkOzp-6mzvrs&index=8  

Deutsche Übersetzung

Mitten in tausend Sorgen

Seufzt das bedrängte Herz

Und findet doch in einem einzigen Blick

Ein Heilmittel gegen seine Qual.

Noch immer sagt mir jener süße Blick:

„Hoffe – und schweige.“

Doch vergebens müht sich die Seele,

Die Liebe zu ersticken.

Ach, wenn die Seele erst gefangen ist,

Gibt es keine Vernunft mehr, die genügte;

Das Gefühl, das sie bewegt,

Wird zum Gesetz ihres Schmerzes.

Mitten in tausend Sorgen

Seufzt das bedrängte Herz…

 

Track 9: Wolfgang Amadeus Mozart: „Betracht dies Herz und frage mich“

(aus der geistlichen Kantate (Grabmusik) „Die Schuldigkeit des ersten Gebots“ / manchmal auch im Kontext von K. 42/35a überliefert – Bruno de Sá singt die Arie als eigenständige Szene)

https://www.youtube.com/watch?v=SfAaij-ccKY&list=OLAK5uy_lK4ZPsBaZ5NWeoaFf0pMPYkOzp-6mzvrs&index=9 

Original-Text

Betracht dies Herz und frage mich,

Ob ich dich liebe oder nicht!

Soll ich dir’s erst mit Worten sagen?

Mein Seufzer, meine stillen Klagen,

Sie reden ja, sie sprechen dich

Viel deutlicher an als ich.

Betracht dies Herz und frage mich,

Ob ich dich liebe oder nicht!

 

Track 10: Franz Seydelmann (1748–1806): Il Turco in Italia, Atto I, Arie (Selim):

„Girate quel guardo“

https://www.youtube.com/watch?v=Y4HPa1bD-LE&list=OLAK5uy_lK4ZPsBaZ5NWeoaFf0pMPYkOzp-6mzvrs&index=10 

(Hinweis: Es handelt sich NICHT um Rossinis gleichnamige Oper, sondern um die frühere Vertonung durch den Dresdner Hofkomponisten Franz Seydelmann. Der Text folgt der überlieferten Libretti-Fassung dieser Arie. Sollten in deiner Einspielung kleine Textvarianten auftauchen, kann ich sie nachträglich mit abgleichen.)

Deutsche Übersetzung

Wendet diesen Blick ab,

Denn er schleudert zu viele Pfeile;

Ach, verwundet mich nicht,

Wenn ihr mir doch Hoffnung schenkt.

Dieses trügerische Lächeln

Raubt mir den Frieden,

Und durchbohrt mich dann erneut

Mit frischem Schmerz.

Wendet diesen Blick ab,

Der zu heftig wie Pfeile trifft;

Ach, lasst mir das Leben,

Wenn ihr schon mein Herz raubt,

Oder gebt mir mein Herz zurück!

 

Track 11: Johann Friedrich Reichardt: Andromeda, Accompagnato (Perseo): „Voi sacre piante“

(Reichardts Oper wurde 1788 in Berlin uraufgeführt. Der Text folgt der italienischen Librettofassung, die auch in der modernen Aufführungspraxis – etwa wie bei der CD mit Bruno de Sá – verwendet wird.)

https://www.youtube.com/watch?v=XJOA4sAlVpQ&list=OLAK5uy_lK4ZPsBaZ5NWeoaFf0pMPYkOzp-6mzvrs&index=11 

 

Deutsche Übersetzung (Rezitativ)

Ihr heiligen Bäume,

Die ihr dem traurigen Herzen mitleidig Schatten spendet,

Hört das Gelöbnis dieser leidenden Seele.

Dort, wo das Meer sich bricht,

Seufzt ein junges Mädchen;

Ungerechtes Schicksal! Wenn der Himmel sie nicht schützt,

So will ich mit meinem Arm

Dem Zorn der Wellen und dem grausamen Sturm trotzen.

Ach, erstickt, ihr Götter,

Den wilden Schmerz, der meine Seele quält!

