Tomás Luis de Victoria (1548–1611)
Musik für die Ewigkeit – Der letzte große Meister der spanischen Renaissance
Tomás Luis de Victoria stammte aus einer wohlhabenden Familie der kastilischen Oberschicht.
Tomás wurde 1548 in Sanchidrián, Provinz Ávila geboren. Er gilt als der bedeutendste spanische Komponist der Renaissance. Gemeinsam mit Giovanni Pierluigi da Palestrina (um 1525–1594) und Orlando di Lasso
(1532–1594) zählt er zu den führenden Vertretern der spätklassischen Vokalpolyphonie. Sein Werk, ausschließlich geistlich und auf lateinische Texte vertont, zeichnet sich durch eine hohe Ausdruckskraft aus, insbesondere in den Kompositionen für die Karwoche und in den Totenoffizien. Als katholischer Priester, ausgebildeter Sänger und Organist war er sowohl in Spanien als auch in Italien tätig, widmete sich aber bevorzugt der Komposition.
Herkunft und frühe Prägung
Sein Vater Francisco Luis de Vitoria († um 1557) war ein erfolgreicher Notar in Ávila, dessen Einnahmen sich aus seinem juristischen Beruf, der Verpachtung landwirtschaftlicher Besitzungen sowie aus Geldverleihgeschäften speisten.
Seine Mutter, Francisca Suárez de la Concha entstammte einer angesehenen Händler- und Bankiersfamilie aus Segovia. Ihre Vorfahren hatten jüdische Wurzeln; so war ihr Urgroßvater Jacob Galfón († nach 1492) im Zuge der Vertreibung der Juden zunächst nach Portugal ausgewichen, kehrte aber noch im Jahr 1492 mit Genehmigung der Krone nach Kastilien zurück und nahm den christlichen Namen Pedro Suárez de la Concha an. Spätere Generationen dieser Linie wurden geadelt und führten schließlich den Titel Marqués de Lozoya.
Die väterliche Linie – namentlich dokumentiert seit dem frühen 16. Jahrhundert – lässt sich bis Hernán Luis Dávila († nach 1520) zurückverfolgen, einen Tuchhändler mit einem florierenden Geschäft in Ávila. Durch geschickte Investitionen in Immobilienbesitz verschaffte er der Familie wirtschaftliche Sicherheit. Die Herkunftsbezeichnung Victoria, die Tomás später in der lateinischen Form Victoria verwendete, stammt ursprünglich von Dávilas Ehefrau Leonor de Vitoria.
Tomás war das siebte von neun Kindern.
Nach dem Tod des Vaters († um 1557) geriet die Familie kurzfristig in finanzielle Schwierigkeiten – unter anderem durch die Spielsucht des Vaters. Dennoch sicherten kluge Entscheidungen des ältesten Bruders Hernán, insbesondere die bewusste Teilung des Erbes unter den Geschwistern, die kontinuierliche Förderung der jüngeren Familienmitglieder. Unterstützt wurden sie zudem von ihrem Onkel Juan Luis de Vitoria († nach 1580), einem Priester, der sich insbesondere um die Ausbildung Tomás’ kümmerte. Durch enge familiäre Kontakte zu Bankiers und Geschäftsleuten in Medina del Campo – dem damaligen Finanzzentrum Kastiliens – blieb das Netzwerk der Familie intakt.
Victoria erhielt seine musikalische Ausbildung zunächst als Chorknabe an der Kathedrale von Ávila, wo er auch in Theologie und den artes liberales (freie Künste: Grammatik, Rhetorik, Dialektik (Logik), Arithmetik, Geometrie, Musik (Musica) und Astronomie).
Zu seinen frühen Lehrern gehörten unter anderem Gerónimo de Espinar (um 1520–nach 1575) und Bernardino de Ribera (um 1520–nach 1580), zwei Musiker, die mit dem kirchlichen Musikleben Kastiliens eng verbunden waren.
Auch seine erste Ausbildung an der Orgel dürfte in dieser Zeit begonnen haben. Daneben ist anzunehmen, dass er – wie andere begabte Knaben aus wohlhabenden Familien – eine weiterführende humanistische Schulbildung erhielt, etwa am Colegio de San Gil in Ávila, einer angesehenen Knabenschule, das von Zeitgenossen, darunter Teresa von Ávila (1515–1582), hochgeschätzt wurde.
Nach dem Stimmwechsel verließ Victoria mit einem Stipendium König Philipps II. (1527–1598) im Sommer 1565 seine Heimat und ging nach Rom. Dort wurde er 1566 als Sänger am Collegium Germanicum aufgenommen – einer Ausbildungsstätte, die auf Ignatius von Loyola (1491–1556) zurückgeht.
Möglicherweise studierte er zu dieser Zeit auch bei Palestrina (s.o.); der Einfluss des großen italienischen Komponisten ist jedenfalls in seinem Werk deutlich spürbar.
Ab 1573 war Victoria nicht nur Lehrer am Collegium Germanicum, sondern auch Leiter für Liturgiegesang am Päpstlichen Römischen Priesterseminar. Als Palestrina das Seminar verließ, übernahm Victoria die Leitung als Maestro di Cappella. 1574 wurde er von Thomas Goldwell († 1585), dem letzten englischen Bischof vor der Reformation, zum Priester geweiht. Bereits 1571 hatte er seine erste feste Anstellung erhalten.
Im Jahr 1575 trat er eine bedeutende Stelle als Kapellmeister an San Apollinare (Rom, gegründet 1574) an. Aufgrund seines Ruhms und seiner musikalischen Autorität wurde Victoria von kirchlichen Würdenträgern häufig zu Besetzungsfragen für Domkapellen konsultiert. Trotz seiner Karriere als Komponist blieb er auch dem Dienst als Organist verbunden.
1587 entsprach Philipp II. Victorias Wunsch, nach Spanien zurückzukehren, und ernannte ihn zum Hofkaplan seiner Schwester, der verwitweten Kaiserin Maria von Habsburg (1528–1603), Tochter Karls V. (1500–1558), die sich seit 1581 in das Kloster der Descalzas Reales in Madrid zurückgezogen hatte. Dort wirkte Victoria über zwei Jahrzehnte – zunächst als geistlicher Beistand der Kaiserin, nach deren Tod im Jahr 1603 als Organist des Konvents. In dieser Zeit veröffentlichte er 1605 sein letztes Werk, das "Officium Defunctorum", ein Requiem für die verstorbene Kaiserin Maria.
Victoria lehnte Angebote ab, Kapellmeister an bedeutenden Kathedralen wie Sevilla oder Saragossa zu werden, und blieb dem Kloster treu.
Für seine Dienste erhielt er ein erheblich höheres Einkommen als ein Kapellmeister an einer Kathedrale, insbesondere aus Pfründen (d. h. kirchliche Einkünfte aus verschiedenen Stellen, ohne dass er alle diese Ämter persönlich ausübte), die ihm zwischen 1587 und 1611 übertragen wurden. Victoria selbst erklärte, nie ein Gehalt für die Tätigkeit als Kapellmeister verlangt zu haben.
Sein Vertrag gewährte ihm großzügige Freiheiten, unter anderem die Möglichkeit, zu reisen – etwa 1593/94, als er zur Beisetzung Palestrinas nach Rom zurückkehrte.
Am 27. August 1611 starb Tomás Luis de Victoria im Alter von etwa 63 Jahren in seiner Wohnung im Kloster der Descalzas Reales in Madrid. Er wurde im Kloster beigesetzt, jedoch ist die genaue Lage seines Grabes bis heute unbekannt und konnte bislang nicht identifiziert werden.
Nach seinem Tod geriet seine Musik – wie so viele Werke der Renaissance – über Jahrhunderte in Vergessenheit, bis sie im 19. Jahrhundert durch Musikwissenschaftler und Geistliche der Kathedrale von Ávila wiederentdeckt wurde. Heute gilt Victoria als der bedeutendste Vertreter der spanischen Vokalpolyphonie und als letzter großer Meister jener Kunst, die aus dem Glauben ihre Inspiration schöpfte.
Sein Stil ist unverkennbar. Während Palestrina die Transzendenz durch Ausgewogenheit suchte, fand Victoria sie in der Leidenschaft; wo Lassus die Vielfalt der Welt feierte, offenbarte Victoria die Tiefe der Seele. In seinen besten Werken – der Missa O magnum mysterium, dem Officium Hebdomadæ Sanctæ, der Missa Pro Victoria und dem Officium Defunctorum – verdichten sich die Gegensätze zwischen Licht und Dunkel, Ekstase und Demut, irdischem Schmerz und himmlischer Erlösung zu einer einzigartigen, spirituell aufgeladenen Klangsprache. Seine Musik atmet die Mystik des kastilischen Barocks, lange bevor das Wort Barock überhaupt geprägt war.
In Spanien erinnert heute vieles an den Komponisten: das Konservatorium von Ávila trägt seinen Namen, und das jährlich stattfindende Festival „Abvlensis“ widmet sich ausschließlich seiner Musik. Der „Premio Iberoamericano de la Música Tomás Luis de Victoria“, gestiftet 1996, ehrt zeitgenössische Komponisten, die – wie er einst – das geistige Erbe der iberischen Musik weitertragen. Doch jenseits aller Gedenktafeln und Preise bleibt Victorias Vermächtnis vor allem eines: der Klang einer gläubigen Seele, die in ihrer Musik das Unsichtbare hörbar machte.
Ausgewählte eingespielte Werke von Tomás Luis de Victoria
Officium Defunctorum (1605) – das berühmte Requiem für Kaiserin Maria von Österreich, ein Höhepunkt seines Spätwerks.
Officium Hebdomadae Sanctae (1585) – vollständiger Zyklus für die Karwoche mit Responsorien, Lamentationen und Improperien.
Tenebrae Responsories – drei Zyklen für die Nächte des Gründonnerstags, Karfreitags und Karsamstags.
Missa O magnum mysterium – Parodiemesse über die gleichnamige Motette.
Missa O quam gloriosum – festliche Messe über das Motiv der himmlischen Herrlichkeit.
Missa Gaudeamus a 6 – eine der kunstvollsten sechsstimmigen Messen Victorias.
Missa Pro Victoria – von der gleichnamigen Motette inspiriert, in triumphalem Ton.
Missa Vidi speciosam – anmutige Messe auf Grundlage einer der schönsten Marienmotetten.
Missa Salve Regina (a 8) – prachtvolle doppelchörige Messe über die bekannte Antiphon.
Missa Alma Redemptoris Mater – eindringliche Parodiemesse mit leuchtender Klangsprache.
Missa Ave Regina caelorum – groß angelegte Messe, häufig gemeinsam mit der Motette aufgenommen.
Missa Ave maris stella – Anknüpfung an den gregorianischen Hymnus, eine der frühesten Messen Victorias.
Missa Laetatus sum – selten, aber in neueren Einspielungen zu hören.
Missa Trahe me post te – intim und von inniger Kontemplation geprägt.
Missa Surge propera – dynamische und farbige Messe über eine Motette aus dem Hohelied.
O magnum mysterium – Motette über das Weihnachtsgeheimnis, eines der bekanntesten Werke des Komponisten.
O quam gloriosum est regnum – strahlende Motette über die Seligkeit der Heiligen.
Vidi speciosam – Hohelied-Motette von großer melodischer Schönheit.
Nigra sum sed formosa – anmutige Vertonung eines weiteren Hohelied-Textes.
Duo Seraphim clamabant – eindrucksvolle Darstellung der himmlischen Chöre.
Ascendens Christus in altum – Himmelfahrtsmotette mit feierlicher Architektur.
Jesu dulcis memoria – kontemplative Motette mit klarem, linearem Satz.
Popule meus (Improperia) – ergreifendes Klagestück für den Karfreitag.
Versa est in luctum – Motette von tiefer Trauer und überirdischer Schönheit, oft mit dem Requiem kombiniert.
Super flumina Babylonis – ergreifende Psalmvertonung über die Sehnsucht der Gefangenen.
Ave Maria (a 4 und a 8) – zwei Versionen, beide häufig eingespielt.
Ave Regina caelorum (a 8) – prachtvolle Antiphonvertonung in polychoraler Anlage.
Salve Regina (a 8) – doppelchörige Marienmotette, Inbegriff spanischer Klangpracht.
Alma Redemptoris Mater – eine der vier marianischen Antiphonen, in mehreren Fassungen.
Ave maris stella – schlichte, erhabene Hymnenvertonung.
Magnificat primi, secundi, tertii et octavi toni – Magnificat-Vertonungen in verschiedenen Kirchentönen.
Regina caeli laetare – österliche Motette mit jubelndem Ton.
Dum complerentur dies Pentecostes – Pfingstmotette, häufig mit Palestrinas Werk verglichen.
Sancta Maria, succurre miseris – kurze, bewegende Marienmotette.
Motette Laetatus sum – festliche Psalmvertonung, in mehreren Aufnahmen erhalten.
Ne timeas, Maria – zarte Verkündigungsmotette.
Quem vidistis, pastores – Weihnachtsmotette mit schlichter, pastoraler Anmut.
O sacrum convivium – eucharistische Motette von ruhiger Andacht.
Quellen und Literatur
Armin Raab: Victoria, Tomás Luis de. In: Biographisch-Bibliographisches Kirchenlexikon (BBKL), Band 14, Bautz, Herzberg 1998, Sp. 1576–1578. ISBN 3-88309-073-5.
Michael Zywietz: Victoria, Tomás Luis de. In: Ludwig Finscher (Hrsg.): Die Musik in Geschichte und Gegenwart. Zweite Ausgabe, Personenteil, Band 16 (Strata – Villoteau). Bärenreiter/Metzler, Kassel u. a. 2006. ISBN 3-7618-1136-5.
Ángel Manuel Olmos: Aportaciones a la temprana historia musical de la Capilla de las Descalzas Reales de Madrid (1576–1618). In: Revista de Musicología, XXVI-2 (2003), S. 439–489.
Ángel Manuel Olmos: El testamento y muerte de Tomás Luis de Victoria (tío). Nuevos familiares del músico y posible razón para su vuelta a España. In: Revista de Musicología, XXXV-1 (2012), S. 53–58.
Ángel Manuel Olmos: Tomás Luis de Victoria et le Monastère Royal des Descalzas à Madrid. Réfutation d’un mythe. In: Revue de l’Association Musique ancienne en Sorbonne, I-2 (2004), S. 121–128.
Gaspar Hernández Peludo: ¿Quién fue Tomás Luis de Victoria? Reflexiones al inicio de un curso en vísperas de un centenario. In: Cuadernos del Tomás, 3 (2011), S. 23–44. ISSN 1889-5328.
Felipe Pedrell: Tomás Luis de Victoria, “El abulense” (Estudio biográfico). Diputación Provincial de Ávila, 1918.
Ana María Sabe Andreu: Tomás Luis de Victoria. Pasión por la música. Diputación Provincial de Ávila – Institución Gran Duque de Alba, 2008. ISBN 978-84-96433-61-8.
Josep Soler: Victoria. Antoni Bosch Editor, Barcelona 1983.
Alfonso de Vicente / Pilar Tomás (Hg.): Tomás Luis de Victoria y la cultura musical en la España de Felipe III. Centro de Estudios Europa Hispánica (CEEH), Madrid 2012. ISBN 978-84-15245-21-6.
Officium Defunctorum (Requiem, 1605)
Das Officium Defunctorum, Victorias letzte überlieferte Komposition, gehört zu den erhabensten Zeugnissen sakraler Musik der Spätrenaissance. Entstanden anlässlich der Trauerfeierlichkeiten für die am 26. September 1603 verstorbene Kaiserin Maria von Österreich (1528–1603), Schwester Philipps II. (1527–1598) und Förderin des Komponisten, wurde das Werk 1605 in Madrid veröffentlicht und markiert zugleich den Schlusspunkt seines Schaffens. Es ist weniger eine Totenmesse im liturgischen Sinn als vielmehr ein musikalisches Vermächtnis – von tiefer Demut, klanglicher Reinheit und geistiger Konzentration geprägt.
Victoria, der große spanische Meister der Gegenreformation, war Priester, Theologe und Komponist in einer Person. In seiner Musik verschmelzen Kontemplation und Ausdruck, Glaubenstiefe und formale Vollkommenheit. Im Officium Defunctorum erreicht diese Verbindung eine vollkommene Balance: Die sechsstimmige Satzweise (SSAATB) ist von größter Klarheit und Durchsichtigkeit; jede Stimme bewegt sich mit innerer Ruhe und zugleich inniger Spannung auf das Zentrum des Wortes hin. Während viele seiner italienischen Zeitgenossen in affektgeladene Rhetorik oder äußerliche Virtuosität drängten, wahrt Victoria eine fast monastische Strenge, in der die Spiritualität nicht behauptet, sondern geatmet wird.
https://www.youtube.com/watch?v=GawWonsnohY&list=OLAK5uy_nlk3G-zuAh--SJ13KsRGMCWXPj_PDXlgQ&index=2
Die musikalische Struktur des Werkes folgt der Form des Totenoffiziums und der Missa pro defunctis: auf das Introitus „Requiem aeternam“ folgt der Kyrie, dann Graduale, Offertorium, Sanctus, Agnus Dei und schließlich das ergreifende Communio „Lux aeterna“. Zwischen diesen Abschnitten entfaltet sich eine feinsinnige Polyphonie, die auf Textverständlichkeit ebenso bedacht ist wie auf klangliche Vollendung. Der Hörer spürt die unendliche Geduld, mit der Victoria jeden Akkord formt, jede Wendung in eine spirituelle Geste verwandelt. Keine Note ist zufällig, kein Einsatz ohne Bedeutung: alles ist Ausdruck gelebter Frömmigkeit.