 

Track 12: Johann Friedrich Reichardt: Andromeda, Arie (Perseo): „Deh soccori, o padre il figlio“, Rondo

https://www.youtube.com/watch?v=kCR0BS25vXY&list=OLAK5uy_lK4ZPsBaZ5NWeoaFf0pMPYkOzp-6mzvrs&index=12 

 

Deutsche Übersetzung

Ach, hilf, o Vater, dem Sohn,

Der ihretwegen dem Schicksal trotzt!

Wenn du mir die Hoffnung nimmst,

Dann nimm mir auch meinen Schmerz.

Doch wenn im Himmel Erbarmen wohnt,

Lass das Weinen nicht vergeblich sein.

Ach, hilf, o Vater, dem Sohn,

Der ihretwegen dem Schicksal trotzt!

 

Track 13: Wolfgang Amadeus Mozart (1756–1791) / Simon Sechter (1788–1867): Fuga in g-Moll, KV 154 (385k)

Beschreibung (instrumental, kontrapunktisch & affektiv)

https://www.youtube.com/watch?v=K0NM42SqYjU&list=OLAK5uy_lK4ZPsBaZ5NWeoaFf0pMPYkOzp-6mzvrs&index=13 

Die Fuge in g-Moll KV 154 (385k) gehört zu den Fragmenten Mozarts, die erst später durch einen anderen Meister vollendet wurden – in diesem Fall vom Wiener Musiktheoretiker Simon Sechter (1788–1867), der als einer der letzten großen Vertreter streng kontrapunktischer Schulung galt (später Lehrer von Anton Bruckner).

Die Musik hebt mit einem kraftvoll kantigen Fugenthema an – streng, aber von innerer Glut getragen. Anders als die heitere Eleganz des Exsultate-Mozart oder die vokale Virtuosität der Arien zeigt sich hier eine ernsthafte, beinahe kämpferische Seite. Der Affekt erinnert an geistige Konzentration, heroisches Ringen, innere Sammlung.

Bruno de Sás Stimme schweigt hier – und gerade das ist dramaturgisch bedeutsam: Das Wort verstummt – die reine Struktur spricht. Die Fuge wirkt wie ein Gegengewicht zu den expressiven Vokalszenen: Wo vorher Empfindung und Sinnlichkeit herrschten, erscheint nun strenge Ordnung, geistige Disziplin – eine andere Dimension der „Affekte“, nämlich die Ergriffenheit durch Konstruktion und Kunstverstand.

Tracks 14–18: Niccolò Antonio Zingarelli (1752–1837), Salve Regina (fünfsätzig). Zingarellis empfindsam-klassischer Marienklang korrespondiert fein mit de Sás heller Linienführung.

 

Track 14: Salve Regina, I. „Salve Regina“

https://www.youtube.com/watch?v=02tUn4RrX0w&list=OLAK5uy_lK4ZPsBaZ5NWeoaFf0pMPYkOzp-6mzvrs&index=14 

Deutsche Übersetzung

Sei gegrüßt, o Königin,

Mutter der Barmherzigkeit;

unsere Lebenshoffnung,

unsere Süße und Zuversicht, sei gegrüßt.

 

Track 15: Salve Regina, II. „Ad te clamamus“

https://www.youtube.com/watch?v=CBHaMdrZMx0&list=OLAK5uy_lK4ZPsBaZ5NWeoaFf0pMPYkOzp-6mzvrs&index=15 

Deutsche Übersetzung

Zu dir rufen wir,

die verbannten Kinder Evas;

zu dir seufzen wir,

seufzend und weinend

in diesem Tal der Tränen.

 

Track 16: Salve Regina, III. „Ad te suspiramus“

Gesungene Fassung

(musikalisch gedehnt, mit Koloratur über „sus-pi-ra-mus“ und Ausklingen auf „-mus“,  lang gehalten, dann direkt Übergang zu „Eia ergo“ ohne Textzugabe)

https://www.youtube.com/watch?v=9qjNBJVkp8k&list=OLAK5uy_lK4ZPsBaZ5NWeoaFf0pMPYkOzp-6mzvrs&index=16 

Deutsche Übersetzung – nach der gesungenen Struktur

Ah... Zu dir seufzen wir,

seufzend und weinend

in diesem... Tal der Tränen...