Dass dieses Werk über den liturgischen Rahmen hinausweist, liegt nicht zuletzt an seiner emotionalen Dichte. Die Musik ist kein Lamento, sondern ein Akt des Trostes. In den zarten Dissonanzen, den schwebenden Klangflächen und der behutsamen Dynamik spiegelt sich die Gewissheit des Glaubens wider, dass der Tod nicht das Ende, sondern die Heimkehr ist. Der Komponist schrieb damit nicht nur ein Requiem für eine Kaiserin, sondern – in gewisser Weise – für sich selbst.
Unter den zahlreichen Einspielungen des Werkes nimmt die Interpretation von Harry Christophers (* 1953) mit seinem Ensemble The Sixteen eine besondere Stellung ein. Die Aufnahme für das Label Coro offenbart in exemplarischer Weise, wie differenziert und klanglich ausgewogen diese Musik aufgeführt werden kann. Christophers lässt die Stimmen in idealer Balance erblühen, achtet auf feinste Nuancen der Phrasierung und formt eine Atmosphäre von meditativer Geschlossenheit. Die subtile Begleitung durch Kammerorgel und Bajón – ein frühbarockes Fagott – verleiht der Aufführung zusätzliche Tiefe, ohne die Transparenz der Polyphonie zu beeinträchtigen. Das Ergebnis ist eine spirituelle Klangreise, die sich durch Reinheit, Wärme und innere Sammlung auszeichnet.
Musikalischer Vorschlag
Tomás Luis de Victoria (1548–1611): Officium Defunctorum (1605)
The Sixteen – Leitung: Harry Christophers
Label: Coro (COR16062)
Genaue Beschreibung und Inhalt: siehe Hörenswertes.
Officium Hebdomadae Sanctae - „Das Offizium der Heiligen Woche“ (Rom, 1585)
Mit dem monumentalen Zyklus Officium Hebdomadae Sanctae („Die liturgischen Gesänge der der Heiligen Woche“) schuf Tomás Luis de Victoria im Jahr 1585 sein wohl umfassendstes und zugleich tiefst empfundenes Werk – eine Sammlung, die die liturgischen Gesänge der Karwoche in kunstvoller Polyphonie bündelt und zu einem musikalischen Passionspanorama von einzigartiger Geschlossenheit formt. Es handelt sich um eine Folge von Kompositionen für die Tage von Palmsonntag bis Karsamstag, darunter Passionen, Responsorien, Antiphonen und Hymnen, die Victoria mit höchster Meisterschaft und spiritueller Intensität zu einem geschlossenen Ganzen vereinte.
Die Sammlung, die in Rom veröffentlicht wurde, wo Victoria lange Jahre als Priester, Organist und Komponist wirkte, bildet zugleich eine Brücke zwischen der spanischen Frömmigkeit des Siglo de Oro und der römischen Liturgiekultur nach dem Trienter Konzil. In der Einleitung des Werkes verweist der Komponist auf seine Absicht, die „heiligen Mysterien der Woche des Leidens Christi“ in einer Form zu gestalten, die sowohl der römischen Strenge als auch der inneren Inbrunst des hispanischen Katholizismus entspricht.
Das Officium umfasst in seiner Gesamtheit fast alle musikalischen Elemente der Liturgie der drei österlichen Haupttage. Neben den polyphon gesetzten Teilen der Frühmessen am Gründonnerstag, Karfreitag und Karsamstag enthält es auch Gesänge des Palmsonntags sowie Motetten, die thematisch eng mit den Ereignissen der Passion verbunden sind. Besonders hervorzuheben sind die drei Lamentationes Jeremiae – die Klagelieder Jeremias – mit denen die nächtlichen Tenebrae-Gottesdienste beginnen. Diese Texte, deren tonale Grundlage zum Teil auf regional unterschiedlichen Cantus firmi beruht, wurden von Victoria mit einer ergreifenden Mischung aus Schmerz, Demut und meditativer Ruhe vertont. Noch heute diskutieren Musikwissenschaftler, ob der Komponist dabei dem spanischen oder dem römischen Melos folgte, da die Quellenlage beide Möglichkeiten offenlässt.
Ein besonderes Gewicht innerhalb des Zyklus haben die beiden Passionen nach Matthäus und Johannes, die sich durch ihre feierliche Schlichtheit und ihren dramatisch-rezitativischen Charakter auszeichnen. Sie stehen in einer Linie mit den großen Passionen der spanischen und römischen Tradition, verzichten aber auf jede übermäßige Expressivität zugunsten einer Haltung des kontemplativen Mitleidens. Dazu treten die Antiphonen, Hymnen und Responsorien, die in freier Folge den Ablauf der heiligen Tage begleiten – von den Improperia („Popule meus“) der Kreuzverehrung über das ergreifende Ecce quomodo moritur iustus bis hin zum klanglich lichtvollen O mors, ero mors tua, das den Übergang von der Passion zur Auferstehung musikalisch andeutet.
Die theologische und musikalische Grundhaltung des Werkes steht ganz im Geist der Gegenreformation. Victoria, der am Collegium Germanicum eng mit den Jesuiten verbunden war, gestaltete seine Musik als Dienst am Wort, als spirituelles Instrument zur Erneuerung des Glaubens. Die Beschlüsse des Trienter Konzils (1545–1563) hatten den liturgischen Rahmen neu definiert, und Victoria verstand es, dessen Ideal einer klaren, verständlichen, doch zugleich erhabenen Kirchenmusik in vollkommenster Form zu erfüllen. Seine Polyphonie ist streng geordnet, transparent und stets textbezogen; der Choral bleibt Ausgangspunkt und inneres Fundament, aus dem sich die Stimmen in ruhiger Bewegung entfalten.
Auch die Frage nach der Aufführungspraxis war im 16. Jahrhundert eng mit liturgischen Normen verknüpft. In der Karwoche war der Einsatz von Musikinstrumenten – insbesondere der Orgel – strengstens untersagt, doch lässt sich aus archivalischen Hinweisen schließen, dass kleinere Positivorgeln zur Unterstützung der Sänger gelegentlich Verwendung fanden. In der vorliegenden Einspielung verzichtet Josep Cabré (* 1956) konsequent auf jede instrumentale Begleitung. Das Ensemble La Colombina lässt Victorias Musik in ihrer rein vokalen Gestalt erklingen – transparent, textnah und meditativ.
Cabré und seine Sänger nähern sich dem Werk mit spürbarer Ehrfurcht und einem tiefen Verständnis für seine innere Architektur. Die Tempi bleiben ruhig, die Dynamik maßvoll, die Klangfarben von unaufdringlicher Wärme. Die polyphonen Linien fließen gleichmäßig und entfalten eine spirituelle Spannung, die sich aus der vollkommenen Balance von Wort und Ton ergibt. Besonders die „Schola Antiqua“, die die einstimmigen Choräle singt, integriert sich harmonisch in den Gesamtklang, sodass ein eindrucksvolles Wechselspiel von gregorianischer Schlichtheit und vokaler Mehrstimmigkeit entsteht.
Diese Aufnahme ist ein Beispiel dafür, wie Victorias Musik „von innen heraus“ leuchten kann – ohne Pathos, ohne äußeren Effekt, allein durch die Kraft des Gebets, die aus jeder Wendung seiner Melodik spricht. Der Zyklus erscheint in dieser Gesamteinspielung auf drei CDs erstmals vollständig und offenbart in seiner Gesamtheit den ganzen Reichtum und die Tiefe von Victorias sakralem Schaffen.
Musikalischer Vorschlag
Tomás Luis de Victoria (1548–1611): Officium Hebdomadae Sanctae (1585)
La Colombina / Schola Antiqua / Leitung: Josep Cabré
(3 CDs, Glossa / Aufnahme: Rom, um 2000)
Texte und Übersetzungen aus dem Officium Hebdomadae Sanctae (1585)
von Tomás Luis de Victoria
(Auswahl: zentrale Stücke, teils von anonymen liturgischen Quellen überliefert)
Victoria fasste in seinem Officium Hebdomadae Sanctae die eindringlichsten Worte der Karwoche in Musik – Worte, die Leid, Klage und Erlösung miteinander verbinden. Seine Vertonungen dieser Texte sind nicht nur Ausdruck römischer Liturgietradition, sondern auch ein Bekenntnis zu tiefster spiritueller Sammlung. Im Folgenden sind die zentralen Abschnitte der Sammlung wiedergegeben – die Herzstücke der drei letzten Tage der Heiligen Woche.
CD 1 – Feria quinta in Coena Domini (Gründonnerstag)
Diese erste CD enthält die Musik für den Gründonnerstag: Teile der Matutin (Tenebrae des Gründonnerstags), die Passion nach Matthäus und mehrere Antiphonen und Hymnen.
Victoria führt hier den Hörer von der Feier des Letzten Abendmahls bis zur beginnenden Passion.
https://www.youtube.com/watch?v=jdRtpTKSq7Y
Vexilla regis more hispano – Hymnus (anonym, hispanische Tradition)
Prozessionshymnus zum Beginn der Liturgie.
Hosanna filio David – Antiphon (anonym)
Feierlicher Gesang des Palmsonntags, hier als Einleitung des Officiums.
Pueri hebraeorum vestimenta prosternebant – Antiphon (Tomás Luis de Victoria)
Erinnerung an den Einzug Christi in Jerusalem.