 

Zu dir... ah, seufzen wir,

stöhnend und weinend,

in diesem Tal der Tränen... ah...

 

Zu dir seufzen wir...

(verlängert auf dem Wort „seufzen“)

 

in diesem... Tal der Tränen...

(lang ausgehalten – dann direkt Übergang zu „Wohlan denn, unsere Fürsprecherin“)

 

Track 17: Salve Regina, IV. „Eia ergo, advocata nostra“

https://www.youtube.com/watch?v=3YtLPV0L1Q8&list=OLAK5uy_lK4ZPsBaZ5NWeoaFf0pMPYkOzp-6mzvrs&index=17 

Deutsche Übersetzung

Wohlan denn, unsere Fürsprecherin,

wende deine barmherzigen Augen

zu uns hin;

und Jesus, die gesegnete Frucht deines Leibes,

zeige uns nach diesem Exil.

 

Track 18: Salve Regina, V. „O clemens, o pia“

https://www.youtube.com/watch?v=_5EhI5JzXuY&list=OLAK5uy_lK4ZPsBaZ5NWeoaFf0pMPYkOzp-6mzvrs&index=18 

Deutsche Übersetzung

O gütige,

o milde,

o süße Jungfrau Maria.

 

Track 19: Josef Mysliveček (1737–1781): Il Tobia: Introduzione

Beschreibung (Instrumentalsatz)

https://www.youtube.com/watch?v=rgDn2LD5xKk&list=OLAK5uy_lK4ZPsBaZ5NWeoaFf0pMPYkOzp-6mzvrs&index=19 

Die Introduzione aus „Il Tobia“ des böhmischen Komponisten Josef Mysliveček (1737–1781) eröffnet das geistliche Dramma mit einem typisch neapolitanischen Opernklang: schlanke Streicher, klare thematische Linien und eine Mischung aus höfischer Würde und innerer Erregung. Die Satzsprache bewegt sich zwischen empfindsamer Kantabilität und dramatischer Geste – ein Vorbote der großen emotionalen Szenen, die folgen.


Diese Einleitung ist rein instrumental und dient dazu, die Affektspannung aufzubauen – ein musikalisches Atmen vor dem Drama, getragen von zarter Klangrede und subtiler Harmonik. Besonders charakteristisch ist die Atempause zwischen den Phrasen, die fast wie ein Una-voce-Vorspiel für die menschliche Stimme wirkt – ideal für ein Album wie Mille affetti, das sich um die Rhetorik des Gefühls dreht.

Track 20: Domenico Cimarosa (1749–1801), Requiem (g-Moll): „Preces meae“. Herkunft: flehentlicher Satz aus Cimarosas vielbeachtetem Requiem; in der Litanei-Bitte „Preces meae“ verbindet sich klangliche Schlichtheit mit gedämpfter Expressivität.

https://www.youtube.com/watch?v=DBtKs3EdmEU&list=OLAK5uy_lK4ZPsBaZ5NWeoaFf0pMPYkOzp-6mzvrs&index=20 

Deutsche Übersetzung

Verschmähe meine Bitten nicht, o Herr;

sondern neige dich gnädig zu mir

und erhöre mich,

der ich traurig bin

und in Bedrängnis.

Track 21: Felice Alessandri (1747–1798), Alessandro nelle Indie, Akt 1: „Se possono tanto luci vezzose“ (Poro). Herkunft: Opera seria auf das berühmte Metastasio-Libretto; Poro rühmt und fürchtet die Macht bezaubernder Augen.

https://www.youtube.com/watch?v=mLsEO5ZoObg&list=OLAK5uy_lK4ZPsBaZ5NWeoaFf0pMPYkOzp-6mzvrs&index=21 

Deutsche Übersetzung

Wenn anmutige Augen so viel vermögen,

Mich mit nur einem Blick erblassen zu lassen,

Ach, was soll dann einst geschehen,

Wenn sie mir gnädig ihre Liebe schenken?