Passio secundum Matthaeum – Evangelienpassion (Tomás Luis de Victoria)
Die Leidensgeschichte Christi nach Matthäus in einer streng syllabischen, dialogisch gegliederten Vertonung für drei Stimmen (Christus, Evangelist, Synagoga).
O Domine Jesu Christe – Motette (Tomás Luis de Victoria)
Meditation über das Leiden und die Treue Christi.
6–7. Zelus domus tuae / Avertantur retrorsum et erubescant – Psalmverse (anonym)
Traditionelle gregorianische Gesänge zwischen den Abschnitten der Passion.
8–10. Incipit lamentatio Jeremiae, Et egressus est, Manum suam – Lamentationes I–III (In primo nocturno – Gründonnerstag, Tomás Luis de Victoria)
Erste drei Klagelieder Jeremias über die Zerstörung Jerusalems (Lamentationes 1, 1–5).
11–12. Liberavit Dominus / Deus meus eripe me – Responsorien (anonym)
Antwortgesänge nach den Lamentationen.
13–15. Amicus meus / Judas mercator pessimus / Unus ex discipulis meis – Responsoria I–III (Tomás Luis de Victoria)
Dreifache Betrachtung von Verrat, Schuld und Verleugnung Christi.
16–17. Dixi iniquis / Exsurge Domine – Psalmverse (anonym).
18–20. Eram quasi agnus / Una hora / Seniores populi – Responsoria IV–VI (Tomás Luis de Victoria)
Letzte drei Responsorien des Gründonnerstags-Offiziums: das unschuldige Lamm, die Stunde des Gebets, der Beschluss der Ältesten.
Tantum ergo – Hymnus (Tomás Luis de Victoria)
Schlussgesang auf den Leib Christi – Versikel aus dem Pange lingua nach spanischer Melodie.
CD 2 – Feria sexta in Parasceve ad Matutinum (Karfreitag)
Die zweite CD umfasst die Matutin des Karfreitags, bestehend aus den neun Lamentationen Jeremias 1, 1–14 und den entsprechenden Responsorien. Diese Lektionen sind in drei Nocturni gegliedert.
https://www.youtube.com/watch?v=qjeJ_YyLx9c
Feria sexta in Parasceve ad Matutinum (Matutin des Karfreitags):
- In primo nocturno:
- Lamentatio I
- Lamentatio II
- Lamentatio III
- Responsorien nach jeder Lamentation
- In secundo nocturno:
- Lamentatio IV
- Lamentatio V
- Lamentatio VI
- Wieder Responsorien
- In tertio nocturno:
- Lamentatio VII
- Lamentatio VIII
- Lamentatio IX
- Wieder Responsorien
- Abschluss mit Benedictus, Psalmen usw.
Ad Matutinum - Werke für Karfreitag - im Deteil:
"In primo nocturno", "In secondo nocturno", "In tertio nocturno"
Die drei Teile „In primo nocturno“, „In secundo nocturno“ und „In tertio nocturno“ bilden zusammen die Karfreitagslektionen der „Officium Tenebrarum“, also das Offizium der Trauer – ein Bestandteil der Matutin für die drei Kartage (Gründonnerstag, Karfreitag und Karsamstag). Diese Texte stammen aus den Klageliedern Jeremias und wurden traditionell in der Matutin, also den nächtlichen Gebetsstunden, gesungen. Die Matutin (auch „Maitines“ genannt) war für die Karwoche in drei „Nocturni“ (Nachtabschnitte) unterteilt, mit je drei Lektionen. Jede dieser Lektionen wird in der Liturgie von einer Responsorie-Gesangspassage gefolgt. Die Vertonung der Lamentationes in diesen drei Nocturni gehört zu den bewegendsten Passagen des katholischen Ritus.
"In primo nocturno" (1. Nokturn)
(Lamentationes Ieremiae 1,1–5)
Aleph
Wie einsam sitzt die Stadt, die einst so bevölkert war! Sie ist wie eine Witwe geworden. Die Herrin über Völker ist zur Sklavin geworden.
Beth
Sie weint in der Nacht, und ihre Tränen bedecken ihre Wangen. Keiner ist da, sie zu trösten unter all ihren Liebhabern. All ihre Freunde haben sie verraten, sind ihre Feinde geworden.
Gimel
Juda ist in die Verbannung gegangen in Elend und harter Knechtschaft. Sie wohnt unter den Nationen, findet keine Ruhe. Alle ihre Verfolger holten sie ein zwischen den Bedrängern.
Daleth
Die Straßen Zions trauern, weil niemand zum Fest kommt. All ihre Tore stehen leer. Ihre Priester seufzen, ihre Jungfrauen sind traurig – bitter ist ihr Los.
He
Ihre Feinde sind an der Macht, ihre Gegner sind sorglos, denn der Herr hat sie leiden lassen wegen ihrer vielen Missetaten. Ihre Kinder sind in Gefangenschaft gegangen – vor dem Feind.
"In secundo nocturno" (2. Nokturn)
(Lamentationes Ieremiae 1,6–9)
Vau
Aller Glanz ist von der Tochter Zion gewichen. Ihre Fürsten sind wie Hirsche, die keine Weide finden. Erschöpft sind sie davongeeilt vor dem Verfolger.
Zain
Jerusalem denkt in den Tagen ihres Elends und ihrer Heimatlosigkeit an alle ihre Kostbarkeiten, die sie einst besaß. Da fiel sie in Feindeshand, und keiner half ihr. Die Feinde sahen sie und lachten über ihren Untergang.
Heth
Jerusalem hat schwer gesündigt – deshalb ist sie unrein geworden. Alle, die sie ehrten, verachten sie, weil sie ihre Blöße sahen. Sie selbst seufzt und wendet sich ab.
Teth
Unreinheit klebt an ihrem Saum. Sie dachte nicht an ihr Ende. Sie ist tief gesunken – und niemand tröstet sie. „Herr, sieh mein Elend, denn der Feind triumphiert!
"In tertio nocturno" (3. Nokturn)
(Lamentationes Ieremiae 1,10–14)
Jod
Der Feind streckte seine Hand nach all ihren Kostbarkeiten aus. Ja, sie hat gesehen, wie Heiden in ihr Heiligtum eindrangen, denen du verboten hattest, in deine Gemeinde zu kommen.
Caph
All ihr Volk seufzt und sucht nach Brot. Sie geben ihre Kostbarkeiten für Nahrung, um ihr Leben zu erhalten. „Herr, blicke und sieh – wie verachtet ich bin!
Lamed
Ach, ihr alle, die ihr des Weges zieht – schaut und seht, ob ein Schmerz ist wie mein Schmerz, den der Herr mir angetan hat am Tag seines grimmigen Zorns.
Mem
Vom Himmel her hat er ein Feuer gesandt in meine Gebeine. Er hat ein Netz gespannt für meine Füße, mich rückwärts fallen lassen. Er hat mich verwüstet – den ganzen Tag bin ich voller Leid.
Nun
Das Joch meiner Übertretungen ist fest geknüpft durch seine Hand, sie sind zusammengefügt, auf meinen Nacken gelegt. Er hat meine Kraft gebrochen. Der Herr hat mich dem übergeben, dem ich nicht standhalten kann.
Zwischen diesen Lektionen stehen die Responsorien des Karfreitags (Tomás Luis de Victoria):
Cogitavit Dominus / Ego vir videns / Tamquam ad latronem / Tenebrae factae sunt / Animam meam dilectam / Tradiderunt me / Jesum tradidit impius / Caligaverunt oculi mei / Posuerunt super caput eius.
Diese neun Responsorien spiegeln die Stationen des Leidens wider – von der Gefangennahme bis zur Kreuzigung. Tenebrae factae sunt bildet den dramatischen Mittelpunkt: die Welt verfinstert sich beim Tod des Erlösers.
Den Abschluss der Karfreitags-Matutin bildet das Benedictus Deus Dominus Israel – das Morgengebet, in dem sich die liturgische Nacht zum Licht der kommenden Erlösung wendet.
CD 3 – Sabbato Sancto ad Matutinum (Karsamstag)
Die dritte CD umfasst die Matutin des Karsamstags, das letzte Tenebrae-Offizium des Triduum Sacrum. Wie an den vorangegangenen Tagen besteht die Liturgie aus drei Nocturni mit je drei Lamentationen und anschließenden Responsorien. Hinzu treten Motetten, Antiphonen und Hymnen, die den Übergang von der Grabesruhe zur Hoffnung auf die Auferstehung gestalten.
https://www.youtube.com/watch?v=_ULu-QqL5QQ
In primo nocturno (Lamentationes I–III – Tomás Luis de Victoria)
Texte aus Lamentationes 3, 1–9:
Ego vir videns paupertatem meam – Ich bin der Mann, der das Elend sah durch die Rute seines Zorns.
Me minavit – Er hat mich geführt und in die Finsternis gebracht.
Circumædificavit – Er hat mich ummauert, dass ich nicht entfliehen kann; er hat mich in schwere Ketten gelegt.