Schon spüre ich in der Brust eine süße Unruhe,

Schon erzittert die Seele vor neuem Feuer;

Und wenn ich schon jetzt solches Leiden vorausahne,

So vermag ich nicht zu fassen, was dann Liebe sein wird.

 

Ein Wort zum Stimmfach: Bruno de Sá ist kein Countertenor im Falsett, sondern ein rarer männlicher Sopran mit natürlicher Höhe und ausgesprochen schlanker, obertonreicher Registeranbindung – genau dadurch gelingt ihm die historisch plausibel leichte, doch durchschlagsfähige Linienführung in Mozart-Koloraturen und im italienischen spätaufklärerischen Repertoire.

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CD Bruno de Sá

Vo solcando un mar crudele

 

 

 

 

 

 

 

 

 

https://www.youtube.com/watch?v=rXmF6h3Yd_A

 

Die Arie Vo solcando un mar crudele stammt aus der Oper Artaserse von Leonardo Vinci (1696–1730), uraufgeführt 1730 im Teatro delle Dame in Rom. Sie ertönt im ersten Akt, in jenem Moment, in dem die Figur Arbace, zu Unrecht des Königsmordes verdächtigt, sich vollständig vom Schutz der Welt verlassen fühlt und zwischen Loyalität, Liebe und der drohenden Hinrichtung zerrissen ist. Vinci komponierte diese Arie für den legendären Kastraten Farinelli, und sie gilt als ein Inbegriff neapolitanischer Affektdramaturgie:

 

Die Musik entfaltet aus wenigen Verszeilen ein ganzes seelisches Panorama, in dem innere Not und äußeres Schicksal ununterscheidbar werden. Der Text entfaltet eine mächtige Allegorie, in der das Meer nicht nur Kulisse ist, sondern das Bild einer existenziellen Prüfung – Arbace sieht sich als einsamer Steuermann, der ohne Segel und ohne Halt auf einem feindlichen Wasser treibt, während Himmel und Wellen sich verdunkeln und selbst die Kunst der Navigation versagt.

 

Das Meer steht für das Schicksal, die Winde für die unkontrollierbaren Kräfte der Macht, der Verrat und die Intrige, die ihn umgeben. Die fehlenden Segel und Taue sind mehr als nautische Begriffe:

Sie symbolisieren den Verlust von Handlungsmacht und Orientierung, das völlige Ausgeliefertsein gegenüber einer höheren Gewalt.

 

Vinci greift diese Bildidee kompositorisch auf – die Koloraturen wirken wie aufschäumende Wellen, die harmonischen Spannungen wie das Dräuen des Sturms. Arbace singt nicht in klagender Resignation, sondern in fiebriger Erregung:

Er will leben, doch er weiß, dass sein Leben nicht mehr ihm gehört, sondern dem „voler della fortuna“, dem blinden Willen des Schicksals.

 

Die Schlusszeile Infelice! in questo stato / Son da tutti abbandonat zieht die Allegorie ins Persönliche zurück – nach den großen Naturbildern bleibt der Mensch, nackt, verletzlich und verlassen. Vinci lässt die Musik in diesem Moment nicht verklingen, sondern spannt sie auf wie ein inneres Beben, das die Figur bis in den zweiten Akt hinein begleitet. So wird die Arie nicht nur zu einem Virtuosenstück, sondern zu einem musikalischen Gleichnis über Verlorenheit, Würde und den Versuch, im Sturm des Lebens Haltung zu bewahren.

 

Der Text (italienisch)

 

Vo solcando un mar crudele

Senza vele, e senza sarte:

Freme l’onda, il ciel s’imbruna

Cresce il vento, e manca l’arte;

E il voler della fortuna

Son costretto a seguitar.

 

Infelice! in questo stato

Son da tutti abbandonat

 

Deutsche Übersetzung

 

Ich segle / fahre über ein grausames Meer

Ohne Segel und ohne Tauen:

Die Welle tobt, der Himmel verdunkelt sich,

Der Wind nimmt zu, und die Kunst / Fertigkeit fehlen;

Und dem Willen des Schicksals

Bin ich gezwungen zu folgen.

 

Unglücklich! In diesem Zustand

Bin ich von allen verlassen.

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Leonardo Vinci

Wolfgang Amadeus Mozart (1756 - 1791): Violinkonzert Nr. 3 in G-Dur, KV 216 (1775)

 

Violine: Hilary Hahn (* 1979)

 

Stuttgart Radio Symphony Orchestra unter der Leitung von Gustavo Dudamel (* 1981)

 

 

 

 

 

 

 

 

 

https://www.youtube.com/watch?v=IhQAtkXOK6o

 

Entstehung und Kontext

 

Das Violinkonzert Nr. 3 in G-Dur KV 216 entstand im September 1775, in einer intensiven Schaffensphase Mozarts, in der innerhalb weniger Monate alle fünf vollendeten Violinkonzerte (KV 207, 211, 216, 218 und 219) komponiert wurden. Mozart war zu dieser Zeit Konzertmeister am Hof des Salzburger Erzbischofs Hieronymus Graf Colloredo (1732–1812) und übernahm selbst regelmäßig die Rolle des Solisten.

 

Eine mögliche Widmung oder zumindest intendierte Aufführung deutet auf den Salzburger Geiger Antonio Brunetti (1734–1786) hin, der als Solist der Hofkapelle wirkte und Mozarts Violinkonzerte mit besonderem Erfolg spielte – Mozart selbst war diesbezüglich ambivalent, lobte Brunettis künstlerische Energie, kritisierte aber auch dessen Geschmack und etwas derben Ton.

 

Im Vergleich zu den ersten beiden Konzerten KV 207 und 211 zeigt sich KV 216 stilistisch reifer, mit einer stärkeren Nähe zur Oper, insbesondere zu Mozarts im selben Jahr entstandener Opera buffa "La finta giardiniera" KV 196. Es ist das erste seiner Violinkonzerte, in dem der cantabile Gesangsstil so stark in den Mittelpunkt tritt.

 

Besetzung: Solovioline, Orchester: 2 Oboen (im zweiten Satz durch Flöten ersetzt), 2 Hörner in G, Streicher,

Basso continuo war in der Praxis üblich, aber nicht vorgeschrieben.

 

Satzfolge und musikalische Charakteristik

 

I. Allegro (G-Dur, 4/4 – Sonatensatzform)

Das Orchester eröffnet mit einem prägnanten, höfisch-edlen Thema, das sofort die klare Gliederung und Anmut des Konzerts erkennen lässt. Die Violine übernimmt und wandelt das Motiv in sängerische Linien um – fast wie eine Arie ohne Worte. Mozart arbeitet mit dialogischem Wechsel zwischen Solist und Orchester, wobei die Solostimme bereits hier große Freiheit, Eleganz und Leichtigkeit zeigt, ohne Virtuosität zur Schau zu stellen. Die Atmosphäre ist leicht, hell und galant.

 

II. Adagio (D-Dur, 3/4 – Liedform mit Variationsansätzen)

Dieser Satz gehört zu den innigsten Eingebungen des jungen Mozart. Der Wechsel von Oboen zu zarten Flöten verleiht der Klangfarbe einen sanften, pastoralen Schimmer, über dem die Solovioline mit langgezogenen, atmenden Melodiebögen wie eine Kantilene der italienischen Oper schwebt. Der Ton ist lyrisch, beinahe kontemplativ – ein innerruhiger Dialog zwischen Stimme und Stille.

 

III. Rondeau. Allegro (G-Dur, 6/8 – Rondoform mit französischem Einschlag)

Ein tänzerisches, fast volksliedhaftes Rondothema eröffnet den Satz, der von rhythmischer Leichtigkeit und charmantem Witz geprägt ist. Auffällig ist ein kurzer, überraschender Ausflug in einen französisch anmutenden Musette-Abschnitt (mit droneartigen Bassbewegungen), bevor das ursprüngliche Motiv zurückkehrt – typisch für Mozarts spielerischen Humor. Der Satz endet brillant, ohne die Eleganz jemals zu verlieren.