In secundo nocturno (Lamentationes IV–VI – Tomás Luis de Victoria)
Texte aus Lamentationes 3, 22–30:
Misericordiæ Domini – Die Gnadenerweise des Herrn sind nicht erschöpft, sein Erbarmen ist jeden Morgen neu.
Bonum est confidere – Gut ist es, still zu warten auf das Heil des Herrn.
Ponam os meum – Er gebe seine Wange dem, der ihn schlägt, er ertrage Schmach.
In tertio nocturno (Lamentationes VII–IX – Tomás Luis de Victoria)
Texte aus Lamentationes 5, 1–11:
Recordare Domine – Gedenke, Herr, was uns widerfahren ist; sieh und schau unsere Schmach.
Hereditas nostra – Unser Erbteil ist den Fremden zugefallen, unsere Häuser den Ausländern.
Servi dominati sunt – Knechte herrschen über uns, niemand befreit uns aus ihrer Hand.
Zwischen den Lamentationen erklingen die Responsorien des Karsamstags (Tomás Luis de Victoria):
Recessit pastor noster / O vos omnes / Ecce quomodo moritur iustus / Sepulto Domino / O mors, ero mors tua / Miserere mei Deus.
Diese sechs Responsorien gehören zu Victorias reifsten Werken: sie verbinden bittere Klage und schwebende Ruhe, führen das Leiden in die Erwartung der Erlösung. O vos omnes wird dabei zum zentralen Ausdruck menschlichen Schmerzes, O mors, ero mors tua zur leuchtenden Verheißung des Sieges über den Tod.
Nach der Matutin folgen die kurzen Antiphonen und Psalmen der Laudes:
– In pace in idipsum dormiam (anonym) – Psalm 4: Ein Ruf nach Ruhe und Vertrauen.
– Misericordiæ Domini (Tomás Luis de Victoria) – Lob auf Gottes Erbarmen.
– Quomodo obscuratum est aurum (Tomás Luis de Victoria) – Klagelied über den Untergang Jerusalems.
– Incipit oratio Jeremiæ Prophetæ (Tomás Luis de Victoria) – Gebet Jeremias, das die Bitte um Erbarmen beschließt.
– Elevamini portæ æternales / Tu autem Domine miserere mei (anonym) – Psalmverse als Anrufung des Herrn in der Dunkelheit.
Zum Abschluss stehen zwei Stücke, die die gesamte Karwoche liturgisch und geistig zusammenführen:
Christus factus est pro nobis obediens usque ad mortem (anonym) – Hymnus aus dem Philipperbrief (2, 8–9), der den Gehorsam und die Erhöhung Christi besingt.
Ecce lignum Crucis – Popule meus (anonym / Victoria) – Improperien-Zyklus für die Kreuzverehrung, Rückblick auf Karfreitag, zugleich Vorschein des Osterlichts.
Die CD endet im völligen Schweigen – musikalisches Sinnbild der Grabesruhe Christi, das in Victorias Musik bereits die Ahnung der Auferstehung trägt.
Tenebrae Responsories (Responsorien der Karwoche)
Das Wort Responsorium (Plural: Responsorien, von lateinisch respondere = „antworten“) bezeichnet in der kirchlichen Liturgie einen Wechselgesang zwischen einem Vorsänger (cantor) und dem Chor oder der Gemeinde. Inhaltlich besteht ein Responsorium meist aus einem kurzen biblischen Lesungstext, dem eine musikalisch reich gestaltete Antwort folgt.
In der Karwoche dienen die Responsorien der Meditation über das Leiden Christi. Sie bilden den musikalischen Kern der nächtlichen Tenebrae-Feiern, bei denen die Kerzen nach und nach gelöscht werden, bis nur noch eine einzige – das Symbol für Christus – weiter brennt. Diese Wechselgesänge verbinden so Wort und Klang, Gebet und Betrachtung zu einem eindringlichen liturgischen Erlebnis.
Unter den Werken der spanischen Renaissance ragt Tomás Luis de Victorias Responsoria pro Hebdomada Sancta (Tenebrae-Responsorien) als eine der eindringlichsten und erhabensten Schöpfungen geistlicher Vokalmusik hervor. Geschrieben für die Karmeliterinnen des Madrider Klosters Descalzas Reales, wo Victoria als Kaplan diente, gehören sie zu den letzten und reifsten Werken seines Schaffens. Hier vereinen sich asketische Strenge und mystische Glut zu einem Ausdruck, der gleichermaßen kontemplativ wie dramatisch wirkt.
Die Tenebrae-Feier der Karwoche, deren musikalische Teile Victoria vertonte, war ein liturgischer Höhepunkt des Jahres: eine nächtliche Andacht, bei der die Kerzen nach und nach gelöscht wurden – Sinnbild für das zunehmende Dunkel des Leidens Christi. Victorias Musik folgt dieser spirituellen Bewegung mit ergreifender Intensität: Die Polyphonie bleibt durchsichtig, die Textausdeutung von höchster Präzision, die Harmonik in ihrer kargen Schönheit voller innerer Spannung.
In seiner Vertonung der neun Responsorien für Gründonnerstag, Karfreitag und Karsamstag erweist sich Victoria als Meister der Klangarchitektur. Die Stimmen bewegen sich in vollkommener Balance zwischen Schmerz und Ruhe, zwischen der Wucht der Passion und der stillen Hoffnung auf Erlösung. Die Tallis Scholars unter Peter Phillips lassen diese Musik in reiner Klarheit und spiritueller Leuchtkraft erklingen – eine Interpretation, die durch ihre Balance von Präzision und Empfindung beispielhaft ist.
https://www.youtube.com/watch?v=RlIvozgamEA
In der Karwoche wurden an den drei Tagen Gründonnerstag, Karfreitag und Karsamstag jeweils besondere Nachtwachen (Matutin oder „Tenebrae“) gefeiert. Jede dieser Feiern bestand aus drei Nocturns – also drei Abschnitten – und jeder Nocturn enthielt drei Responsorien.
Victoria hat also insgesamt 3 × 3 × 2 = 18 Responsorien komponiert:
9 für Gründonnerstag,
9 für Karfreitag,
9 für Karsamstag
(von denen gewöhnlich die letzten 6 am bekanntesten sind).
Deutsche Übersetzung der 18 Responsorien
1. Amicus meus
Mein Freund hat mir das Zeichen des Verrats mit einem Kuss gegeben.
Jener, den ich küssen werde, der ist es: haltet ihn fest.
Das war das böse Zeichen, das er gab, der durch einen Kuss Mord beging.
2. Iudas mercator pessimus
Judas, der schlimmste Händler, küsste seinen Herrn, um ihn zu verraten.
Er hat seinen Meister mit einem Kuss dem Tod übergeben.
Für einen geringen Lohn warf er das Blut Christi in den Abgrund.
3. Unus ex discipulis meis
Einer meiner Jünger wird mich heute verraten.
Wehe jenem, durch den der Menschensohn verraten wird!
Es wäre besser für ihn, wenn er nie geboren wäre.
4. Eram quasi agnus innocens
Ich war wie ein unschuldiges Lamm, das zum Schlachten geführt wird,
und ich wusste nicht, dass sie Pläne gegen mich schmiedeten.
Kommt, lasst uns ihn töten und sein Erbe besitzen.
5. Una hora non potuistis vigilare mecum
Nicht einmal eine Stunde konntet ihr mit mir wachen,
ihr, die ihr entschlossen wart, mit mir zu sterben?
Seht, Judas naht, und mit ihm jene, die mich festnehmen sollen.
6. Seniores populi consilium fecerunt
Die Ältesten des Volkes hielten Rat,
um Jesus mit List zu fangen und zu töten.
Mit Schwertern und Stangen kamen sie heran wie zu einem Räuber.
7. Tamquam ad latronem existis
Wie gegen einen Räuber seid ihr ausgezogen,
mit Schwertern und Knüppeln, mich zu fangen.
Täglich war ich bei euch im Tempel und ihr habt mich nicht ergriffen.
8. Tenebrae factae sunt
Es ward Finsternis über die ganze Erde,
als sie Jesus ans Kreuz schlugen.
Und um die neunte Stunde rief er laut: Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?
9. Animam meam dilectam tradiderunt in manus iniquorum
Meine geliebte Seele haben sie in die Hände der Bösen gegeben,
und mein Erbe ist den Ungerechten gefallen.
Ich bin geworden wie ein Mensch ohne Hilfe,
unter den Toten frei.
10. Tradiderunt me in manus impiorum
Sie überlieferten mich den Händen der Gottlosen
und warfen mich unter die Verbrecher.
Alle meine Freunde haben mich vergessen,
und ich bin geworden wie ein Gefäß, das zerbrochen ist.
11. Iesum tradidit impius
Der Gottlose verriet Jesus mit einem Kuss,
und die Gottlosen nahmen den Herrn und führten ihn fort wie einen Mörder.
Sie stellten ihn vor den Hohenpriester und befragten ihn.
12. Caligaverunt oculi mei
Meine Augen sind vom Weinen erblindet,
denn fern ist von mir, der mich trösten könnte.
Seht, ihr alle, ihr, die ihr vorübergeht:
Gibt es einen Schmerz wie meinen Schmerz?