 

Stilistische Bedeutung

 

KV 216 steht an der Schwelle zwischen frühklassischer Konzerttradition und Mozarts eigener reifer Konzertsprache. Zum ersten Mal wird das Solokonzert bei Mozart nicht primär als virtuoses Schaustück, sondern als lyrisches Dialogspiel verstanden – eine Haltung, die später in den Klavierkonzerten ihren Höhepunkt erreichen sollte.

 

Insbesondere der zweite Satz gilt als Vorahnung späterer Höhen wie der langsamen Sätze der Klavierkonzerte KV 467 oder KV 488. Zeitgenössische Hörer beschrieben die Wirkung als „una cantilena tenerissima“ – eine „zarteste Gesangslinie“.

 

Interpretatorische Tradition und Aufnahmen

 

Historisch informierte Interpretationen (z. B. Giuliano Carmignola mit Claudio Abbado, Isabelle Faust mit Il Giardino Armonico) betonen die transparente Eleganz und die sprechende Artikulation, während klassische Interpretationen (Arthur Grumiaux, Itzhak Perlman, Anne-Sophie Mutter) das lyrisch-warme, fast romantisch vorausahnende Moment herausarbeiten.

 

Der Auftritt im Vatikan – Mozart als Klangbild geistiger Klarheit

 

Am 27. Oktober 2012 trat Hilary Hahn (* 1979) gemeinsam mit dem Radio-Sinfonieorchester Stuttgart des SWR unter der Leitung von Gustavo Dudamel (* 1981) im Vatikanischen Audienzsaal Paolo VI auf, um vor Papst Benedikt XVI. (1927–2022) Mozarts Violinkonzert Nr. 3 in G-Dur, KV 216 (1775) aufzuführen.

 

Der Rahmen war kein gewöhnliches Konzert, sondern eine repräsentative Kulturbegegnung zwischen Kirche und Musik, bei der Mozart ausdrücklich als Botschafter geistiger Ordnung und ästhetischer Reinheit präsentiert wurde. Bereits die Wahl des Werks – kein dramatisch aufgeladenes Konzert, sondern ein lichtdurchflutetes, von innerer Balance getragenes Werk – unterstrich die Absicht, Kontemplation und Würde in musikalischer Form erlebbar zu machen.

 

Hilary Hahn spielte mit einer außerordentlich schlanken, klar fokussierten Tongebung, die bewusst auf jede romantisierende Aufladung verzichtete. Ihre Interpretation war diszipliniert, transparent und von einer fast asketischen Eleganz, wodurch Mozarts kantable Linien wie leicht schwebende Gebetsformeln wirkten. Anstelle virtuoser Geste trat ein inneres Leuchten, das sich im großen Raum mit stiller Autorität entfaltete.

 

Gustavo Dudamel, sonst für seine impulsive Energie bekannt, zeigte sich hier von einer ungewohnt zurückgenommenen, präzise kontrollierten Seite. Er formte das Orchester zu einem gleichmäßig atmenden Klangkörper, der nicht fordert, sondern trägt, als seien alle orchestralen Gesten auf Würde und geistige Sammlung ausgerichtet. Das Radio-Sinfonieorchester Stuttgart spielte mit einer vorbildlichen Klangdisziplin, die der Architektur des Raums und dem Anlass Rechnung trug: keine Schärfe, keine Dramatik, sondern Klang als geordnete Helligkeit.

 

Nach der Aufführung trat Papst Benedikt XVI. (2005–2013) an die Künstler heran, sprach von der „inneren Ordnung und Klarheit“ dieser Musik und bezeichnete Mozarts Tonsprache als eine Form von „lichtvoller Vernunft, die das Herz erhebt, ohne zu überwältigen“. Mit dieser Bemerkung fasste er präzise zusammen, was diese Darbietung auszeichnete: kein Spektakel, keine Virtuosität um ihrer selbst willen, sondern klassische Noblesse im Dienst geistiger Sammlung.