13. Recessit pastor noster
Unser Hirte ist geschieden,
die Quelle des lebendigen Wassers ist versiegt.
Der, der die Sonne geboren hat, hat sich in der Nacht verborgen.
14. O vos omnes
O ihr alle, die ihr vorübergeht auf dem Wege,
achtet und sehet, ob ein Schmerz sei wie mein Schmerz.
Denn der Herr hat mich betrübt am Tage seines glühenden Zorns.
15. Ecce quomodo moritur iustus
Seht, wie der Gerechte stirbt,
und niemand nimmt es zu Herzen.
Er verschwindet vor dem Unrecht,
und sein Gedächtnis wird im Frieden sein.
16. Astiterunt reges terrae
Die Könige der Erde standen auf,
und die Fürsten versammelten sich wider den Herrn und seinen Gesalbten.
Wie töricht sind die, die dachten, sie könnten Gott besiegen!
17. Aestimatus sum cum descendentibus in lacum
Ich bin gezählt unter die, die hinabsteigen in die Grube.
Ich bin geworden wie ein Mann ohne Hilfe,
frei unter den Toten,
wie Erschlagene, die im Grab schlafen.
18. Sepulto Domino
Als der Herr begraben war,
setzten sie ein Siegel auf den Stein des Grabes
und stellten Wachen davor.
Die Feinde aber zitterten und sprachen:
Vielleicht wird er auferstehen, wie er gesagt hat.
Werkcharakter und Interpretation
In der Interpretation der Tallis Scholars wird diese Musik zu einem meditativen Erlebnis von nahezu überirdischer Schönheit. Peter Phillips legt das Gewicht auf Transparenz und spirituelle Reinheit, wodurch Victorias kontrapunktische Linienführung in ihrer ganzen Leuchtkraft hervortritt. Kein Moment des Übermaßes, kein Pathos – nur das stille, leuchtende Licht des Glaubens im Dunkel der Passion.
Die Responsorien sind nicht einfach liturgische Gesänge, sondern geistige Miniaturen, in denen Victoria die Grenzen der Polyphonie auslotet. Sein Stil bleibt unverwechselbar: voller klanglicher Reinheit, harmonischer Tiefe und emotionaler Wahrhaftigkeit. Besonders eindrucksvoll ist der Übergang vom dramatischen Tamquam ad latronem zu den stillen Klageliedern des Karsamstags – eine musikalische Reise von der Gewalt der Passion zur heiligen Stille des Grabes. Victoria verwandelt jedes Wort in Musik, die sich nicht mit äußeren Effekten begnügt, sondern das innere Drama der Passion erfahrbar macht.
Diese Einspielung gehört zu den Höhepunkten der modernen Renaissance-Interpretation. Jede Phrase atmet Andacht, jede Stille hat Gewicht. Es ist, als ob die Mauern des Klosters Descalzas Reales selbst wieder zu tönen begännen – als lebendiges Echo der spanischen Mystik.
Musikalischer Vorschlag:
Tomás Luis de Victoria: Tenebrae Responsories for Holy Saturday
The Tallis Scholars, Leitung: Peter Phillips (* 1953)
Label: Gimell Records, Aufnahme 2012
O magnum mysterium – Motette und Missa O magnum mysterium
Ensemble Corund, Leitung: Stephen Smith (* 1955), Sono Luminus, 1997
Innerhalb von Tomás Luis de Victorias geistlichem Gesamtwerk gehört die Motette O magnum mysterium zu den eindringlichsten und meistgeschätzten Schöpfungen. Sie entfaltet das weihnachtliche Wunder der Menschwerdung Christi in einer Musik von tiefer Sanftheit und leiser Erhabenheit. Victoria verbindet darin klare Linien, harmonische Wärme und eine schwebende, fast kontemplative Ruhe. Auf dieser Aufnahme steht die Motette (Track 20) im Zentrum der klanglichen Aussage: sie bildet den Ausgangspunkt und das Fundament für die anschließende Messe.
https://www.youtube.com/watch?v=LMeAj37gimY&list=OLAK5uy_laSJaTB8ftOLltEuYNLJd2tonS2R5A1YY&index=20
Motette O magnum mysterium
O magnum mysterium,
et admirabile sacramentum,
ut animalia viderent Dominum natum,
iacentem in praesepio.
Beata Virgo, cujus viscera meruerunt
portare Dominum Christum.
Alleluia.
Deutsche Übersetzung
O großes Geheimnis
und wunderbares Sakrament,
dass Tiere den neugeborenen Herrn sahen,
wie er in der Krippe lag.
Selig bist du, Jungfrau, deren Leib es würdig war,
den Herrn Christus zu tragen.
Alleluja.
Die Missa O magnum mysterium (Tracks 21–26), eine Parodiemesse über Themen und Motive der Motette, überträgt ihre Atmosphäre in den gesamten Messzyklus. Die Anlage ist typisch für Victorias reife Phase: transparent, ausgewogen und mit feinem Gespür für die Balance zwischen Struktur und Ausdruck. Das Ensemble Corund unter der Leitung von Stephen Smith realisiert diese Musik mit einer bemerkenswert klaren und durchhörbaren Stimmführung. Die Interpretation verzichtet bewusst auf große Lautstärken und dramatische Effekte und zielt stattdessen auf Klangreinheit und geistige Geschlossenheit.
https://www.youtube.com/watch?v=NGyWrtWgHjA&list=OLAK5uy_laSJaTB8ftOLltEuYNLJd2tonS2R5A1YY&index=21
Das Kyrie erscheint in schlichter Würde, während das Gloria mit zurückhaltender Leuchtkraft öffnet. Das Credo überzeugt durch textnahe Deutlichkeit und ruhige Linie. Im Sanctus und Benedictus entsteht ein harmonischer, fast kammermusikalischer Zusammenklang. Das Agnus Dei, mit seiner zunehmenden Ausdünnung der Stimmen, erhält bei Corund eine besonders stille und friedvolle Färbung – ein Abschluss, der sowohl liturgisch wie musikalisch überzeugt.
Die Aufnahme aus dem Jahr 1997 zeichnet sich durch eine angenehme Direktheit aus: die Stimmen sind klar voneinander zu unterscheiden, verschmelzen aber dennoch zu einem homogenen Klangbild. Diese Natürlichkeit hat vermutlich dazu beigetragen, dass diese Version auf YouTube besonders häufig angehört und positiv bewertet wird. Sie vermittelt Victorias Musik ohne stilistische Übertreibung und ohne Entfernung vom liturgischen Geist.
Diese Einspielung eignet sich hervorragend fürs konzentrierte Hören und vermittelt sowohl die spirituelle Tiefe als auch die strukturelle Klarheit dieser bedeutenden Motette und ihrer Messe. Sie ist schlicht, ehrlich, transparent – und gerade dadurch ein besonders überzeugender Zugang zu einem der erhabensten Werke Victorias.
Missa Laetatus sum
Die Missa Laetatus sum von Tomás Luis de Victoria gehört zu den eindrucksvollsten Spätwerken des spanischen Meisters und markiert innerhalb seines Œuvres eine Art Summe seiner polychoralen Kunst. Die Messe erschien 1600 in Madrid im groß dimensionierten Druckband „Missae, Magnificat, motecta, psalmi et alia a 8, 9, 12 vocibus“, also in jenem Spätwerk-Zyklus, in dem Victoria seine Vorliebe für mehrchörige Besetzungen auf glanzvolle Weise bündelt. Schon Zeitgenossen rühmten ihn als unübertrefflichen Komponisten polychoraler Musik, und gerade an dieser Messe lässt sich nachvollziehen, warum dieses Urteil bis heute Bestand hat.
Der Titel der Messe verweist auf den festlichen Wallfahrtspsalm „Laetatus sum in his quae dicta sunt mihi“ (Ps 122/Vulgata 121). Victoria hatte diesen Psalm zuvor in einem überwältigenden, für drei Chöre gesetzten Motett vertont, das zu den großartigsten Beispielen seiner Mehrchörigkeit zählt. Dieses mehrchörige Psalm-Setting bildet das kompositorische Modell der Messe: Die Missa Laetatus sum ist eine Parodiemesse, die melodisches Material, Motivkerne und charakteristische Harmoniewendungen der Motette aufnimmt, sie neu disponiert und in die liturgische Form des Ordinariums (Kyrie, Gloria, Credo, Sanctus–Benedictus, Agnus Dei) überführt. In der Messe selbst wird also der lateinische Messtext des Ordinariums gesungen, während der Psalmtext gleichsam im musikalischen Untergrund präsent bleibt.
Der zugrunde liegende Psalm 122 (Vulgata 121) ist ein Wallfahrtslied, das die freudige Ankunft der Pilger in Jerusalem und im Tempel besingt. In deutscher Übersetzung lautet der Text:
Ich freute mich, als man mir sagte:
‚Wir wollen zum Haus des Herrn gehen.‘
Unsere Füße stehen in deinen Toren, Jerusalem.
Jerusalem, das du erbaut bist als Stadt,
die fest in sich gefügt ist.
Dorthin ziehen die Stämme hinauf,
die Stämme des Herrn,
wie es geboten ist dem Volk Israel,
den Namen des Herrn zu preisen.
Denn dort stehen Throne für das Gericht,
die Throne des Hauses David.
Erbittet Frieden für Jerusalem:
Es soll wohlgehen denen, die dich lieben.
Friede sei in deinen Mauern,
Sicherheit in deinen Palästen.
Um meiner Brüder und Freunde willen
will ich sagen: Friede sei in dir.
Um des Hauses des Herrn, unseres Gottes, willen
will ich dein Bestes suchen.
Victorias Motette Laetatus sum greift diesen Text nicht nur wörtlich, sondern auch in seiner Prozessionssymbolik auf. Die Musik ist deutlich festlich geprägt: Victoria arbeitet mit doppelchöriger Anlage und einem dritten, hochliegenden Chor, der in der Praxis vokal besetzt, aber häufig von Instrumenten – etwa Zinken und Posaunen – und Orgel colla parte verstärkt werden konnte. Die groß dimensionierte Satzweise, in der sich die drei Chöre im Raum gegenüberstehen und antworten, unterstreicht den Charakter einer feierlichen Prozession zum „Haus des Herrn“. Wechsel von dialogischen Rufen und zusammengefassten Tutti-Blöcken, Echoeffekte, plötzliche Verdichtungen und Auflichtungen lassen den Hörer die Bewegung der Pilger gleichsam körperlich miterleben. Aus genau diesem Motett gewinnt Victoria die thematischen Bausteine für seine Messe: bestimmte Anfangswendungen, charakteristische Intervalle und kadenzielle Formeln tauchen in den einzelnen Messteilen in neuer Funktion wieder auf, bleiben aber deutlich als „Erinnerung“ an das Psalmwort erkennbar.
Motette Laetatus sum
https://www.youtube.com/watch?v=x7O8KIGa0jg
Deutsche Übersetzung der Motette
Ich freute mich über all die Worte, die man mir sagte:
„Wir wollen gehen zum Haus des Herrn.“
Schon stehen unsere Füße
in deinen Torhallen, Jerusalem.
Jerusalem, gebaut als eine Stadt,
fest gefügt und in sich geschlossen,
wo alles zusammenströmt zu einer Einheit.
Dorthin steigen die Stämme hinauf,
die Stämme des Herrn,
wie es dem Volk Israel geboten ist,
den Namen des Herrn zu preisen.
Denn dort stehen Throne bereit zum Gericht,
die Throne des Hauses David.
Erbittet Frieden für Jerusalem;
heilvoll sei es allen, die dich lieben.
Friede wohne in deinen Mauern,
Fülle und Sicherheit in deinen Zinnen.
Um meiner Brüder und Freunde willen
spreche ich: Friede sei in dir.
Um des Hauses des Herrn, unseres Gottes, willen
will ich dein Bestes suchen.
Ehre sei dem Vater und dem Sohn
und dem Heiligen Geist,
wie es war im Anfang, so auch jetzt und allezeit
und in Ewigkeit. Amen.
Charakteristisch für die Missa Laetatus sum ist die Besetzung mit drei Chören und Orgel. Die Chöre sind nicht bloß dreifach verdoppelt, sondern differenziert angelegt: meist zwei „normale“ gemischte Chöre und ein dritter, hell disponierter Chor mit konzentrierten Oberstimmen. So entsteht eine Art vokale Orchestrierung, bei der Victoria mit rein stimmlichen Mitteln jenen Raumklang erzielt, den man später mit der venezianischen Mehrchörigkeit des Frühbarock verbindet. Je nach liturgischem Kontext konnten die Chöre räumlich getrennt aufgestellt werden, wodurch die Musik ihre volle plastische Wirkung entfaltet: Dialoge und Wechselgesänge, Echoeffekte, aufeinander zustrebende Klangwellen und überwältigende Tuttipassagen. Dabei bleibt der Satz in seiner Linienführung streng polyphon; die Mehrchörigkeit dient nicht einer bloß äußerlichen Prachtentfaltung, sondern ist in die kontrapunktische Logik eingebunden.
https://www.youtube.com/watch?v=VVPIwgH4FLE&list=OLAK5uy_lJsu0Hw9PQ6vzmMjt89A_ABDpIMGVidzU&index=92
Der Kyrie-Satz führt exemplarisch in diese Klangwelt ein. Die Anrufungen „Kyrie eleison“ entfalten sich in weit ausschwingenden Bögen, die zwischen den drei Chören hin- und hergereicht werden. Der Raum wird zum Mitspieler, die Klangmassen scheinen von verschiedenen Seiten heranzuströmen, sich zu ballen und wieder zu lösen. Die äußeren Kyrie-Teile sind breit, feierlich und majestätisch angelegt, während das Christe eleison als eher intimer Mittelteil erscheint: häufig für weniger Stimmen gesetzt, mit heller, beinahe kammermusikalischer Farbigkeit, sodass sich die Aufmerksamkeit des Hörers auf den Namen Christi als Zentrum der Messe bündelt. Der Kontrast zwischen machtvoller Bußanrufung und innerem, fast persönlichem Gebet gehört zu den eindrucksvollsten Zügen dieses Eröffnungssatzes.
Im Gloria stehen Textdisposition und Klangdramaturgie in besonders enger Verbindung. Der lange Lobpreis-Text wird von Victoria in klar gegliederte Abschnitte unterteilt, denen er jeweils eigenes Profil, eigene Besetzung und eigene Bewegungsenergie zuweist. Festliche Tutti-Partien für alle drei Chöre, etwa bei „Gloria in excelsis Deo“ oder „Quoniam tu solus Sanctus“, wechseln mit stärker ausgesparten, dialogisch geführten Passagen, in denen nur ein oder zwei Chöre oder reduzierte Stimmgruppen aktiv sind. So entsteht eine dramatische, aber nie opernhafte Spannungsarchitektur. Theologische Schwerpunkte – das „Qui tollis peccata mundi“, das „Miserere nobis“ oder das „Suscipe deprecationem nostram“ – hebt Victoria durch dichter geführte Dissonanzen, verlangsamte Harmoniewechsel und empfindsame Suspensionsketten hervor. Die Mehrchörigkeit ist hier Mittel, um die innere Topographie des Textes plastisch zu machen: jubelnde Fülle an den Stellen höchsten Lobpreises, Verdichtung und Demut in den Bitten um Erbarmen.
Das Credo, traditionell eine Herausforderung für jeden Komponisten, gestaltet Victoria mit großer Klarheit und innerer Spannung. Polyphone, imitatorische Anfänge – etwa bei „Credo in unum Deum“ – verleihen dem Eingang eine gewisse Strenge und Lehrhaftigkeit, bevor sich der Satz in homophonen Verdichtungen öffnet, die die zentralen Glaubensgeheimnisse hervorheben. Besonders eindrucksvoll ist „Et incarnatus est de Spiritu Sancto ex Maria Virgine“: Der Satzfluss verlangsamt sich, die Linien werden länger, weicher, die Harmonik schwebt in einer hellen, aber gedämpften Atmosphäre, als wollte die Musik gleichsam den Schleier über dem Mysterium der Menschwerdung nicht ganz lüften. In „Crucifixus etiam pro nobis“ verdichtet sich die Klangsprache, Dissonanzen werden ausgesungen, Seufzerfiguren und abwärts gerichtete Linien zeichnen das Leiden Christi nach. Mit „Et resurrexit“ wiederum weitet sich die Musik, wird bewegter und heller, die drei Chöre verschmelzen zum großen, triumphierenden Klangkörper. Auch hier nutzt Victoria die räumliche Anlage nicht als äußerlichen Effekt, sondern als theologisches Mittel: mal antworten sich die Chöre wie Gemeinde und Schola, mal vereinen sie sich zur einen Stimme der Kirche.
Sanctus und Benedictus zeigen Victoria auf dem Höhepunkt seiner reifen Polyphonie. Das „Sanctus, Sanctus, Sanctus“ ist als groß angelegter Lobgesang konzipiert. Die Chöre werden in übereinandergeschichteten Akkordblöcken geführt, die in ruhiger, aber machtvoller Bewegung ein majestätisches Klanggebäude entstehen lassen. In den „Hosanna“-Rufen bricht sich die Mehrchörigkeit mit besonderer Eindringlichkeit Bahn: Wechsel von imitatorisch motivierten Einwürfen und homophonen Ausrufen erzeugen ein pulsierendes Wechselspiel von Bewegung und Ruhe, das die liturgische Ekstase der Engelchöre fühlbar macht, ohne in vordergründige Effekte abzugleiten. Das Benedictus wirkt demgegenüber zurückgenommener und kontemplativer; es bildet einen Ruhepunkt zwischen den beiden Hosanna-Abschnitten, einen Moment innerer Sammlung vor der Kommunion, in dem sich die Musik stärker nach innen wendet und die Gegenwart Christi im Sakrament meditativ vorbereitet.