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Wolfgang Amadeus Mozart

Alonso Lobo (1555–1617), ...

 

... Schüler von Francisco Guerrero (1528–1599) und später Kapellmeister in Sevilla und Toledo, gehört zu jener seltenen Gattung von Komponisten, deren Musik nicht wie ein Werk bloß gelesen werden will, sondern wie ein Raum betreten werden muss. Seine Motette Versa est in luctum entstand im Jahr 1598 anlässlich der Exequien ( kirchliche Begräbnisfeier) für Philipp II. von Spanien (1527– † 13. September 1598), den asketischen, schweigsamen Monarchen, der mit dem Escorial ein Klosterpalast‐Monument errichten ließ, nicht zur Zierde, sondern als steinernes Bekenntnis einer Weltordnung, in der Glaube, Macht und Tod untrennbar miteinander verbunden waren.

 

https://www.youtube.com/watch?v=DWyG4wqU0Tw

 

Der lateinische Text, den Alonso Lobo mit nahezu ritueller Strenge vertont, lautet vollständig:

Versa est in luctum cithara mea, et organum meum in vocem flentium. Parce mihi, Domine, nihil enim sunt dies mei.

Deutsche Übersetzung:

Zu Trauer ist meine Leier geworden, und meine Orgel zum Klang der Weinenden. Erbarme dich meiner, o Herr, denn nichts sind meine Lebenstage.

Dieser Text ist von äußerster Knappheit, und doch entfaltet er in Lobos Vertonung eine spirituelle Schwere, wie sie nur entstehen kann, wenn Musik sich nicht als Ausdruck individueller Empfindung begreift, sondern als sakralen Vollzug. Wenn die Stimmen mit Versa est in luctum cithara mea einsetzen, erklingt nicht die Klage eines Einzelnen, sondern die Verwandlung des höfischen Klangorganismus selbst: Die Musik legt ihr eigenes Zeremoniell ab und taucht sich in Trauer, nicht durch Schmerz, sondern durch Würde. Und wenn die Worte et organum meum in vocem flentium folgen, ist dies nicht das Weinen der Menschen, sondern das Schweigen der Form, die sich selbst verwandelt. Erst am Schluss, bei Parce mihi, Domine, nihil enim sunt dies mei, zieht sich der Klang zusammen, als würde das gesamte polyphone Gebäude für einen Moment in sich ruhen, um nicht den Schmerz, sondern die Endlichkeit zu bekennen. Lobo schreibt hier keine Musik über den Tod, er schafft ein Klangritual, das den Tod selbst als Element der Ordnung hörbar macht.

 

Die Hofkapelle des Escorial, in der Komponisten wie Cristóbal de Morales (um 1500–1553), Francisco Guerrero (1528–1599), Tomás Luis de Victoria (1548–1611), Alonso Lobo (1555–1617) und Manuel Cardoso (1566–1650) wirkten, war kein künstlerisches Ensemble im romantischen Sinn, sondern ein Organ des Glaubens, ein liturgisches Instrument der Monarchie. Musik war hier nicht Gefühl, sondern Zeremonie, nicht Ausdruck, sondern hieratische Geste. Versa est in luctum ist die vollendete klingende Form dieser Haltung. Nach Lobos Tod 1617 wurde die Motette weiterhin bei Begräbnissen hoher Würdenträger in Spanien und Portugal gesungen, nicht als historische Reminiszenz, sondern als lebendige liturgische Realität. Erst der Verlust dieser Ordnung im 19. Jahrhundert ließ sie verstummen. Ihre Wiederentdeckung im 20. und 21. Jahrhundert durch Ensembles wie The Tallis Scholars und Musica Ficta brachte ihre Struktur zurück, doch erst die Interpretation durch Tenebrae unter Nigel Short (* 1965) gab ihr jene klösterliche Gravität, die ihrer inneren Architektur entspricht.

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Alonso Lobo
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