Im Agnus Dei schließlich bündelt Victoria noch einmal die wesentlichen Charakterzüge der Messe. Die dreifache Bitte „Agnus Dei, qui tollis peccata mundi“ wird in nuancierten Klanggesten gestaltet: Zunächst eher schlicht und bittend, mit vergleichsweise transparenter Faktur, dann in zunehmender Verdichtung der melodischen Bögen und Erweiterung der harmonischen Farbigkeit. Beim abschließenden „Dona nobis pacem“ weitet sich der Klang zu einer zugleich leuchtenden und milden Schlussfläche. Die Mehrchörigkeit ist hier nicht mehr auf überwältigende Raumwirkungen ausgerichtet, sondern in einen weichen, fast transfigurierten Klang überführt; die zuvor entfesselte Klangpracht scheint sich in eine konzentrierte, stille Bitte um Frieden zu verwandeln – ganz im Sinne des Psalmwortes „Erbittet Frieden für Jerusalem“, das im Hintergrund als geistiger Resonanzraum mitschwingt.
In ihrer Gesamtheit ist die Missa Laetatus sum mehr als ein spätes Prestigewerk. Sie vereint die jahrzehntelange Erfahrung eines Komponisten, der die klassische römische Polyphonie eines Giovanni Pierluigi da Palestrina (1525–1594) verinnerlicht, sie mit der spezifisch spanischen Klangfantasie und Frömmigkeit seiner Heimat verbunden und schließlich in einer polychoralen Schreibweise zu einem unverwechselbaren Personalstil geformt hat. Die Messe steht an einer Schwelle: Sie bewahrt die kunstvolle Linearität und modale Strenge der Hochrenaissance und öffnet sich zugleich den großräumigen Klangarchitekturen des Frühbarock. Gerade in der Verbindung von innerer Askese und strahlender Festlichkeit, von strenger Kontrapunktik und leuchtender Raumwirkung, von Psalm-Motette und Parodiemesse liegt der besondere Reiz dieses Werkes, das zu den bedeutendsten polychoralen Messen der Spätrenaissance zählt.
CD-Vorschlag: omás Luis de Victoria: Sacred Works – Ensemble Plus Ultra, Leitung Michael Noone (Archiv/DG, in Kooperation mit Fundación Caja Madrid, Aufnahmen 2008–2010), 10-CD-Edition, Disc 7, Tracks 5–9. In den Streaming-Portalen erscheint dieselbe Messe innerhalb der durchlaufenden Gesamtzählung als Tracks 91–95.
Diese Edition wurde nicht zufällig mit einem renommierten Early-Music-Preis ausgezeichnet und gilt inzwischen als eine der Referenzproduktionen für Victorias Spätwerk.
Gerade in der Missa Laetatus sum spielen die Stärken der Produktion ihre ganze Wirkung aus. Das Ensemble Plus Ultra singt mit schlankem, präzisem Klang, der die polyphonen Linien vollkommen durchsichtig macht. Die Intonation ist mustergültig sauber, die drei Chöre sind klanglich deutlich voneinander zu unterscheiden, und doch verschmelzen sie in den großen Tutti-Passagen zu einem homogenen Gesamtklang. Besonders hervorzuheben ist die Textverständlichkeit: Auch in den komplexesten dreichörigen Abschnitten bleibt das lateinische Wort klar artikuliert und gut zu folgen – ein entscheidender Punkt bei einer Parodiemesse, deren ganze Wirkung von der Verbindung aus theologischem Text und groß dimensionierter Klangarchitektur lebt.
Die Aufnahmetechnik unterstützt diesen Eindruck vorbildlich. Der Raum klingt präsent, aber nicht überakustisch; der Hall trägt die Stimmen, ohne sie in einen undifferenzierten Klangteppich zu verwandeln. So entsteht genau jene Balance, die eine Messe wie Laetatus sum braucht: genug Raumfülle, um die festliche, prozessionsartige Pracht der Mehrchörigkeit zu erleben, und zugleich genügend Klarheit, um jede Stimme, jeden Einsatz und jede harmonische Wendung verfolgen zu können. Wer die Messe wirklich kennenlernen und zugleich eine interpretatorisch wie klanglich zuverlässige "Referenzaufnahme" zur Hand haben möchte, ist mit dieser Einspielung von Ensemble Plus Ultra und Michael Noone daher hervorragend bedient.
Missa Gaudeamus a 6
Die Missa Gaudeamus a 6 gehört zu den eindrucksvollsten frühen Schöpfungen von Tomás Luis de Victoria (1548–1611). Sie erschien erstmals 1576 in seinem „Liber primus“, also zu Beginn jener Phase, in der sich der in Rom geschulte Komponist zu einer der bedeutendsten Stimmen der europäischen Spätrenaissance entwickelte. Der Titel der Messe verweist auf das gregorianisch-motettische Cantus-firmus-Material „Gaudeamus omnes“, das Victoria nicht nur übernimmt, sondern kunstvoll durch alle Sätze hindurch in immer neue kontrapunktische Zusammenhänge einbettet. In dieser Messe lässt sich bereits jener unverwechselbare Stil erkennen, der Victorias Werk prägt: eine ausdrucksstarke, rhetorisch geformte Polyphonie von großer Klarheit, verbunden mit jener inneren Glut, die ihn – anders als Palestrina (1525–1594) – weniger als ausgleichenden Architekten, sondern eher als seelisch vibrierenden Meister polyphoner Intensität zeigt. (Tracks 31 bis 36):
https://www.youtube.com/watch?v=mIsILRw5aKQ&list=OLAK5uy_lJsu0Hw9PQ6vzmMjt89A_ABDpIMGVidzU&index=31
Das Kyrie eröffnet mit einem fein gesponnenen Gewebe aus sechs Stimmen, das den Cantus firmus zunächst in den Mittelstimmen grundiert, während die übrigen Stimmen den Satz mit freier, geschmeidiger Linie durchziehen. Erst im Kyrie II tritt das Motiv deutlicher hervor und gibt dem Satz jene feierliche Gravität, die Victoria stets mit einem warmen, aber strengen Klang verbindet. Das Gloria entfaltet schon im Eingang jenes typische Wechselspiel aus homophonen Akzenten und enger Polyphonie, durch das der Text eine klare architektonische Gliederung erhält. Besonders eindrucksvoll ist die Passage „in gloria Dei Patris“, in der der Cantus firmus in den oberen Stimmen hervortritt und den Satz förmlich zum Leuchten bringt.
Im Credo zeigt Victoria seine ganze Meisterschaft der großräumigen Textgestaltung. Die Glaubensartikel werden nicht mechanisch aufgereiht, sondern dramatisch modelliert. Die Worte „Et incarnatus est“ erhalten eine zarte, beinahe entrückte Transparenz, bevor die polyphon straff geführten Linien im „Et resurrexit“ wieder mit voller Kraft einsetzen. Auf dem Höhepunkt des Satzes, „et vitam venturi saeculi“, lässt Victoria das „Gaudeamus“-Material regelrecht triumphieren: Der wiederkehrende Cantus firmus wird hier zu einem musikalischen Bekenntnis der Hoffnung.
Im Sanctus und Benedictus spürt man, wie sehr Victoria die liturgische Würde dieses Moments ernst nimmt. Die Textur öffnet sich, die Linien gewinnen an Weite, und der Cantus firmus erscheint in strahlender Höhe, während die Gegenstimmen in geschmeidigen Bewegungen um ihn kreisen. Im Benedictus zeigt Victoria eine fast kammermusikalische Feinheit, ehe die sechs Stimmen im abschließenden Hosanna wieder zu voller Pracht zusammenfinden.
Das Agnus Dei schließlich ist der großartige Abschluss der Messe. Victoria gestaltet es als strengen, aber vollkommen frei wirkenden Kanon, in dem das „Gaudeamus“-Thema in zwei Stimmen imitierend geführt wird. Die Verschmelzung dieser kanonischen Strenge mit einer geradezu leuchtenden Klanglichkeit ist einzigartig. Der letzte Satz, „Agnus Dei III“, wirkt wie ein stilles Gebet, das sich aus der Tiefe der Polyphonie erhebt und mit geradezu mystischer Ruhe endet. Hier erreicht Victoria eine Reinheit des Ausdrucks, die sein Werk so unverwechselbar macht und die Missa Gaudeamus zu einem frühen Höhepunkt seines Schaffens erhebt.
CD-Vorschlag
Eine außergewöhnlich überzeugende Interpretation bietet die Einspielung des Ensemble Plus Ultra unter der Leitung von Michael Noone (* 1963), aufgenommen 2009 und veröffentlicht 2011 bei Universal Music Spain / Deutsche Grammophon innerhalb der 10-CD-Box Victoria: Sacred Works. Die Messe befindet sich dort auf CD 3, die sechs Sätze entsprechen Tracks 1 bis 6, und in einigen Online-Playlisten – darunter YouTube – erscheinen sie als Tracks 31 bis 36 der Gesamtbox. Die Aufnahme zeichnet sich durch stilistische Reinheit, klangliche Transparenz und eine sorgfältige Raumgestaltung aus, die Victorias polyphone Architektur mit großer Klarheit und zugleich tiefer Spiritualität zur Geltung bringt.
